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Nous Nous oder Nus (altgriechisch νοῦς) ist ein Begriff der antiken griechischen Philosophie. Er bezeichnet die menschliche Fähigkeit, etwas geistig zu erfassen, und die Instanz im Menschen, die für das Erkennen und Denken zuständig ist. Im Deutschen wird „Nous“ meist mit „Geist“, „Intellekt“, „Verstand“ oder „Vernunft“ wie- dergegeben, die lateinische Entsprechung ist intellectus. In metaphysischen und kosmologischen Lehren, die von einer göttlichen Lenkung der Welt ausgehen, wird als Nous auch ein im Kosmos wirkendes Prinzip bezeichnet, die göttliche Weltvernunft. 1 Etymologie und verwandte Be- griffe Die Etymologie des Wortes nous ist in der Forschung um- stritten. Einer älteren Hypothese zufolge ist es von ei- ner erschlossenen Form σνόϝος (snówos) abzuleiten, die mit „schnüffeln“ im Sinne von „eine Gefahr wittern“ zu- sammenhängt (vgl. englisch to sniff ). Demnach handelt es sich um das Erfassen eines Sachverhalts aufgrund von Sinneswahrnehmung. Nach einer neueren Forschungs- meinung besteht ein Zusammenhang mit néomai (zurück- kehren) und nóstos (Rückkehr). [1] Das zugehörige Verb ist νοεῖν (noeín, denken). Zur sel- ben Wortfamilie gehören weitere philosophische Begrif- fe: „Noesis“ (Denktätigkeit, Denkakt) mit dem zuge- hörigen Adjektiv „noetisch“ (griechisch noētós), „Noe- tik“ (die Lehre vom Nous und seinem Wirken, nicht- psychologische Erkenntnislehre, bei Edmund Husserl die Phänomenologie der Vernunft), „Noema“ (Gedanke, einzelner Denkinhalt), „Noumenon“ (das Gedachte, bei Kant das Ding an sich) und „Dianoia“ (diskursives Den- ken). Während im Griechischen diánoia oft eine „dia- noetische“ Denkweise (schlussfolgerndes Voranschrei- ten) bezeichnet, ist mit nous häufig speziell ein intuitives „noetisches“ Denken gemeint (unmittelbares Erfassen ei- nes evidenten Sachverhalts). Somit entspricht dianoia eher dem deutschen Begriff „Verstand“, nous eher dem deutschen Vernunft-Begriff. Der Sprachgebrauch in den antiken Quellen ist allerdings nicht einheitlich und nicht immer klar. [2] 2 Der Nous als Instanz im Men- schen 2.1 Vorsokratische Zeit Das Substantiv nous (ursprünglich in der unkontrahierten Form nóos) und das Verb noein kommen schon im vor- philosophischen Sprachgebrauch der archaischen Zeit vor. Inwieweit mit diesen Ausdrücken damals klare, dif- ferenzierte Vorstellungen verbunden waren, ist nicht ge- nau bekannt und in der Forschung umstritten. Homer ver- wendet noein auch in Zusammenhängen, wo es um Sin- neswahrnehmung geht („erkennen“ im Sinne von „wahr- nehmen“, „bemerken“), beispielsweise in der Aussage „Er wurde mit den Augen gewahr“. [3] Die Sinneswahr- nehmung ist bei ihm eng mit der Verarbeitung der von ihr gelieferten Eindrücke verbunden, die Sinnesorgane sind gleichsam Werkzeuge des Denkens. Die Tätigkeit des Nous erscheint als der geistige Aspekt des Wahrneh- mens, den man mit „Innewerden“ oder „Realisieren“ wie- dergeben kann. Trotz der engen Verknüpfung der Sinnes- wahrnehmung mit ihrer Auswertung unterscheidet Ho- mer aber auch zwischen der Wahrnehmung als solcher und dem von ihr veranlassten Begreifen, beispielsweise der Erkenntnis, dass eine wahrgenommene Situation ge- fährlich ist. Für diesen homerischen Nous ist charakteris- tisch, dass er nicht analysierend erwägt, sondern die Si- tuation unmittelbar erfasst und eine angemessene Reak- tion veranlasst. Daneben kann noos bei dem Dichter aber auch das Denken eines Menschen bezeichnen, der einen inneren Monolog führt, der sich etwas ausdenkt und etwas plant. [4] Die philosophische Begriffsverwendung knüpfte an die umgangssprachliche an. Auch in philosophischen Tex- ten ging es um das richtige Verständnis dessen, was dem Wahrnehmbaren als Realität zugrunde liegt. Das Ziel der Philosophen war aber nicht wie bei den Gestalten Homers das handlungsorientierte Erfassen einer Absicht oder der Bedeutung einer gegebenen konkreten Situation, sondern Einsicht in eine hinter dem Augenschein verbor- gene Wirklichkeit. [5] Vorsokratische Philosophen wie Empedokles und Demokrit grenzten das Denken nicht klar als Fähigkeit oder Tätigkeit besonderer Art vom Wahrnehmen ab. Sie betrachteten es ebenso wie das Wahrnehmen als körperli- chen Vorgang, bei dem materiell Gleiches von Gleichem erfasst wird. Das machte ihnen später Aristoteles zum Vorwurf. [6] So glaubte Empedokles, das „um das Herz fließende Blut“ sei der Träger der Denkkraft. [7] Er meinte, das Blut sei der am besten gemischte Stoff und daher als Sitz der Erkenntnis geeignet. Heraklit stellte polemisch fest: „Vielwisserei führt nicht 1

Nous

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Nous

Nous oder Nus (altgriechisch νοῦς) ist ein Begriffder antiken griechischen Philosophie. Er bezeichnet diemenschliche Fähigkeit, etwas geistig zu erfassen, unddie Instanz im Menschen, die für das Erkennen undDenken zuständig ist. Im Deutschen wird „Nous“ meistmit „Geist“, „Intellekt“, „Verstand“ oder „Vernunft“ wie-dergegeben, die lateinische Entsprechung ist intellectus.In metaphysischen und kosmologischen Lehren, die voneiner göttlichen Lenkung der Welt ausgehen, wird alsNous auch ein im Kosmos wirkendes Prinzip bezeichnet,die göttliche Weltvernunft.

1 Etymologie und verwandte Be-griffe

Die Etymologie desWortes nous ist in der Forschung um-stritten. Einer älteren Hypothese zufolge ist es von ei-ner erschlossenen Form σνόϝος (snówos) abzuleiten, diemit „schnüffeln“ im Sinne von „eine Gefahr wittern“ zu-sammenhängt (vgl. englisch to sniff). Demnach handeltes sich um das Erfassen eines Sachverhalts aufgrund vonSinneswahrnehmung. Nach einer neueren Forschungs-meinung besteht ein Zusammenhangmit néomai (zurück-kehren) und nóstos (Rückkehr).[1]

Das zugehörige Verb ist νοεῖν (noeín, denken). Zur sel-ben Wortfamilie gehören weitere philosophische Begrif-fe: „Noesis“ (Denktätigkeit, Denkakt) mit dem zuge-hörigen Adjektiv „noetisch“ (griechisch noētós), „Noe-tik“ (die Lehre vom Nous und seinem Wirken, nicht-psychologische Erkenntnislehre, bei Edmund Husserldie Phänomenologie der Vernunft), „Noema“ (Gedanke,einzelner Denkinhalt), „Noumenon“ (das Gedachte, beiKant das Ding an sich) und „Dianoia“ (diskursives Den-ken). Während im Griechischen diánoia oft eine „dia-noetische“ Denkweise (schlussfolgerndes Voranschrei-ten) bezeichnet, ist mit nous häufig speziell ein intuitives„noetisches“ Denken gemeint (unmittelbares Erfassen ei-nes evidenten Sachverhalts). Somit entspricht dianoiaeher dem deutschen Begriff „Verstand“, nous eher demdeutschen Vernunft-Begriff. Der Sprachgebrauch in denantiken Quellen ist allerdings nicht einheitlich und nichtimmer klar.[2]

2 Der Nous als Instanz im Men-schen

2.1 Vorsokratische Zeit

Das Substantiv nous (ursprünglich in der unkontrahiertenForm nóos) und das Verb noein kommen schon im vor-philosophischen Sprachgebrauch der archaischen Zeitvor. Inwieweit mit diesen Ausdrücken damals klare, dif-ferenzierte Vorstellungen verbunden waren, ist nicht ge-nau bekannt und in der Forschung umstritten. Homer ver-wendet noein auch in Zusammenhängen, wo es um Sin-neswahrnehmung geht („erkennen“ im Sinne von „wahr-nehmen“, „bemerken“), beispielsweise in der Aussage„Er wurde mit den Augen gewahr“.[3] Die Sinneswahr-nehmung ist bei ihm eng mit der Verarbeitung der vonihr gelieferten Eindrücke verbunden, die Sinnesorganesind gleichsam Werkzeuge des Denkens. Die Tätigkeitdes Nous erscheint als der geistige Aspekt des Wahrneh-mens, den man mit „Innewerden“ oder „Realisieren“ wie-dergeben kann. Trotz der engen Verknüpfung der Sinnes-wahrnehmung mit ihrer Auswertung unterscheidet Ho-mer aber auch zwischen der Wahrnehmung als solcherund dem von ihr veranlassten Begreifen, beispielsweiseder Erkenntnis, dass eine wahrgenommene Situation ge-fährlich ist. Für diesen homerischen Nous ist charakteris-tisch, dass er nicht analysierend erwägt, sondern die Si-tuation unmittelbar erfasst und eine angemessene Reak-tion veranlasst. Daneben kann noos bei dem Dichter aberauch das Denken eines Menschen bezeichnen, der eineninnerenMonolog führt, der sich etwas ausdenkt und etwasplant.[4]

Die philosophische Begriffsverwendung knüpfte an dieumgangssprachliche an. Auch in philosophischen Tex-ten ging es um das richtige Verständnis dessen, was demWahrnehmbaren als Realität zugrunde liegt. Das Zielder Philosophen war aber nicht wie bei den GestaltenHomers das handlungsorientierte Erfassen einer Absichtoder der Bedeutung einer gegebenen konkreten Situation,sondern Einsicht in eine hinter dem Augenschein verbor-gene Wirklichkeit.[5]

Vorsokratische Philosophen wie Empedokles undDemokrit grenzten das Denken nicht klar als Fähigkeitoder Tätigkeit besonderer Art vom Wahrnehmen ab. Siebetrachteten es ebenso wie dasWahrnehmen als körperli-chen Vorgang, bei dem materiell Gleiches von Gleichemerfasst wird. Das machte ihnen später Aristoteles zumVorwurf.[6] So glaubte Empedokles, das „um das Herzfließende Blut“ sei der Träger der Denkkraft.[7] Ermeinte, das Blut sei der am besten gemischte Stoff unddaher als Sitz der Erkenntnis geeignet.Heraklit stellte polemisch fest: „Vielwisserei führt nicht

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2 2 DER NOUS ALS INSTANZ IM MENSCHEN

zu Verständnis (nous).“[8] Damit meinte er, eine bloßeAnhäufung von Kenntnissen verleihe keine tiefere Ein-sicht. Solche Einsicht sprach er den weitaus meistenMen-schen ab.Die Voraussetzungen für eine klare Unterscheidung vonSinnesaktivität und Denktätigkeit schuf Parmenides. Erbestimmte als alleinigen Gegenstand des Denkens daszeitunabhängig Seiende, dessen Gegensatz zum Bereichder vergänglichen Sinnesobjekte er betonte. Nach seinerLehre existiert nur das Überzeitliche und daher Unwan-delbare wirklich. Die Welt der veränderlichen Dinge istunreal und ihrem Wesen nach trügerisch, sie kommt so-mit nicht als Objekt eines Denkens, das zu wahren Aussa-gen führen soll, in Betracht. Das überzeitliche Sein hinge-gen kann vomDenken adäquat erfasst werden, da Denkenund Sein die gleiche Beschaffenheit aufweisen und eineuntrennbare Einheit bilden. Daher ist der Nous diejeni-ge Instanz im Menschen, die auf sich allein gestellt zurWahrheitserkenntnis befähigt ist. Von dieser Fähigkeitmacht der Denker Gebrauch, wenn er sich dem unverän-derlichen Sein zuwendet. Dabei setzt er auch diskursives,folgerndes Denken ein. Nach der Lehre des Parmenidesist nicht nur das unmittelbare Erfassen des Seins, sondernauch logisches Schließen eine Aktivität des Nous.In der Forschung seit langem umstritten ist die Frage, wasbei Parmenides die genaue Bedeutung des Verbs noein ist.Manche Philosophiehistoriker sehen darin in erster Li-nie ein Erkennen als unfehlbares intuitives Erfassen derWahrheit; daher sei noein – wie schon Martin Heideg-ger in seiner Parmenides-Interpretation darlegte – eigent-lich nicht mit „denken“ angemessen wiederzugeben, son-dern ehermit „erkennen“. Heidegger übersetzt es als „ver-nehmen“, da es ein reines anschauendes Vernehmen vonetwas Vorhandenem in dessen purer Vorhandenheit sei.Diese Forscher berufen sich auf die Behauptung des Par-menides, es gebe kein noein des Nichtseienden. Sie mei-nen, mit noein könne somit kein Denken gemeint sein,denn etwas Nichtseiendes könne durchaus gedacht wer-den. Eine andere Forschungsrichtung zieht die Überset-zung „denken“ vor und weist darauf hin, dass noos undnoein bei Parmenides durchaus irrtumsfähig sind. Fest-zuhalten bleibt, dass Parmenides dem menschlichen no-ein die Fähigkeit zur korrekten Erfassung seines Gegen-stands, des Seienden, zuschreibt, doch nur unter Voraus-setzungen, die nicht von vornherein gegeben sind, son-dern vom Denker erst geschaffen werden müssen.[9]

2.2 Platon

Platon greift den Ansatz des Parmenides auf und arbeiteteine scharfe Unterscheidung zwischen den körperlichenObjekten der Sinneswahrnehmung und einem rein geis-tigen, nur dem Nous zugänglichen Bereich heraus. Un-ter Noesis versteht er das höchste Erkenntnisvermögen,diejenige Betätigung des Nous, mit der dieser das un-wandelbare Seiende unmittelbar und wirklichkeitsgemäßerfasst, unabhängig von jeder Sinneswahrnehmung. Da-

zu sind grundsätzlich alle Seelen von Natur aus befähigt,doch diejenigen, welche sich mit Körpern verbunden ha-ben, haben dadurch meist die noetische Erkenntnisfähig-keit verloren. Das gilt für die Seelen der Tiere, aber auchfür die weitaus meisten Seelen der Menschen. Eine Wie-dererlangung der eingebüßten Fähigkeit hält Platon fürmöglich; den Weg dazu bietet für ihn die Philosophie.[10]

Der noetischen Erkenntnisweise, die allein echtes Wis-sen vermittelt, ist im Platonismus die Dianoia (das vonSinneseindrücken ausgehend folgernde Denken) unterge-ordnet. Die Dianoia, zu der das teilweise wahrnehmungs-bezogene Denken der Mathematiker zählt, kann zwarauch zu Wissen führen, doch ist sie irrtumsanfällig, weilsie auf trügerischen Sinneseindrücken und unbewiesenenVoraussetzungen fußt. Alles Denken, das sich nicht aus-schließlich auf Nichtsinnliches richtet, erzeugt nur eineunzulängliche, möglicherweise falsche Meinung (doxa).Platon ist der Überzeugung, dass der Nous stets an eineSeele gebunden ist, ohne die er nicht existieren kann.[11]Im Rahmen der natürlichen Ordnung des Seelenlebensbeherrscht und lenkt der Nous die Seele. Sofern er dieihm zustehende Lenkfunktion tatsächlich ausüben kann,handelt der Mensch besonnen und ethisch korrekt. Fehl-verhalten ist auf eine Störung der innerseelischen hierar-chischen Ordnung zurückzuführen.

2.3 Aristoteles

Wesentliche Teile der Nouslehre des Aristoteles sind inseinenWerken nur skizzenhaft dargestellt, nicht systema-tisch ausgearbeitet, und die Übertragung seiner Begriffein moderne Terminologie ist problematisch. Daher ist dieInterpretation zentraler Elemente in der Forschung um-stritten.Für Aristoteles ist der Nous als Denkvermögen der obers-te Seelenteil des Menschen, definiert als „das, womit dieSeele denkt und Annahmenmacht“.[12] Dieser Teil ist nurin dermenschlichen Seele vorhanden, während dasWahr-nehmungsvermögen auch den Tieren und die für die Er-nährung zuständige Funktion der Seele allen biologischbeschreibbaren Lebewesen zukommt. Nicht nur tatsäch-liche Erkenntnisse, sondern auch falscheMeinungen wer-den ausschließlich vom Nous hervorgebracht. Die Fähig-keit der Tiere, sich aufgrund ihrerWahrnehmungen situa-tionsgerecht zu verhalten, führt Aristoteles auf eine be-sondere Funktion des tierischen Wahrnehmungsvermö-gens zurück, die sich ihremWesen nach von der Tätigkeitdes menschlichen Nous unterscheidet.Der Nous ist selbst formlos, er weist keine vorgegebenenInhalte auf und hat keine eigene Natur (abgesehen vonseiner uneingeschränkten Aufnahmefähigkeit) und keinihm zugeordnetes Organ. Aristoteles vergleicht ihn miteiner leeren Schreibtafel. Wegen dieser Unbestimmtheitist der Nous in der Lage, alle Formen in sich aufzuneh-men, er verfügt also der Möglichkeit nach über sie. Erstwenn er eine bestimmte Form denkend aufnimmt, wird

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2.4 Aristoteliker 3

aus der Möglichkeit hinsichtlich dieser Form Wirklich-keit. Der Nous wird jeweils das was er denkt, solange eres denkt; für alles Nichtmaterielle gilt, dass Subjekt undObjekt des Denkens identisch sind.[13] Im Unterschied zuden beiden anderen Seelenteilen ist der Nous nicht mitdem Körper vermischt, sondern autonom, doch benötigter für seine Tätigkeit die Vorstellungen (Phantasmata),die der wahrnehmende Seelenteil hervorbringt. Die er-nährende und die wahrnehmende Seele existieren vonAnfang an nur in Verbindung mit dem Körper, der Noushingegen zeichnet sich durch ein vom Körper unabhängi-ges Dasein aus. Er kommt von außen her in den Körper(„zur Tür herein“).Aristoteles verwirft die Ansicht, es könne eine materiel-le Basis und Erklärung für die Tätigkeit des Nous geben.Nach seiner Argumentation hätte eine materielle Basiszur Folge, dass das Denken so wie die Sinne auf bestimm-te Arten von Objekten und auf bestimmte räumliche Be-reiche beschränkt wäre. Nichtseiendes wäre dann für denNous unvorstellbar, zu Entferntem hätte er allenfalls mit-tels einer materiellen Übertragung, mit der die Distanzüberwunden wird, Zugang. Der Nous kann aber alles glei-chermaßen denken, er agiert unabhängig von der Existenzoder der Distanz des Gedachten. Außerdem kann nichtsDenkbares den Nous durch ein Übermaß schädigen oderzerstören, im Gegensatz zu den Sinnen, bei denen über-mäßig starke Eindrücke Zerstörung anrichten.Wie Platon unterscheidet auch Aristoteles das zuverläs-sige noetische Erfassen einzelner einfacher Sachverhal-te, die Betätigung des Nous im engeren Sinne, vom fol-gernden und vergleichenden Denken, das auf der mögli-cherweise irrigen Ableitung eines Gedankens aus einemanderen beruht und daher fehlbar ist. Prinzipien, die füreine wissenschaftliche Beweisführung vorausgesetzt wer-den müssen, aber selbst nicht deduktiv ableitbar sind,können nur auf noetischem Weg gewonnen werden. Die-sen Vorgang hält Aristoteles aber nicht für intuitiv im Sin-ne einer platonischen Wesensschau, sondern deutet ihnempirisch als Ergebnis wiederholter Wahrnehmung: Ausmehreren Wahrnehmungen bildet sich eine Erinnerung,mehrere Erinnerungen ermöglichen Verstehen (lógos); ei-ne Mehrzahl von Erinnerungen führt zu einer bestimm-ten Erfahrung (empeiría), auf vielen Erfahrungen fußt diePrinzipienerkenntnis.[14]

Eine wichtige Rolle spielt in der Philosophie des Aristote-les die Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten desNous, die für jeden menschlichen Denkvorgang benötigtwerden. Eine Art ist der „erleidende“ Nous, der affiziertwird, der nur Einwirkungen erfahren kann (nous pathēti-kós). Diesen passiven Nous hält Aristoteles für vergäng-lich. Ein andersartiger Nous ist der bewirkende (von spä-teren Kommentatoren nous poiētikós genannt, lateinischintellectus agens). Nur der bewirkende Intellekt, der Nousim eigentlichen Sinn, ist für Aristoteles ewig, immateri-ell und autonom. Er überführt die Denkobjekte aus derMöglichkeit, denkbar zu sein, in die Wirklichkeit, Denk-gegenstand zu sein. Der bewirkende Intellekt verhält sich

zum erleidendenwie das Licht zu den Farben, die es sicht-bar macht.[15] Er ist selbst von keinerlei Einwirkungenbetroffen. Sein unablässiges Wirken ist für Aristotelesder höchste Zweck des menschlichen Daseins und zu-gleich die höchste Art Glückseligkeit, die der Mensch er-reichen kann.[16] Irrtümer, die beim Denken unterlaufen,sind darauf zurückzuführen, dass der erleidende Nous,der zu den vergänglichen Dingen gehört, wie der Körpereinem Zerstörungsprozess unterliegt.

2.4 Aristoteliker

Die in der Antike als Peripatetiker bezeichneten Schülerdes Aristoteles und späteren Anhänger des Aristotelis-mus setzten in der Nous-Lehre teils andere Akzente alser oder widersprachen seiner Auffassung. Theophrastosvon Eresos, der Nachfolger des Aristoteles als Schullei-ter (Scholarch), betonte, dass der mögliche Intellekt nichtreine Möglichkeit sei in dem Sinne, dass er schlechthin„nichts“ ist, solange er nicht durch einen Gedanken in denAkt überführt wird. Vielmehr sei er auch als bloße Mög-lichkeit im selben Sinne real wie materielle Substrate.Theophrasts Nachfolger Straton von Lampsakos wandtesich gegen die strikte Trennung von Wahrnehmung undDenken. Er meinte, der Nous sei nicht erst für die Aus-wertung der Wahrnehmungen zuständig, sondern schonam Wahrnehmungsakt maßgeblich beteiligt, denn er seies, der sieht und hört, indem er die Reizung der Sinnes-organe bemerkt.In der römischen Kaiserzeit setzte sich der einflussrei-che Aristoteles-Kommentator Alexander von Aphrodi-sias mit der aristotelischen Vorstellung eines von außenin den Körper hereinkommenden Nous auseinander. Ermeinte, dies könne nicht räumlich zu verstehen sein, son-dern sei in übertragenem Sinn als Aktivierung des Denk-potentials durch das Einsetzen eines Denkvorgangs auf-zufassen, da der Verstand keinen Ortswechsel durchfüh-re. Alexander nahm eine Dreiteilung des Nous vor, indemer die erleidende Seite teilte: Dem bewirkenden (aktuel-len) Nous stellte er einen potentiellen (möglichen) undeinen habituellen gegenüber. Der potentielle (mögliche)Nous (dynámei nous, lateinisch intellectus possibilis) istpotentiell (der Möglichkeit nach) in der Lage, die Denk-objekte zu erfassen, doch verwirklicht er von sich aus die-se Denkmöglichkeit nicht. Nach Alexanders Lehre ist er„materieartig“ (hylikós), er ist reine Potenz. Unter demEinfluss des bewirkenden geht er in den habituellen (nousen héxei) oder erworbenen (epíktētos nous) über. Der ha-bituelle Intellekt ist derjenige, der bereits intelligible For-men aufgenommen hat, so dass Wissen vorhanden ist.[17]

Die spätantiken Aristoteles-Kommentatoren, die mitAusnahme von Themistios Neuplatoniker waren, ver-mischten in ihrer Nous- und Seelenlehre platonisches mitaristotelischem Gedankengut. Themistios, ein neuplato-nisch beeinflusster Aristoteliker des 4. Jahrhunderts, ver-trat ein aristotelisches Konzept mit neuplatonischen Ele-menten. Wie Alexander von Aphrodisias unterschied er

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4 3 DER NOUS ALS ONTOLOGISCHES UND KOSMOLOGISCHES PRINZIP

drei Arten von Nous. Er meinte, der mögliche Nous seinicht mit demKörper vermischt. Er könne ebenso wie derbewirkende Nous vom Körper abgetrennt werden; beideseien unvergänglich, aber nicht im Sinne von Fortexistenzeines Individualitätsbewusstseins nach dem Tode, dennbeide seien überindividuell. Daneben gebe es noch einendritten, erleidenden Nous (pathētikós nous), der untrenn-bar mit demKörper verbunden und somit vergänglich sei;auf ihm beruhe das Individualitätsbewusstsein. Der er-leidende Nous sei für das Gedächtnis, die Gemütsbewe-gungen und das diskursive Denken zuständig.[18] Manchespätantike Kommentatoren identifizierten den erleiden-den Nous mit der Vorstellungskraft (phantasía).[19]

3 Der Nous als ontologisches undkosmologisches Prinzip

3.1 Vorsokratische Zeit

Unabhängig von der Reflexion auf die spezifisch mensch-liche Denk- und Erkenntnisfähigkeit bildet sich schon inder vorsokratischen Philosophie die Vorstellung aus, esgebe auch eine übermenschliche, universale, dem gött-lichen Bereich zugeordnete Vernunft, die für die ge-samte Ordnung und Lenkung des Kosmos zuständig sei.Heraklit nennt die Weltvernunft Logos, andere Vorso-kratiker verwenden den Ausdruck „Nous“. Xenophanesschreibt der Gottheit die Fähigkeit zu, alles „mit der Kraftihres Nous“ zu erschüttern.[20] Anaxagoras nimmt ei-nen ewigen kosmischen Nous an, dem er göttliche Ei-genschaften und Funktionen zuweist, insbesondere Un-endlichkeit (Grenzenlosigkeit) und die Rolle der Instanz,die alles weiß, arrangiert und ordnet. Für diesen Vor-sokratiker ist der Nous ein eigenständiges Prinzip, dasdie sinnlich wahrnehmbare Welt autonom beherrscht unddie Veränderungen in ihr verursacht; er ist homogen, mitnichts vermischt, er ist das Feinste und Reinste. Dar-aus geht hervor, dass Anaxagoras den Nous nur graduell,nicht prinzipiell von der Materie unterscheidet und ihnnicht für transzendent hält. In seiner Lehre ist der Nousdas Prinzip des Werdens, aber nicht selbst in den Prozessdes Werdens eingebunden.[21]

3.2 Platon

In Platons Philosophie gehört die Lehre von der Vernünf-tigkeit der Weltordnung zu den Kerngedanken. Der Nousherrscht als Weltvernunft über Himmel und Erde. In derplatonischen Schöpfungslehre ist es der Demiurg (Schöp-fergott), dessen Nous die Ideen, die ewigen Urbilder dersinnlich wahrnehmbaren Dinge, dem physischen Kosmosvermittelt und diesem dadurch Gestalt verleiht. Dabei be-nötigt der göttliche Nous, um auf den ihm fremden raum-zeitlichen Bereich der Materie einwirken zu können, dieWeltseele als Zwischeninstanz. Durch diesen geistigen

Einfluss erhält die von sich aus ungestaltete, chaotischeSinneswelt ihre vernunftgemäße und damit auch schöneStruktur und wird zugleich belebt, denn die platonischeIdeenwelt, der sie alles verdankt, ist selbst von Lebendurchdrungen. Als Erzeugnis der Ideenwelt ist die Weltder sinnlich wahrnehmbaren Formen ein von der Welt-seele beseeltes und gelenktes Lebewesen. Sie ist auchselbst vernünftig, da der Demiurg die Weltseele mit ei-nem eigenen Nous ausgestattet hat, der die Ursache derregelmäßigen Abläufe im Kosmos ist.Vom Nous geht nur Gutes aus, seine schöpferische Tätig-keit zielt stets auf das Bestmögliche. Allerdings ist seineHerrschaft imKosmos nicht absolut. Das Prinzip, das sei-nen Einfluss auf die materielle Welt einschränkt, ist dieNotwendigkeit (anánkē). Die Notwendigkeit setzt deminnerhalb des materiellen Bereichs Realisierbaren dieje-nigen Grenzen, die sich notwendigerweise aus der Naturder Materie ergeben. Die Materie ist nämlich ihrer Na-tur nach nicht dazu geeignet, sich ebenso wie die geis-tige Welt widerstandslos vom Nous gestalten und len-ken zu lassen. Ihre naturgegebene (und damit notwendi-ge) Mangelhaftigkeit lässt das nicht uneingeschränkt zu.Im Schöpfungsmythos, der in Platons Dialog Timaios er-zählt wird, bewegt der Nous die Notwendigkeit durch„vernünftige Überredung“ zur Unterwerfung und zu kon-struktivem Zusammenwirken.[22] Sein Walten setzt sichgegenüber dem Zufälligen, Ungeordneten, das notwendi-gerweise aus der Beschaffenheit der Materie resultiert,weitgehend durch. Daraus ergibt sich, dass im KosmosOrdnung und Gesetzmäßigkeit vorherrschen. Die Ten-denz der Materie zum Chaotischen wird durch die Ein-wirkung des Nous eingedämmt. Somit ist die Welt, in derdie Menschen leben, nicht als Erzeugnis des vollkomme-nen Nous in jeder Beziehung schlechthin optimal. Viel-mehr sind die bestehenden Gegebenheiten nur das Beste,was der Nous hier der Notwendigkeit abringen kann.[23]

3.3 Aristoteles

Auch für Aristoteles ist der Nous nicht nur ein Teil dermenschlichen Seele, sondern er bezeichnet mit diesemBegriff auch ein kosmologisches Prinzip, den „ersten Be-weger“. Der erste Beweger ist die ewige, selbst unbeweg-te, keiner Beeinflussung oder Veränderung unterliegendeSubstanz, welche alle Bewegung verursacht. Die bewegli-chen Dinge sind in Bewegung, weil sie von ihrem Strebenzum unbewegten Beweger angetrieben werden. Dieser istsomit zwar die Ursache ihrer Bewegung, doch ohne dasser selbst hinsichtlich des Kosmos irgendeine Absicht ver-folgt. Seine Ursächlichkeit ergibt sich aus seiner Existenz;er schafft die Bewegung nicht, sondern löst sie nur aus.Im Gegensatz zu den der Möglichkeit nach (potentiell)existierenden, nur zeitweilig verwirklichten Dingen istder Nous als erster Beweger reine Wirklichkeit (enérgeia,Akt) im Sinne der aristotelischen Unterscheidung vonAkt und Potenz. Das Denken ist als höchstrangige Akti-vität zugleich die einzige, die dem ersten Beweger ange-

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3.5 Mittelalter und Neuzeit 5

messen ist und ihm daher auch notwendigerweise immerzukommt. Daraus folgt im Aristotelismus, dass der Nousunablässig denkt. Da das Objekt seines Denkens nichtssein kann, was von niedrigerem Rang ist als er selbst (an-derenfalls wäre seine Würde durch die Hinwendung zuetwas Geringerem beeinträchtigt), kann er nur sich selbstdenken. Somit ist die Denktätigkeit des Nous ausschließ-lich auf ihn selbst bezogen, sie ist nóēsis noḗseōs („Denkendes Denkens“).[24] Da für Aristoteles der erste Bewegerdas höchste Prinzip ist, lokalisiert er den mit diesem Prin-zip gleichgesetzten Nous an der Spitze der ontologischenHierarchie.

3.4 Hellenismus und römische Kaiserzeit

Für Platons Schüler Speusippos ist der Nous mit demDemiurgen identisch, er ist ein transzendenter Gott.[25]Xenokrates, ein weiterer Schüler Platons, setzt den Nousmit der monás gleich, dem Einen (hen) als dem ontolo-gisch höchsten Prinzip und der obersten Gottheit.[26]

Im Mittelplatonismus und im Neupythagoreismus ist dieAuffassung verbreitet, das ontologisch höchste Prinzipsei mit dem Seienden und zugleich mit dem Nous undmit Platons Demiurgen zu identifizieren. Die Mittelpla-toniker betonen die Transzendenz dieses Prinzips gegen-über den übrigen Seinsstufen, die ihm alle untergeordnetseien. Mit der Positionierung des Nous an der Spitze derhierarchischen Rangordnung stimmen sie mit Aristote-les und Xenokrates überein.[27] Dieser Ansicht schließtsich auch der Verfasser der Chaldäischen Orakel an; erstellt den „ersten Nous“ als „Monas“ an die Spitze sei-nes Systems und fasst die Weltseele, die in seiner Stu-fenordnung unmittelbar auf diese oberste Gottheit folgt,als zweiten Nous auf. Auch der einflussreiche Mittelpla-toniker Numenios nimmt unter dem ersten Nous einenzweiten an, den er für den Schöpfer des sinnlich wahr-nehmbaren Kosmos hält.[28]

Im 3. Jahrhundert fasst Plotin, der Begründer des Neupla-tonismus, die Ideen mit Berufung auf Platon als die In-halte der zeitlosen Selbstanschauung des absoluten, über-individuellen Nous auf. Diesen Nous identifiziert er mitdem ursprünglich Seienden und – wie schon die Mittel-platoniker – mit dem Demiurgen. Im Unterschied zu denMittelplatonikern grenzt er den Nous aber scharf vom Ei-nen, dem höchsten Prinzip, ab. Das Eine hält er für „über-seiend“, der Nous ist bei ihm das Abbild des Einen undals solches das zweithöchste, dem Einen unmittelbar un-tergeordnete Prinzip. Ausführlich begründet Plotin seineÜberzeugung, dass das Eine vom Nous verschieden undihm übergeordnet sei. Er argumentiert, wenn das Den-ken des Nous sich auf ihn selbst beziehe, sei er zugleichDenkendes und Gedachtes und damit sei in ihm bereitseine Zweiheit gegeben, die seine Identität mit dem ab-solut Einen ausschließe. Wenn sich der Nous aber den-kend einem Objekt zuwende, das außerhalb von ihm ist,so werde dieses Objekt als ihm vorgängiges Prinzip vor-ausgesetzt, was ebenfalls die Annahme einer vorhande-

nen Zweiheit erfordere und damit die Gleichsetzung desNous mit dem höchsten Prinzip, dem ursprünglich Einen,verunmögliche.[29]

Plotin ist der Auffassung, dass der Nous sich einerseitsdem Einen zuwendet („auf es hinblickt“), andererseitsaber auch bei sich selbst ist und – wie schon Aristotelesannahm – sich selbst denkt. Dieses Denken ist ein unmit-telbares Erfassen der in ihm enthaltenen Denkobjekte. ImNous bilden Denksubjekt, Denkobjekt und der überzeit-lich zu verstehende Denkakt eine Einheit, das Denkob-jekt hat ontologisch keine Priorität vor dem Denken. Ne-ben dem Denken und dem Sein hebt Plotin das Lebenals drittes Merkmal des Nous hervor. Die Einzelseele istgrundsätzlich fähig, zum überindividuellen Nous aufzu-steigen und sich ihm dabei so anzugleichen, dass sie ihnintuitiv erfassen kann.[30]

Bei den spätantiken Neuplatonikern Iamblichos, Syrianosund Proklos wird die Nous-Lehre ausgebaut und durchUntergliederung des Nous ausdifferenziert. Iamblichosführt innerhalb des Nous die Unterscheidung zwischeneiner höherrangigen „intelligiblen Welt“ (kósmos noētós)und einer untergeordneten „intellektualen Welt“ (kósmosnoerós) ein, wobei er beiden noch eine Binnenstruktur zu-weist. Syrianos und Proklos ergänzen dieses zweistufigeModell um eine Zwischenstufe, die „intelligible und intel-lektuale Welt“. Für Proklos ist in der hierarchischen Stu-fenordnung jede Stufe das Erzeugnis des Denkakts derjeweils unmittelbar übergeordneten Stufe.

3.5 Mittelalter und Neuzeit

Im Byzantinischen Reich wirkten neuplatonische Nous-Vorstellungen über die Werke einflussreicher Theologenwie Pseudo-Dionysius Areopagita und Maximus Con-fessor nach. Der spätantike christliche NeuplatonikerPseudo-Dionysius, an dessen Konzept im 7. JahrhundertMaximus anknüpfte, nahm drei Bewegungsformen derGeistseele an: eine kreisförmige, mit der sich die Seelevon allem Äußeren zurückzieht und auf sich selbst kon-zentriert, eine spiralförmige, mit der sie diskursiv folgert,und eine geradlinige, mit der sie ihre Auseinandersetzungmit derWelt der Sinnesobjekte vollzieht. Die erste ordne-te Maximus dem Nous als dem höchsten Erkenntnisver-mögen des Menschen zu, die zweite dem Logos als zweit-rangigem Erkenntnisvermögen und die dritte der Sinnes-wahrnehmung. Im lateinischsprachigen Westen griff im9. Jahrhundert der Philosoph Eriugena diese Einteilungauf.[31]

In der west- und mitteleuropäischen philosophischen Li-teratur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit wurde fürden Intellekt gewöhnlich nicht der griechische Ausdrucknous, sondern das lateinische Wort intellectus verwendet.Allerdings diente intellectus auch speziell zur Bezeich-nung der diskursiven Verstandestätigkeit im Gegensatzzur lateinisch ratio genannten Vernunft. Die Begriffsver-wendung war nicht durchgängig klar und konsequent.[32]

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6 5 ANMERKUNGEN

In literarischen Darstellungen einer von antikem Gedan-kengut geprägten Kosmologie tritt im 12. Jahrhundertder Nous, als Noys latinisiert, bei Bernardus Silvestrisund Alanus ab Insulis in der Rolle des personifiziertengöttlichen Geistes auf. Bei diesen Autoren ist Noys ei-ne allegorische weibliche Gestalt, welche die göttlicheWeisheit und Vorsehung verkörpert und in der Schöpfungzur Geltung bringt. In Bernardus’ Dichtung Cosmogra-phia gehört sie zu den Hauptfiguren und wird als GottesTochter bezeichnet.[33]

4 Literatur

• Gerhard Jäger: „NUS“ in Platons Dialogen (=Hypomnemata Bd. 17). Vandenhoeck & Ruprecht,Göttingen 1967

• Hans JoachimKrämer:Der Ursprung der Geistmeta-physik. Untersuchungen zur Geschichte des Platonis-mus zwischen Platon und Plotin, 2. Auflage, Grüner,Amsterdam 1967

• Maria Marcinkowska-Rosół: Die Konzeption des'noein' bei Parmenides von Elea. De Gruyter, Ber-lin 2010, ISBN 978-3-11-021759-9

• Horst Seidl: Der Begriff des Intellekts (νοῦς) beiAristoteles im philosophischen Zusammenhang seinerHauptschriften. Hain, Meisenheim am Glan 1971

• Thomas Alexander Szlezák: Platon und Aristotelesin der Nuslehre Plotins. Schwabe, Basel 1979, ISBN3-7965-0724-7

5 Anmerkungen[1] Eine knappe Forschungsübersicht bietet James H. Lesher:

TheMeaning of ΝΟΥΣ in the Posterior Analytics. In: Phro-nesis 18, 1973, S. 44–68, hier: 47f.

[2] Zur Problematik der Wiedergabe von nous im Deutschensiehe Rudolf Schottlaender: Nus als Terminus. In: Hermes64, 1929, S. 228–242.

[3] Homer, Ilias 15,422.

[4] Zum Nous bei Homer siehe Arbogast Schmitt: Selbstän-digkeit und Abhängigkeit menschlichen Handelns bei Ho-mer, Stuttgart 1990, S. 130–141, 182–226. Schmitt kriti-siert ältere Forschungsmeinungen, darunter diejenige vonKurt von Fritz. Vgl. Kurt von Fritz: Die Rolle des νοῦς.In: Hans-Georg Gadamer (Hrsg.): Um die Begriffswelt derVorsokratiker, Darmstadt 1968, S. 246–363, hier: 246–276; James H. Lesher: Perceiving and Knowing in the Iliadand Odyssey. In: Phronesis 26, 1981, S. 2–24, hier: 8–19;Thomas Buchheim: Die Vorsokratiker, München 1994, S.108–110, 112f.; Maria Marcinkowska-Rosół: Die Kon-zeption des 'noein' bei Parmenides von Elea, Berlin 2010,S. 33–44.

[5] Kurt von Fritz: Die Rolle des νοῦς. In: Hans-Georg Gada-mer (Hrsg.):Um die Begriffswelt der Vorsokratiker, Darm-stadt 1968, S. 246–363, hier: 279f., 283–285, 353f.

[6] Horst Seidl:Der Begriff des Intellekts (νοῦς) bei Aristotelesim philosophischen Zusammenhang seiner Hauptschriften,Meisenheim am Glan 1971, S. 17–19, 21–24.

[7] Empedokles DK 31 B 105. Vgl. Maureen RosemaryWright (Hrsg.): Empedocles: The Extant Fragments, NewHaven 1981, S. 250–252.

[8] Heraklit DK 22 B 40. Vgl. Miroslav Marcovich (Hrsg.):Heraclitus. Greek text with a short commentary, 2. Auflage,Sankt Augustin 2001, S. 61–66.

[9] Eine ausführliche Übersicht über die Forschungsdiskussi-on bietet Maria Marcinkowska-Rosół: Die Konzeption des'noein' bei Parmenides von Elea, Berlin 2010, S. 17–33;sie selbst plädiert für die Übersetzung „denken“.

[10] Filip Karfik:Gott als Nous. In: Dietmar Koch u. a. (Hrsg.):Platon und das Göttliche, Tübingen 2010, S. 82–97, hier:94–96.

[11] Amber D. Carpenter: Embodying Intelligence. In: JohnDillon, Marie-Élise Zovko (Hrsg.): Platonism and Formsof Intelligence, Berlin 2008, S. 39–57, hier: 40–43.

[12] Aristoteles, De anima 429a. Siehe dazu den Kommen-tar von Ronald Polansky: Aristotle’s De anima, Cambridge2007, S. 434–445.

[13] Aristoteles, De anima 430a.

[14] Zu Aristoteles’ Umgang mit dieser erkenntnistheoreti-schen Problematik siehe James H. Lesher: TheMeaning ofΝΟΥΣ in the Posterior Analytics. In: Phronesis 18, 1973, S.44–68; vgl. Horst Seidl: Der Begriff des Intellekts (νοῦς)bei Aristoteles im philosophischen Zusammenhang seinerHauptschriften, Meisenheim am Glan 1971, S. 82–85.

[15] Aristoteles, De anima 430a. Siehe dazu den Kommen-tar von Ronald Polansky: Aristotle’s De anima, Cambridge2007, S. 462–464.

[16] Armin Hruby: Nous und Kosmos. Interpretationen zu Aris-toteles’ und Hegels Anaxagoras-Rezeption, Köln 1986, S.62–77.

[17] Zum Verständnis des Nous bei den Peripatetikern sieheChristof Rapp, Christoph Horn: Vernunft; Verstand. II.Antike. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band11, Basel 2001, Sp. 749–764, hier: 757–759; zur Nous-lehre Alexanders Paul Moraux: Der Aristotelismus bei denGriechen, Bd. 3, Berlin 2001, S. 343–353, 373–382.

[18] Zur Intellektlehre des Themistios siehe Frederic M.Schroeder, Robert B. Todd: Two Greek Aristotelian Com-mentators on the Intellect, Toronto 1990, S. 37–39; OmerBallériaux: Thémistius et le néoplatonisme. In: Revue dePhilosophie Ancienne 12, 1994, S. 171–200, hier: 173–186.

[19] Henry J. Blumenthal: Nous pathētikos in Later Greek Phi-losophy. In: Henry Blumenthal, Howard Robinson (Hrsg.):Aristotle and the Later Tradition, Oxford 1992, S. 191–205, hier: 197–205.

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[20] Xenophanes DK 21 B 25. Siehe dazu Kurt von Fritz: DieRolle des νοῦς. In: Hans-Georg Gadamer (Hrsg.): Um dieBegriffswelt der Vorsokratiker, Darmstadt 1968, S. 246–363, hier: 290f.

[21] Zu Anaxagoras’ Vorstellung vom Nous siehe Armin Hru-by: Nous und Kosmos. Interpretationen zu Aristoteles’ undHegels Anaxagoras-Rezeption, Köln 1986, S. 12–15, 20–23, 28–37; Kurt von Fritz: Der ΝΟΥΣ des Anaxagoras.In: Archiv für Begriffsgeschichte 9, 1964, S. 87–102, hier:90–92.

[22] Platon, Timaios 48a.

[23] Zum Verhältnis von Nous und Notwendigkeit im Timaiossiehe Lothar Schäfer: Das Paradigma am Himmel. Platonüber Natur und Staat, München 2005, S. 183–197.

[24] Michael Bordt: noêsis noêseôs. In: Otfried Höffe (Hrsg.):Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, S. 374–376; Hans Joa-chimKrämer:Noesis Noeseos. In:HistorischesWörterbuchder Philosophie, Bd. 6, Basel 1984, Sp. 871–873; HorstSeidl: Aristoteles’ Lehre von der ΝΟΗΣΙΣ ΝΟΗΣΕΩΣ desersten, göttlichen Vernunftwesens und ihre Darstellung beiPlotin. In: Jürgen Wiesner (Hrsg.): Aristoteles. Werk undWirkung, Bd. 2, Berlin 1987, S. 157–176 (unterscheidetzwischen der Lehre des Aristoteles und ihrer Abwandlungbei späteren Peripatetikern).

[25] Hans Joachim Krämer: Der Ursprung der Geistmetaphy-sik, 2. Auflage, Amsterdam 1967, S. 214–217.

[26] Hans Joachim Krämer: Der Ursprung der Geistmetaphy-sik, 2. Auflage, Amsterdam 1967, S. 32–45, 57–62.

[27] Jens Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen, 2. Auflage,Leipzig 2006, S. 45f.; Hans Joachim Krämer: Der Ur-sprung der Geistmetaphysik, 2. Auflage, Amsterdam 1967,S. 45–59, 69.

[28] Hans Joachim Krämer: Der Ursprung der Geistmetaphy-sik, 2. Auflage, Amsterdam 1967, S. 27, 66–75.

[29] Jens Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen, 2. Auflage,Leipzig 2006, S. 48–50, 137f.

[30] Jens Halfwassen: Geist und Selbstbewußtsein, Stuttgart1994, S. 21–30; Jens Halfwassen: Der Aufstieg zum Ei-nen, 2. Auflage, Leipzig 2006, S. 50, 130–149.

[31] Markus Enders: Vernunft; Verstand. III. Mittelalter. A. Au-gustinus, Frühmittelalter, Frühscholastik. In: HistorischesWörterbuch der Philosophie, Band 11, Basel 2001, Sp.764–770, hier: 766f.

[32] Siehe dazu den Artikel Vernunft; Verstand. I. Zur Termi-nologie. In:HistorischesWörterbuch der Philosophie, Band11, Basel 2001, Sp. 748f.

[33] Bernardus Silvestris, Cosmographia, hrsg. Peter Dronke,Leiden 1978, S. 97–99, 102–104, 118–121, 126, 137,140–142; vgl. S. 31–33, 38–40; Alanus ab Insulis: An-ticlaudianus II 371, V 169, V 282, VI 434, VI 442, VI461. Vgl. Winthrop Wetherbee: Platonism and Poetry inthe Twelfth Century, Princeton 1972, S. 162–167, 178–181.

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8 6 TEXT- UND BILDQUELLEN, AUTOREN UND LIZENZEN

6 Text- und Bildquellen, Autoren und Lizenzen

6.1 Text• Nous Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Nous?oldid=139490233 Autoren: Zenon, Wolfgang1018, Bender235, Hadsche, FlaBot, MarcusCyron, RobotQuistnix, €pa, YurikBot, Gamma, Munibert, Nost, Schwall, Victor Eremita, DuMonde, PixelBot, Nwabueze, Thijs!bot, Es-carbot, RebelRobot, VolkovBot, Moros, Rei-bot, Idioma-bot, SieBot, Loveless, Steak, Ingo-Wolf Kittel, SilvonenBot, Ginomorion, Fouk,Slllu, Rubinbot, 24karamea, Nike Nightingale, Dinamik-bot, Sokonbud, ZéroBot, Andrew Lancaster, KLBot2, AvicBot, Radiojunkie, JL-Kiel, DerRächer2 und Anonyme: 8

6.2 Bilder

6.3 Inhaltslizenz• Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0