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Nummer 38 | 18. September 2020 Nur die Harten kommen in den Garten? Von wegen. Ein Heſt über Männer

Nur die Harten kommen in den Garten? Von wegen. Ein Heft ... · diese Seinfeld -Episode schrieb, die auf eine wirkliche Tradition seiner Familie zurück - geht. Es soll Menschen geben,

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Nummer 38 | 18. September 2020

Nur die Harten kommen in den Garten? Von wegen.Ein Heft über Männer

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14 Vor zehn Jahren eskalierte ein Polizeieinsatz auf einer Demonstration gegen den Bahnhofsbau Stuttgart 21.

Jener »schwarze Donnerstag« hat das Leben einiger Beteiligter bis heute radikal verändert.

28 Der Rock-Pionier Achim Reichel spricht über die Gründerjahre mit den Rattles und seinen großen

Überraschungserfolg, der Menschen auf Tanzflächen ins Rudern bringt.

36 Unser Autor konnte lange Zeit kaum etwas hören – bis er beschloss, technisch endlich mit der Zeit zu gehen.

38 Garten und Balkon sind voll kleiner Wunder – und mittendrin: die neue Wintermode.

44 Jonathan Anderson gilt als einer der besten Modedesigner seiner Generation. Ein Interview über den Fluch

erreichter Ziele und die guten Seiten seiner sehr schwierigen Kindheit.

10 Sagen Sie jetzt nichts 12 Gute Frage, Gefühlte Wahrheit, Gemischtes Doppel, Die drei großen Lügen 52 Kosmos 54 Das Koch-

quartett 55 Getränkemarkt 56 Hotel Europa, Gewinnen, Impressum 57 Das Kreuz mit den Worten 58 Das Beste aus aller Welt

INHALT NR. 38 18 . SEPTEMBER 2020

ZEICHEN DER ZEIT • Emojis für Erwachsene (156)

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Die Geister, die ich rief

Auch nach einem halben Jahr Corona sitzen viele Menschen weiter im Homeoffice fest. Wer dort das Gemurmel der Kollegen vermisst, findet auf diversen Web­seiten eine Geräuschkulisse, die dem Heim arbeitsplatz eine An­mutung von Großraumbüro ver­leiht. Hilft das? Ein Selbstversuch:sz-magazin.de/homeoffice

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Gottfried Böhm ist einer der bedeutendsten Architekten des

20. Jahrhunderts, seine Kirchen und brutalistischen Beton­

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10 SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN

Sergei PoluninGEBOREN 20. November 1989

BERUF Balletttänzer AUSBILDUNG Royal Ballet School London STATUS Der aus der Reihe tanzt

SAGEN S IE JET Z T NICHTS

Was muss ein echter Held können?

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Weitere Fragen und Bilder finden Sie in unserer App und auf sz.de/magazin/ssjn

Löwe haben sie ihn beim Royal Ballet genannt, weil er sich so geschmeidig auf die Sprünge zubewegt. Weil er höher springt als die anderen. Und vielleicht auch, weil er sich nicht zähmen lässt. Versucht haben es viele. Seine Mutter Galina zuerst. Sie lässt ihn in Kiew an der Ballettschule vor-tanzen, mit neun. Vier Jahre später wechselt er auf die Royal Ballet School in London, ein Stipendium. Er trainiert härter als die anderen. Oft ist es der Hausmeister, der sagt: Junge, geh schlafen. Mit 17 gehört er zur Kompanie, mit 20 ist er der jüngste Hauptsolist in der Geschichte des Royal Ballet. Und da schert Sergei Polunin aus. Nimmt Drogen, prahlt in

den sozialen Netzwerken mit durchfeierten Nächten. Schließlich, mit 22, kündigt er beim Royal Ballet. Ist noch nicht vorgekommen, dass jemand aus dem Osten, der es so weit in den Westen geschafft hat, über Nacht verschwindet und lieber im russischen Reality-TV auftritt. »Bad Boy of Ballet«, betiteln sie ihn seitdem. Er fällt immer wieder auf mit homophoben und sexistischen Tweets – die er natürlich alle nicht so verstanden haben will, die ihn trotzdem auch mal ein Engagement kosten. Eindeutig ist das Putin-Tattoo auf seiner Brust, aber das wird nun häufig von seinem Baby verdeckt. Mir heißt der Kleine, auf Deutsch: Frieden.

Wie stehen Kunst und Politik derzeit zueinander?

Sie drücken sich durch Ihren Körper aus. Wann ist er still?

Wie schließen Sie mit sich selber Freundschaft?

28 Millionen Klicks auf Youtube. Und Sie?

Das größte Opfer, das Sie dem Tanz bringen?

Was wird der Westen nie über den Osten begreifen?

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12 SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN

s gab mal eine Folge der Serie Seinfeld, in der ans Licht kam, dass Georges Vater Frank Costan-

za, gespielt von Jerry Stiller, im wahren Leben der Vater von Ben Stiller (Jerry starb im Mai), ein Gegenfest zu Weihnach-ten erfunden hatte, weil er die religiösen und kommerziellen Aspekte daran so hasste. Er nannte es Festivus, mit dem Slogan: »A Festivus for the rest of us« (ein Feiertag für alle anderen von uns). Pop-kulturell versierte Menschen wissen, dass beim Festivus anstelle eines Baumes eine Aluminiumstange aufgestellt wird, unge-schmückt, und dass der Vater vor dem Abendessen bekannt gibt, wer ihn im vergangenen Jahr womit enttäuscht hat (dieser Programmpunkt heißt »Airing of Grievances«, seinem Unmut Luft machen), und nach dem Essen gibt es noch die »Feats of Strength«, die Heldentaten der Stärke, bei der ein vom Vater auserkorener Anwesender mit ihm Kräfte messen muss. Der Festivus gilt als bekanntester erfun-dener Feiertag zumindest der USA, es gibt viele Einträge im Internet darüber und sogar ein Buch des Drehbuchautors, der

diese Seinfeld-Episode schrieb, die auf eine wirkliche Tradition seiner Familie zurück-geht. Es soll Menschen geben, die den Fes-tivus tatsächlich begehen, traditionell am 23. Dezember.Ich möchte Ihnen vorschlagen, etwas Ähn-liches zu machen: Erfinden Sie ein Gegen-fest, das Sie am Tag dieser Hochzeit feiern. Falls niemand kann, feiern Sie allein. Das sind nicht immer die schlechtesten Feste. Den Namen denken Sie sich aus. Der Slo-gan könnte in folgende Richtung gehen: Endlich bin ich die falsche Freundin los. Die scheint sich nämlich nicht sonderlich für Sie zu interessieren. Für Ihren gewalt-tätigen Exfreund schon eher. Pfeifen Sie auf ihre Hochzeit. Es wird lustigere Feste für Sie geben. Es gibt so viele Menschen auf der Welt, man muss wirklich nicht an welchen hängen, die einem nicht guttun.

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»Meine engsten Freundinnen und ich sind Gäste einer Hochzeit, zu der auch mein Exfreund eingeladen ist. Er schlug mich, ich war jahrelang in Therapie. Braut und Bräu-tigam hielten Kontakt zu ihm, meine einst enge Freund-schaft zur Braut ist deshalb distanziert. Sie war damals die Erste, bei der ich Hilfe suchte. Ihr Verrat schmerzt nach wie vor, von ihr wusste er auch, wo ich nach der Trennung hinzog, wo ich mir dann von ihm verfolgt vorkam. Ich kann in Anwesenheit meines Ex nicht ausgelassen feiern. Das habe ich der Braut gesagt. Antwort: Schweigen. Soll ich dennoch hin?« ANONYM

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BELARUSWerden in der Zelle

drei Tage langvon der Polizei

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WAS MIT LEUTEN PASSIERT,

DIE DAS »ENDE DER DIKTATUR«

FORDERN

DEUTSCHLANDKommentatoren fordern den

Dialog, Talkshows schicken Einladungen, der örtliche Bundestagsabgeordnete schaut

auf ein Gespräch vorbei.

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Dietrich Wagner, 76, der am 30. September 2010

von einem Wasserwerfer an beiden Augen schwer verletzt wurde, demons­

triert noch heute fast jeden Montag gegen den

neuen Bahnhof in seiner Heimatstadt.

InseinenAugen

Vor zehn Jahren, als gegen den Bahnhofsbau »Stuttgart 21« protestiert wurde, eskalierte der Polizeieinsatz zur Räumung

des Schlossgartens. Dieser »schwarze Donnerstag«hat bis heute tiefe Spuren hinterlassen – und das Leben

einiger Menschen schlagartig verändert

Text PATRICK BAUER Fotos JULIAN BAUMANN

SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN 15

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16 SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN

Der Mann mit den blutenden Augen: Nachdem dieses Foto entstanden war, lag Dietrich Wagner

zwei Wochen im Katharinenhospital. Dort be­suchte ihn der baden­württembergische CDU­

Innenminister Heribert Rech. Wagner beschimpfte ihn nur. Ministerpräsident Stefan Mappus sagte,

er habe »keinerlei Schuldgefühle«.

Am 30. September 2010 sind, unter Tausen-den, drei Männer im Mittleren Schlossgarten von Stuttgart. Dietrich Wagner, Daniel Kart-mann und Ralf Perrey.

Ralf Perrey ist damals 46 Jahre, Erster Hauptkommissar, stellvertretender Leiter des Polizeireviers 2, seit zwei Monaten erst. Er hatte lange die Motorradstaffel verantwortet, aber irgendwann kennsch halt den Arafat und Mick Jagger und alle Spieler vom VfB.

Gleich an seinem ersten Arbeitstag im August, morgens um sechs, trat Perrey seinen Dienst aber nicht im Büro in der Wolfram-straße 36 an, sondern einen Kilometer Luft-linie entfernt im Hauptbahnhof, wo 300 Geg-ner von »Stuttgart 21« wegen des anstehenden Abrisses des Nordflügels eine Einfahrt blo-ckiert hatten, mal wieder.

Es war ein anstrengender Sommer. Die Einsatzhundertschaften, die Jungen, mussten fast täglich wegen solcher S21-Einsätze aus

Göppingen oder Bruchsal anreisen, 60, 100 Kilometer über die Autobahn und runter durch den Stau, im Wissen, dass es wieder kompliziert werden wird. Denn Perrey weiß damals schon: Du kannst gegen eine 80-jäh-rige Hausfrau nicht vorgehen wie gegen einen 20-Jährigen, selbst wenn sie dieselbe Straftat begeht. Hooligans erkennst du wenigstens, die wollen schlägern. Aber das waren ganz normale Leute, die wollten reden. Über den Frust darüber, dass die da oben machen, was sie wollen, über Machbarkeitsstudien und sel-tene Juchtenkäfer, wegen denen keine Bäume gefällt werden dürften. Und wer stand vor ihnen? Ralf Perrey, eine Stimme wie Maschi-nenöl, konnte seine schärfste Waffe einsetzen: Die Leut’ wegschwätzen, wie er es nennt.

Manche Demonstranten sagten, erinnert sich Perrey: Tut uns leid, dass ihr wegen uns Über-stunden macht! Es ging gegen die Bahn, die Politik, aber nie gegen Perrey persönlich.

Doch der Tag X musste kommen. Ab 1. Oktober durfte gerodet werden. An jenem 30. September, das war intern seit Tagen klar, sollten sie den Schlossgarten absperren. Ein Großeinsatz, geleitet vom Stuttgarter Polizei-präsidenten Siegfried Stumpf persönlich, einem Mann, den Perrey immer als sehr be-sonnen erlebt hatte, maßgeblich beteiligt an der »Stuttgarter Linie«, die für Deeskalation stand. Stumpf hatte noch im April, von der Stuttgarter Zeitung gefragt, ob er mit dem Ein-satz von Wasserwerfern oder Tränengas rech-ne, geantwortet, davon halte er gar nichts, »weil das einen starken symbolischen Cha-rakter hat und uns keine Sympathien ein-bringen würde«.

Ralf Perreys Aufgabe ist es an diesem Tag, dafür zu sorgen, dass die vielen Einheiten, die zur Unterstützung aus Bayern, Nord-rhein-Westfalen oder Schleswig-Holstein an-reisen, zur richtigen Zeit am richtigen Ort sind. Das heißt: Kolleginnen und Kollegen, die teils zehn Stunden Fahrt hinter sich ha-ben, durch eine unbekannte Stadt lotsen,

und zack, raus aus dem Bus, los. Umso schwieriger, als die Aktion kurzfristig von 14 Uhr auf 10 Uhr vorverlegt wird. Der ur-sprüngliche Termin hatte sich bis zu den »Parkschützern« – Motto: »Bei Abriss Auf-stand!« – herumgesprochen.

Um 10.25 Uhr lösen diese ihren »Alarm« aus, alle Unterstützer werden aufgefordert, sofort in den Schlossgarten zu kommen. Die Ersten sind Hunderte Schülerinnen und Schüler, die gerade in der Nähe demonstrie-ren. Einige klettern auf die Polizei-Last wagen, in denen die Absperrgitter liegen. Die zwei Wasserwerfer, die Siegfried Stumpf doch von der Bereitschaftspolizei angefordert hat, ha-ben den Park noch nicht erreicht. Ralf Perrey erzählt, wie er damals dachte: Dumm. Jetzt sind die Leute vor den Wasserwerfern da. Die-se sind mit ihrer Wucht gut, um Menschen auf Distanz zu halten, aber mit ihrer Unbe-weglichkeit schlecht, um Menschen zu be-drängen. Wenn du ver hindern willst, so er-klärt es Perrey, dass ein Haus besetzt wird, reichen fünf Kollegen, das ist einfach. Willst du ein besetztes Haus räumen, brauchst du fünfmal so viele, das ist der Horror.

Perrey sieht, wie immer mehr kommen, Alte, Kinder, Brüllende, Weinende, mit Fahr-radhelm auf dem Kopf, Plakaten vor dem Bauch, Trommeln, Trillerpfeifen. Er steht hundert Meter hinter den Kollegen in Mon-tur, die Mühe haben, im Chaos die Absper-rung zu errichteten. Sie hören ihn nicht. Es ist keine Zeit mehr zu schwätzen. Er riecht den Pfeffer in der Luft. Er sieht, wie das Was-ser aus dem WaWe9000, 26 Tonnen schwer, in der Luft zerstäubt und sich mit ihrem Schweiß vermischt. Er weiß, dass es zwei Möglichkeiten gibt: Entweder sie ziehen das durch oder sich zurück. Das wäre eine Nie-derlage, hässliche Bilder, vor allem für den CDU-Ministerpräsidenten Stefan Mappus, der im Wahlkampf unnachgiebig bleiben will. Kanzlerin Merkel hat zwei Wochen vor-her im Bundestag gesagt, »Stuttgart 21« sei der Maßstab für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands.

Ralf Perrey denkt: Warum gehen die nicht weg? Lautsprecherdurchsage nach Lautspre-cherdurchsage. Warum bleiben die stehen?

Als er in der Nacht um zwei abgelöst wird, sieht er die ersten Bäume fallen.

Daniel Kartmann, damals 33, Musiker, Vater von drei Söhnen, geht mit seinem jüngsten, ein Jahr alt, am 30. September 2010 wie so oft im Schlossgarten spazieren, zufällig. Die älteren hat er vorher aber auch mal mit auf die friedlichen Demos genommen. Es ist

Der Polizist Ralf Perrey weiß, dass es zwei Möglich-keiten gibt: Sie ziehen das durch – oder sich zurück

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SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN 17

Dietrich Wagner kurz bevor ihn der Strahl des Wasserwerfers frontal ins Gesicht

traf. Wagner sagt, er habe die demons­trierenden Schüler schützen wollen.

ihm wichtig, dass die Kinder das miterleben. Ihnen zu sagen: Wir finden falsch, was mit dem Bahnhof passiert, all das verschwendete Geld, das in eure Zukunft investiert werden könnte, deswegen erheben wir unsere Stim­me, das ist Demokratie.

An diesem Tag aber kommt das Gerücht auf: Die schicken Wasserwerfer! Sollen sie, denkt Kartmann, sie werden sehen, wer hier ist, keine Chaoten, alles wie immer. Aber diesmal ist es anders, merkt er schnell. Die Leute wirken geschockt. Die schiere Präsenz der kampfbereiten Polizisten. Die schubsen da lachende Jugendliche herum!

Er ruft seine Frau an, die sich mit dem Sohn in sicheren Abstand begibt. Aber Da­niel Kartmann will weiter in den Park, durch den er schon alle seine Söhne in den Schlaf geschoben hat. Er will dabei sein, aus Zivil­courage, und weil er glaubt, zu lange weg­

geschaut zu haben. Als er Anfang 2002, in einer WG mit Architekten lebend, zum ers­ten Mal von diesem Projekt hörte, fand er das ganz lustig, so einen spacigen Bahnhof. Seine Mitbewohner entwarfen für die alte Ankunftshalle 3D­Animationen der neuen unter irdischen Bahnsteige. So was wird eh nie gebaut, dachte Kartmann. Als er verstand, dass so was sehr wohl gebaut wird und dass das Irrsinn ist, städtebaulich, finanziell, da war höchste Eisenbahn. Im Frühling 2010 war Daniel Kartmann erstmals auf einer der bunten Protestaktionen.

Kartmann erinnert sich, wie ihm am 30. September eine ältere Dame entgegen­kommt, aus Richtung Biergarten. Das Ge­sicht wie verbrannt. Er geht weiter. Angezo­gen von dem Gefühl, dass das nicht wahr sein darf. Vom Himmel tropft Wasser, aber es regnet nicht. Als die Polizisten sie einkesseln, wird es unübersichtlich. Von hinten trifft ihn der Strahl des Wasserwerfers, Kartmann ver­liert seine Brille. Er bückt sich in den Matsch, richtet sich wieder auf, da knallt etwas in sei­ne Augen. »Wir sind friedlich, was seid ihr«, schreien die anderen. Kartmann sieht nichts.

Er will da raus. Rennt einfach los, prallt ge­gen die Schilde der Polizisten, die sie um­ringt haben. Er schreit in den Lärm hinein. Ich bin verletzt! Lasst mich durch! Ich bin blind! Er stolpert weiter, taumelt, spürt das vertraute Gras, aber wo ist er?

Alles ist dunkel, und er weint aus hohlen Augen.

Dietrich Wagner, Jahrgang 1944, will sich am 30. September 2010, so erzählt er es später, ein Bild von der Jugend von heute machen, man hört ja viel. Deswegen geht er zu dieser Schülerdemo auf der Lautenschla­gerstraße, gleich beim Park, dappscht da halt mal mit, denkt er sich.

Wagner ist erst einen Monat vorher zum ersten Mal auf einer Kundgebung gegen Stuttgart 21 gewesen, seit seiner Zeit in Tübingen hatte er nicht mehr demonstriert. Als er Ende August mit Erika, die er »meine Erika« nennt, aus dem Spanienurlaub heim­kehrte, radelte er am Abend zum Haupt­bahnhof. Die Protestierenden gefielen ihm gleich. Sie zeigten eine Gegnerschaft zum Kapitalismus, die er selbst so nie formuliert, F

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18 SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN

aber immer empfunden hatte. Wagner ist nicht religiös. Bloß: Wenn er in der Zeitung las, durch diesen neuen Bahnhof, der keinen Kopf mehr haben soll, würden Pendler eine Viertelstunde früher am Arbeitsplatz sein, fand er, es müsse doch einen höheren Sinn geben als das.

Seine Mutter, eine Krankenschwester, war enttäuscht, als sie verstand, dass der Sohn in Möhringen keiner zum Vorzeigen war. Seinen Vater, Physiker, mit der SS in Russland gewesen, juckte das weniger. Wag-ner war kein guter Schüler, eigentlich hielt er nur in Mathe und Physik mit. Er sah es so, dass das Gymnasium bloß dafür da ist, Menschen auszubilden, die in diesen Staat passen. 1963 brachte Wagner sein Abitur am Wilhelms-Gymnasium hinter sich. An der TU Stuttgart studierte er Elektrotechnik. In seinem Fach saßen nur strebsame Techniker. Wagner fühlte sich den revoltierenden Stu-denten anderswo näher, bloß nicht dem Terrorismus, den die verteidigten. Wagner war Pazifist. Jedes Morden ist falsch, auch wenn es die Richtigen trifft, so sah er es. Als er zur Bundeswehr sollte, verweigerte er. Auf dem Schlossplatz verbrannte Wagner mit Gleichgesinnten seinen Wehrpass.

Er machte sich, ohne Abschluss, selbststän-dig, als Autodidakt spezialisierte sich Wagner auf die elektromagnetische Verträglichkeit, er sorgte dafür, dass ein Gerät mit seinen Signalen andere Geräte nicht störte. Er hei-ratete. Versuchte, sich anzupassen in diesem Staat, der ja nicht der schlechteste war, wenn man die Klappe hielt. Seine Unangepasstheit beschränkte sich in dieser Zeit darauf, sich nicht auf die Ehefrau zu beschränken. Er wurde geschieden. Heiratete erneut. Mal kam bei ihm Geld rein, dann wieder nicht. Auch die zweite Ehefrau hätte am liebsten einen Beamten gehabt, der ein sicheres Ein-kommen zur »Brutaufzucht«, wie Wagner sagt, nach Hause bringt. Wagner wollte keine Kinder. Wozu? Um brave Bürger aus ihnen zu machen? Die zweite Scheidung. Er fing wieder an, über Marx nachzudenken.

Zurück in Stuttgart lernte Dietrich Wag-ner seine Erika kennen, eine kluge, unbeug-same Frau, die sich mit zwei Kindern, aber ohne Männer, weil die immer zuschlugen, als Putzfrau durch dieses System geschrubbt hatte. Heiraten wollten beide nie wieder. Wagner zog zu Erika in die Drei-Zimmer-Wohnung, 78 Quadratmeter in der Trauben-straße im Westen der Stadt.

Im Park vor zehn Jahren beginnen die Was-serwerfer, ihren Strahl senkrecht in die Luft zu schießen. Die Kastanien rieseln von den Bäumen. Wagner steht in Sandalen und So-cken in einer Pfütze und sammelt die Kasta-nien auf, stopft sie in die Taschen seines Ganzkörper-Trainingsanzugs. Einige wirft er nach einem der Wasserwerfer, so sieht man es auch auf Videoaufnahmen. Klonk. Immer wieder. Klonk. Warum gehen die nicht weg? Lautsprecheransage nach Lautsprecheran-sage. Warum lassen die uns nicht?

Dietrich Wagner steht in einem Meer aus Körpern, Planen und Nässe, und winkt un-aufhörlich mit beiden Armen, als bitte er um Hilfe. Zweimal schickt ihn ein Polizist zur Seite, um genau 13.22 Uhr und um 13.38 Uhr, sie filmen aus dem Wasserwerfer die ganze Szenerie. Dietrich Wagner tritt immer wieder zurück in die Menge. Er wird vom Strahl getroffen, es tut kaum weh. Er ahnt nicht, dass der Druck erhöht werden kann, auf bis zu 16 Bar.

Er sieht den Knall nicht kommen. Ein Strahl trifft ihn von vorn, direkt vor die Stirn. Er fällt um. Zack. Bis gerade eben waren die Bäume, die dafür weichen sollen, das Symbol für den Protest gegen den milliardenschwe-ren neuen Bahnhof von Stuttgart. Jetzt sind es die blutigen Augen von Dietrich Wagner.

Das Bild von dem Mann, gestützt von zwei anderen, dem, man kann es nicht an-ders beschreiben, die Augen raushängen, geht um die Welt. Zerrissene Augenlider, Augenbodenbruch, eingerissene Netzhaut, zerstörte Linsen. Blut, das in Dietrich Wag-ners grauen Bart fließt. 100 000 Menschen gehen am nächsten Tag auf die Straßen, viele haben ihre Augen rot geschminkt. Wagner wird an diesem 30. September 2010, der fort-an »schwarzer Donnerstag« heißt, das ent-stellte Gesicht des Streits um Stuttgart 21.

Nach diesem tragischen Höhepunkt der Proteste scheint es, als könne das aus dem Ruder gelaufene Bauvorhaben tatsächlich von einem bürgerlichen Bündnis, das nach den Szenen aus dem Schlossgarten noch breiter wird, verhindert werden, trotz aller politischen und wirtschaftlichen Verflech-tungen. Aus heutiger Sicht, unter dem Ein-druck von »Corona-Demonstranten«, die den Kaiser zurück wollen, an kinderfres-sende Eliten glauben oder Reichsflaggen schwenken, erscheint es sonderbar, dass die S21-Gegner vor zehn Jahren als erste Exem-plare derselben Spezies »Wutbürger« galten, waren ihre Forderungen doch denkbar konkret und sachlich. Im Winter 2010 wird Heiner Geißler als Schlichter zwischen den

Daniel Kartmann kann heute wie-der sehen – und fühlt sich trotz allem in Stutt-gart wohl. Er sagt: »Der Schwabe hat eine renitente Ader. Nicht ohne Grund kamen viele NS-Wider-standskämpfer wie etwa Georg Elser von hier.«

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Immer noch »oben bleiben« – Montags­

demo auf dem Stuttgarter Marktplatz

am 27. Juli 2020.

Dietrich Wagner, der auch mit dem rechten Auge nur noch Schleier sieht, und seine Erika, die wegen einer altersbedingten Netzhaut­erkrankung plötzlich nur gerade noch so erkennen kann, ob eine Ampel grün oder rot ist, sitzen am 27. Juli 2020 wie immer unter der Laterne vor dem Rathaus am Stuttgarter Marktplatz, gleich hinter dem Infostand der S21­Gegner. Es ist die 522. Montagsdemons­tration, der Informatiker Prof. Dr. Wolfgang Hesse, einer der kompetentesten S21­Gegen­rechner, beginnt seine Rede an die gut 200 Versammelten in Fahrradfahrerkluft oder im praktischen Beige, graue Schöpfe

und bunte Halstücher, mit: »Liebe Oben­Bleiber, liebe Unverzagte und Unentwegte im Kampf gegen Dummheit, Ignoranz und Profitgier!« Zwei Wochen vorher hat nach dem gemeinsamen Singen des »Linsen­Spätzle­Blues« der junge S21­Veteran Hannes Rocken bauch hier gesprochen, der dieses Jahr, recht aussichtslos, aber trotzig, als Oberbürgermeister kandidieren will. Der grüne Amtsinhaber Fritz Kuhn ist, wie der Ministerpräsident Kretschmann, bei den Dauergästen am Marktplatz schon lange in Ungnade gefallen, weil doch alles gleich blieb. Sie riefen nach oben zu seinem Fens­ter, was sie schon nach oben riefen, als Kuhn noch als »Bahnhofskritiker« galt und noch nicht im Amt war: »Ihr werdet uns nicht los, wir euch schon!« Kuhn wird dieses Jahr im November nicht wieder zur Wahl antreten.

Diesen Januar erlitt Dietrich Wagner einen Schlaganfall. Morgens trat er zu Erika an den Frühstückstisch, wollte Guten Mor­gen sagen, konnte aber nicht. Nun kommen die Worte nur noch schleppend aus seinem Mund, er ist, sagt er, ein zweites Mal einer Selbstverständlichkeit beraubt worden. Aber viel mehr plagt ihn, dass nun auch Erika, in all den Jahren sein Auge in die Welt, erblin­det. Dem Fernseher können sie nur noch zuhören. Ein Freund liest Dietrich Wagner jede Woche am Telefon den Spiegel vor. Einer von Erikas Söhnen wohnt über ihnen, ver­sorgt sie mit dem Nötigsten. Mit dem, was

Stuttgarter Fronten eingesetzt. Und ohne die Zäsur, die der »schwarze Donnerstag« bedeu­tete, wäre es wahrscheinlich nicht zu jener historischen Zäsur im März 2011 gekommen, als mit Winfried Kretschmann ein Grüner im ewig schwarzen Ländle Ministerpräsident wird. Die Euphorie unter den Aktivisten ist jedoch kurz. In der alles entscheidenden Volksabstimmung über Stuttgart 21 im No­vember 2011 sind 58,9 Prozent der Baden­Württemberger für den Weiterbau.

Der »schwarze Donnerstag« selbst, nach dem die Polizei 16 verletzte Beamte und 114 verletzte Demonstranten meldet, die Demonstranten jedoch mindestens 400, be­schäftigt im Landtag zwei Untersuchungs­ausschüsse. Zwei Polizisten der Wasser­werfer­Besatzung erhalten im Jahr 2013 Freiheitsstrafen von sieben Monaten auf Be­währung. Ein Wasserwerferkommandant wird zu einer Geldstrafe verurteilt. Das Land­gericht Stuttgart stellt ein Jahr später einen Prozess gegen zwei Polizeiführer gegen eine Geldbuße von je 3000 Euro ein. Zu den fünf Nebenklägern gehören Dietrich Wagner, fast vollständig erblindet, und Daniel Kartmann, an beiden Augen verwundet, die zwei bekanntesten Schwerverletzten aus dem Schlossgarten, sie müssen wegen einer »Mit­schuld« ein Drittel der Prozesskosten tragen. Im Prozess taucht ein Zeuge auf, der einen Stein präsentiert, von dem er behauptet, Dietrich Wagner habe ihn geworfen, was widerlegt werden kann.

Der Polizeipräsident Siegfried Stumpf bit­tet im April 2011 um Versetzung in den vor­zeitigen Ruhestand, viele Gegner sehen in ihm, der eine Einflussnahme der Politik auf den Einsatz stets bestreitet, ein »Bauern­opfer«. Im März 2015 wird gegen Stumpf wegen fahrlässiger Körperverletzung im Amt in vier Fällen ein Strafbefehl über 120 Tages­sätze à 130 Euro erlassen. Im selben Jahr ver­öffentlicht der Stern Polizeivideos vom 30. September 2010, auf denen zu erkennen ist, dass von den Versammelten keine Aggressi­on ausging, und zu hören, wie ein Polizist Kollegen auffordert, Pfefferspray auf dem Handschuh zu verteilen und Demonstrie­renden ins Gesicht zu reiben, und wie im Wasserwerfer (»Jetzt gang a mol dera a bissle auf die Beine«) anvisiert wird. Am 18. No­vember 2015 urteilt das Verwaltungsgericht Stutt gart, der Polizeieinsatz zur Räumung des Schlossgartens sei rechtswidrig und die Härte unverhältnismäßig gewesen, das Land Baden­Württemberg muss in zwei Fällen Ent­schädigung zahlen: 14 000 Euro an Daniel Kartmann, 120 000 Euro an Dietrich Wagner.

von dem Geld, das Wagner bekam, noch da ist, kommen sie gerade durch.

Erika ist kürzlich, allein unterwegs, in der Straßenbahn einfach umgekippt. Es ist zu viel für sie. Um sie, die ihn so lange umsorgt hat, sorgt sich Dietrich Wagner in diesen Wochen, was sie gar nicht gern hört. Wie so oft streiten sie ein bisschen unter der Later­ne, Wagner will aufbrechen, Erika noch nicht, so meckern sie sich liebevoll in den Abend. Am Anfang kam Erika nur selten mit auf die Demos, und bis heute kann sie nicht lange reden über den »schwarzen Donners­tag«, als ihr Sohn sie anrief und fragte, ob sie

die Nachrichten gesehen habe. Aber jetzt begleitet sie Dietrich Wagner, wenn das Wet­ter gut ist, jeden Montag. Die Linie 4 fährt von ihnen, vom Hölderlinplatz, direkt hier­her. Jeden Schritt, jede Stufe, jede Rolltreppe von der Haustür bis zum Marktplatz kennen sie auswendig. So ziehen sie, jeder mit dem Langstock über das Trottoir tastend, los. Der einzige Weg, auf dem sie sich sicher fühlen durch ihre Stadt, die sie nicht mehr sehen, führt sie zum Protest. Es gibt nur noch zu Hause und die Demo, das zweite Zuhause, wo sie von vertrauten Stimmen empfangen werden, »Mensch, Dieter!«

Im vorigen Jahr gab es hier auf dem Marktplatz ein bisschen Ärger für Wagner, da hatte er in einem Zeitungsinterview verkün­det, er sei nun, da schon so viele Milliarden Euro des kleinen Mannes dafür ausgegeben wurden, für die Fertigstellung von Stuttgart 21. Es stimmt doch, sagt Dietrich Wagner auch heute, falsch ist es immer noch, aber nicht mehr zu ändern. Er ist erschöpft.

In den ersten Jahren nach dem »schwar­zen Donnerstag« war aus der Wut, die Wagner verspürt hatte, als der Wasserwerfer ihn traf, Hass geworden. Alles andere war ihm durch die Erblindung genommen, sein Motorrad, seine Feinwerkzeuge für die Ge­räte, seine Bücher, die Sonne. Er wollte nicht untätig sein. Wagner, der am 30. September 2010 ein Demo­Neuling war, wurde danach eine der präsentesten Figuren im S21­Wider­

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In den ersten Jahren nach dem »schwarzen Donnerstag« war aus Dietrich Wagners Wut Hass geworden

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stand, Teil einer kleinen, radikalen Gruppe, der Wagners Vorschläge oft zu radikal waren. »Ich war fanatischer als andere«, sagt Wagner. Er wollte, dass jeder von ihnen ans neu er-richtete Gebäude des »Grundwassermanage-ments«, von wo aus die Bewässerung der Baustelle kontrolliert wird, dran kackt oder pinkelt, denn »so was hat man ja immer da-bei«. Er wollte, dass in ICEs in ganz Deutsch-land im selben Moment die Notbremse gezogen wird. Er wollte, gibt er heute zu, dass sie alte, leicht radioaktive Glühstrümpfe für Gaslampen aus Rumänien bestellen, sie zerbröseln und daraus Molotow-Cocktails basteln, die dann die Polizei ein bisschen verstrahlen würden, atomarer Widerstand. Wagner ist heute froh, dass sie das nicht ge-macht haben. Er hätte sich nie verziehen, wenn ein Polizist oder eine Polizistin des-wegen an Krebs erkrankt wäre.

Da er ein Symbol geworden war, wurde der langjährige Eigenbrötler Dietrich Wag-ner nach dem »schwarzen Donnerstag« oft gebeten, öffentlich zu reden, vielleicht zu oft, Wagner redete sich manchmal um Kopf und Kragen. Er wurde damit zitiert, die in Stutt-gart stationierten US-Truppen hätten schon

Tage vorher gewusst, dass im Schlossgarten etwas passiert. Es klang, als glaube er an die ganz große Verschwörung. Heute sagt er, dass nun mal Erikas Sohn, der für die Amerikaner in der Kaserne arbeitet, vorab einen Sicher-heitshinweis für die Stuttgarter Innenstadt an jenem Donnerstag erhalten habe. Wagner stellte sich bei einer Demo auch mal mit einem Schild hin, auf dem stand: »30.9. CDU-KZ ungesühnt«. Aus dem Staatsskepti-ker Dieter Wagner war ein Staatsgegner ge-worden. Noch heute sagt Wagner: »Mir riecht S21 nach Korruption und Großkapi-tal!« Aber er sagt auch: »Die Wut in mir ist verraucht. Ich habe anderen Menschen Feh-ler zugestanden.« Er habe die Entschuldi-gung von Winfried Kretschmann, fünf Jahre nach dem »schwarzen Donnerstag« im Staatsministerium, mit Handschlag und An-sprache, als »ehrlich« empfunden.

»Die Leute brauchen immer jemanden, zu dem sie aufschauen können«, sagt Wagner, »das war zufällig ich mit den rausquellenden Augen. Aber ich habe ja keine große Leis-tung erbracht.« Man verlieh ihm in München den Georg-Elser-Preis, eine englische Initia-tive gegen Wasserwerfer lud ihn nach London

ein. »Es wurde oft mehr hineingesehen in mich, als drin ist«, sagt Wagner, um die Ecke von zu Hause, in einem Café vor dem Arbeitsgericht, zu dem er auch ohne Erika findet. Er wurde, sagt Wagner, der so viele Bilder aus seinem alten Leben vergessen hat, für ein Foto bekannt, von dem alle sagen, dass man es nie vergesse. Aber Wagner hat dieses Bild von sich nie klar gesehen.

Daniel Kartmann sitzt im Juli 2020 in sei-nem Viertel im Stuttgarter Süden und ärgert sich über Baden-Württembergs Innenminis-ter Thomas Strobl, vor zehn Jahren CDU-Generalsekretär. Damals traf Kartmann Strobl im Fernsehstudio von stern-TV, zu Gast bei Günther Jauch, wo Strobl unbeirrt die Polizei verteidigte. Nach den Ausschrei-tungen auf der Königstraße, bei denen im Juni 19 Polizisten verletzt wurden, hat Strobl nun von einer »nie dagewesenen Dimension der Gewalt« gesprochen.

»Das klingt in meinen Ohren wie Hohn«, sagt Kartmann. »Ich habe im Schlossgarten eine ganz andere Dimension von Gewalt erlebt. Es war ein Wunder, dass damals nie-mand gestorben ist!«

Eine Freundin fand Daniel Kartmann, so erinnert er sich, am 30. September 2010 im Park, verloren und verzweifelt. Sie half ihm in ein Taxi. In der Charlottenklinik für Au-genheilkunde konnte man zunächst nicht viel machen, weil so viel Blut in den Augen war. Nach zwei Wochen, Kartmann sah nach wie vor nur schwarz, stellte man fest, dass die Netzhaut im rechten Auge gerissen und da-bei war, sich abzulösen. Das Auge wurde in einer Notoperation gerettet. Ohne Brille hat Kartmann rechts nur noch zwanzig Prozent Sehkraft, und die Pupille und Iris sind derart zerstört, dass sich das Auge den Lichtverhält-nissen nicht anpassen kann, jede Sonnenein-strahlung ist eine Qual, und auf der Bühne muss er wegen der Scheinwerfer aufpassen bei den Auftritten, von denen er anfangs fürchtete, er würde nie wieder welche haben.

Er hatte gedacht, die Augen und der Beruf seien seine größte Sorge. Aber die schwerste Verletzung, sagt Kartmann, blieb lange un-bemerkt. Wie die Wasserwerfer in den Park schob sich die erlebte Gewalt in den Alltag der Familie. Plötzlich gab es viel Streit. Seine Überforderung. Die Wut, wenn er sich bei Kleinigkeiten übergangen fühlte, ohnmäch-tig, wie im Polizeikessel. Es brauchte thera-peutische Hilfe, die sich die Familie holte. Kartmann verstand, dass nicht nur er Angst um seine Frau und seine Kinder hatte in dieser Zeit, sondern sie genauso um ihn.

Polizeihaupt­kommissar Ralf Perrey ist auch

seit zehn Jahren bei den Montags­

demos dabei, heute braucht er

dabei kaum Verstärkung.

KOSTENLOSER VERSANDGEFERTIGT IN PORTUGAL ELASTISCHER HOSENBUND REISSVERSCHLUSSTASCHE17 FARBEN

B E S T E L L E J E T Z T D E I N E M R M A R V I S C H I N O S A U F M R M A R V I S . D E

D E I N EP E R F E K T EC H I N O

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24 SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN

Als beim Mittleren im Kindergarten ein Polizist vorbeisah, um seinen Beruf vorzu­stellen, meldete sich der Sohn: Ich mag keine Polizisten! Und als der Mann erstaunt fragte, warum, rief der Sohn: Ihr habt meinem Papa das Auge ausgeschossen!

Es hat zehn Jahre gedauert, das alles zu verarbeiten, sagt Kartmann. An den Schmerz wird er oft erinnert: Zwischen Schlossgarten und Bahnhof, wo die Baustelle dort beginnt, wohin die Wasserwerfer vorrückten, klafft, durchzogen von Rohren und Kabeln, die Wunde der Stadt.

Kartmann brauchte Abstand von der Bewegung. Auf den Demos ließ jeder Polizist in ihm Panik aufsteigen. Manche Rede stürzte ihn in tiefe Trauer: Warum ändern unsere Argumente nichts? Er brauchte auch Abstand von Dietrich Wagner, neben dem Daniel Kartmann bei den vielen Presseauf­tritten stehen musste, nun ja, wie der Zweit­schwerstverletzte, und zuhören. Wagner redete, als verteidigten sie noch immer den Schlossgarten. Nur weil man das selbe Schicksal hat, sagt Kartmann, versteht man sich nicht unbedingt. Kartmann wollte nicht mehr das Wasserwerferopfer sein. Er war beim Wahlkampfauftakt der Grünen einge­laden, bevor Winfried Kretschmann im März 2011 zum Ministerpräsidenten gewählt wur­de, und fühlte sich wie ein »schlagzeugspie­lender Invalide«, sagt Kartmann, mit seiner Band, im Hintergrund. Alle schauten ihn mitleidig an. Aber dass einer gekommen wäre, um zu fragen, wie es ihm geht? Als schämten sie sich. Es gab von Anfang an Grü­ne, die gar nicht gegen Stuttgart 21 waren; die Demos für das Obenbleiben halfen ih­nen bloß, nach oben zu kommen.

Mittlerweile war Kartmann immer mal wieder auf einer Montagsdemo. Es hat ihm gefallen, dass es nicht mehr nur um den Bahnhof geht. Sondern ums große Ganze, um eine lebenswerte Stadt, um die Verkehrs­wende, um bezahlbaren Wohnraum, denn der fehlt, obwohl es einst hieß, nur durch das Projekt entstehe genug davon. »Auch da haben sie uns gelinkt«, sagt Kartmann.

Er sagt, er erinnere sich wieder daran, was so schön war, vor dem Tag X. Das Flirren. Das Diskutieren. Das Mitmachen. Vielleicht ist mehr von den Träumen geblieben, die der Wasserwerfer zerfetzte, als Kartmann lange geglaubt hat. Wenn er an seine Musikschüler denkt, damals noch Kinder, die heute bei »Fridays for Future« besonders eifrig mitma­chen. In Stuttgart, sagt Kartmann, haben wir damals gelernt, Missstände zu benennen und eigene Ideen zu finden. Dieser Bau gräbt die

Stadt um, aber die Leute, sagt Kartmann, haben ihre Stadt auch umgegraben.

Ralf Perrey sitzt in der Wolframstraße 36, im Revier, dessen stellvertretender Leiter er noch ist. Sein damaliger Vorgesetzter, der um 12.58 Uhr den Einsatz der Wasserwerfer befahl, weil der Polizeipräsident Siegfried Stumpf gleichzeitig auf einer Pressekonferenz der Bahn reden sollte, musste ein halbes Jahr nach dem »schwarzen Donnerstag« gehen. Perrey hat Stumpf nur noch einmal gesehen nach dessen Verabschiedung in den vor­zeitigen Ruhestand, auf einer Beerdigung. Stumpf will heute keine Interviews geben. Wegbegleiter sagen, er leide noch immer unter den Umständen, die seine Karriere be­endeten. Perrey sagt, Stumpf sei nach dem 30. September ein anderer Mensch gewesen.

Ohnehin gab es, sagt Perrey, in Stuttgart eine Zeit vor dem 30. September 2010 und eine danach. Es sei damals zu einem Bruch zwischen der Bevölkerung und der Polizei gekommen. Auf einmal wurde alles, was sie taten, hinterfragt. Ein Einbruch in einer Wohngegend, nachts um zwei, die Kollegen parken eilig auf dem Gehweg, um schnell am

Tatort zu sein: Brüllt eine Frau aus dem Nachbarhaus, ob sie glauben, sie könnten sich alles erlauben. Die Beschwerden gegen Polizeibeamte vervielfachten sich im Jahr nach dem »schwarzen Donnerstag«.

Und Ralf Perrey? Ihm blieb nur das Schwät­zen. So traf er auch Dietrich Wagner. Das Gesicht kannte er ja aus den Medien. Der Mann war überall. Am Südflügel, und wie­der im Schlossgarten. Sie mussten auch Wag­ner weggetragen, man konnte ja nicht sagen: Den nicht! Aber, so erinnert sich Perrey, er habe den Wagner immer als Letzten holen lassen. So, Herr Wagner, jetzt wäret Sie an der Reihe! Am Anfang, sagt Perrey, habe Wagner ihn mit Anzeigen überhäuft, Beihilfe zum Betrug, Nötigung, Körperverletzung, Tod und Teufel, alles unhaltbar. Das hörte auf. Wagner erkenne ihn heute auf fünf Meter an der Stimme. »Mit dem kann man schwät­zen«, sagt Perrey. Dietrich Wagner habe ihm immer leid getan. Nichts, sagt Perrey, recht­fertige das, was dem Mann widerfahren ist.

Oft wurde Perrey auf den Demos danach gefragt, was er von dem Fiasko im Schloss­garten halte. Was sollte er antworten? Kein Zweifel, sagt er auch heute, da lief mit Sicher­

Dietrich Wagner und seine Lebens-

gefährtin Erika Kalweit-Roth, 82,

sind jetzt beide fast blind. Wagner

sagt: »Hätte ich gewusst, wie es

ausgeht, wäre ich nicht in den Park

gegangen.«

SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN 25

Der Reporter des SZ-Magazins wurde in Stuttgart ge-boren, wuchs aber nicht dort auf. Mit dem Konflikt um Stuttgart 21 wurde er dennoch früh konfrontiert. Auf der Heckscheibe des kleinen Autos seiner in Stuttgart lebenden Großmutter prangt bis heute ein »Oben bleiben«-Sticker. Bauer war sehr froh, dass sein Onkel seine Oma am 30. September 2010 auf Abstand zu den Wasserwerfern hielt.

PATRICK BAUER

heit nicht alles korrekt. Oder anders: Der Tag, war scheiße. Natürlich hat auch Perrey mit­bekommen, kurz nach dem »schwarzen Don­nerstag«, dass es Zweifel an der Rechtmäßig­keit der Rodungserlaubnis gab, die sie gerade durchgesetzt hatten. Natürlich hat er eine Meinung zu dem ganzen Projekt, nur tut sie, sagt er, nichts zu Sache. Das Differenzieren sei ja das Härteste, was man in seinem Beruf lernen müsse. Es sind nicht seine Beschlüsse, die er umsetzt. Es sind nicht seine Gegner, ge­gen die er sie durchsetzt.

Gut, eines muss man dann doch sagen, meint Perrey: Vieles, was damals auf den großen Montagsdemos, die sie mit bis zu 500 Kollegen umstellten, von der Bühne gesagt wurde, habe sich bewahrheitet, da sprachen ja auch Ingenieure. Stuttgart 21 wurde im­mer teurer, noch eine Milliarde und noch eine, bis es statt 2,45 dann 8,2 waren. Es kam so schlimm wie die Gegner sagten, aber es kam. 2025 soll der Bahnhof fertig sein.

Nach dem Bürgerentscheid 2012, sagt Per­rey, war die Luft raus aus dem Kessel. Wegen der Nachrichten über Stuttgart 21, von de­nen es immer noch genug gibt – mangelnder Brandschutz oder die Klage der Bahn AG gegen Projektpartner auf Mitzahlung der Mehrkosten –, kommen nicht mehr Demons­tranten, es bleibt bei den paar hundert ganz Hartgesottenen.

Jetzt reicht es, wenn Ralf Perrey einen ein­zigen Kollegen mit zu den Montagsdemos nimmt, die er »Kult« nennt. Er lässt sich das nicht nehmen. Dann steht er auf den Trep­pen zum Rathaus, und vor ihm, an der Later­ne, sitzt Dietrich Wagner, wenn zum Ab­schluss, beim »Schwabenstreich«, alle pfeifen und brüllen und auf Töpfe hämmern, gegen das Vergessen.

Manche Protestler fragen Perrey erstaunt: Sind Sie immer noch da?

Und Perrey fragt zurück: Sie auch?Auf dem Flur vor Perreys Dienstzimmer

steht eine Glasvitrine. Darin: Erinnerungen an die S21­Einsätze. Eines der kleinen roten Kreuze, von den Gegnern verteilt, mit der Aufschrift »15.02.2012«, dem Datum der zweiten Räumung des Mittleren Schlossgar­tens, damit noch mal 250 Bäume gefällt wer­den konnten. Ein Button mit der Aufschrift »Polizeistaat 21«. Man könnte fast meinen, dieses kleine, verstaubte Museum erzähle vom Stolz, dabei gewesen zu sein, als Ge­schichte geschrieben wurde. Aber da liegt auch ein Zeitungsartikel mit der Überschrift: »Demonstranten drohen zu erblinden«.

Ralf Perrey hat längst neue Sorgen. Im Einsatzbereich seines Reviers befindet sich

der Eckensee, von dem aus es in der Nacht vom 20. auf den 21. Juni 2020, nach einer Drogenkontrolle, zu den Krawallen in der Innenstadt kam – und mal wieder zu bundes­weiten Diskussionen, diesmal über Gewalt gegen Polizisten, nicht von. Ach je, sagt Per­rey. Nun geht es darum, dass die Übergriffe gegen Polizisten immer schlimmer würden. An der Debatte will er sich gar nicht beteili­gen. Auch nicht an der über eine vermeint­liche »Stammbaum­Recherche« gegen Tatver­dächtige. Die Betrachtung des »sozialen Um­felds« sei immer Teil der Ermittlungsarbeit.

Es geht ihm nur darum, dass die Eskalation am Eckensee nicht überraschend kam. Seit Wochen hatten die Kollegen geklagt: Ein Treffpunkt für junge Männer, ja, die meisten von ihnen noch nicht lange in Deutschland, die demonstrativ dealten und aggressiv fei­erten. Mit ihrem deeskalierenden Ansatz ka­men die Kollegen da nicht weit. Wenn sie nicht gerade mit Flaschen beworfen wurden, ist zu hören, seien sie dafür ausgelacht wor­den, mit den jungen Männern reden zu wol­len, als Schlappschwänze beschimpft. Das Schwätzen, einst die Stärke, war nun die Schwäche der Polizisten. Manche sagen, man hätte am Eckensee rechtzeitig durchgreifen müssen. Aber das wären wohl hässliche Bil­der geworden, die will keiner, bis in die Poli­tik. Also zog man sich zurück. Und so wur­den die Bilder am Ende viel hässlicher. Und die Empörung war wieder groß. Und Perrey sitzt wieder hier und muss schwätzen. Daran wird sich wohl nie was ändern.

Daniel Kartmann war 1989, zwölf Jahre alt, mit der Familie aus Rumänien nach Baden­Württemberg gekommen, nach Böblingen. In Siebenbürgen war es für die deutsche Minderheit immer schwer gewesen. Der Großvater wurde in den Fünfzigerjahren von den Kommunisten eingesperrt. Kartmanns Vater, evangelischer Pfarrer, wollte seinen Kindern ein freies Leben ermöglichen. Nach dem »schwarzen Donnerstag« war der Vater dann richtig verbittert. Obwohl er, der wegen des Verlassens seiner rumänischen Gemeinde zwei Jahre Berufsverbot bekam, es alles andere als leicht hatte in Deutsch­land, empfand sein Sohn nach dem Vorfall im Schlossgarten den unausgesprochenen Vorwurf: Warum legst du dich mit diesem Land an? Warum kann nicht endlich Frieden sein? Bis er seinem Vater eines Tages, an dessen Ende sie sich in den Armen lagen, sagte: Du hast mir immer von deinem Vater erzählt, mit Tränen in den Augen, dass er für seine Überzeugung und sein Zuhause ge­

kämpft hat. Standhaft war. Ich, sagte Kart­mann, hätte auch aufgeben können. Nach Berlin gehen oder so. Aber ich wollte hier sein, bei diesen renitenten Schwaben. Weil ich selber einer bin. Weil ich gemerkt habe, das ist meine Heimat.

Dietrich Wagner, er bereut das nun, hat in den dunkelsten Stunden seiner Erika oft ge­sagt, dass er diesem blinden Leben ein Ende setzt. Sie hat ihm das ausgeredet. Aber jetzt, da sie selbst kaum sieht und so oft in das glei­che Loch fällt wie er einst, ist es Erika, die so redet. Das darfst du gar nicht denken, sagt Dietrich Wagner dann, auch an diesem Tag, in der Linie 4, nach Hause. Nicht nur weil er nicht weiß, was er ohne sie machen soll. Sie sagt, dann würde er endlich mal staubsau­gen. Nein, er weiß jetzt, was er lange nicht wusste, sagt Wagner, er hat es verstanden, als er anfangs mit seiner selbstgebauten Lupe noch mal die alten Philosophen lesen konn­te und als er dann, als alles Licht weg war, mit seinen Gedanken allein war. Mord und Totschlag gehören zur Menschheit, leider. Aber man kann dem etwas entgegensetzen. Dietrich Wagner ist nicht mehr nur gegen das Leben, das er falsch findet. Er tut jetzt auch etwas für das Leben, das sich richtig anfühlt. Er, der nie Kinder wollte, ist froh um die Zeit, die er mit Erikas Enkeln ver­bringt. Er, der nie hineinpassen wollte, hat gemerkt, dass er seinen Platz lange vor dem 30. September 2010 gefunden hatte. Er war nicht mehr allein unzufrieden mit dem, was das Leben bisher für ihn bereit gehalten hatte. Nicht mehr allein frei. Er will, sagt Dietrich Wagner, einfach noch unbeschwerte Momente haben mit seiner Erika.

Ralf Perrey, Daniel Kartmann und Dietrich Wagner. Alle drei sagen dann wirklich, man muss das »wirklich« dazuschreiben, weil es ja in Bezug auf diesen Donnerstag, der so vieles schwarz färbte, ein unwirklicher Satz ist – sie sagen, jeder aus anderen Gründen, aber doch genau so: Dieses Erlebnis habe ihnen die Augen geöffnet.

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28 SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN

»MICK JAGGER FRAGTE,

WAS WOLLT IHR DENN HIER?«

Mit ihm fing alles an: Rock-Pionier Achim Reichel im Interview über seine wilden Anfangsjahre mit den Rattles, Verrat an der Künstlerseele und die Frage, warum sein erfolgreichster Song fast in einer Kiste vergammelt wäre

Interview

JOHANNES WAECHTERFotos

ROBIN HINSCH

»MICK JAGGER FRAGTE,

Zwei Hamburger Institutionen: Achim Reichel vor der Kneipe »Zum Silbersack« auf St. Pauli. Nicht weit davon, in der Hafen-straße, wuchs Reichel auf.

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30 SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN

»MEIN VATER IST DER GROSSE

UNBEKANNTE IN MEINEM LEBEN«

Viele Ruinen. Vor allem auch im Hafen. Da sah man zerbombte Lagerschuppen, ausgebrannte Gü-terwaggons, versunkene Schiffe, von denen nur der Schornstein und ein paar Masten aus dem Wasser ragten. Auch das hat mei-ne Fantasie enorm an geregt.Und die Vergnügungs­industrie auf St. Pauli?Die lief längst wieder. Und wir waren mehr oder weniger ein Teil davon. Die Mutter meines besten Freundes arbeitete im »Hippodrom« auf der Großen Freiheit. Und nachdem mein Vater gestorben war, hat meine Mutter ein Zimmer unserer Woh-nung an Artisten aus dem »Allo-tria« vermietet, einem Varieté-Theater auf der Reeperbahn. Auf einmal haben Jongleure und Akrobaten bei uns im Flur ihre Nummern geprobt. Da habe ich zum ersten Mal eine Nähe zum Künstlermilieu verspürt und eine Ahnung davon bekommen, dass der Beruf des Kellners, den meine Mutter für mich vorge-sehen hatte – auch Vater war ja Schiffssteward gewesen –, viel-leicht doch nicht das Richtige für mich wäre.Würden Sie sagen, dass der sprichwörtliche Muff der Fünfzigerjahre auf St. Pauli etwas weniger bedrückend über den Dingen lag als im Rest des Landes?Das denke ich schon. Aber we-gen des Hafens war St. Pauli schon immer ein relativ welt-

offener Ort. Es war ja auch kein Zufall, dass sich der Rock ’n’ Roll, als er aufs europäische Festland schwappte, ausgerechnet auf St. Pauli festsetzte: Als ich 16 war, gab es quasi vor meiner Haustür schon mehrere Clubs, in denen jeden Abend Rock ’n’ Roll gespielt wurde – den »Kai-serkeller«, das »Top Ten« und das »Indra«. Später kam der »Star-Club« dazu. Bob Dylan hat mal gesagt, zum ersten Mal Elvis zu hören, sei für ihn gewesen, wie aus dem Gefängnis aus­zubrechen. War das bei Ihnen auch so?Bei mir war es Little Richard. Er sang, wie wenn er seinen Dämon ausspucken würde. Das hat mich tief bewegt! Haben die englischen Bands, die nun in den Clubs von St. Pauli auftraten, Sie und Ihre Freunde auf die Idee gebracht, die Rattles zu gründen?Ich würde eher sagen: Die haben uns bekräftigt. Wir hatten ja be-reits hinter der Reeperbahn in einer Jugendfreizeitstätte einen Übungskeller, wo wir bei null angefangen haben, mit Mutters Tastenradio als Gitarrenverstär-ker. Als dann die englischen Bands kamen, waren wir schon in der Lage, Vergleiche zu zie-hen. Das Tolle war: Man konnte mit denen reden. Man konnte zu Paul McCartney sagen, sag mal, wie geht bei dieser Nummer das Gitarren-Intro, kannst du mir das mal ganz langsam vorspielen? Wie oft haben Sie damals die Beatles live gesehen?Das weiß ich nicht mehr. Das war ja nichts Besonderes, wir wa-ren ständig in diesen Clubs, be-stimmt mehrmals pro Woche. Die Beatles waren zu der Zeit eine Band von vielen, aber doch einen Tick besser als die anderen. Der Durchbruch der Rattles kam im Februar 1963, als Sie im »Star­Club« einen Wett­bewerb für deutsche Nach­wuchsbands gewannen. Hofften Sie da schon, dass F

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SZ-MAGAZIN Ihre Autobio­grafie, die gerade erschienen ist, trägt den Titel: Ich hab das Paradies gesehen. Wo liegt es denn, das Paradies?ACHIM REICHEL Das trage ich mit mir herum.Was ist das für ein Ort?Ein bestimmter Ort ist es gar nicht. Gemeint sind die vielen Glücksmomente, die ich erleben durfte. Mein Leben hat mir die Möglichkeit geboten, etwas aus meinem Talent zu machen und mich auf recht vielfältige Weise musikalisch auszutoben. Oft ha-ben sich die Dinge auf fast schon wundersame Weise gefügt, und ich habe auch für ungewöhn-liche Projekte, bei denen anfangs alle skeptisch waren, ein Publi-kum gefunden. Das empfinde ich im Rückblick in der Tat als paradiesisch. Die Gefahr ist aller-dings, dass man sich, wenn man viel Glück hat, irgendwann für den tollen Hecht hält, dem alles gelingt. Verfasst haben Sie Ihr Buch größtenteils als Passagier auf einem Frachtschiff, das von Hamburg nach Namibia fuhr. Wieso ausgerechnet dort?Ich habe anfangs versucht, das Buch nebenher zu schreiben. Bis ich nach ein paar Jahren merkte, dass ich viel zu langsam voran-kam und irgendwo in Klausur gehen musste. Auf so einem Schiff stört dich keiner, und du kannst auch nicht weglaufen. Hinzu kam, dass ich mich dort auf besondere Weise meinen Vorfahren verbunden fühlte – mein Vater, mein Großvater und der Bruder meiner Mutter waren alle einst zur See gefahren. Wie hat das Seefahrer­Milieu auf Sie als kleinen Jungen gewirkt, der nach dem Krieg in Hamburg­St. Pauli auf­wuchs?Mein Elternhaus steht in der Hafenstraße, von unserer Woh-nung hatten wir den vollen Elb-blick. Als Schuljunge saß ich oft mit meinem Flaggenlexikon am Fens ter, habe die auslaufenden

Schiffe beobachtet und gedacht, Wahnsinn, der fährt jetzt hier die Elbe hoch, durch die Nord-see, den Ärmelkanal und übern Atlantik nach Brasilien! Und dann die Postkarten, die wir be-kamen: Großvater schrieb aus Australien, Vater aus Ägypten, und Onkel Oskar war vielleicht gerade in Amiland. Bei einem kleinen Jungen sind dadurch ständig Lichter im Kopf ange-gangen. Manchmal kam es mir vor, als würde ich selbst auf die-sen Schiffen mitfahren.Ihr Vater starb, als Sie acht waren. Was für Erinne­rungen haben Sie an ihn?Leider nur ganz wenige. Ich habe ihn nur ein paarmal ge-sehen – er ist der große Unbe-kannte in meinem Leben. Als er starb, mit nicht mal fünfzig Jah-ren, war ich in erster Linie er-schüttert darüber, dass meine Mutter so verzweifelt war. Ich habe versucht, sie zu trösten, und nicht umgekehrt. Haben Sie das Gefühl, dass er Ihnen trotzdem etwas mitgegeben hat?Sicherlich das Herz, den Sinn für die Seefahrt und eine gewisse Abenteuerlust. Aber vielleicht hätte er auch gesagt: Was willst du machen? Musik? So ein Blöd-sinn! Letzten Endes bin ich es doch selbst gewesen, der die Chancen ergriffen hat, die sich boten.Wie sah Hamburg in den Fünfzigerjahren aus?

SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN 31

dies der Beginn einer Musik-karriere sein könnte?Nein, überhaupt nicht. Wir wa-ren wilde Minderjährige, die auf der Bühne Gas gegeben haben. Die Musik war ein Hobby, für das wir sogar noch ein bisschen Geld bekamen. Dass sich daraus irgendetwas Längerfristiges erge-ben könnte, kam uns nicht in den Sinn. Man war damals ja auch bei den Plattenfirmen überzeugt, dass der Hype um den Rock ’n’ Roll im nächsten Jahr wieder vorbei sein würde. Was war Ihr schönstes Erleb-nis mit den Rattles?Im gelobten Land der Popmusik angenommen zu werden. Sie meinen die England-Tour der Band 1964.Ja, dreißig Doppelkonzerte an dreißig Tagen, mit Little Richard, Bo Diddley und den Everly Brothers. Alle echte Göt-ter für uns. Und die Rolling Stones waren auch noch dabei. Mick Jagger fragte, was wollt ihr denn hier? Als deutsche Band waren wir natürlich das letzte Rad am Wagen. Mit den Stones haben wir uns gestritten, weil wir, genau wie die, Chuck-Berry-Nummern im Programm hat-ten. Das gefiel denen gar nicht. Aber wir haben uns behauptet und uns einen Platz unter all die-sen Weltstars erkämpft.Wie hat das britische Publi-kum auf Sie reagiert?Die fanden unseren Akzent ir-gendwie schnuckelig, und uns auch, glaube ich. Aber wir waren schon auch eine gute Band. Viel Energie, von der kantigen, eher unbehauenen Sorte.Im Sommer 1966 mussten Sie zur Bundeswehr.Und ich war fest davon über-zeugt, dass sich keiner mehr an mich erinnert, wenn ich nach 18 Monaten wieder rauskomme. Deshalb habe ich zugestimmt, als meine Plattenfirma mir nahe-legte, einen Song zu singen, den ich eigentlich furchtbar fand: Trag es wie ein Mann, die deut-sche Version eines Gene-Pitney-Titels. Passt doch wie Arsch auf F

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SchmalzlockeWie Millionen andere Teenager auch wird Achim Reichel, geboren im Januar 1944, Ende der Fünfzigerjahre zum Rock-’n’-Roll-Fan. Da darf die Halbstarken-Tolle nicht fehlen.

Beat-BrüderMit den Rattles veröffentlicht

Reichel (links) mehrere Sing-les, Alben und sogar einen Spielfilm namens Hurra, die

Rattles kommen. »Da dampft die Leinwand! Da wackelt das Kino!«, verspricht das Plakat.

Der SpielerAb Anfang der Achtzi-ger bringt Reichel etliche erfolgreiche Solo-Alben heraus. Sein Song Der Spieler (Text: Jörg Fauser) steht 1983 13 Wochen in den Charts.

Die ErinnerungenReichels Memoiren Ich hab das

Paradies gesehen sind gerade im Rowohlt Verlag erschienen.

Die DichterNeben Jörg Fauser (Foto) arbeitet Reichel in den Achtzigern auch mit dem Dichter Peter-Paul Zahl zusammen. Einige Jahre zuvor hatte er bereits drei Alben des Underground-Poeten Kiev Stingl produziert.

Die erste Single mit den Rattles erschien 1963, das bisher letzte Album 2019 – kein

anderer deutscher Rockmusiker blickt auf eine derart lange Karriere zurückACHIM REICHEL

Page 17: Nur die Harten kommen in den Garten? Von wegen. Ein Heft ... · diese Seinfeld -Episode schrieb, die auf eine wirkliche Tradition seiner Familie zurück - geht. Es soll Menschen geben,

32 SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN

Eimer, hieß es! So fand ich mich unter Kopfhörern in einem Stu-dio in Berlin wieder, Klaus Dol-dinger hatte ein Mörder-Playback mit Streichern und Bläsern ar-rangiert, und ich dachte nur, es hätte mich ja auch mal jemand nach der Tonart fragen können. Es gibt dazu sogar einen Werbefilm, der Sie in Uni-form zeigt. Der Song wurde trotzdem ein Flop.Zum Glück! Sonst wäre ich viel-leicht Schlagersänger geworden, wer weiß. Im Nachhinein muss ich auch sagen, dass die Zwangs-pause bei der Bundeswehr für mich ganz gut war, weil ich Zeit hatte, mal über einige Dinge nachzudenken.Worüber denn?Bis dahin hatte ich alles unter-schrieben, was man mir vorlegte, ohne es überhaupt zu lesen. Nun wurde mir langsam klar, wie die Musikbranche funktioniert und dass es viele Möglichkeiten gibt, mit Musik sein Geld zu verdie-nen. Es macht nämlich einen großen Unterschied aus, ob du nur der Interpret bist oder auch der Komponist und Texter. Und vielleicht sogar der Produzent, der Labelchef oder der Besitzer des Musikverlags. Die andere Sa-che, die mir nicht aus dem Kopf ging, war ein Kompliment, das mal jemand den Rattles gemacht hatte: Wenn man nicht wüsste, dass ihr aus Hamburg kommt, könnte man denken, ihr seid aus England. Zuerst hatte ich mich darüber gefreut, aber mit der Zeit kamen mir diese Worte doch ein bisschen schal und zweischneidig vor, denn es be-deutete letzten Endes, dass wir perfekte Imitatoren waren. Ab da habe ich mich gefragt, ob es für die Rockmusik vielleicht An-knüpfungspunkte zur hiesigen Kultur geben könnte und wie es möglich sein könnte, die deut-sche Sprache in die ganze Sache einzubringen. Über solche Fragen haben sich ab Ende der Sechziger-jahre auch Bands wie Kraft-werk, Can und Tangerine

Dream Gedanken gemacht, die sich von der angloameri-kanischen Rockmusik ab-wendeten. Unter dem Namen A.R. & Machines brachten Sie nun ebenfalls Platten mit experimenteller Gitarrenmu-sik heraus, die Songs hießen Cosmic Vibration oder Im Zau-berwald der 7 Sinne. Fühlten Sie sich als Teil dieser Bewe-gung, die später »Krautrock« genannt wurde?Eigentlich nicht. Man gab mir zu verstehen, dass ich nicht da-zugehören könne, als früherer Beat-Musiker sei ich irgendwie zu altmodisch für die neue Zeit. Obwohl Sie erst 26, 27 waren, galten Sie als Mann von gestern?Komisch, nicht? Dabei waren die Bandmitglieder von Can teilwei-se deutlich älter als ich. Aber das

hat mich nicht besonders ge-stört. Wichtig war, dass ich mich mit A.R. & Machines zum ersten Mal getraut habe, Musik zu veröffentlichen, die überhaupt nicht auf den Markt schielte. Ich habe diese Platten für mein Mu-sikerherz gemacht, mir von nie-mandem reinreden lassen und nur meiner Intuition vertraut. Das klingt heute nicht weiter be-merkenswert, war damals, wo noch allmächtige Plattenbosse und Produzenten den Ton an-gaben, aber eher ungewöhnlich.Im Lauf der Jahre ent- wickelte sich ein regelrechter Kult um diese anfangs nicht sonderlich erfolgreichen Platten.Ja, zum ersten Mal merkte ich auf, als Brian Eno in einem In-terview erwähnte, wie begeistert er von der Grünen Reise sei, dem

ersten Album von A.R. & Ma-chines. Seit Mitte der Neunziger erreichten mich übers Internet viele Anfragen zu dieser von mir eigentlich totgeglaubten Musik, selbst im Freundeskreis unserer Tochter, damals Mitte zwanzig, hieß es auf einmal, die Grüne Reise sei »das Größte«. So kam es, dass ich diese Musik nach über vierzig Jahren noch mal auf die Bühne bringen konnte: Am 15. September 2017 spielten wir ein ausverkauftes Konzert in der Elbphilharmonie, für das sogar Fans aus den USA, England und Holland angereist sind. Da wur-de meinem verschmähten Genie-streich eine späte Ehre zuteil. Auch Ihr nächstes Projekt nach A.R. & Machines klang erst mal ungewöhnlich und unkommerziell: 1976 er-schien ein Album mit Rock-

Über fünf Jahre arbeitete Reichel, 76, an seinen Memoiren. Um Ruhe zum Schreiben zu finden, zog er sich auf ein Frachtschiff zurück.

SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN 33

Versionen von alten See­mannsliedern.Mit der Idee bin ich anfangs bei allen Plattenfirmen abgeblitzt. Dabei war Folkrock in England längst ein etabliertes Genre. Den Mut, das selbst mal zu probie-ren, habe ich mir dort geholt.Was hat Sie an Seemanns­liedern interessiert?Das Besondere an Shantys ist, dass sie Volksmusik sind, aber nicht nur aus einem Land stam-men, sondern aus ganz vielen Regionen, weil die Schiffe ja in allen möglichen Häfen anlegten. Früher wurde beim Be- und Ent-laden noch gesungen, und die Matrosen haben hier eine Phrase aufgeschnappt und da eine Me-lodie und das dann zusammen-gesetzt und dem Rhythmus ih-rer Arbeitsvorgänge angepasst. Dieser multikulturelle Aspekt hat mich unglaublich fasziniert, dazu habe ich im Vorfeld der Platte viel recherchiert. Haben Sie auch an die Seefahrer in Ihrer Familie gedacht?Das kam obendrauf. Der Gedan-ke an meinen Vater und Groß-vater hat die Magie, die diese Lieder für mich hatten, noch verstärkt. Als mein Vater längst gestorben war, hatte meine Mut-ter mal einen Freund, der nur Plattdeutsch gesprochen hat. Ich dachte immer, das ist ja ein ganz netter Kerl – aber was redet der da? So war mir dieser typische Singsang vertraut, und ich habe auf der Shanty-Platte auch ein bisschen Plattdeutsch gesungen. Die ungewöhnliche Sprachlich-keit der Shantys, dieser Misch-masch verschiedener Sprachen und Dialekte, war für mich der erste Schritt in die Richtung, mich auf Umwegen der eigenen Kultur anzunähern.Hat der Erfolg der Platte Sie darin bestärkt, nun noch konsequenter Ihrer Intuition zu folgen?Am Anfang war dieses, ich sag mal, Eigenbrötlertum eher eine Folge der Umstände, denn es gab für das, was ich gemacht habe,

keine Autoritäten, die ich um Rat hätte fragen können. Ich ge-höre zur ersten Generation deut-scher Rockmusiker, es waren also einfach keine älteren Kolle-gen da! Und in den erlauchten Kreisen des Feuilletons oder Rundfunks hat sich auch nie-mand für mich interessiert. Ich konnte also entweder tun, was der Trend diktierte und was die Plattenfirmen wollten – oder ich musste mich auf mein eigenes Werteraster verlassen.Das Konzept Ihres Albums Regenballade von 1978 war erneut ungewöhnlich: Sie haben Balladen von Dichtern wie Goethe, Fontane und Liliencron vertont, darunter Klassiker wie den Zauber-lehrling und Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havel-land. Was in den alten Balladen steckt, wurde mir nach dem Shanty-Album klar, als ich Gedichte wie Pidder Lüng und Trutz, Blanke Hans von Detlev von Liliencron zum ersten Mal genauer gelesen habe. Die waren mir in der Schu-le vielleicht schon mal begegnet, mehr aber auch nicht. Das ist keine verschnörkelte Dichter-sprache, merkte ich jetzt, son-dern eher wie eine Reportage! Die sprachliche Kraft dieser Werke, zum Beispiel bei den Naturbeschreibungen, fand ich plötzlich ganz toll.

Nun gab es zu diesen Ge­dichten aber noch keine Melodien. Wie haben Sie die gefunden?Wir waren im Urlaub in Däne-mark, meine Frau, unsere kleine Tochter und ich. Oben am Ska-gerrak bin ich mit der Akustik-gitarre endlos über menschen-leere Dünen gewandert. Und plötzlich waren die Melodien da. Ich musste nicht mühsam über-legen, Moment mal, Ribbeck, wie könnte man denn, wie ma-che ich das? Nein, die Musik ist mir wirklich zugeflogen. Wenn ich die Platte nicht gemacht hät-te, wäre das Verrat an meiner Künstlerseele gewesen. Die Plat-te hat dann auch weite Kreise gezogen und war sehr erfolg-reich – bloß nicht bei den Kriti-kern. Darf man unseren Dich-tern so eine Musik antun, schrieb einer.Bei der Bundeswehr waren Sie überzeugt, dass Ihre Karriere vorüber sei. Gab es auch den entgegengesetzten Moment? Erkannten Sie irgendwann, dass Sie Ihr Leben lang Musik machen und dauerhaft Erfolg haben werden?Endgültige Gewissheiten sind selten im Musikgeschäft. Ich habe mich lange von einem Deal zum nächsten gehangelt – da hatte ich nie das Gefühl, ich sitze fest im Sattel, und es be-

kommt mich keiner runter. Aber ich werde nie ein Bankgespräch vergessen, in dem ich ganz vor-sichtig gesagt habe, mit dem Geld dürfe man doch nicht wag-halsig werden. Der Bankberater guckte mich verwundert an und sagte: Herr Reichel, Sie brauchen sich doch gar keine Sorgen mehr zu machen! Da wurde mir zum ersten Mal klar: Wenn nicht der große Crash kommt, ist mein Auskommen gesichert, und ich kann im Grunde genommen be-freit aufspielen.Wann war das?In den späten Achtzigerjahren, kurz nach meiner Zeit mit Jörg Fauser. Bis dahin war ich immer Klinkenputzen gegangen. Jetzt riefen die Plattenfirmen auf ein-mal von selbst an.Jörg Fauser war ein deut­scher Kult­Autor, der als Wegbereiter der Pop­ Literatur gilt. In den Achtzi­gerjahren hat er etliche Songtexte für Sie verfasst.Mir war aufgefallen, dass US-Dichter wie Allen Ginsberg oder Shel Silverstein auch Texte für Rockmusiker gemacht haben. Da gab es eine Verbindung, die in Deutschland nicht vorhanden war. Warum? Wo waren die Dichter meiner Generation? Als ich darüber einmal mit einem Bekannten beim Rowohlt-Verlag sprach, drückte der mir bald da-rauf einen Stapel Lyrikbände in die Hand. Darin entdeckte ich Gedichte von Jörg Fauser.Was hat Ihnen daran gefallen?Seinen Ton, seine Sprache fand ich unglaublich. Wie Kino! Sehr bildhaft, nicht angestrengt poe-tisch, dazu mit hohen Blues-An-teilen. Als ich ihn angerufen und gefragt habe, ob wir mal ver-suchen sollten, zusammen einen Song zu schreiben, war er auf Anhieb begeistert. Ihm gefiel der Gedanke, dass Texte von ihm vielleicht im Radio zu hören sein könnten. Kein Mensch geht doch in den Buchladen und schaut unter »Deutsche Lyrik der Gegenwart«, schimpfte er.

»ENDGÜLTIGE GEWISSHEITEN SIND

SELTEN IM MUSIKGESCHÄFT«

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»ICH WAR IMMER DER MEINUNG,

KEINE GUTEN TEXTE SCHREIBEN ZU

KÖNNEN«

Wie haben Sie Jörg Fauser erlebt?Er sah unscheinbar aus, war aber von einer enormen Tiefgründig­keit. Wir saßen oft zusammen, haben über alles Mögliche ge­redet, und plötzlich sagte er, du, ich seil mich mal für einen Augenblick ab. Nach einer hal­ben Stunde tauchte er wieder auf und legte ein DIN­A4­Blatt mit einem fertigen Gedicht auf den Tisch, das sich – oft nur ganz am Rande – auf irgendetwas bezog, über das wir gerade gesprochen hatten. Bis dahin hatte ich ge­dacht, große Dichter hat es früher mal gegeben, aber inzwi­schen sind die alle tot. Fauser war der erste solche Mensch, der in Fleisch und Blut vor mir saß.Allerdings nahm Ihre Zusam-menarbeit ein jähes Ende, als Fauser 1987 starb: An seinem 43. Geburtstag wurde er auf der A 94 bei München von einem Lkw überfahren.Ich weiß noch, wie ich am Grab stand und Erde auf seinen Sarg warf. Sein Tod ist für mich bis heute unfassbar und unerklär­lich.Haben Sie etwas von Jörg Fauser gelernt?Unheimlich viel. Ein Schlüssel­moment für mich war die Arbeit am Song Boxer Kutte. Wir saßen ja oft zusammen, ich mit meiner Gitarre, er mit einem Blatt Pa­pier. Ich war immer der Mei­nung gewesen, keine richtig gu­ten Texte schreiben zu können. Aber jetzt fehlte Fauser ein Reim. »Boxer gehen oft in die Knie / Aber Kutte steht wieder auf …« Wie sollte es weiter­gehen? Ich hatte eine Idee: »Viel­leicht: ›Blaue Augen zahlen drauf‹?« Mensch Achim, rief er, du kannst es auch, super! Von ihm nicht nur als Musiker, son­dern auch als Texter akzeptiert zu werden, hat mein Selbstwert­gefühl enorm beflügelt.In den Neunzigerjahren veröffentlichten Sie mehrere Erfolgsalben mit selbst ge-schriebenen Songs. Dennoch wagten Sie sich 2006 – nach

erinnert sich noch gut daran, wie er zum ersten Mal Musik von Achim Rei-chel gehört hat: In der 7. oder 8. Klas-se baute sein Deutschlehrer einen Plattenspieler auf dem Pult auf und spielte die Regenballade ab, Reichels LP mit Vertonungen klassischer Ge-dichte. Die meisten anderen Deutsch-stunden hat Waechter hingegen längst vergessen.

JOHANNES WAECHTER

Shantys, klassischen Balla-den und zeitgenössischer Lyrik – noch mal an ein anderes Genre: traditionelles deutsches Liedgut wie Am Brunnen vor dem Tore oder Der Mond ist aufgegangen, das Sie für Ihr Album Volxlieder im Rocksound arrangierten. Treib’s nicht zu doll, dachte ich, daran kannst du dir ganz schön die Finger verbrennen. Volks­lieder sind für viele bekanntlich ein rotes Tuch. Aber je tiefer ich da einstieg, desto klarer wurde mir, dass ich das machen musste! Weil etliche deutsche Volkslieder inhaltlich und musikalisch ein­fach wunderschön sind. Können Sie ein Beispiel geben?(singt) »Du, du liegst mir im Her­zen, du, du liegst mir im Sinn …« – Das sind schon fast Beatles­Akkorde! Das ist super! Auch textlich haben diese Lieder oft viel Gemüt und eine enorme Tie­fe. Aber nach zwei Weltkriegen und dem Holocaust fehlt uns im Umgang mit diesem Teil unseres kulturellen Erbes einfach die Unbeschwertheit. Das ist einer­seits verständlich, andererseits seufzt man da schon ein biss­chen und denkt, wie schade. Denn diese Lieder können ja nichts dafür.

Auch eines Ihrer Lieder kann man inzwischen wohl als Volkslied bezeichnen. Ihr Titel Aloha Heja He, 1991 er-schienen, hat seitdem vor allem in Norddeutschland ein bemerkenswertes Eigen-leben entwickelt: Es ist un-zählige Male gecovert wor-den, wird am Lagerfeuer, in Bierzelten und auf Feiern gesungen und dient in Disko-theken im ländlichen Raum als Soundtrack für ein Party-spiel, in dem sich die Gäste auf den Boden setzen und gemeinsam Ruderbewe-gungen ausführen.Der Erfolg dieses Liedes ist ein Phänomen, über das ich mich freue, für das ich aber keinerlei Erklärung habe. Da sitzen er­wachsene Menschen auf der Tanzfläche, und dann fangen alle an zu rudern! Als ich zum ersten Mal ein Video davon sah, konnte ich es kaum glauben. Dass ein kleines Lied, das fast gar nicht zur Welt gekommen wäre, so etwas auslösen kann, finde ich höchst faszinierend.Wieso wäre Aloha Heja He beinahe nicht auf die Welt gekommen?Weil ich die kleine Tonband­spule, auf der ich Anfang der Siebzigerjahre die Musik einge­

spielt hatte, fast in einer Kiste vergessen hätte. Es war damals so, dass mein Partner Frank Dos­tal und ich eine Single für eine von uns erfundene Gruppe namens Hamburger Blues­Ge­sangsverein produzieren wollten. Für diese Aufnahme­Session komponierte ich mehrere Lieder, allerdings ohne Text, der be­stand noch aus »Lalala«. Den Song, der später zu Aloha Heja He wurde, haben wir dann aber gar nicht verwendet. Etliche Jahre später fand ich das Band durch Zufall wieder und dachte, schöne Akkordfolge, mach schnell einen Text drauf und fertig. Dass der Song Hitpotenzial hat, war mir auch da noch nicht klar. Sonst hätte ich wahrscheinlich darauf verzichtet, im Text von »Matrosen am Mast« zu sprechen – das ist nämlich Seemännisch für »Filzläuse«. Aus diesem Lied stammt die Zeile »Ich hab das Paradies gesehen«, die nun der Titel Ihres Buches ist. Dass ein Lied derartige Kreise zieht und so viele Menschen er-reicht – ist das einer der Glücksmomente, über die Sie am Anfang sprachen?Das war ein Geschenk des Him­mels. Irgendjemand wollte das so. Mit meiner Intuition hatte es diesmal allerdings nichts zu tun. Wenn ich geahnt hätte, was das für eine Nummer ist, hätte ich die schließlich nicht über 15 Jah­re in der Kiste liegen lassen.

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atürlich begann al-les mit Corona. Beim Abnehmen der Maske verlor

ich mein linkes Hörgerät. Und fand es nie wieder. Shit happens, aber ich hatte ja noch mein rechtes und passte auf das nun gut auf. Die Schlaufen der Atem-masken befestigte ich nur noch am linken, jetzt hörgerätelosen Ohr, und rechts hielt ich die Maske mit der Hand. So macht Einkaufen noch weniger Spaß. Und alles andere auch. Fern- sehen brachte mir selbst mit bei-den der alten Hörgeräte erst ab Lautstärke 70 einen Zugewinn, meiner Freundin ist bereits 30 zu laut. Der Hörgeräteindustrie ist das nicht anzulasten. Meine Ge-räte waren zehn Jahre alt. Also uralt, prähistorisch meinetwe-gen. Das sagten alle, die schon die neuen hatten, und die Mit-arbeiter der Hörgeräte-Fach- geschäfte sagten das Gleiche, auch gern ungefragt: »Was Sie da tragen, gehört ins Museum, aber nicht in Ihr Ohr.«

Um es kurz zu machen: Ich sah in dem Corona-bedingten Hörgeräteverlust die Chance auf einen Gewinn an Lebensqualität und probierte nun endlich die neue Generation aus. Vorher musste ich allerdings beim Arzt um einen neuen Hörtest-Termin anfragen, denn der letzte lag zehn Jahre zurück. Um es noch mal kurz zu machen: Ich verließ die Praxis als temporär gebro-

chener Mann. Rechts hörte ich unverstärkt nur sieben und links nur noch drei Prozent von dem, was die Welt den Ohren zu bie-ten hat. Beethoven kannte das. Das Ende naht.

Aber auch das Ende der schlechten Nachrichten. Seit einer Woche bescheren mir die High-Tech-Wunder der Gegen-wart wieder sensationelle 60 Pro-zent Hörfähigkeit, und was soll ich sagen? Es fühlt sich wie 100 Prozent an, oft auch wie 120. Bei Gesprächen mit einem leibhaf-tigen Gegenüber muss ich nie-manden mehr mit Lippenlesen belästigen und trotzdem das Gesagte wie ein Kreuzworträtsel

abhandeln, also Lücken füllen, mit Logik und Vermutungen. Das ist vorbei. Ich verstehe mühe-los und maximal entspannt jedes Wort, das an mich herangetra-gen wird, und das lohnt sich nicht immer, ist aber selbst dann 100 Mal besser, als mit Schwerst-arbeit zu denselben Ergebnissen zu kommen. Und die neuen Ge-räte sind via Bluetooth

mit allem verbunden, was ich brauche. Mit Smartphone, Whats-

App, FaceTime, You- tube, Netflix. Weil selbst die Lautsprecher des Fernsehers jetzt quasi direkt in meinen Oh-ren stecken, habe auch ich mitt-lerweile die Ära des Stummfilms verlassen. An den ersten beiden Staffeln Haus des Geldes erfreute ich mich noch mit den alten Ge-räten, Staffel drei und vier hörte ich schon mit den neuen. Und wollte danach am liebsten mit der Serie wieder von vorne be-ginnen. Denn es macht durch-aus einen Unterschied, bei Filmen nicht nur die Schuss-wechsel, sondern auch die Dialo-ge mitzukriegen.

Der wahre Wahnsinn aber liegt in der wiedergewonnenen Fähigkeit zu telefonieren. Das ging mit meinen Steinzeitmo-dellen nicht, weil sie rückkop-pelten, wenn ich das Handy ans Ohr hielt. Ich musste sie raus-pflücken und unverstärkt kom-munizieren, was dazu führte, dass ich es immer weniger tat

und mich sogar davor zu fürch-ten begann. Denn die Geduld am anderen Ende der Leitung erwies sich selten als uner-schöpflich. Nach dem dritten, spätestens nach dem vierten »Äh … was haben Sie gesagt?« gaben sie auf. Ich auch. Ich ver-lagerte deshalb meine private wie geschäftliche Kommunikati-on auf E-Mail. Das ist nur halb

ideal. Denn erstens fehlt da-bei die unmittelbare Reak-tion des Angeschriebenen, und zweitens transportiert

über die nackten Informati-onen hinaus auch die Stimme

an sich eine Botschaft. Ist sie warm, ist sie kalt, ist sie unsicher oder souverän, klingt sie verlo-gen oder seriös? Eine Mail ist leicht zu verstehen, aber nur die Stimme verrät, wie glaubhaft das Verstandene ist.

Meine neuen Hörgeräte funk-tionieren aber nicht nur wie ein Bullshit-Radar, dank Bluetooth geben sie mir auch die Hand-, Bein- und Fußfreiheit zurück. Das kennt jeder moderne Mensch, der mit kabellosen Kopfhörern telefoniert. Ich bin jetzt noch einen Schritt krasser modern, weil ich sie nicht mal mehr auf- oder abnehmen muss. Sie sind ein Körperteil gewor-den. Cyborg-Ohren. Und das Beste wie immer zum Schluss: Sie kosten fast 6000 Euro, und fast genauso viel traf fast gleich-zeitig mit ihrer Anschaffung aus dem Corona-Überbrückungs-Fonds für Selbstständige auf meinem Konto ein. Das heißt, der Kollateralschaden der Mas-kenpflicht hat mir nicht nur ein zu altes Hörgerät genommen, sondern auch noch zwei neue bezahlt.

Ganz Ohr

N

Unser Autor hatte sich schon daran gewöhnt, kaum etwas zu hören – doch dann eröffneten sich plötzlich Welten

HELGE TIMMERBERG

Die ersten Hörrohre sind aus dem 17. Jahr-hundert bekannt. Et-was unhandlich, aber immerhin kamen auch sie ohne Kabel aus.

hat den extrem subjektiven New Jour-nalism vielleicht nur gepflegt, weil er so schwerhörig war. Jetzt hat er end-lich gute Hörgeräte und versteht. Was das für die Zukunft des Journalismus bedeutet, weiß man noch nicht.

36 SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN

Text HELGE TIMMERBERGIllustration ANNA HAIFISCH

Die Pfalz ist eines der 13 deutschen Weinanbaugebiete, dasdie EU als geschützte Ursprungsbezeichnung anerkannt hat.Typisch für das zweitgrößte deutsche Weinbaugebiet ist dasmediterrane Klima. Geschützt vom Pfälzerwald gedeihen hiervor allem weiße Sorten wie Riesling, Weiß- und Grauburgunder,bei den Rotweinen dominieren Dornfelder und Spätburgunder.www.pfalz.de/gu

Die 13 deutschenWeinregionen sindgeschützte Ursprungsbezeichnungen.

Wo Lebensfreudezum Greifen nah ist.

Weine aus der Pfalz:Qualität, die man schmeckt.

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Fotos

ANNIE COLLINGE

W I E A N G E G O S S E N

Auf dem Balkon o der im Gar ten f indet man nicht nur Erholung – sonder n in diesem Fall auch die neue Winter mo de

Creative Direction & Styling

ROTTINGDEAN BAZAAR

Linke Seite: Gelbe Daunenjacke aus Baumwolle, von Moncler 1 JW Anderson. Grüne Fleecedecke: privat. Diese Seite: Gesteppte Hose und daunengefülltes Plissee-Oberteil aus Nylon, beides von Ding Yun Zhang.

SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN 39

Page 21: Nur die Harten kommen in den Garten? Von wegen. Ein Heft ... · diese Seinfeld -Episode schrieb, die auf eine wirkliche Tradition seiner Familie zurück - geht. Es soll Menschen geben,

40 SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZINDiese Seite: Orangefarbene Daunenjacke von Iceberg.

Rechte Seite: Wende-Daunenmantel mit Metallic-Effekt, von Tommy Hilfiger.

Page 22: Nur die Harten kommen in den Garten? Von wegen. Ein Heft ... · diese Seinfeld -Episode schrieb, die auf eine wirkliche Tradition seiner Familie zurück - geht. Es soll Menschen geben,

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Linke Seite: Jackett, Rollkragenoberteil und Hose aus braunem Leder, alles von Berluti. Chelseaboots: privat.Diese Seite: Rote Mohairdecke und gelbe Wolldecke, beides von Tekla. Orangefarbene Decke mit Volants: privat.

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44 SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN

»Wenn du dein

Ziel erreichst, ist es

vorbei«

Jonathan Anderson ist einer der besten Designer seiner Generation. Seine Mode wird mitunter als »seltsam«

bezeichnet. Im Interview spricht er darüber, warum er sich seiner Entwürfe nie ganz sicher sein will – und

warum er Schnittmuster für Luxus-Teile verschenkt

Interview SILKE WICHERT Foto MACIEK POZOGA

Blick nach vorn: Jonathan Anderson am

Fenster des Pariser Showrooms von Loewe in der Rue Bonaparte.

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SZ-MAGAZIN Sie entwerfen für vier Mar-ken gleichzeitig: Loewe, JW Anderson, Moncler, Uniqlo. Das bedeutet mehr als ein Dutzend Kollektionen jedes Jahr. Designer wie John Galliano sind unter dieser Last zusammengebrochen, der Louis-Vuitton-Männerdesigner Virgil Abloh nahm 2019 eine Auszeit. Sie hin-gegen haben sich in den vergangenen zehn Jahren nicht mal beklagt. Für wie anstrengend halten Sie die Modewelt von heute? JONATHAN ANDERSON Ich sehe das Ganze eher als kontinuierlichen Dialog mit dem, was ich mache. Ich entwerfe für verschie­dene Labels, aber am Ende kommt alles in dasselbe Tagebuch eines Jahres, verstehen Sie? Natürlich gibt es Momente, in denen ich denke, puh, ganz schön viel. Aber gleichzeitig fühle ich mich am besten, wenn ich möglichst beschäftigt bin. Seit Jahren wird die Branche für ihr Überangebot kritisiert, zu viele Kollek-tionen, zu viele Trends mit zu kurzer Lebensdauer. Wegen der Corona-Krise haben Firmen wie Saint Laurent und Gucci angekündigt, nur noch zwei Shows pro Jahr zu zeigen. Findet jetzt ein Umdenken statt? Ich habe gerade so eine Art therapeutischen Moment und finde, jeder soll jetzt tun, was er für richtig hält, und weniger darum ge­ben, was die anderen machen. Gleichzeitig

muss die Modewelt mehr zusammenarbei­ten, um Lösungen für die gesamte Branche zu finden. Aber diese Haltung, dass die Leu­te von einem auf den anderen Tag den gro­ßen Sinneswandel erwarten – ich glaube nicht, dass wir das Rezept morgen finden werden, womöglich nicht einmal bis Ende nächsten Jahres. Das ist ein stufenweiser Pro­zess, der Zeit braucht.Es macht den Eindruck, als hätten Sie schon länger ein Gegenmodell zur Wegwerfmode gefunden. Vor allem bei Loewe setzen Sie seit Jahren auf Hand-werk und erwecken alte Techniken zum Leben. Sie haben mit Loewe auch einen Preis für Kunsthandwerk ins Leben gerufen. Liegt die Zukunft der Mode in der Vergangenheit? Ich glaube schon, dass jetzt eine Zeit an­bricht, in der Authentizität wieder eine grö­ßere Rolle spielt, in der wir mehr über die Dinge wissen wollen. Woher sie kommen, wer sie gemacht hat, wie sie gemacht sind. Ein Ledertop für Männer sieht aus, als stecke der Oberkörper in einem halb-fertig geflochtenen Korb – eine Kopro-duktion mit einer Flechterin aus Lugo in Nordspanien. Das ist natürlich im-mer auch eine nette Geschichte, wenn man sagt: Wir haben irgendwo in Galicien eine Handwerkerin aufge-trieben, die das und das noch kann. Anfangs hielten manche das sicher für ein Klischee. Aber ich will diese Techniken ja nicht nur bewahren, sondern sie für die nächste Generation neu erfinden. Inwiefern? Sollte die Zukunft der Mode nicht mal in Kleidung mit eingebauter Technik und innovativen Stoffen liegen– die sich aber kaum durchgesetzt haben?Innovation kann doch aus allen möglichen Bereichen kommen. Nehmen Sie die Mar­keterie, eine uralte Intarsien­Technik mit Leder, die wir vor ein paar Jahren wieder eingeführt haben. Früher wurde das alles von Hand mit der Schere gemacht. Wir be­nutzen jetzt einen Laserstrahl, mit dem das Leder viel dünner, auf den Millimeter ge­nau, geschnitten werden kann. Dadurch können wir viel aufwendigere Designs ent­werfen, präziser arbeiten, es fällt weniger Abfall an. Tatsächlich steckt heute im Hand­werk sehr viel moderne Technik, man sieht es dem Produkt nur nicht an. Während der Corona-Einschrän-kungen entdeckten auch viele zu

Hause das Handwerken wieder für sich. Manche buken, andere bauten Gemüse an, fingen an zu stricken und zu nähen. Liegt es in der menschlichen Natur, etwas mit den Händen schaffen zu wollen?Der Mensch an sich ist ein schöpferisches Wesen, das ist irgendwo in unserem Gehirn angelegt. Aber wir verstehen unter Erschaf­fen heute oft etwas anderes, obwohl dieser

Schaffensprozess alles Mögliche sein kann: Kochen, Gärtnern, einen Brief schreiben – sogar sich die Nägel machen! Wir tun diese Dinge nur nicht mehr oft genug, und eine der besten Lehren aus dieser Zeit könnte sein, dass wir merken: Mindestens so sehr, wie wir glauben, Sport zu brauchen, spüren wir das Bedürfnis, unsere Hände zu benut­zen. Polieren Sie mal einen schwarz angelau­fenen Silberlöffel. Etwas mit den eigenen Händen zu tun, kann unglaublich befriedi­gend sein. Interessant, dass so viele Menschen die Handarbeit in einer Zeit entdecken, die sehr digital geprägt ist: Man kom-muniziert online, geht online einkau-fen, per Webcam ins Museum. Braucht man Haptisches als Ausgleich? Sicher. Weil es länger hält. Wir sind eine digitale Wegwerfgesellschaft, Handyfotos schmeißen wir haufenweise weg. Die sozu­sagen echten Dinge wie ausgedruckte Bil­der oder gutes Brot schätzen wir deshalb wieder mehr. Nachdem der Sänger Harry Styles ei-nen gestrickten Cardigan Ihres Labels JW Anderson getragen hatte, entwi-ckelte sich auf TikTok ein Wettbewerb,

Jonathan Anderson, 36, ist Nordire, lebt in London,

pendelt aber nach Madrid und Paris, wo sich das Design-Atelier

der spanischen Luxusmarke Loewe befindet, deren Chefdesigner er

seit sieben Jahren ist. Er entwirft außerdem für sein eigenes Label

JW Anderson, Uniqlo und Moncler. Das Interview findet am Telefon

statt, was seine Stimme noch mehr zur Wirkung bringt: viel tiefer und

voller, als sein jugendliches Aus- sehen es vermuten lässt. Sollte er irgendwann keine Lust mehr auf

Mode haben – er müsste sofort Synchronsprecher werden.

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diese bunte Jacke nachzustricken. Sie stellten daraufhin die Anleitung zum Download ins Internet. Das Gleiche machten Sie mit einer gerade erst prä-sentierten Tunika von Loewe. Schnitt-muster für Dinge, die im Laden 1500 Euro und mehr kosten, gratis teilen – das wäre in der Luxusmode früher undenkbar gewesen. Ich habe das aus zwei Gründen gemacht. Einerseits als Give-away, aber auch, damit die Leute wieder einen Eindruck davon bekommen, wie schwer es eigentlich ist und wie lange es dauert, diese Dinge her-zustellen. Wir haben durch »Fast Fashion« heute eine mitunter sehr entrückte Be-ziehung zu Kleidung. Viele glauben, dass alles aus irgendeiner Maschine kommt und keine Menschen mehr involviert sind. Aber egal, ob ein Kleidungsstück von einer gro-ßen Modekette oder sonstwoher stammt, überall sind Näherinnen involviert, und als Näherin musst du talentiert und gut ausge-bildet sein. Weil im Sommer kaum physische Mo-denschauen möglich waren, verschick-ten Sie eine »Show in a Box«, mit Skiz-zen, Stoffproben, einem persönlichen Brief dazu, und führten die Leute per Live-Schaltung durch die Kollektion. John Galliano soll zeitweise für seine Mitarbeiter kaum mehr greifbar gewe-sen sein, backstage hatte er seinen eigenen Bereich, den niemand betreten durfte. Ist die Ära der entrückten Designer-Diven vorbei? Mode muss unsere Realität reflektieren. Wenn wir also jetzt alle durch diese Zeit gehen, kann ich als Designer doch nicht so tun, als ginge mich das nichts an, und nichts dazu sagen. Die Zeiten des Abgehobenseins und des Sich-Rarmachens sind vorbei. Die heutige Generation verlangt nach Verant-wortungsbewusstsein, nach echten Men-schen, die in derselben Welt leben wie sie selbst. Sie sind im Nordirland der Achtziger- und Neunzigerjahre aufgewachsen, als der Nordirlandkonflikt noch andau-erte. Wie erinnern Sie sich an diese Zeit?Ich habe furchtbare Dinge gesehen, deshalb rede ich nicht viel darüber. Die Situation war fast bürgerkriegsähnlich. Wenn man damit groß wird, fühlt sich das irgendwann normal an. Aber es hat mich wahrschein-lich auch gelehrt, das Leben umso mehr zu

Flechtwerk Loewe steht seit 1846 für Leder,

das Anderson immer wieder neu interpretiert. In seiner

jüngsten Kollektion ließer daraus Taschen und

Oberteile wie Körbeflechten.

GenderlessSeine erste Kollektion zeigte er 2008 in London, die feminine Männermode

sorgte bald für Aufsehen. Erst irritierend, dann ein großer Trend.

RevoluciónUnter Andersons kreativer Führung hat sich Loewe,

das zum Luxuskonzern LVMH gehört, zu einem der spannendsten Modelabel entwickelt. Kleid aus

der aktuellen Herbst-Winter-Kollektion.

Harry StylesAls der britische Sänger diesen buntenCardigan von JW Anderson trug, gingdas Modell viral – auf TikTok entwickelte sich sogar eine Nachstrick-Challenge.

Multi-TalentExtra-Kollektionen für Moncler Genius (Bild), Uniqlo, Converse – sein Output erinnert bisweilen an den des hyperproduktiven Karl Lagerfeld.

AbseitigDer Star-Fotograf

Steven Meisel inszeniert die ungewöhnlichen

Kampagnen für Loewe. Aktuelles Gesicht ist die US-Fußballerin Megan

Rapinoe.

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Nancy Pelosi zerreißt nach der Rede von Donald Trump im Februar 2020 dessen Redemanuskript.

Mehr Perspektiven zur US-Wahl fi nden Sie unter sz.de/mut

Amerika zuerst oder Trump am Ende?Mut entscheidet.

Amerika zuerst oder Trump am Ende?Amerika zuerst

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genießen und nichts für unmöglich zu hal-ten – weil du immer wusstest, dass dir im nächsten Moment alles genommen wer-den kann.Sähe Ihre Mode anders aus, wenn Sie nebenan in England aufgewachsen wären?Meine Jugend hat mich in jedem Fall stress-resistenter gemacht. Aber ich bin unglaub-lich froh, in Irland aufgewachsen zu sein. Der Umgang ist manchmal ein bisschen rau, weil das Land so viel mitgemacht hat, aber auch sehr aufrichtig und direkt. Und es ist nicht nur ein komplizierter, sondern auch einer der schönsten Orte der Welt. Aber würden Sie sagen, Sie trauen sich deshalb mit Ihrem Design mehr aus der Komfortzone heraus?Definitiv.Ihre Entwürfe werden oft als Avantgar-de oder als im positiven Sinne seltsam bezeichnet. In einem Interview sagten Sie, jede Kollektion sollte zu 35 Pro-zent aus Entwürfen bestehen, mit de-nen Sie sich nicht völlig sicher fühlen. Wenn du dir zu sicher mit allem bist, läufst du Gefahr, dich zu wiederholen. Man muss die Latte immer höher legen. Denn in dem Augenblick, in dem du dein gestecktes Ziel erreichst, ist es vorbei. Nur aus den Sachen, bei denen du dir noch nicht ganz sicher bist, entsteht letztlich etwas wirklich Neues. So wie die genderneutrale Mode? Sie waren 2014 einer der Ersten, der Män-nern Spitzen-Tops angezogen hat, lange bevor Gucci damit großen Erfolg hatte. Die Kritiker fanden Ihre Ent-würfe damals furchtbar. Oh ja, ich kann mich gut erinnern. Für mich dagegen waren diese Sachen damals schon so selbstverständlich, dass es mich fast wieder gelangweilt hat. Das Tolle an Mode ist ja: Du kannst sie in der Gegenwart nie richtig begreifen, sondern erst rückbli-ckend, wenn man sie im Zusammenhang mit anderen Dingen aus der jeweiligen Zeit betrachtet. Was zum Beispiel politisch in dem Moment los war, wohin sich der Zeit-geist bewegte.Wären Ihre Chefs manchmal glück-licher, wenn Ihre Ansprüche an sich selbst nicht ganz so ambitioniert wären? Vor allem Ihre Taschenentwürfe sind extrem erfolgreich, aber Kleidung verkaufte sich zuletzt am besten, wenn sie möglichst gefällig war.

Ich habe im Fernsehen mal etwas über Tony Blair und Gordon Brown gesehen, da war von »bang and bust« die Rede: Wenn du zu früh einschlägst, gehst du womöglich auch schneller drauf. Das ist bei Marken genauso. Wenn du zu früh Erfolg hast und dich nicht immer wieder herausforderst, erreichst du keine Langlebigkeit.

Ihr Vater war Rugby-Spieler in der Nationalmannschaft. Haben Sie Ihren Ehrgeiz von ihm geerbt?Mein Vater ist sehr kompetitiv, das habe ich definitiv von ihm, aber was ich vor allem von ihm gelernt habe, ist Mann-schaftsdenken. Du kannst kein Rugby-Spiel ohne Team gewinnen. Und in der Mode ist es im Grunde genauso. Du brauchst ein Team, und zwar das beste. Sonst gewinnst du nicht.Stimmt es, dass Sie nach der Schule Schauspieler werden wollten und dafür nach Washington gingen?Ja, aber nach zwei Jahren auf der Schau-spielschule habe ich gemerkt, dass es mich nicht glücklich macht. Also bin ich zurück nach Dublin, habe in der Herrenabteilung eines Departmentstores gejobbt – und war dann geradezu besessen von Mode. Da-mals war die Zeit von Tom Ford, Hedi Slimane bei Dior, Prada hatte einen sensa-tionellen Moment, die Männermode er-fuhr eine Renaissance. Ich fühlte mich wie verzaubert. Viele Designer, auch die, die Sie gerade genannt haben, tragen meistens ihre eigenen Entwürfe. Sie hingegen sieht

man ausschließlich in Jeans und T-Shirt oder Pullover. Kürzlich sagten Sie in einem Interview: »Ich versuche, mich besser anzuziehen, aber es fällt mir schwer.« Interessante Aussage für einen Designer. Als ich jünger war, habe ich sozusagen nur Mode getragen. Aber jetzt verbringe ich so viel Zeit damit, meine Vision auf andere zu übertragen – ich kann das jetzt nur noch als Job machen, verstehen Sie? Vielleicht spielt auch eine Rolle, dass wir in der Schu-le Uniformen hatten. Es fällt mir morgens schwer zu entscheiden, was ich anziehen soll. Also trage ich ganz simple Sachen, um damit keine Energie vor der Arbeit zu ver-schwenden. Das Entscheidende bei mir ist wohl: Wenn man stundenlang gekocht hat, vergeht einem manchmal der Appetit. Ich muss auf eine blanke Fläche projizieren können. Wenn ich in den Spiegel gucke und mich in einem Entwurf von mir selbst sehe, kriege ich an diesem Tag keine Idee mehr zustande.Statt Mode sammeln Sie wie verrückt Objekte. Es heißt, Sie hätten ein ganzes Lager und arrangierten Ihr Haus in London ständig um. Es gibt kein Lager, alles wird gewisser-maßen aufeinander geschichtet, aber das mit dem Sammeln von allem Möglichen stimmt. Keramik kaufe ich, seit ich zwanzig bin. Ich sehe mein Zuhause als eine Art lebendiges Moodboard. Manchmal nehme ich Sachen weg und sperre sie in den Schrank, dann hole ich sie wieder raus und kombiniere sie neu, mit anderen Farben, anderen Künstlern, mit denen sie dann wie-der in Dialog treten. Das hört nie auf, wie eine unendliche Geschichte.

50 SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN

SILKE WICHERT

»Mode kannst du erst rück- blickend richtig begreifen«

traf Anderson schon einmal vor vier Jahren zum Interview. Damals erzählte er von seiner Nach- barin, die über dem Atelier in Paris lebt, und die er so gern einmal beim Rauchen treffen würde: Catherine Deneuve. F

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Charakter­darsteller:

Hand ­ ge töpferte

Vasen »Nose Vases«.

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Reflexhaft:Uhr »Milgauss« mit grün­schim­

merndem Saphirglas. rolex.com

Volle Tönung: Sonnenbrille mit bunter Metallfassung.

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Schleifchendran: Tuch

»#UseTheExisting«aus Seide.zegna.com

Gleitzeit: Rasiercreme »Musgo Real

– Spiced Citrus« mit Noten von

Zitrusfrüchten. clausporto.

com

Die Ausstellung »Masculinities: Liberation through Photography« widmet sich der Darstellung von Männlichkeit in der Fotografie.

(Ab 16. Oktober im Gropius Bau.) berlinerfestspiele.de

Schaumschläger: Einklappbarer Rasierpinsel »Travel Shaving Brush« aus poliertem Edelstahl, von Brunello Cucinelli. matchesfashion.com

»Ein Mann erwartet von einer Frau, dass sie perfekt ist.

Und dass sie es liebenswert findet, wenn er es nicht ist.«

CATHERINE ZETA-JONES, Schauspielerin

Verschluss­sache: Die

aufklappbare »Laptop­

Tasche« aus Leder kann

auch als Rucksack getragen werden.

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Der »1892 High Top Sneaker« von Colchester Rubber Co. ist ein original ­

getreuer Nachbau des ersten Basketball­ Schuhs der Welt. soulobjects.de

Anhänglich: Carabiner »LoveSexDreams«

aus Metall. 032c.com

SÜDDEUTSCHE ZEITU NG MAGA ZIN 53

Man muss es mal sagen: Das Langweiligste früher im Zirkus waren die Pferdenummern. Hat man als Kind nicht verstan-den, was das sollte. Da lassen sie nonstop Feuerschlucker, echte Löwen und Menschen rein, die durch die Luft kugeln, und dann: Pferde, die im Kreis laufen. Einmal mit, einmal gegen den Uhrzeigersinn. Und alle tun, als wäre es die Krö-nung, dabei ist es nur: okay? Heute sieht man das anders, weil man ja erwachsen und kultiviert ist. Aber eigentlich versteht man es immer noch nicht. Nimmt der Zirkus nur

für diese eine »Nummer« zehn Pferde mit? Stimmt da das Preis-/Leistungsverhältnis? Kann man sich derlei nicht aus-führlicher beim Dressurreiten auf Eurosport ansehen? Muss der Zirkus dieses Genre unbedingt abdecken? Oder werden Pferde nebenbei auch für Kutschtätigkeiten gebraucht oder als Taschenablage? Es ist rätselhaft. Andererseits erscheinen mitreisende Pferde korrekter als mitreisende Tiger und Elefanten. Wenn sie doch nur Pyramide machen könnten oder wenigstens bissi Rollschuhfahren. MAX SCHARNIGG

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Hüa war alles besser: Weekender »Keepall Bandoulière 50« von Louis Vuitton. Foto: Sophie Green

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KalbsfiletMIT APFEL UND FOURME D’AMBERT

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Für 4 Personen

8 Scheiben Baguette, 1 EL Kräuterbutter, 1 rote Zwiebel, 1 Star-Apfel, 8 Scheiben vom Kalbsfilet (ca. 2 cm dick), 4–6 EL Olivenöl, 1 Bund Petersilie,

4 Zweige Majoran, Salz und Pfeffer, 80 g Fourme d’Ambert

Zubereitungszeit: 45 Minuten

Baguettescheiben mit Kräuterbutter bestreichen und auf einem Backblech verteilen. Zwiebel in Spalten schneiden. Apfel entkernen, vierteln und ebenfalls in Spalten schnei-den. Kalbsfilets unter fließendem Wasser abwaschen und trockentupfen. Olivenöl in einer beschichteten Pfanne erhitzen und Filets von beiden Seiten etwa 4 Minuten an-braten. Anschließend Zwiebel- und Apfelspalten hinzugeben, dann Temperatur senken. Das Ganze unter gelegentlichem Schwenken weitere 6–8 Minuten braten.Währenddessen Petersilie und Majoran grob hacken und in den letzten Minuten Bratzeit mit in die Pfanne geben. Abschließend vorsichtig mit Salz und Pfeffer würzen.Backblech mit Kräuterbutter-Baguettescheiben für 2–3 Minuten in den auf 180 Grad vorgeheizten Backofen schieben. Kalbfilets mit Apfel- und Zwiebelspalten auf gold-braun gerösteten Baguettescheiben anrichten, den zerbröselten Fourme d’Ambert darüber verteilen. Sofort servieren.

»Die Kombination von Apfel, Blau-schimmelkäse und Kalbfleisch passt wunderbar in den Herbst. Das Kalbsfilet kann man auch durch Poulardenbrust oder Schweine filet ersetzen. Wenig Aufwand, tolles Ergebnis.«

Nächste Woche: Umami-Pflanzerl von TOHRU NAKAMURA

CHRISTIAN JÜRGENS kocht im Restaurant »Überfahrt« in Rottach-Egern am Tegernsee und schreibt neben Elisabeth Grabmer, Maria Luisa Scolastra und Tohru Nakamura für unser Kochquartett.

Alle Rezepte finden Sie unter dasreze.pt

s gibt natürlich Getränke, die haben einen schlech-ten Ruf. Dafür kann es die unterschiedlichsten Gründe geben. Zuckerwasser in Plastikpäckchen

mit Strohhalm gehört dazu, weil es dick macht und die Um-welt verschmutzt. Jägermeister gehört dazu, weil er zu deutsch ist mit seinem Hirschlogo. Einen genauso gelager-ten Ramazzotti hingegen lässt man sich nach den Pap- pardelle gern nachreichen. Sì, per favore, danke. Manche Biere wirken uncool, manche Weine schick. Etikettenkäufer schämen sich längst nicht mehr zuzugeben, dass sie ihren Wein im Supermarkt lediglich nach dem Emblem aussu-chen. Neulich trank ich einen Wein, der sich einfach »Just fucking good wine« nannte. Affig, klar, aber dem Lugana mit Etikett in Marmor-Optik wurde er dann eben doch vorgezogen.

Das Getränk mit dem womöglich größten Imageproblem ist die Sangria. Das spanische Enthemmungswasser. Stellt man sich einen Sangria-Trinker vor, ist es nie ein einzelner Genussmensch im kleinen Fischrestaurant, es ist eine Horde vor Eimern. Es ist kein Zufall, dass die Reisewarnung für Spanien mit den Bildern vom Ballermann begann, auf

denen Menschen beisammensitzen und bechern – auch San-gria. In der landläufigen Berichterstattung ist Sangria längst nur noch eine Chiffre für Kontrollverlust und Distanzlosig-keit. Ein totales Anti-Corona-Getränk. Dass es dennoch auch in der Pandemie getrunken wurde, sorgte dann gleich für Entrüstung. So wie Bilder junger Menschen, die abends draußen zu eng beieinandersitzen. Die Partys in Keller- räumen, die Gelage in Wäldern, überhaupt jede Gruppen-bildung mit Alkohol. Wie blöd kann man sein? Wie nötig kann man es haben?

Im Laufe der Pandemie entwickelte sich langsam, aber sicher ein Bewusstsein dafür, dass nicht alle mit den gleichen Voraussetzungen durch diesen Mist müssen. Erste Kollektiv-Erkenntnis: Es haben nicht alle einen Garten. Nicht alle haben einen Job, den man im Homeoffice erledigen kann. Nicht alle kriegen weiter Gehalt, obwohl sie nicht arbeiten können. Nicht alle erwischt die Pandemie in ihrer Heimat, oder Heimatregion, manche sind abgeschnitten von zu Hau-se. Noch etwas gehört eingerechnet: Nicht alle haben poten-ziellen Zugang zu körperlicher Nähe daheim. Zwar wurden auch Partnerschaften ein Thema, aber fast nur politisch und wirtschaftlich: Wie teilt man sich Erwerbsarbeit und Kinder-betreuung, Haushalt und Homeschooling in der Pandemie gerecht auf und bleibt dabei modern und effektiv?

Etwas anderes aber blieb unbesprochen und führt uns geradewegs zur Sangria zurück. Was ist mit den Menschen, die die Corona-Einschränkungen nicht mit einem geprüften Partner im Doppelbett überstehen konnten? Die den Tag schaffen mussten ohne die tröstliche Gewissheit, am Abend zu einem geliebten Körper zurückkehren zu können? Was ist mit denen, die noch nie Sex hatten und sich das für die-sen Sommer so fest erhofft hatten? Was mit denen, die ohne Alkohol, Enthemmungsstimmung und Diskolicht nicht so recht wissen, wie man in fremde Arme gelangt? Die wen greifen, halten, riechen wollen. Was ist mit denen, die sich ein Kind wünschen, einen Partner suchen, gerade Zeit ver-lieren? Was mit denen ohne irgendjemanden, der sie be-rührt? Mit denen, die seit Wochen keine Hand, nichts, nir-gendwo auf der Haut hatten, weil die Gelegenheit dafür fehlte? Es sind nicht alle blöd, die sich gefährlich nahekom-men, manche haben es einfach bitter nötig.

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SangriaEimer voller Strohhalme, Gruppen ohne Hemmungen: Es ist ein Getränk

der Distanzlosigkeit – und passt gerade deswegen so sehr in die Zeit der Pandemie

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schreibt hier im Wechsel mit Simone Buchholz, Verena Mayer und Tobias Haberl über Getränke, die es verdient haben.

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HOTEL EUROPA »GUT ÜSELIT Z«

IMPRES SUM

Gut Üselitz, Üselitz 2, 18574 PoseritzRügen, Tel. 0170/555 75 76, Wohnungen für zwei bis sechs Personen ab 150 Euro die Nacht. ueselitz.de

Nur ein paar Autominuten vom »Gut Üselitz« entfernt, liegt die Molkerei Rügener

Inselfrische und das dazugehörige Café. Dort gibt es erstklassigen Joghurt, Quark und

Frischkäse aus eigener Produktion.

st« ist wohl das Wort, das einen Besuch auf dem »Gut Üselitz« im Süden der Insel Rügen am besten

beschreibt. Das »Gut Üselitz« ist einge-bettet in die Wasserlandschaft »Üselit-zer Wiek«, es liegt mitten in unberühr-ter Natur, und so hat ein Aufenthalt in einer der sieben Ferienwohnungen des denkmalgeschützten Herrenhauses aus dem 16. Jahrhundert mit klassischem Badeurlaub sehr wenig zu tun. Ganz bewusst haben die Eigentümer auf Fernseher und auf Fensterläden ver-zichtet. Je nach Jahreszeit wacht man also ziemlich früh auf und ausnahms-weise freut man sich darüber, weil es einem die Chance gibt vom Bett aus zu beobachten, was man sonst nur aus Naturdokus kennt: Rehe, die sich ihren Weg durch die Morgendämmerung bahnen, Kraniche, Graureiher, über-

haupt Vögel so weit das Auge reicht. Wer schwindelfrei ist, kann sich auch auf einen der beiden sehr hohen Hoch-sitze des Guts postieren und den Kor-moranen dabei zuschauen, wie sie der Sonne entgegenschreien. Fern- und Weinglas werden auf dem »Gut Üselitz« zum treuen Begleiter. Ers-teres für die Exkursionen, letzteres, um sich von ihnen zu erholen. Das macht man am Besten in der Badewanne. Denn von fast allen Wannen im Haus blickt man in den verwunschenen Park und aufs Wasser. Man kann auch ein Kreidebad nehmen, für die Kreide ist Rügen schließlich berühmt. Den dazu-gehörigen Felsen sollte man allerdings vom Touristendampfer aus besichtigen. Auch wenn das nur halb so aufregend ist wie die Ausflüge in die Üselitzer Wildnis. KERSTIN BOGNÁR

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Dieses Heft handelt vor allem von Männern – aber unsere Verlosung gilt hier nur Frauen: Wir laden auf sz-magazin.de/gewinnen zwei Freundinnen zu den »SportScheck WOMEN PWR DAYS 2020 powered by adidas« ein. In Berlin, 8. bis 11. Oktober, mit Übernachtung in Doppelzimmern. Programm: alles rund ums Laufen. Sie trainieren mit Profis, testen Produkte von Sport-Bra bis Laufschuh, buchen »DIY-Projekte«, besuchen »Body&Mind-Sessions« und erholen sich bei Massagen und Sauna.

Teilnahmeschluss ist der 24. September 2020, 17 Uhr. Mitarbeiter der beteiligten Firmen dürfen nicht mitmachen. Der Rechtsweg sowie eine Barauszahlung des Gewinns sind ausgeschlossen.

RügenMECKLENBURG -VORPOMMERN

Chefredakteure Michael Ebert und Timm KlotzekStellvertretende Chefredakteurin Lara FritzscheArtdirector Thomas KartsolisChef/in vom Dienst Dirk Schönlebe, Julia Wagner Textchef Marc SchürmannRedaktion Susanne Schneider (Autorin); Thomas Bärnthaler, Caroline Bucholtz, Max Fellmann, Samira Fricke (Modeleitung), Kerstin Greiner (Stil leben), Gabriela Herpell, Dr. Till Krause, Kira März, Nicola Meier, Mareike Nieberding, Lars Reichardt, Johannes Waechter, Lorenz Wagner. Mitarbeit: Patrick Bauer, Christoph Cadenbach, Tobias HaberlDigitales SZ-Magazin Wolfgang Luef (Leitung); Marc Baumann, Annabel Dillig, Daniela Gassmann, Sara Peschke, Dorothea Wagner; Mitarbeit: Katarina Lukač (Das Rezept)Autorinnen und Autoren Johanna Adorján, CUS, Elisabeth Grabmer, Axel Hacke, Christian Jürgens, Tobias Kniebe, Michael Krüger, Tohru Nakamura, Roland Schulz, Maria Luisa ScolastraSchlussredaktion Dr. Daniela Ptok, Angelika RauchGrafik Birthe Steinbeck (stellv. Art­directorin), David Henne, Jonas Natterer, Michaela Rogalli, Anna Sullivan Bildredaktion Jakob Feigl, Ralf Zimmermann Assistenz Regina Burkhard (Chefredaktion)

Geschäftsführer Stefan HilscherVerlag Magazin Verlags gesellschaft Süddeutsche Zeitung mbH, Hultschiner Straße 8, 81677 München, Tel. 089/21 83 95 40, Fax 089/21 83 95 70, E­Mail: szmagazin@sz­magazin.de Anzeigen Jürgen Maukner (Gesamt anzeigen leitung), verant­wortlich für den Inhalt der Anzeigen; Tel. 089/21 83 9553, Preis­liste Nr. 20 – gültig ab 1. 10. 2019Kaufmännischer Bereich Marianne IglRepro Compumedia GmbH, Elsenheimer straße 59, 80687 MünchenHerstellung Hermann Weixler (Leitung)Druck Burda Druck GmbH, Hauptstraße 130, 77652 Offenburg Verantwortlich für den redak tio- n ellen Inhalt Michael Ebert und Timm Klotzek, Anschrift wie VerlagDer Verlag übernimmt für unverlangt ein gesandte Unterlagen keine Haf­tung. Das Papier des Süddeutsche Zeitung Magazins wird aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff her gestellt. Bei Nichterscheinen durch höhere Gewalt oder Streik kein Ent schädi­gungs anspruch. Eine Verwertung der urheberrechtlich geschützten Zeitschrift und aller in ihr ent­haltenen Beiträge und Ab bildungen, ins besondere durch Vervielfältigung oder Ver breitung, ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlages unzu lässig und strafbar, soweit sich aus dem Urheberrechts gesetz nichts anderes ergibt. Ins beson dere ist eine Ein speiche rung oder Ver ar beitung der auch in elektronischer Form vertriebenen Zeitschrift in Daten­systemen ohne Zustimmung des Verlages unzulässig.

SZ-MAG AZIN.DEGEWINNEN

DAS KREUZ MIT DEN WORTEN VON CUS

Putins Beute-SekteRÜBER 1 Bleibt jetzt für im-mer zu Hause? 11 Machen Bankern läufige Vorhaltun-gen 13 La Douce-Heroin 15 Sündige als Strip in Las Vegas 16 So klein und galt von hinten doch als Vorbild der Unsittlichkeit 17 Refugi-um der Seligen dort, wo sich’s Gott angeblich gut gehen lassen kann 18 Kann Win-netou wirklich nicht mehr werden, Donald schon 19 Verhinderte Entfaltung des Lebens bunt kaschiert 23 Auf eine Unterzahl muss man erst mal bringen 25 ?, liebe ?, was macht wie Chips tüten in alten Hal-men? 26 Anonym wird da-mit Ano nymer 28 Sekte von Putins Beute 30 Kann sich zum Wermutstropfen auswachsen 33 Lassen Kosa-ken ziehen 35 Waterkant-wort auf Gerd, den Bomber der Nation 36 Liebe Kinder, was passt denn perfekt zur Weihnachtsgans? 38 Juste passé 39 Das wollen Kinder überkleben 40 Made in

Hamburger 43 Kellner mit Wagen muss jedes Mal so tun, als bliese er Weste auf 46 Das Gesetz der Omertà verbindlich durchsetzen 48 Friesinger oder H & N gelten als internatinstitutio-nal bekannt 49 Wie konnte uns kein einschlägiger Himmelskörper passieren? 50 Vater des Geldes? Jupiter-mond alias Badens Park

RUNTER 1 Tafelservice 2 Fahrbrik? Viele Zähne führen zuweilen zum Kuckucksruf 3 Synonym zu dem, der hier im Magazin stets zuletzt auftritt 4 Präsi-dieren dem Spiegel 5 Stecken in Ronaldo & Picasso 6 Held wohnt in seiner Brust 7 Fürn Apple und ’n iPhone, wie war die gleich wieder? 8 En France der, wofür Spa-nier noch go braucht 9 Vom Kamm bis zur Sohle bis zum Kamm 10 Rechte Hand ist damit nicht vermehrbar, nur die andere 12 Almkäs, charaktervoll, wäre in Cus eingefügt Möchtegern- Cäsar 14 Semmel am Mor-gen, wie’s Dirndl sich Fens-terlkerl wünscht 20 Stand

einst offen, heute eher kürzer 21 Auf Instandsetzung kann man gehen 22 Left by Johnson 24 Besser Werft-arbeiter als Glücks-fee an der Arbeit 27 Über die eigene Angst nennen wir Mut 29 Kein Pick-nickname: Gegen die baut man Lärmschutzwand, Deich genannt 31 Auch das Kleid umfängt Bewah-renswertes 32 Starr aus der Prä-Klopp-Zeit 34 Am Sues-kanal einseitig 37 Die Schule des

Karnevalumzugs 41 Geht, in Ordnung: Start wie see 42 Mitten im Chicago-State: Verleumdet Böden 44 Am Horn von Afrika ist Löwen-zahn nicht willkommen 45 Länger belichtetes Bild 47 Kennen Franzosen mit bien und Süddeutsche so-wieso

Die Auflösung dieses Rätsels finden Sie im nächsten Heft – oder Sie lösen es gleich digital in den Apps der SZ.

AUFLÖSUNG RÄTSEL 37

Rüber 1 Verweis 7 Sarah 12 Ecken 14 Stare 15 Rhone 16 Rondell 17 Soli 18 Rari-tät 21 Clog 23 Venezien 25 Hindi 27 Lora 28 neu 30 Abi 31 Reet 34 Etui 35 eye 36 Orion 37 Zins 39 Reigen 41 Emirat 45 frönen 46 Ukas 47 Tann 48 Dres 49 itemRunter 1 verschärft 2 Echo 3 wenig 4 enervierend 5 Israel 6 Storno 7 sanieren 8 ARD 9 Ree 10 Allee 11 Halt 13 Kolonie 19 Tzat-ziki 20 Ainu 22 Libyer 24 Nuss 26 Drogen 29 Ein 32 Einer 33 Töne 38 ira 40 Ion 42 Mus 43 Ase 44 Tom

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Page 30: Nur die Harten kommen in den Garten? Von wegen. Ein Heft ... · diese Seinfeld -Episode schrieb, die auf eine wirkliche Tradition seiner Familie zurück - geht. Es soll Menschen geben,

58 SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN

or einigen Wochen fummelte ich im Café am Handy herum und entdeckte den Hinweis auf ein Video. Darin

war zu sehen, wie Ivanka Trump eine Bühne betrat, auf der Melania Trump neben Donald Trump stand. Melania begrüßte die herbei­stolzierende Ivanka mit strahlendem Lächeln, doch kaum war I. vorbei, verzog M. die Miene, als hätte sie in etwas Gallebitteres gebissen.Das alles könne man im Video sehen, las ich im Hinweistext. Ich versuchte, das Filmchen auf den Schirm zu bekommen, die Ver­bindung war schlecht, vor dem Clip gab es Werbung, die Sache stockte, ich tippte und tappte – dann erschrak ich und dachte:WAS MACHST DU HIER EIGENTLICH?Tatsächlich hatte ich zwanzig Minuten mit dem Schwachsinn der Trump­Show vertan. Ich wollte Ja sagen können, wenn wieder einer fragte: Hast du gesehen, was er wieder ge­macht, gesagt, getan hat? Der Hinweistext war mit der Anmerkung versehen gewesen, »Mil­lionen« hätten dieses Video »in kürzester Zeit angeklickt«, es sei »um die Welt gegangen«.Ich war müde. Es war diese lähmende Trumpmüdigkeit, die viele Menschen be­

fallen hat. Es ist schwer, sich von ihr zu be­freien. Trump ist wie ein übler Geruch, den man nicht aus der Nase bekommt, ein Mief, der nicht aus den Kleidern weicht und den man nicht mehr los wird. Man bräuchte einen Trump­Filter, der alles, was mit diesem Mann zu tun hat, aus dem Weltbild filtert. Aber kaum hat man ihn zur Seite geschoben, drängt er schon wieder herein, mit einer neuen enormen Lüge, einem weiteren Skan­dal, dem nächsten Bullshit.Diese Müdigkeit, dieses Auslaugen ist aller­dings das Ziel. Steve Bannon, der 2016 Donald Trump den Weg ins Amt ebnete und mittlerweile nur noch gegen Kaution auf freiem Fuß ist, hat über seine Strategie ein­mal gesagt: The real opposition is the media. And the way to deal with them is to flood the zone with shit. Der wirkliche Gegner seien die Medien, und mit ihnen gehe man am besten um, indem man sie mit Scheiße über­schwemme. Gemeint war: Selbst von dreis­testen Lügen und gröbsten Unverschämt­heiten kann es nicht genug geben. Sie halten den Gegner beschäftigt. Sie zehren an seinen Kräften. Sie zermürben ihn. Am Ende wer­

den die Menschen vor lauter Betrug und Gemeinheit niemandem mehr vertrauen. Das demokratische System wird unter­miniert sein. Man wird es satt haben.So ist es geschehen in Amerika, so geschieht es weiterhin, und inzwischen fragt man sich, wie die Zeit bis zum 4. November zu über­stehen sein wird (von four more years nicht zu reden). Soll man Chinesisch lernen, um sich abzulenken? Sich dem Käfersammeln zuwen­den? Orchideen züchten? Schatzmeister im Schrebergartenverein werden? In Haydns sinfonisches Werk abtauchen? Diese ganze Corona­Zeit verleitet einen sowieso, sich nach innen zu kehren – also: Warum nicht den großen Schnitt machen und sich endgül­tig von der Welt abwenden?Das ist der Stand der Dinge: leise Verzweif­lung, die aber doch schon so groß ist, dass man auf Videos in Melania Trumps Miene nach der Abneigung sucht, die man selbst gegen diese Sippe hegt. Nur bin ich damit ein weiteres Mal reingefallen. Denn zu Trumps Mitteln gehört ja, alles ins Persön­liche zu ziehen und letztlich den Hass zum Mittel der Politik zu machen. Wer sich auf diese Ebene begibt, hat schon verloren. Denn dort wird er mit Dreck geflutet, und das war das Ziel. Es gibt nur einen Weg, Trump und denen, die überall in der Welt seinen Metho­den folgen, zu entkommen. Der wäre: ru­higes Argumentieren, mit anderen sprechen, Lernbereitschaft, Neugier, Interesse an denen, die andere Ansichten haben.Nichts gegen die chinesische Sprache, gegen Käfer, Orchideen, Schrebergärten und Haydn. Aber vor Trump fliehen kann man nur in die Vernunft.

Das Beste aus aller Welt Wie ein übler Geruch verpestet Donald Trump noch die hintersten Winkel

unseres Daseins. Was kann man dagegen tun?

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Zum Schutz vor plötzlich auftauchenden Trump- Videos nutzt Axel Hacke sein Handy inzwischen nur noch, um sich die 107 Sinfonien Joseph Haydns an-zuhören.

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Warten auf die WiesnDas »O’zapft is« fiel der Pandemie zum Opfer – in diesem Jahr. Die Zeit bis zum nächsten

Wiesnauftakt verschönert dieser Wandkalender, genau bis zum 18. September 2021

Wenn eine Olympiade ursprünglich die Zeit zwischen zwei Olympischen Spielen benennt,sollte dann die Zeit zwischen zwei Oktoberfesten nicht »Wiesniade« heißen? UnserKalender überbrückt jedenfalls die Zeit vom ausgefallenen Anstich in diesem Jahr, dem19. September, genau bis zum Anstich im kommenden Jahr, dem 18. September. Alsodie ausgefallene Wiesn plus eine Wiesniade. Der Fotograf Daniel Delang hat dafür Orteaufgesucht, an denen die Wiesn 2021 schon auf uns wartet – verpackt und aufgeräumt.Format: DIN A3, 14 Blätter, Offset-Druck auf Naturpapier. 19,90 Eurosz-shop.de/wiesn2020

W A R T E N A U F D I E W I E S NE i n K a l e n d e r v o n S e p t e m b e r 2 0 2 0 b i s S e p t e m b e r 2 0 2 1

Fotos: Daniel Delang

S E P T E M B E R

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Autoscooter, Distel Autoscooter

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Quadriga, Marstall-Festzelt

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Depot-Container, Turmrutschbahn »Toboggan«

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