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Wassily Kandinsky PAULA EMIG / MANUELA WAGENER Über die Formfrage Wassily Kandinsky / Franz Marc (Hrsg.): Der Blaue Reiter München, 2. Auflage 1914, S. 74-100 dass diese Form für einen anderen Künstler genauso bedeutsam ist. Die Formen, die der freiheitliche Geist in uns verkörpern kann, teilt Kandinsky im Laufe seines Artikels in zwei Pole auf. Der Geist könne sich einerseits in der »großen Abstraktion«, also in dem rein Künstle- rischen, oder aber in der »großen Realistik« (S. 82 f.), also dem Gegen- ständlichen, zeigen. Die Realistik strebe danach, den Inhalt des Werkes durch die einfache Wiedergabe eines Gegenstandes auszudrücken. Ihr gegenüber stellt Kandinsky die Abstraktion. Hier gehe es darum, das reale Gegenständliche auszublenden und in immaterieller Form wie- derzugeben. In der Realistik trete durch das Auslassen der Abstraktion der »innere Klang« (S. 78) des Werkes verstärkt hervor, wobei in der Abstraktion das Gegenteilige passiere. Am Ende seines Artikels wider- spricht er seinen vorherigen Ausführungen jedoch selbst und stellt fest, dass es im Prinzip ohnehin keine Rolle spiele, ob ein Künstler eine rea- le oder eine abstrakte Form hervorbringe, da beide Formen innerlich gleich seien und sich nur äußerlich unterscheiden. Die Materialisation des abstrakten Geistes des Menschen gelinge im Kindesalter am bes- ten, da sich in jungen Jahren der Geist noch frei bewege. Als Kind sei man, wie Kandinsky es formuliert, von aller Zweckmäßigkeit be- freit und sehe ohnehin alles mit neuartigem Blick, wodurch sich in allem was ein Kind zeichne, der »innere Klang« des Gegenstan- des in der reinsten Form wie von selbst entblöße. Die Bildung an einer Akademie kritisiert Kandinsky hierbei als Feind dieser kind- lichen Freiheit, da sie das Gehör für den »inneren Klang« durch Vorgaben einschränke, wodurch dieser allmählich verloren gehe. Anhand der Betrachtung einiger Gemälde und deren Konstruktion kann man Kandinskys Formfrage auch visuell nachvollziehen. Ein Stilleben von Gabriele Münter aus dem Jahr 1911 beispielsweise, dass Kandinsky abbildet, zeigt eine sehr unterschiedliche Über- setzung der Gegenstände auf ein und demselben Bild und macht gleichzeitig deutlich, wie dies nicht nur gut gelingen, sondern auch einen wundervoll, komplizierten »inneren Klang« erzeugen kann. Zuerst durch die unterschiedliche Malweise disharmonisch wir- kend, bringt der Farbakkord dennoch die geforderte innere Har- monie hervor. Das ein Jahr später datierte Werk von Franz Marc Der Stier betont ergänzend, dass das starke Klingen einer körper- lichen Form nicht automatisch das Gegenständliche zerstört. Es gibt für solche Harmonien keine allgemeingültige Regelung, da ein Gegenstand auch den »äußeren« wie der »inneren Klang« voll- kommen behalten kann, während einzelne Teile ganz selbständig in abstrakten Formen klingen können. Auch Henri Matisse’ Wer- ke Musik und Tanz von 1910 zeigen auf, dass nicht nur im klaren Schema zweier Werke, sondern auch in der anders wirkenden Komposition der Klang erhalten bleibt und sichtbar werden kann. Obwohl Kandinskys Text in seiner Form durch die von ihm ge- wählte Sprache, seinen darin versteckten metaphorischen Evoka- tionen und seinem predigenden Schreibstil beim erstmaligen Le- sen überzeugend wirkt und den Leser beeindruckt, erkennt man im Laufe des Artikels durch zunehmend distanzierte Betrachtung die inneren Widersprüche seiner Aussagen. Teilweise liest der Text sich wie die Predigt eines Kunstkardinals, in welchem Kan- dinsky sich teils selbst widerspricht und oft stark idealistisch ar- gumentiert, weshalb sein Beitrag kritisch betrachtet werden sollte. *** I m Jahr 1912 vertiefte Wassily Kandinsky in dem von ihm ge- schriebenen Artikel Über die Formfrage seine ästhetischen Über- legungen zu der Frage, welche Rollen Formen in der Kunst spielen. Schon vorher basierten seine Theorien auf dem Phäno- men der Synästhesie als Zugang zur Welt, in der sich die mensch- liche Wahrnehmung mithilfe unterschiedlicher Sinnesreizungen, wie beispielsweise durch Töne und Farben, verbindet. Es handelt sich hierbei um einen Künstlertext, der einzig und allein auf sei- nen Idealen basiert, Kunst sichtbar und fühlbar zu machen. Als Leser sollte man jedoch aufpassen, sich nicht in der Faszination des Artikels, auch mithilfe der beigefügten Bilder, zu verlieren. Für Kandinsky ist »die Form (Materie) der äußere Ausdruck des inneren Inhalts (Geist)« (Über die Formfrage. Illustrierte Ausgabe, Nor- derstedt 2018, S. 144). Dabei stehen Inhalte aber immer im Kontext zu dem jeweiligen Künstler, der Zeit und der Nationalität, sodass es keine Wertung über richtige oder höherwertige Formen geben kann. Vielmehr sollen die eingesetzten formalen Mittel den geistigen Inhalt eines Werkes erst zum Vorschein bringen. In diesem Essay soll ver- sucht werden, sich von der Anziehungskraft seines Artikels zu lösen und Kandinskys Vorstellung der Formfrage auf den Grund zu gehen. »Wenn der Leser dieses Buches imstande ist, sich seiner Wünsche, seiner Gedanken, seiner Gefühle zeitweise zu entledigen und dann das Buch durchblättert, […] so wird seine Seele viele Vibrationen erleben und in das Gebiet der Kunst eintreten. Hier wird er dann nicht ihn empörende Mängel und ärgernde Fehler finden, sondern er wird statt einem Minus ein Plus seelisch erreichen. Und diese Vi- brationen und das aus ihnen entsprungene Plus werden eine See- lenbereicherung sein, die durch kein anderes Mittel als durch die Kunst, zu erreichen ist« (S. 99). In seinem Text hebt Kandinsky den abstrakten Geist des Menschen hervor und verwendet dabei Meta- phern wie den »weißen befruchtenden Strahl« oder die »schwarze todbringende Hand« (S. 74), welche entweder ermöglichen oder ver- hindern sollen, das Geistige in der Materialisation auszudrücken. Als äußere Bedingung fordert Kandinsky die Freiheit des menschlichen Geistes, da nur dieser im Stande sei, die inneren Formen nach Außen zu tragen. Um es mit seinen Worten zu sagen: »Die Form ist der äußere Ausdruck des inneren Inhalts« (S. 75). Kandinsky empfiehlt allen Künstlern, sich auf keine bestimmte Form zu versteifen, denn wenn eine Form für den einen Künstler das perfekte Ausdrucks- mittel sei, um sein Inneres widerzuspiegeln, so hieße das nicht, >> Henri Matisse Musik und Tanz, 1910 Öl auf Leinwand, 260 x 389 cm Staatliche Eremitage, St.Petersburg >> Franz Marc Der Stier, 1911 Öl auf Leinwand, 100 x 135,2 cm Solomon R. Guggenheim Museum, New York >> Formvergleiche Erst die Gegenüberstellung unterschiedlicher Bildzeugnisse macht die von Kandinsky aufgeworfene »Formfrage« visuell nachvollziehbar: Das vom Autor konstatierte »innere Klingen« der Kunst, als eine Art der Wiedergabe der immateriellen Form, kann auf die Tiergestalt in Franz Marcs Gemälde bezogen werden, manifestiert sich aber auch in der Stier-Grafik, die auf einer der 13 Doppelseiten des Artikels abgedruckt wird.

Über die Formfrage - uni-hamburg.de...Für die komplexe Argumentation Wassily Kandinskys nehmen die Abbildungen auf den Doppelseiten des Almanachs einen wichtigen Stellenwert ein

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Wassily Kandinsky

PAULA EMIG / MANUELA WAGENER

Über die FormfrageWassily Kandinsky / Franz Marc (Hrsg.): Der Blaue Reiter

München, 2. Auflage 1914, S. 74-100

dass diese Form für einen anderen Künstler genauso bedeutsam ist. Die Formen, die der freiheitliche Geist in uns verkörpern kann, teilt

Kandinsky im Laufe seines Artikels in zwei Pole auf. Der Geist könne sich einerseits in der »großen Abstraktion«, also in dem rein Künstle-rischen, oder aber in der »großen Realistik« (S. 82 f.), also dem Gegen-ständlichen, zeigen. Die Realistik strebe danach, den Inhalt des Werkes durch die einfache Wiedergabe eines Gegenstandes auszudrücken. Ihr gegenüber stellt Kandinsky die Abstraktion. Hier gehe es darum, das reale Gegenständliche auszublenden und in immaterieller Form wie-derzugeben. In der Realistik trete durch das Auslassen der Abstraktion der »innere Klang« (S. 78) des Werkes verstärkt hervor, wobei in der Abstraktion das Gegenteilige passiere. Am Ende seines Artikels wider-spricht er seinen vorherigen Ausführungen jedoch selbst und stellt fest, dass es im Prinzip ohnehin keine Rolle spiele, ob ein Künstler eine rea-le oder eine abstrakte Form hervorbringe, da beide Formen innerlich gleich seien und sich nur äußerlich unterscheiden. Die Materialisation des abstrakten Geistes des Menschen gelinge im Kindesalter am bes-ten, da sich in jungen Jahren der Geist noch frei bewege. Als Kind sei

man, wie Kandinsky es formuliert, von aller Zweckmäßigkeit be-freit und sehe ohnehin alles mit neuartigem Blick, wodurch sich in allem was ein Kind zeichne, der »innere Klang« des Gegenstan-des in der reinsten Form wie von selbst entblöße. Die Bildung an einer Akademie kritisiert Kandinsky hierbei als Feind dieser kind-lichen Freiheit, da sie das Gehör für den »inneren Klang« durch Vorgaben einschränke, wodurch dieser allmählich verloren gehe.

Anhand der Betrachtung einiger Gemälde und deren Konstruktion kann man Kandinskys Formfrage auch visuell nachvollziehen. Ein Stilleben von Gabriele Münter aus dem Jahr 1911 beispielsweise, dass Kandinsky abbildet, zeigt eine sehr unterschiedliche Über-setzung der Gegenstände auf ein und demselben Bild und macht gleichzeitig deutlich, wie dies nicht nur gut gelingen, sondern auch einen wundervoll, komplizierten »inneren Klang« erzeugen kann. Zuerst durch die unterschiedliche Malweise disharmonisch wir-kend, bringt der Farbakkord dennoch die geforderte innere Har-monie hervor. Das ein Jahr später datierte Werk von Franz Marc Der Stier betont ergänzend, dass das starke Klingen einer körper-lichen Form nicht automatisch das Gegenständliche zerstört. Es gibt für solche Harmonien keine allgemeingültige Regelung, da ein Gegenstand auch den »äußeren« wie der »inneren Klang« voll-kommen behalten kann, während einzelne Teile ganz selbständig in abstrakten Formen klingen können. Auch Henri Matisse’ Wer-ke Musik und Tanz von 1910 zeigen auf, dass nicht nur im klaren Schema zweier Werke, sondern auch in der anders wirkenden Komposition der Klang erhalten bleibt und sichtbar werden kann.

Obwohl Kandinskys Text in seiner Form durch die von ihm ge-wählte Sprache, seinen darin versteckten metaphorischen Evoka-tionen und seinem predigenden Schreibstil beim erstmaligen Le-sen überzeugend wirkt und den Leser beeindruckt, erkennt man im Laufe des Artikels durch zunehmend distanzierte Betrachtung die inneren Widersprüche seiner Aussagen. Teilweise liest der Text sich wie die Predigt eines Kunstkardinals, in welchem Kan-dinsky sich teils selbst widerspricht und oft stark idealistisch ar-gumentiert, weshalb sein Beitrag kritisch betrachtet werden sollte.

***

Im Jahr 1912 vertiefte Wassily Kandinsky in dem von ihm ge-schriebenen Artikel Über die Formfrage seine ästhetischen Über-legungen zu der Frage, welche Rollen Formen in der Kunst spielen. Schon vorher basierten seine Theorien auf dem Phäno-

men der Synästhesie als Zugang zur Welt, in der sich die mensch-liche Wahrnehmung mithilfe unterschiedlicher Sinnesreizungen, wie beispielsweise durch Töne und Farben, verbindet. Es handelt sich hierbei um einen Künstlertext, der einzig und allein auf sei-nen Idealen basiert, Kunst sichtbar und fühlbar zu machen. Als Leser sollte man jedoch aufpassen, sich nicht in der Faszination des Artikels, auch mithilfe der beigefügten Bilder, zu verlieren.

Für Kandinsky ist »die Form (Materie) der äußere Ausdruck des inneren Inhalts (Geist)« (Über die Formfrage. Illustrierte Ausgabe, Nor-derstedt 2018, S. 144). Dabei stehen Inhalte aber immer im Kontext zu dem jeweiligen Künstler, der Zeit und der Nationalität, sodass es keine Wertung über richtige oder höherwertige Formen geben kann. Vielmehr sollen die eingesetzten formalen Mittel den geistigen Inhalt eines Werkes erst zum Vorschein bringen. In diesem Essay soll ver-sucht werden, sich von der Anziehungskraft seines Artikels zu lösen und Kandinskys Vorstellung der Formfrage auf den Grund zu gehen.

»Wenn der Leser dieses Buches imstande ist, sich seiner Wünsche, seiner Gedanken, seiner Gefühle zeitweise zu entledigen und dann das Buch durchblättert, […] so wird seine Seele viele Vibrationen erleben und in das Gebiet der Kunst eintreten. Hier wird er dann nicht ihn empörende Mängel und ärgernde Fehler finden, sondern er wird statt einem Minus ein Plus seelisch erreichen. Und diese Vi-brationen und das aus ihnen entsprungene Plus werden eine See-lenbereicherung sein, die durch kein anderes Mittel als durch die Kunst, zu erreichen ist« (S. 99). In seinem Text hebt Kandinsky den abstrakten Geist des Menschen hervor und verwendet dabei Meta-phern wie den »weißen befruchtenden Strahl« oder die »schwarze todbringende Hand« (S. 74), welche entweder ermöglichen oder ver-hindern sollen, das Geistige in der Materialisation auszudrücken. Als äußere Bedingung fordert Kandinsky die Freiheit des menschlichen Geistes, da nur dieser im Stande sei, die inneren Formen nach Außen zu tragen. Um es mit seinen Worten zu sagen: »Die Form ist der äußere Ausdruck des inneren Inhalts« (S. 75). Kandinsky empfiehlt allen Künstlern, sich auf keine bestimmte Form zu versteifen, denn wenn eine Form für den einen Künstler das perfekte Ausdrucks-mittel sei, um sein Inneres widerzuspiegeln, so hieße das nicht,

>> Henri Matisse Musik und Tanz, 1910Öl auf Leinwand, 260 x 389 cmStaatliche Eremitage, St.Petersburg

>> Franz Marc Der Stier, 1911

Öl auf Leinwand, 100 x 135,2 cmSolomon R. Guggenheim Museum, New York

>> FormvergleicheErst die Gegenüberstellung unterschiedlicher Bildzeugnisse macht die von

Kandinsky aufgeworfene »Formfrage« visuell nachvollziehbar: Das vom Autor konstatierte »innere Klingen« der Kunst, als eine Art der Wiedergabe der

immateriellen Form, kann auf die Tiergestalt in Franz Marcs Gemälde bezogen werden, manifestiert sich aber auch in der Stier-Grafik, die auf einer

der 13 Doppelseiten des Artikels abgedruckt wird.

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>> Gabriele MünterStillleben mit Hinterglasbild des Heiligen Georg, 1911

Öl auf Pappe, 51,1 x 68 cmLenbachhaus, München

>> Innere HarmonieFür die komplexe Argumentation Wassily Kandinskys nehmen die Abbildungen auf den Doppelseiten des Almanachs einen wichtigen Stellenwert ein. Was dort unter Einbindung von Metaphern aus dem Bereich der Musik beschrieben wird, zielt auf die Hervorhebung synästhetischer Qualitäten ab, womit die wechselseitige Abhängigkeit auditiver und visueller Wahrnehmung gemeint ist. So wirkt Gabriele Münters Stillleben durch unterschiedliche Malweisen zwar disharmonisch, die innere Harmonie des Bildes ergibt sich nach Kandinsky aber durch den Wohlklang des Farbakkords im Auge des Betrachters.

>> Zwei Pole der VerkörperungDer künstlerische Geist kann sich nach Wassily Kandinsky einerseits in der »großen Abstraktion«, also im rein Künstlerischen, oder aber in der »großen Realistik«, also dem Gegenständlichen, zeigen. In der Realistik trete der »innere Klang« des Werkes verstärkt hervor, wobei in der Abstraktion das Gegenteilige passiere. Jedoch widerspricht sich der Autor am Ende seines Artikels selbst: Im Prinzip spiele es keine Rolle, ob ein Künstler eine reale oder eine abstrakte Form hervorbringe, da beide Formen innerlich gleich seien und sich nur äußerlich unterschieden.