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Kapitel3 Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten (@ Lernziele Optimierung und Dichteabhangigkeit beim Nahrungserwerb Die trophischen Ebenen Prinzipien der Wechselwirkungen zwischen zwei Arten Interspezifische Konkurrenz Gegenseitige F6rderung zweier Arten Mimikry Wechselwirkungen zwischen Rauber und Beute Wechselwirkungen zwischen Herbivoren und Pflanzen Wechselwirkungen zwischen Parasiten und ihren Wirten Mutualismus Trophische Kaskaden Nahrungsnetze ABeLebewesen sind in ihrem Dasein beeinflusst durch das Vorhandensein von Indi- viduen nicht nur der eigenen Art, sondern auch von der Anwesenheit anderer Arten. Das Schicksal eines Wiesenklees hangt davon ab, ob er in seiner Iugend von Schnecken gefressen wird. Wenn der Wiesenklee bis zur Blute uberlebt hat , ist er auf blutenbesu- chende Insekten zur Bestaubung angewiesen, urn die Reproduktion zu sichern. Viele Wechselwirkungen zwischen Individuen verschiedener Arten finden allerdings nicht unbedingt wie in diesem Beispiel auf direktem Wege,sondern indirekt (z. B.tiber Ver- haltensanderungen) oder tiber dritte Arten statt. So hemmt Raupenfraf im Fruhjahr an Eichen und Birken die Entwicklung von Insekten, die sparer im Iahr an den Bau- men fressen, weil die Baume in der Zwischenzeit Abwehrstoffe in ihren Blattern ange- reichert haben. Viele (aber nicht alle) zwischenartliche Wechselwirkungen werden tiber die Nahrung vermittelt. Nahrung wird daher in diesem Kapitel eine zentrale Rolle spielen .

Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

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Page 1: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

Kapitel3

Wechselwirkungen zwischenverschiedenen Arten

(@ Lernziele

Optimierung und Dichteabhangigkeit beim NahrungserwerbDie trophischen EbenenPrinzipien der Wechselwirkungen zwischen zwei ArtenInterspezifische KonkurrenzGegenseitige F6rderung zweier ArtenMimikryWechselwirkungen zwischen Rauber und BeuteWechselwirkungen zwischen Herbivoren und PflanzenWechselwirkungen zwischen Parasiten und ihren WirtenMutualismusTrophische KaskadenNahrungsnetze

ABeLebewesen sind in ihrem Dasein beeinflusst durch das Vorhandensein von Indi-viduen nicht nur der eigenen Art, sondern auch von der Anwesenheit anderer Arten.Das Schicksal einesWiesenklees hangt davon ab, ob er in seiner Iugend von Schneckengefressen wird. Wenn der Wiesenklee bis zur Blute uberlebt hat , ist er auf blutenbesu-chen de Insekten zur Bestaubung angewiesen, urn die Reproduktion zu sichern. VieleWechselwirkungen zwischen Individuen verschiedener Arten finden allerdings nichtunbedingt wie in diesem Beispiel auf direktemWege,sondern indirekt (z. B.tiber Ver-haltensanderungen) oder tiber dritte Arten statt. So hemmt Raupenfraf im Fruhjahran Eichen und Birken die Entwicklung von Insekten, die sparer im Iahr an den Bau-men fressen, weil die Baume in der Zwischenzeit Abwehrstoffe in ihren Blattern ange-reichert haben. Viele (aber nicht alle) zwischenartliche Wechselwirkungen werdentiber die Nahrung vermittelt. Nahrung wird daher in diesem Kapitel eine zentraleRolle spielen .

Page 2: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

96 3 Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Art en

3.1 Nahrungserwerb

ABe Lebewesen entnehmen ihrer Umwelt Produkte, die sie zum Waehstum, zurUnterhaltung ihres Stoffweehsels und zur Fortpflanzung benotigen. Man teilt dieLebewesen naeh ihrer Ernahrungsweise anhand der Herkunft ihrer Energie- (ehemo-oder phototroph) und Kohlenstoffquelle (auto- oder heterotroph) in vier Gruppenein (.- Tab. 3.1). Wahrend die Prokaryoten in allen vier Gruppen vertreten sind,haben sieh die Eukaryoten auf zwei Ernahrungsweisen spezialisiert: die photoauto-trophen Pflanzen und die ehemoheterotrophen Pilze und Tiere.

3.1.1 Spezialisierung

Die Qualitat der Nahrung hat nieht fur alle Organismen die gleiehe Bedeutung, denndie Lebewesen haben sieh untersehiedlieh spezialisiert. Solche Nahrungsspezialisie-rungen gehen noeh viel weiter als die Herkunft von Energie und Kohlenstoff und sindbesonders im Tierreieh vielfaltig ausgepragt, Dort gibt es von extremen Nahrungs-spezialisten, wie z. B. der Bohrfliege Urophora cardui, die in Mitteleuropa ihre Gallennur in den Stangeln der Aekerkratzdistel (Cirsium arvense) erzeugt, bis zu extremenGeneralisten, wie dem Mensehen, der sieh von einer Vielzahl tieriseher und pflanz-lieher Produkte ernahrt, alle Ubergangsstufen. Pflanzen haben dagegen im Unter-sehied zu Tieren reeht ahnliche Anspriiehe an ihre Nahrung; sie benotigen CO2 ausder Luft und einige Nahrstoffe (hauptsachlich Stiekstoff, Phosphor und Kalium) undWasser aus dem Boden (bei aquatisehen Pflanzen aus dem Gewasser). Gartnermaehen sieh dies zu Nutze und ziehen eine Vielzahl versehiedenster Pflanzenarten inder gleiehen Erde und unter ahnlichen Lichtverhaltnissen auf.In welchen Fallen wir von einem Generalisten und ab welchem Grad der Speziali-

sierung wir von einem Spezialisten spreehen, ist nicht einheitlieh definiert. Bei phy-tophagen oder aueh herbivoren (= pflanzenfressenden) Insekten, die etwa 25% allerbekannten Arten ausmaehen und zu einem grofsen Teil spezialisiert sind, sprieht manin der Regel von monophagen Arten, wenn sie sieh von einer Pflanzenart ernahren,von oligophagen, wenn sie von Arten einer Gattung, und von polyphagen Arten,wenn sie von Pflanzen versehiedener Gattungen leben. Pflanzenfresser werden haufigaueh Herbivoren genannt, Fleisehfresser Carnivoren und Allesfresser Omnivoren.Aueh wenn eine Art ein breites Nahrungsspektrum hat und somit als Generalist gilt,haben haufig die einzelnen Populationen oder sogar Individuen ein relativ enges Nah-rungsspektrum und neigen somit zur Spezialisierung (compositegeneralist) . Unterden Mensehen gibt es z. B. viele Vegetarier, und Inuits in Gronland stellen ihre Nah -

Tabelle 3.1: Einteilung der Lebewesen nach ihrer Ernahrungsweise.

Energiequelle KohlenstoffausCO2

Licht photoautotroph(z. B. Cyanobakterien. Pflanzen)

chemische Verbindungen chemoautotroph(z. B. Schwefelbakterien)

Kohlenstoffausorganischer Substanz

photoheterotroph(z. B. Purpurbakterien)

chemoheterotroph(z. B. Pilze,Ilere,diemeisten Bakterienarten)

Page 3: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

3.1 Nahrungserwerb

rung anders zusammen als asiatische Reisbauern. Beim Guppy (Poecilia reticulata)fressen einige Individuen im Wahlversuch bevorzugt Rohrenwurmer (Tubifex), wah-rend andere Taufliegenlarven (Drosophila sp.) vorziehen, obwohl beides in gleichenMengenverhaltnissen angeboten wurde ( ~ Abb. 3.1). Die ganze Population verhieltsich also wie ein Generalist, wahrend sich die Individuen durchaus spezialisiert haben.Allgemein besteht der Nahrungserwerb aus zwei Phasen: dem Suchen von Nahrung

und der Handhabung (Uberwaltigen, Fressen, unter Umstanden auch Verdauen undsich hinterher Putzen; handling).Wichtig ist sich klar zu machen, dass ein Tier wah-rend der Handhabung einer Beute keine andere, sich vielleicht lohnendere Beutesuchen kann. Ein Rauber sollte sich also vor einer Attacke uberlegen, ob er nicht in derZeit, die er mit der Handhabung dieser Beute verbringt, eine lohnendere Beute findenkann ("Prinzip der verpassten Chance").Aus diesen Betrachtungen haben MacArthur und Pianka (1966) folgende Schluss-

folgerungen gezogen: Rauber mit relativ zu ihren Suchzeiten kurzen Handhabungs-zeiten sollten ein breites Spektrum an Beutearten akzeptieren, denn die kurze Zeit, diesie mit der Handhabung bereits gefundener Beute verbringen, hat nur einen geringenEinfluss auf die gesamte Suchzeit. Meisen (Parus sp.) z. B., die auf der Suche nachInsekten durch die Vegetation streifen, verbringen einen GroBteil ihrer Zeit mit derSuche nach Beute, wahrend die Handhabungszeit gefundener Beute vernachlassigbarist. 1m Einklang mit den Vorhersagen haben Meisen (wie iibrigens auch viele andereinsektenfressende Vogel) ein breites Beutespektrum. 1m Gegensatz dazu leben z. B.Lowen (Panthera leo) mehr oder weniger in standiger Sichtweite ihrer Beute, verbrin-gen daher kaum Zeit mit der Suche. Bei ihnen wurde die Theorie eine Spezialisierungauf besonders lohnende Beutetypen voraussagen, denn wenn sie eine weniger profi-table Beute ignorieren, ist die Wahrscheinlichkeit grofs, dass sie innerhalb kurzer Zeiteine profitablere Beute finden. Tatsachlich spezialisieren sich Lowen auf Beute, die miteinem relativ geringen Energieaufwand uberwaltigt werden kann (kranke, junge undalte Beutetiere).

97

Anteil Drosophila in der Nahrung

8

OJ6

J::.~u:::E 4'"....c:-c

2

00,0 0,25 0,50 0,75 1,0

8

~

IV'l 6oc:c:

.~ 4g>02':g 2w

10 20 30Muschellange (mm)

40

3.1 Links: Haufigkeitsverteilung der Nahrungszusammensetzung von Guppys, denen jeweils gleiche Anzahlenvon Taufliegenlarven und Rohrenwurmern angeboten wurden. Die Individuen haben sichmehr oder wenigerauf eine der beiden angebotenen Beutearten spezialisiert, jedoch haben sich die einzelnen Tiere auf unter-schiedliche Beutearten spezialisiert: manche auf Taufliegenlarven andere auf Rohrenwurmer. Nach Murdoch etal. (1975). Rechts: Nahrungswahl von Strandkrabben (Carcinus maenas). Die Tiere bevorzugen die MuschelgroBe,die den groBten Energiegewinn verspricht . Nach Elner und Hughes (1978).

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98 3 Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

Eines der Hauptargumente fur eine Spezialisierung ist, dass nicht jede Nahrunggleicheffizient physiologisch genutztwerden kann und daher eineSpezialisierung aufNahrung, die leichter umgesetztwerdenkann, vorteilhaft ist,weilsiedie Fitnessmaxi-miert (physiologische Effizienzhypothese, physiological efficiency hypothesis). DiesesArgument leuchtet intuitiv ein, denn da verschiedene Pflanzenarten (und auch Indi-viduen) sich in ihren chernischen und physikalischen Eigenschaften sowie ihrer Ver-breitung und Phanologieunterscheiden, ist es unwahrscheinlich,dass Insektenan diemeisten ihrer Nichtwirtpflanzen angepasstsind. Die Selektion sollte also eine Bevor-zugung gut geeigneterWirtspflanzenfordern,Obwohldieseauf den erstenBlick einleuchtendeHypothesehaufigim Zusammen-

hang mit Nahrungsspezialisierung genannt wird, ist siekeineswegs durch experimen-telle Untersuchungen breit abgesichert. Eine der Vorhersagen, die sich aus dieserHypothese ergeben, ist, dass eine starkere evolutionareAnpassung der Performance(z. B. Wachstum,Uberleben,Fekunditat) der Nachkommen an cine Pflanzenart einereduzierteAnpassunggegenuberanderen Pflanzenarten nach sich zieht.Einfachaus-gedruckt heiBtdas,wenn man bestimmte Pflanzenbesonders gut nutzen kann, kannman andere schlechterverarbeiten (ein so genannter trade-off, S.73).ExperimentelleHinweise fur einen solchen trade-off hat man in vielen Fallen gesucht, aber in derRegel keinederartige negative genetischeKorrelationgefunden (fur eine der wcnigenBestatigungen der Hypothesebei Spinnmilben siehe z. B.Agrawal 2000).Ebenso sagt die physiologische Effizienzhypothese voraus, dass Spezialisten ihre

Wirtspflanze effektiver nutzen sollten als Generalisten. Mit anderen Worten, wennGeneralisten auf der gleichen Pflanzenartwieihre spezialisiertenVerwandten aufgezo-genwerden,solltensiesichschlechter entwickeln oder einegeringereFekunditathabenals die Spezialisten. Doch auch dieseVorhersagehat sich in den meistenExperimentennicht bestatigt. Ebenfalls ausdieserTheorie hervorgegangen ist einedritte Argumenta-tion, die zu erklarenversucht,dassGeneralisten ihr breitesNahrungsspektrum beibe-halten und verschiedeneNahrungstypenmischen, urn eine balancierteNahrstoffauf-nahme zu gewahrleisten (Pulliam1975, Rapport 1980). Bei Wirbcltierengibt es hierzueinige klassische Beispiele. Elche (Alces alces) suchen ihre Nahrung in zwei unter-schiedlichen Habitaten, zwischen denen sie regelmafsig wechseln. 1mWald fressen sieBlattervon Laubbaumen,wahrend sie in Teichen Pflanzen unter Wasser abweiden.DieLaubblatterhaben einenhohen Energie-, aber einengeringenKochsalzgehalt, wahrendesbeidenWasserpflanzen genauumgekehrt ist.Da Elche beidesbenotigen,mussen sieeine gemischteNahrung zu sich nehmen (Belovsky 1978).Bei phytophagen Insektengibt esbislangnur bei Heuschrecken Beispiele fur einen

Vorteil vom Mischen verschiedener Pflanzenarten (Bernays und Bright 1993). Beianderen Insekten (Schmetterlingen, Fliegen, Wanzen) scheint eine gemischteErnah-rung nicht generell vorteilhaft zu sein (Singer2001).Die Theorie stimmt also offen-sichtlichnicht immer mit der Natur uberein, ist aber trotzdem nicht unbedingt falsch.Wenn man berucksichtigt, dass auch andere Faktoren eine Rolle bei der Nahrungs-auswahl spielen konnen, erkennt man bald, dass die Qualitat der Nahrung unterUmstanden gegenandere Faktorenabgewogen werdenmuss. Dieses wird im Folgen-den ausfuhrlicher diskutiert.Insektenlarven konnen sich, besonders wenn sic noch klein sind, haufig nicht weit

fortbewegen. Viele phytophage Insekten leben als Larve sogar innerhalb der Pflanze

Page 5: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

3.1 Nahrungserwerb

(Minierer oder Gallbildner). Die Larven wahlen daher in der Regel ihre Wirtspflanzenicht selbst aus, sondern sind an die Pflanze gebunden, auf die dasWeibchen ihre Eierabgelegt hat. Die Weibchen wahlen also die Wirtspflanze fur ihre Nachkommen aus.Nach unserer Theorie sollte bei Insekten also die Praferenz der Weibchen fur gewisseWirtspflanzen mit der Performance der Larven korreliert sein (Praferenz-Perfor-mance-Hypothese, preference-performance hypothesis) . In Experimenten, in denenPflanzen verwendet wurden, die relativ nahe mit den naturlichen Wirtspflanzen derInsekten verwandt oder ihnen chemisch ahnlich waren, gab es allerdings haufig nureine schlechte Korrelation zwischen Eiablagepraferenz der Weibchen und der Perfor-mance der Nachkommen. Weibchen des Schwalbenschwanzfalters (Papilio machaon)legen z. B. uberhaupt keine Eier auf einige Pflanzenarten, die praktisch ebenso geeig-net fur ihre Larven sind wie ihre normalen Wirtspflanzen (Wiklund 1975). AndereInsekten wiederum legen Eier auf Pflanzen, die nahezu ungeeignet als Nahrung furdie schlupfenden Larven sind. Die Weibchen verhalten sich also auch hier in vielenFallen nicht so, wie es die Theorie vorhersagt. Es gibt inner- und zwischenartlicheGrunde, warum Weibchen nicht immer das offensichtlich Beste fur ihre Nachkom-men tun, z. B. wenn es ihnen selbst schadet und ihre Fitness herabsetzt.Interaktionen mit anderen Arten konnen ebenfalls verhindern, dass eine ansonsten

gut geeignete Pflanzenart von den Weibchen als Wirtspflanze akzeptiert wird. Dieskonnen entweder Konkurrenten (S. 119) oder naturliche Feinde (S. 127) sein.Wenneine konkurrenzuberlegene Art auf einer ansonsten bevorzugten Wirtspflanze vor-kommt, kann dies zur Verdrangung der unterlegenen Art und schliefslich zur Mei-dung dieser Wirtspflanze fuhren, auch wenn die Weibchen die Pflanze eigentlichanderen Wirtsarten vorziehen wurden. Doch auch die naturlichen Feinde einesInsekts konnen dessen Wirtswahl beeinflussen . So variiert bei vielen Insektenarten dieAnfalligkeit gegenuber ihren naturlichen Feinden mit der Pflanzenart, auf der ihreLarven fressen. Auf einigen Wirtspflanzenarten ist die Mortalitat durch Feinde dem-entsprechend hoher als auf anderen. Experimente mit Minierfliegen (Agromyzidae),die gezwungen wurden, sich auf verschiedenen Pflanzenarten zu entwickeIn, vondenen einige normalerweise nicht genutzt werden , haben gezeigt, dass spezialisierteSchlupfwespen (Parasitoide) hohere Parasitierungsraten der Fliegen verursachen,wenn sich diese auf bekannten, normalen Wirtspflanzenarten befinden, als wenn siesich auf neuen Wirten entwickeln (Gratton und Welter 1999). Soleh ein Schutz vorFeinden (oder allgemeiner: feindfreier Raum, enemyfree space), der durch die Pflanzevermittelt wird, kann zur Spezialisierung fuhren, wenn Anpassung an eine Wirts-pflanzenart die Fitness auf anderen Pflanzenarten reduziert. Dies wird deutlich amBeispiel der Krypsis (S. 128 und 239). Larven, die auf einer Pflanzenart schwer zu ent-decken sind, weil sie z. B. in Form und Farbe einem Zweig dieser Pflanze ahneln, kon-nen auf anderen Pflanzenarten, die ein anderes Aussehen haben, leicht entdeckt wer-den .Auf der ersten Art sind die Larven also vor ihren Feinden getarnt (kryptisch) unduberleben besser als auf den anderen Arten, wo ihr Uberleben, und damit ihre Fitness,reduziert sind.

99

Page 6: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

100 3 Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

3.1.2 Optimaler Nahrungserwerb

Auch wenn viele Arten zur Spezialisierung neigen, akzeptieren die meisten dochzumindest mehrere Nahrungstypen. Selbst fur monophage Arten ist nieht jedes Nah-rungsindividuum gleich gut geeignet. Ackerkratzdisteln, die Wirtspflanzen der gall-bildenden Bohrfliege Urophora cardui, unterscheiden sieh z. B. in ihrem Stangel-durchmesser, ihrer Hohe oder ihrem Proteingehalt. Dunne Stangel konnen nur kleineGallen mit wenigen Nachkommen tragen, werden allerdings auch seltener von Fein-den (Schlupfwespen) gefunden. In einem anderen Beispiel unterscheiden siehMuscheln, die einen Hauptteil der Nahrung der Strandkrabbe (Carcinus maenas) aus-machen, in ihrerGroBe. GroBeMuscheln geben mehr Energie, sind aber auch schwie-riger zu knacken als kleine Muscheln . Wahrend der Nahrungssuche begegnet eineBohrfliege oder eine Strandkrabbe unterschiedliehen Wirtspflanzen oder Beuteindi-viduen.Welche sollten akzeptiert, welche abgelehnt werden? Tiere, die ihre Wirte effi-zient nutzen, erreichen gegenuber Artgenossen eine erhohte Fitness. Die naturlicheSelektion wird diese Individuen also bevorzugen . 1m Zuge der Evolution sollten siehalso Strategien zum optimalen Nahrungserwerb (optimal foraging) ausbilden. In die-sem Kapitel beschaftigen wir uns dam it, wie solche Strategien aussehen konnen,Weiterfuhrende Literatur zu diesem Thema gibt es bei Krebs und Davies (1997).

Praferenz oderWechsel der NahrungKommen wir noch einmal zuruck zur Strandkrabbe. Wenn man Strandkrabben dieWahl zwischen verschieden grofsen Muscheln lasst, zeigen sie eine Praferenz fur diegrofste, die den hochsten Energiegewinn pro Zeit zu versprechen scheint (~Abb. 3.1).Die grofsten Muscheln enthalten zwar die meiste Energie, doch benotigt die Krabbe solange, sie zu knacken, dass wiederum kleinere Muscheln mitunter einen grofserenEnergiegewinn pro Zeit zu liefern scheinen. Die kleinsten Muscheln sind zwar leichtzu knacken, aber sie enthalten so wenig Energie, dass sich der Aufwand kaum lohnt.Die profitabelsten Muscheln sind also die mittelgroBen.In der Natur werden aber eine Reihe von verschieden groBen Muscheln gefressen

und nicht nur die profitabelsten. Warum fressen die Krabben manchmal kleinere undmanchmal grofsereMuscheln? Ein moglicher Grund konnte sein, dass die Zeit, die siebrauchen, urn die profitabelsten mittelgrofsen Muscheln zu finden, ihre Wahl beein-flusst. Wenn es lange dauert, urn eine profitable Muschel zu finden, dann kann dieKrabbe eine hohere Energieaufnahme pro Zeit erreichen, wenn sieweniger profitableMuscheln frisst, die leichter zu finden sind, als wenn sie langer nach den bestenMuscheln sucht.Kasten 3.1 zeigt ein einfaches Modell, mit dem man quantifizieren kann, wieviele

Individuen von jedem Beutetyp gefressen werden, wenn ein Rauber die Wahl zwi-schen zwei Beutetypen mit unterschiedlichem Energiegehalt hat (Charnov 1976). DasModell sagt voraus, dass, wenn der profitablere Beutetyp haufig angetroffen wird, derRauber ausschliefslich diesen fressen sollte. Diese Schlussfolgerung erscheint offen-siehtlich, denn wenn eine besonders lohnende Beute leicht zu haben ist, sollte mansich nicht mit der weniger profitablen zufrieden geben. Eine weitere Vorhersage ist,dass die Entscheidung, sich auf den besseren Beutetyp zu spezialisieren, unabhangig

Page 7: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

3.1 Nahrungserwe rb

von der Haufigkeit der Begegnung mit der weniger profitablen Beute ist, denn diefunfte Gleichung in Kasten 3.1 enthalt nicht mehr die Variable A.zo Auch dies leuchtetein: Wenn die lohnende Beute haufig genug angetroffen wird, sodass die schlechtereBeute ignoriert werden kann, ist es unter keinen Umstanden vorteilhaft, sich mit derschlechteren Beute abzugeben, selbst wenn der Rauber dieser haufig begegnet. Diedritte Vorhersage dieses Modells besagt, dass bei geringen Dichten der lohnenderenBeute beide Beutetypen gefressenwerden (und zwar bei jeder Begegnung).Wenn aberdie Dichte der lohnenderen Beute steigt, sollte es einen abrupten Wechsel von keinerPraferenz (beide Beutetypen werden gefressen) zu einer absoluten Praferenz der loh-nenderen Beute (nur diese wird gefressen, die schlechtere wird immer ignoriert)geben. Diese Vorhersage wird auch die Alles-oder-Nichts-Regel (zero-one rule)genannt. In der Natur findet man hingegen selten Tiere, die der Alles-oder-Nichts-Regel entsprechen, also keine komplette, sondern eine teilweise Praferenz (partialpreference) fur bevorzugte Nahrungstypen zeigen. Einige Tiere lehnen in manchen

101

Kasten 3.1 Modell derBeutewahl zweier unterschiedlich profitabler ----Beutetypen

Nehmen wir an, ein Rauber sucht wahrend T, Se-kunden Beute (T, = Suchzeit) . Er begegnet dabeizwei Beutetypen mit den jeweiligen Begegnungs-raten )'1 und ~ (Begegnungen pro Sekunde) . DieBeutetypen enthalten jeweil s E, und E1 Kilojoulepro Ind ividuum Energie und der Rauber benotiqth, und h1 Sekunden, die Beute zu handhaben(uberwaltiqen, fressen, verdauen), bevor er w ie-der neue Beute suchen kann . Die Prof itabil itat derBeute, also der Energiegewinn des Raubers proZeit, wahrend er die jeweilige Beute frisst, istdemnach E/h , und E/h1.

Wenn der Rauber beide Beutetypen frisst, nimmter folgende Energ ie zu sich:

Die gesamte Zeit T, die er dazu benotiqt, ist dieSuchzeit T, und die Handhabungszeit Th(Th = T,A,h , + T,~hl) zusammen.

Die Rate, mit der der Rauber Energie zu sichnimmt ist demnach

Nehmen wir an, dass der Beutetyp 1 den hoherenEnerg iegewinn pro Zeit verspricht. Wenn der Rau-ber den gesamten Energ iegew inn pro Zeit EITma -xim ieren will , so ll t e er sich auf Beutetyp 1 spezia-Iisieren, wenn der Energ iegewinn vom alle inigenFressen der Beute 1 grosser ist als der Energiege-w inn vom Fressen beider Beutetypen. Oder rna-thematisch

~ > 'VI + )'zEzI + A\h, I + )"h,+ Azhz

Aufqelost erg ibt d iese Gleichung

~I < :zhz- h I (~ hat sich weggekOrzt)

1/)'1 ist d ie durchschnittliche Suchzeit, die der Rau-ber benotiqt, um den Beutetyp 1 zu finden. DieEntscheidung, ob ein Rauber nur den profitable-ren oder beide Beutetypen fressen soli, ist unab-hangig von der Haufiqkelt. mit der er die schlech-tere Beute antrifft. Das heiBt, auch wenn die we -niger profitable Beute sehr haufiq lst, solite er sienicht fressen, wenn die profitable haufig genugist.

Page 8: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

102 3 Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

Fallen normalerweise bevorzugte Nahrungstypen ab, wahrend andere wiederumNahrung akzeptieren, die in der Regel abgelehnt wird.Wie sich ein Rauber entscheidet, eine bestimmte Nahrung zu akzeptieren oder

abzulehnen, hangt stark von der individuellen Erfahrung (oder genauer: Einschat-zung) des Raubers ab, mit welcher Wahrscheinlichkeit er wohl bessere Nahrung inabsehbarer Zeit finden wurde. Weiterhin bestimmt auch sein Hungerzustand (oderEiablagedruck bei Tieren, die Wirte fur ihre Nachkommen suchen) seine Entschei-dung. Ein hungriger Rauber wird eher eine weniger geeignete Beute akzeptieren alsein satter. Basierend auf der Alles-oder-Nichts-Regel haben Courtney et al. (1989) einallgemeines Modell aufgestellt, das die Nahrungswahl veranschaulicht und auch diein der Natur beobachteten partiellen Praferenzen erklart (Hierarchie-Schwellen-wert-Modell, hierarchy-threshold model;~ Abb. 3.2). Sie nehmen an, dass ein Rauber(immer noch im weitesten Sinn) seine rnoglichen Beutetypen anhand ihrer Profitabi-litat hierarchisch in einer Rangliste anordnen kann. Die Profitabilitat korreliert imModell mit der Praferenz; die Tiere wissen also, was gut fur sie ist. Da sich die Profita-bilitat der Nahrung in der Regel nicht andert, bleibt diese Rangliste gleich. Nun hatder Rauber einen Schwellenwert, anhand dessen er entscheidet, ob er eine Beute beieiner Begegnung ablehnt oder akzeptiert: Beutetypen, deren Rang tiber dem Schwel-lenwert liegt, werden akzeptiert, andere abgelehnt. Wahrend die Rangfolge der Beute-typen gleich bleibt, andert sich der Schwellenwert mit dem Hungerzustand des Rau-bers und dessen Einschatzung der Haufigkeit der Beute. Wenn der Rauber z. B. in derletzten Zeit nur Beute von schlechter Qualitat (also unter dem Schwellenwert) ange -troffen hat, wachsen sowohl sein Hunger als auch seine Einschatzung, dass qualitativhochwertigc Beute wohl eher selten ist. Dies muss nicht unbedingt richtig sein; erkann einfach Pech gehabt haben und nur zufallig in letzter Zeit auf schlechte BeutegestoBen sein. Seine ablehnende Haltung gegenuber qual itativ schlechter Beute wirdsinken und damit der Schwellenwert. Ietzt liegen Beutetypen uber dem Schwellenwert(und wurden bei der nachsten Begegnung akzeptiert werden), die vorher abgelehntwurden. Wenn der Rauber nach der nachsten Mahlzeit satt ist, steigt der Schwellen-wert wieder und der Rauber wird erneut wahlerischer,

Dichteabhanqiqkeit: Funktionelle Reaktion

Nicht aIle Rauber haben eine klare Hierarchie in der Praferenz ihrer Nahrung. Man-che Beutetypen mogen gleich beliebt sein . Diese werden dann, wenn sie in gleichenAnteilen in der Umgebung vorkommen und gleich leicht gefunden werden konnen,auch zu gleichen Anteilen gefressen. Ein Beispiel zeigt Abbildung 3.2. Wenn Rucken-schwimmern (Notonecta glauca) als Beute Wasserasseln (Asellus aquaticus) und Ein-tagsfliegenlarven (Cloeon dipterum) in gleichen Anteilen angeboten wurden, habensie auch beidc Beutetypen gleich haufig gefressen. Wurden aber ungleiche Anteileangeboten, haben sie die haufigere Art bevorzugt. Die Tiere haben sich somit immerauf die Art spezialisiert, die momentan haufiger war. Die Nahrungspraferenz kannalso auch von der relativen Haufigkeit der Beute abhangen.Ein wichtigcr Parameter bei der Nahrungsaufnahme ist die Pradationsrate, also die

Anzahl Nahrungsobjekte, die ein Tier in einer bestimmten Zeit zu sich nimmt. DiePradationsrate wurde ursprunglich fur Rauber definiert, gilt aber vom Prinzip fur

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3.1 Nahrungserw erb 103

y

x

Dr

\Erwartung ohnePraferenzwechsel

'"'"t:::~:0'0...c:

!'"a.'"~-c

A B C

100

~lCl 75e::l.c'"z0; 50'0.sa 25'"~

O. i I

0 40 60I i

80 100

Asel/us in der Umwelt (%)

3.2 Oben: DasHierarchie-Schwellenwert-Modell erklart partielle Praterenz fOr bevorzugteNahrungstypen. Tiere haben eine feste Rangfolge der Praterenz der verschiedenen Nah-rungstypen (A - D). Die Tiere X und Y legen aufgrund ihres Hungerzustands einen Schwel-lenwert (horizontale Linien) fest, der entscheidet, ob ein Nahrungstyp bei einer Begegnungakzeptiert oder ignoriert wird. Da sich der Hungerzustand der Tiere mit der Zeit andert,liegt dieser Schwellenwert mal tiefer (bei einem hungrigen Tier; Y) und mal hoher (beieinem satten Tier; X). Ein hungriges Tier wOrde daher auch Nahrungstypen akzeptieren, dieein sattes Tier ablehnen wOrde. Wahrend das satte Tier X nur den Nahrungstyp A akzeptie-ren wOrde, akzeptiert das hungrige Tier Y zusatzlkh auch B. Unten: Spezialisierung vonROckenschwimmern (Notonecta glauca) auf jeweils den Beutetyp, der momentan haufiqist. Die ROckenschwimmerwurden mit einer Mischung ausWasserasseln und Eintagsflie -genlarven (Cloeon sp.) gefOttert, wobei die Gesamtdichte konstant gehalten wurde. NachLawton et al. (1974).

jede Form del' Nahrungsaufnahme, also auch fur z. B.Herbivoren. Sie kann ebenfallsauf die Eiablage von Parasitoiden und phytophagen Insekten angewendet werden . Del'Einfachheit halber werden wir im Folgenden von Rauber und Beute reden.Die Anzahl Beutetiere, die von einem Rauber in einer bestimmten Zeit gefressen

wird, hangt von del' Haufigkeit oder Dichte del' Beutetiere abo Diese Abhangigkeitnennt man funktionelle Reaktion (functional response). Warum sollte die AnzahlBeutetiere , die ein Rauber frisst, von del' Beutedichte abhangeni Nehmen wir einmalan, ein Rauber wurde, wenn er konnte, jeden Tag eine bestimmte konstante AnzahlBeutetiere fressen, urn satt zu werden . Wenn genugend Beutetiere vorhanden sind,also bei hoher Beuted ichte, kann er dies wohl erreichen, nicht abel', wenn die Beute-dichte gering ist.Del' Nahrungserwerb besteht wie bereits auf Seite 97 erwahnt aus dem Suchen und

del' Handhabung del' Beute (handling).Wichtig ist, dass wahrend del' Handhabung in

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104 3 Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

der Regelkeine weitere Beutesuche moglich ist. Bei geringer Beutedichte verbringt einRauber den GroBtei! seiner Zeit mit der Suche nach Beute. Die Anzahl Beutetiere, dieein Rauber frisst, ist also bei geringer Beutedichte durch die Suchzeit limitiert. Andersist die Situation bei hoher Beutedichte, denn ein Rauber muss nur wenig Zeit fur dieSuche aufwenden. Bei hoher Beutedichte ist die Anzahl Beutetiere, die gefressen wird,durch die Handhabungszeit oder den Sattigungsgrad der Rauber limitiert.Holling (1959) hat als Erster ein mechanistisches Modell fur funktionelle Reakti-

onen aufgestellt, bei dem die Anzahl der von einem Rauber gefressenen Beutetiere Nein einem bestimmten Zeitintervall Tvon dessen Angriffsrate a, der HandhabungszeitTh und der Beutedichte N abhangig ist. Die bekannteste und bis heute meist benutzteGleichung von Holling wird haufig Scheibengleichung (disc equation) genannt( ~ Kasten 3.2), wei! in den urspriinglichen Experimenten Menschen mit verbunde-nen Augen (Rauber) auf einer Tischflache nach runden Scheiben aus Sandpapier(Beute) suchen mussten.Die durch die Scheibengleichung beschriebene funktionelle Reaktion ( j-Abb. 3.3b)

sagt voraus, dass ein Rauber bei geringen Beutedichten nahezu seine gesamte Zeit mitdem Suchen von Beute verbringt. Die Anzahl gefressener Beutetiere N, ist bei gerin-gen Beutedichten praktisch proportional zur Angriffsrate a, steigt also anfangs linear.Mit zunehmender Beutedichte spieIt jedoch die Handhabung eine immer starkereRolle, sodass die Kurve abknickt und sich bei hoher Beutedichte einem Plateau anna-hert. Bei hoher Beutedichte verbringt der Rauber fast die gesamte Zeit mit der Hand-habung von Beute. Die maximale Anzahl Beutetiere, die vom Rauber gefressen wer-den konnen (das Plateau), ist durch T/Th gegeben. Eine solche funktionelle Reaktion

- Kasten 3.2 Herleitung der 5cheibengleichung fur funktionelle Reaktioneneines Raubers nach Holling (1959)

Ein Rauber auf Nahrungserwerb verbringt seinegesamte Zeit T mit Suchen und Handhaben vonBeute:

T = Tsuchen + Thandhaben

Nehmen w ir an, dassder Rauber in der gesamtenihm zur Verf uqunq stehenden Zeit T eine be-stimmte Anzahl Beutetiere Ne fanqt. Wenn dieHandhabungszeit fUr ein Beutetier Th ist, dann istdie gesamte Handhabungszeit des Raubers

Wah rend des Suchensdurchstreift der Rauber proZeiteinheit durchschnittlich eine Flache a undfrisst sarntliche Beutetiere auf dieser Flache. DerParameter a wird auch haufig Angriffsrate oder

Sucheffizienz (searching efficiency) genannt.Wahrend der gesamten Suchzeit Tsu<hen durch -streift der Rauber die Flache aTSu<hen und frisstNe = aNTsu<hen Beutetiere, wobei N die Beuted ichtepro Hache ist. Oder umgeformt :

T. _ Nesuchen - aN

Nun konnen wir das Zeitbudget ausgleichen :

NT = Tsuchen +Thand haben =~+ ThNeaN

Aufqelost nach der Anzah l Beutetiere Ne, die derRauber wahrend T gefressen hat (~ Abb. 3.3), re-sultiert Hollings Scheibengleichung:

N _ aTNe - ' + aThN

Page 11: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

3.1 Nahrungserwerb 105

a

Anzahl angebotene Beutet iere NAnzahl angebotene Beutet iere N

........................::.:..;:.;...~..._..~- - -

c

b

3.3 Typen von funktionellen Reaktionen. In der Iinken Spalte ist die Anzahl gefressenerBeutetiere N. gegeniiber der Anzahl angebotener Beutetiere N dargestellt, in der rechtenSpalte die Pradationsrate, d. h. der Quotient ausder Anzahl gefressener Beutetiere zurAnzahl angebotener Beutetiere N/N gegeniiber der Anzahl angebotener Beutetiere N dar-gestellt. a) Typ 1: Iinearer Anstieg der funktionellen Reaktion. Die Pradationsrate bleibt inweiten Bereichen konstant (dichteunabhanqiq), b) Typ 2: eine Kurve, die sich asymptotischeinem Schwellenwert annahert, der durch die Handhabungszeit der Beute oder den Sarti-gungsgrad der Rauber bestimmt wird (z. B. Hollings Scheibengleichung). Die Pradatlons-rate sinkt stetig (negativ dichteabhangig). c) Typ 3: eine sigmoide funktionelle Reaktions-kurve, bei der die Rauber bei niedrigen Beutedichten ineffizient die Beute aufspiirenund/oder uberwaltiqen, Mit zunehmend hoheren Beutedichten steigt die Pradationsrate,weil die Rauber zunehmend effizienter werden (positiv dichteabhangig).

ist im Tierreich haufig. Eine wichtige Voraussetzung fur eine derartige funktionelleReaktion ist, dass sich Such- und Handhabungszeit gegenseitig ausschliefsen, d. h.wahrend ein Rauber Beute handhabt, kann er nicht nach neuer Beute suchen.Generell werden anhand der Form der funktionellen Reaktion drei Typen unter-

schieden (~ Abb. 3.3). Hollings Scheibengleichung gehort zum Typ 2. Der Typ 1 istdurch einen linearen Anstieg der Anzahl gefressener Beutetiere N, gegenuber der Beu-tedichte N gekennzeichnet (j-Abb. 3.3a). Die funktionelle Reaktion von Typ 1 tritt beiRaubern auf, bei denen das Aufspuren der Beute und deren Handhabung entkoppeltsind. Dies ist der Fall bei Raubcrn, die passiv Beute fangen, z. B.Filtrierern oder Netz-spinnen. Wasserflohe (Daphnia sp.) filtern mit ihrem Reusenapparat Plankton ausdcm Wasser.Die vom Reusenapparat aus dem Wasser gefilterte Beute wird aufWim-perbandern bis zum Mund transportiert. Der Reusenapparat erzeugt einen konstan-

Page 12: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

(3.1)

106 3 Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

ten Durchfluss einer bestimmten MengeWasser pro Zeit, sodass die Beute (Plankton)proportional zu ihrer Konzentration im Wasser (Dichte) aufgenommen wird. Das-selbe gilt auch fur Netzspinnen, die ebenfalls Beute in ihrem Netz proportional zurDichte in der Umgebung fangen und fressen (das Netz darf dabei weder anlockendnoch abstofsend wirken und auch bei hoher Beutedichte nicht zerstort werden) . Beihoher Beutedichte wird allerdings mehr Beute vom Reusenapparat oder Netz gefan-gen, als der Rauber handhaben kann. Bei der Spinne wird das Toten und Aussaugenlimitierend, beim Wasserfloh das Schlucken. Der Obergang vom linearen Anstieg zumPlateau geschieht relativ abrupt, denn schon wenn die Anzahl gefangener Beuteob-jekte geringfugig die Handhabungskapazitat des Raubers ubersteigt, tritt ein Beute-stau im Fangapparat ein. Zu beachten bei funktionellen Reaktionen von Typ 1 ist,dass, wahrend der Rauber die Beute uberwaltigt (z. B. im Reusenapparat), verschluckt(Transport auf Cilien zum Mund) und verdaut, unvermindert weiter nach Beutegesucht werden kann (Durchstrom von Wasser). Die Fangapparate einiger fleisch-fressender Pflanzen fangen ihre Beute passiv (d. h. sie locken sie nicht an; z. B. Was-serschlauch Utricularia sp., aber nicht Sonnentau, Drosera sp.), analog zu den Netzender Netzspinnen.Diese Pflanzen sind daher ebenfallsFiltrierer im weitesten Sinn. Tat-sachlich zeigen auch sie in der Regeleine funktionelle Reaktion von Typ 1.Die funktionelle Reaktion vom Typ 3 hat eine sigmoide Form ( ~Abb. 3.3 c), d. h.

mit steigender Beutedichte steigt die Anzahl gefressener Beutetiere starker als linearan, der Rauber wird also mit zunehmender Beutedichte effektiver. Diese Form derfunktionellen Reaktion kann entstehen, wenn der Rauber lernt, effektiver mit derBeute umzugehen. Sigmoide funktionelle Reaktionen werden haufig Raubern mithochentwickeltem Gehirn zugeschrieben, in erster Linie also Wirbeltieren, sind aberauch im Insektenreich anzutreffen. Populationen der Feldwespe Polistes dominulusreagieren auf die Dichte eines ihrer Beutetiere, Larven vom Distelschildkafer Cassidarubiginosa, in Form einer sigmoiden funktioncllen Reaktion (Schenk und Bacher2002). Da die Wespe ein Generalist ist und verschiedene Beutetypen nutzt, entstehtdie sigmoide funktionelle Reaktion wahrscheinlich haufig durch cine Spezialisierungder Rauber auf das momentan haufige Auftreten dieser Beute (S. 102). Tatsachlichsollten solche Spezialisierungen auf momentan haufige Beute fast zwangslaufig zufunktionellen Reaktionen von Typ 3 fuhren (Murdoch und Oaten 1975).Da bei hoherer Beutedichte der Rauber effektiver im Umgang mit seiner Beute

wird, haben Hassell et al. (1977) vorgeschlagen, dass bei sigmoiden funktionellenReaktionen die Angriffsrate a oder die Handhabungszeit Th selbst eine Funktion derBeutedichte ist. Eine realistische Funktion, die die Angriffsrate in Abhangigkeit derBeutedichte modelliert, hat eine ahnliche Form wie eine funktionelle Reaktion vonTyp 2: Wahrend die Angriffsrate a bei niedriger Beutedichte ansteigt, wird sie beihoher Beutedichte nicht mehr wesentlich gesteigert werden konnen und sich einemPlateau annahern.

bNa= - -l+cN

Setzen wir dies in die Scheibengleichung ein, ergibt sich die sigmoide funktionelleReaktion:

Page 13: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

N = bTN 2e 1+dN+bThN2

mit b, c und dais Konstanten.

3.1 Nahrungserwerb

(3.2)

107

Dichteabhanqiqkeit: Numerische Reaktion

Unter einer numerischen Reaktion verstehen wir die Umsetzung von Nahrung inNachkommen. Ie mehr Beutetiere ein Rauber frisst, desto mehr Energie kann er inReproduktion investieren, desto mehr Nachkommen kann er erzeugen. Eine Erho-hung der Beutepopulation fuhrt also zu einer Erhohung der Rauberpopulation, Wiewir im vorigen Abschnitt gesehen haben, ist die Anzahl gefressener Beutetiere uber diefunktionelle Reaktion fiN) eines Raubers von der Beutedichte (und unter Umstandenauch von der Rauberdichte selbst; fiN,P)) abhangig. Die numerische Reaktion gistalso uber die funktionelle Reaktion f eben falls von der Beutedichte abhangig (g(N)).Die Effizienz der Konvertierung von Nahrung in Nachkommen wird trophische Effi-zienz (trophicefficiency) oder Konvertierungseffizienz egenannt (S. 221). Eine Reihevon Arbeiten hat bei einer Vielzahl von Tierarten gezeigt, dass die Anzahl gefressenerBeutetiere in der Regel proportional zur Anzahl produzierter Nachkommen ist, d. h.die Konvertierungseffizienz e ist eine Konstante (0 < e< 1).

g(N) =e . f(N) (3.3)

Die Rauberdichte kann die numerische Reaktion auf zweierlei Art beeinflussen:uber die funktionelle Reaktion und durch direkte Interaktion der Rauber untereinan-der. Bei hohen Rauberdichten bringen die einzelnen Rauber z. B.wegen Verletzungenbei aggressiven Auseinandersetzungen oder wegen Dichtestress weniger Nachkom-men zur Welt.

g(N) = e . f(N)-hP (3.4)

Der Parameter h ist ein MaB fur die Starke der direkten Beeintrachtigung der Rau-ber untereinander.Die numerische Reaktion eines Raubers kann nach oben begrenzt sein. Wenn z. B.

die Anzahl Territorien oder Nistplatze begrenzt ist, kann ein Rauber auch bei genii-gender Nahrungsversorgung nur eine begrenzte Anzahl Nachkommen zur Welt brin-gen. Andererseits kann die numerische Reaktion auch nach unten begrenzt sein,sodass trotz geniigender Nahrungsversorgung nicht die durch die Nahrungsmengegegebene Anzahl Nachkommen erreicht wird . Dies wird der Allee-Effekt (S. 59 und278) genannt. Bei geringer Rauberdichte haben die einzelnen Rauber mitunter Muhe,Partner zu finden, oder es konnen sich bei kleinen Populationen tiber einen langerenZeitraum durch Inzucht Letalmutationen anreichern, sodass diese Populationengenet isch verarmen. Beide Effekte fuhren dazu, dass die Anzahl Nachkommen, die einIndividuum produziert, sinkt.

Page 14: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

108 3 Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

3.2 Die trophischen Ebenen

Ein Teil der von der Sonne auf die Erde eingestrahlten Lichtenergie wird von denPflanzen aufgefangen und zum Aufbau von organischen Molekulen benutzt, diewiederum Wachstum, Stoffwechsel und Fortpflanzung ermoglichen. Pflanzen stehendamit an der Basisjeglichen Lebens auf der Erde und gelten daher als Primarprodu-zenten.Pflanzen wiederum werden von Pflanzenfressern (Herbivoren, Phytophagen)

gcfressen, die deswegen als Primarkonsumenten bezeichnet werden. Diese diencnihrerseits als Nahrung fur Rauber (Carnivoren = Sekundarkonsumenten).Auf dieseWeise werden die Lebewesen in trophische Ebenen eingestuft, je nachdem wievieleOrganismen seit der eingestrahltcn Sonnenenergie bereits dazwischengeschaltetwaren (... Abb. 3.4). Die Einteilung in trophische Ebenen hat also etwasmit dem Ener-giefluss in Okosystemen zu tun und wird auch in mehr energetischem Zusammen-hang auf Seite 215 angesprochen. Abweichend von diesem einfachen Schema gibt esOrganismen, die ihre Energie von mehrcren unter ihnen liegenden trophischen Ebe-nen beziehen (Omnivoren). Hierbei handelt es sich z. B. urn Tiere, die sowohl tieri-sche als auch pflanzliche Nahrung zu sich nehmen. SchlieBlichgibt es die Gruppe derZersetzer (Destruenten, Detritivoren), die die anfallenden Pflanzenteile und Leichenund deren Zersetzungsprodukte aus allen trophischen Ebenen wieder mineralisieren,sodass diese letztendlich wieder von den Pflanzen aufgenommen werden konnen,Organismen auf allen trophischen Ebenen konnen von Parasiten befallen werden,sodass auch diese Gruppe als Ganzes keiner eindeutigen Ebene zugeordnet werdenkann . Einzelne parasitische Vertreter werden jeweils eine Ebene hoher als ihre Wirteeingeordnet.

3.2.1 Zersetzer, Destruenten, Detritivoren

Die Gruppe von Organismen, die fur den Abbau von toter organischer Materie sorgt,nennt man Zersetzer, Destruenten oder manchmal auch Detritivoren. Zu dieserGruppe gehoren Vertreter der Tiere, Pilze und Bakterien, d. h. ausschlieBlich hetero-trophe Organismen. Nach dem vollstandigen Abbau (Mineralisierung) liegt dieorganische Substanz wieder in anorganischer Form vor (C02, H20 und mineralischeNahrstoffe wie Stickstoff-, Schwefcl-, Phosphor- und Kaliumverbindungen sowieSpurenelemente). Sie ist damit fur die Pflanzen wieder nutzbar und der Nahrstoff-kreislauf ist geschlossen.In den seltensten Fallen wird tote organische Substanz von einer einzigen Zerset-

zcrart vollstandig mineralisiert. In der Regel gibt es einen Artenkomplex an Zerset-zern, der sich im Verlauf des Zersetzungsprozesses auch noch verandert, d. h. in denverschiedenen Stadien des Zersetzungsprozesses sind jeweils andere Arten an derMineralisierung beteiligt (Sukzession, S. 196). Die verschiedenen Zersetzerarten sindalso mehr oder weniger in ihrer Nahrungsaufnahme spezialisiert. Die Organismen,die im Zersetzungsprozess als erste eine Rolle spielen, sind die Opportunisten. VieleBakterien und Pilze nutzen losliche Substanzen (Arninosauren und Zucker) zumschnellen Wachstum . Unter anaeroben Bedingungen kann dies zur Garung fuhren .

Page 15: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

3.2 Die trophischen Ebenen

Carnivoren 4. lrophischeEbenero:~ hiiherer Ordnung~ra~

@m~ /ICarnivoren I 3. trophische Ebene

3.4 Schematische Einteilung von Organismen nach trophischen Ebenen. pfeile bedeutenEnergiefluss.

Unter dauerhaft anoxischen Bedingungen (z. B.in Sedimenten) spielen Zersetzer eineRolle, die zu anaerober Atmung in der Lagesind: denitrifizierende, sulfatreduzierendeund methanbildende Mikroorganismen. In den Reisfeldern Asiens wird z. B. durchZersetzungsprozesse eine betrachtliche Menge des Treibhausgases Methan (CH 4) indie Atmosphare freigesetzt, was zu einer Erhohung des Treibhauseffekts fuhrt(S. 231). Schwer angreifbare Substanzen (Cellulose, Chitin, Lignin, Cutin, Suberin)werden langsam und durch spezialisierte Organismen abgebaut. Bei der Holzzerset-zung bauen z. B. Braunfaulepilze Cellulose ab und hinterlassen einen braunen Riick-stand aus Lignin, wahrend WeiBfaulepilze Lignin abbauen und dabei einen weiBenRiickstand aus Cellulose hinterlassen. Der eigentliche Abbauprozess durch Mikro-organismen (Mikroflora: Bakterien, Pilze) wird durch Tiere (Meso-, Megafauna), diedie tote organische Substanz mechanisch zerkleinern, beschleunigt.Zersetzer spielen eine wichtige Rolle in Symbiosen mit Herbivoren (S. 113 und

152). Sie helfen als Darmbewohner bei der Zersetzung von schwer verdaulichen Subs-tanzen, in erster Linie Cellulose, die fur die Tiere ansonsten unverdaulich ware, z. B.bei Wiederkauern und Termiten.1m Gegensatz zu allen anderen trophischen Ebenen kontrollieren die Zersetzer

nicht die Rate, mit der ihre Ressource (d. h. tote organische Substanz) fur sie verfug-bar wird (z. B. sind Rauber- und Beutepopulationen haufig aneinander gekoppelt,d. h. voneinander abhangig, S. 137). Die Zersetzer sind in punctoNahrung komplettvon anderen Faktoren abhangig, die den Umfang, mit dem ihre Ressource verfiigbarwird, bestimmen, wie Alterung, Krankheit und Unfalle (Kadaver) bei anderen Orga-nismen, die Konsumptionsrate anderer trophischer Ebenen (Kot) usw. Zersetzer sindalso ressourcen- oder substratkontrolliert (donor-controlled) .Allerdings gibt es eineindirekte Riickwirkung der Zersetzer auf die Ressourcenpopulation, indem sie durchdie Zersetzung von toter organischer Substanz die Rate, mit der Nahrstoffe (Minera-lien) frei werden, beeinflussen und damit auch die Wachstumsrate der anderen tro-phischen Ebenen.

109

Page 16: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

110 3 Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

In einer sehr einflussreichen Arbeit haben Hairston et aL (1960) bereits daraufhin-gewiesen, dass die Gruppe der Destruenten global gesehen als Ganzes durch ihreRessourcen limitiert ist (bottom-up regulation) und nicht durch z. B. Rauber oderKrankheiten (top-down regulation) (S. 157). Dies folgerten sie aus der Uberlegung,dass die Anreicherung von fossilen Energietragem (Erdol, Kohle), also biologischfixierter Energie, mit einer verschwindend geringen Rate verglichen mit der Fixierungvon Energie durch die Photosynthese geschieht. Wenn also praktisch samtlichephotosynthetisch fixierte Energie durch die Biosphare flieBt (und sich nicht anrei-chert) , folgt daraus, dass samtliche Lebewesen als Ganzes durch die Menge der fixier-ten Energie limitiert sind. Insbesondere mussen die Destruenten als Gruppe durchihre Ressource (totes organisches Material) limitiert sein, denn wenn nicht praktischsamtliches anfallende tote Material zersetzt wurde, wiirden sich fossile Energietragerschnell anreichern. Einzelne Populationen konnen von dieser generellen Regelabwei-chen, allerdings mussen dann andere Destruenten das ubrig gelassene tote Materialzersetzen, denn ansonsten wiirden sich fossile Stoffe rasch anre ichern. Eine weitereFolgerung dieser Uberlegungen ist, dass Konkurrenz innerhalb der Gruppe der Zer-setzer haufig auftritt und sehr wichtig sein muss, denn ohne Konkurrenz urn diegemeinsame Nahrungsressource wiirde diese nicht immer fast vollstandig abgebautwerden .

3.2.2 Primarproduzenten: Pflanzen

Primarproduzenten sind Organismen, die in der Lage sind, aus anorganischen Stof-fen organische herzustellen. Sie gehoren damit zu den autotrophen Lebewesen(~ Tab. 3.1). Die global betrachtet weitaus groBte und bedeutendste Gruppe sind diePflanzen. Ihnen gemeinsam ist die Fahigkeit zur Photosynthese (S. 23).Weltweit gibt es etwa 330000 Pflanzenarten.Obwohl Pflanzen dam it nur etwa 18%

aller bekannten Arten auf der Erde reprasentieren, stellen sie den weitaus grofsten Teilder Biomasse (> 98 %). Dort, wo Leben moglich ist, besteht dies zum uberwiegendenTeil aus Pflanzen. Warum das so ist, wird auf den Seiten 162 und 221 diskutiert. Diesystematische Einteilung der Pflanzen geht aus ~ Kasten 1.1 hervor.Pflanzen konnen eine Vielzahl von komplizierten organischen Verbindungen syn-

thetisieren, die fur sie seiber und fur ihre Konsumenten in den Nahrungsketten vonmannigfaltiger Bedeutung sind. Dazu gehoren neben den Strukturbausteinen Ligninund Cellulose auch der Energiespeicherstoff Starke, wichtige Kofaktoren, die dasFunktionieren von Enzymen und Redoxketten errnoglichen, Phytohormone, Photo-synthesepigmente, Farbstoffe von Bluten und Fruchten, Duftstoffe und Schutzsubs-tanzen (j-Kasten 3.3). Die Entwicklung von Stutzgewebe (in erster Linie Lignin undCellulose) und Stoffleitungsbahnen (Phloem, Xylem) erlaubte den hoheren Pflanzenein enormes GroBenwachstum. Pflanzen stellen die grofsten lebenden Organismenauf der Erde.Als das grofste Lebewesen der Erde wird der General-Sherman-Baum angesehen,

der im Sequoia-Nationalpark in Kalifornien steht. Er gehort zu den Riesenmammut-baumen (Sequoiadendron giganteum) und erreicht ein Stammvolumen von etwa1500 rrr', ein Stammgewicht von 1300 t und eine Hohe von 83,8 m (Stand 2002). Man

Page 17: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

3.2 Die troph ischen Ebenen

sollte dabei nieht vergessen, dass die unterirdisehe Biomasse noeh nieht mitgereehnetwurde. Bei vielen Pflanzen ist unterirdiseh mindestens noeh einmal soviel Biomassevorhanden wie oberirdiseh; bei Grasern reehnet man damit, dass sogar nur 10-20 %der Gesamtbiomasse oberirdiseh siehtbar sind. Es gibt allerdings Ausnahmen: Regen-waldbaume haben nur etwa 20-30 % ihrer Biomasse in den Wurzeln.Wenn man Pflanzen mit Tieren vergleieht, fallt als Erstes ihr modularer Autbau

(S. 46) auf. Pflanzen sind aus einer Anzahl gleiehartiger Bausteine, den Modulen (z. B.Spross- und Wurzelabsehnitten), zusammengesetzt. Neue Module entstehen ausAnhaufungen von nieht ausdifferenzierten (embryonalen) Zellen, den Meristemen,die an versehiedenen Stellen im Pflanzenkorper verteilt sind. Pflanzen konnen auf denVerlust eines Teiles ihrer Module (z. B.dureh FraB) mit dem Austrieb von neuen rea-gieren. Ebenso konnen sie veranderten Umweltbedingungen (z. B.Besehattung durehbenaehbarte Pflanzen) mit dem Neuaustrieb an unbesehatteten Stellen begegnen.Dies mag aueh mit ein Grund dafur sein, warum Pflanzen bis zu ihrem Tod weiterwaehsen. Der gleiehartige Aufbau ermoglicht den Pflanzen einen auBerst flexiblenEinsatz ihrer Module.

111

Kasten 3.3 Wichtige von Pflanzen synthetisierte Naturstoffklassen ----Terpenoide• Terpenoide sind Polymere, die sich aus Cs-Ein-heiten zusammensetzen. Der Grundbaustein,aus dem die Polymere gebildet werden, ist dasIsopentyl -pyrophosphat. Es sind mehr als100000 verschiedene Terpene bekannt.

• Monoterpene: eine C10-Einheit. Leicht verduns -tende Substanzen, daher auch der Name athe -rische Ole. Beispiel: Menthol aus der Pfeffer-minze (Mentha piperita, a) schutzt vor Herbivo-rie, hemmt Bakterienwachstum, Duftstoff zurAnlockung von Bestaubern .

• Sesquiterpene : drei Cs-Einheiten. Duftst offe (P-lonon in Veilchen, b), Phytohormon (Abscisin-saure, c).

• Diterpene: zwei C10-Einheiten. Phytylrest derChlorophylle, Phytohormon (Gibberellin) .

• Triterpene: dre i C1o-Einheiten (Squalen), diedurch Ringschluss Steran (d) bilden, den Grund -baustein der Steroide (Membranbaustoffe,Tierhormone). Saponine (e) und Cardenolide (f)schutzen vor Herbivorie.

• Tetraterpene: vier C1o-Einheiten. Carotinoide,dienen als akzessorische Pigmente in derPhotosynthese, Pflanzenfarbstoffe, ProvitaminA (f3-Carot in, g).

Phenole• Phenole sind aromatische Ringsysteme, diemindestens eine Hydroxylgruppe enthalten.

• Chinon und Hydrochinon (h) sind Bestandte ilevon Elektronenubertragungsketten, Salicylal-dehyd (i) schutzt vor Herbivorie.

• Flavone U, gelb) und Anthocyanid ine (k, rot-blau) und deren Derivate bilden BlUtenfarb-stoffe, Isoflavone (I) schutzen auch vor Herbi-vorie.

• Losllche (m) und kondensierte Tannine dienender Frassabwehr und wirken antimikrobiell.

• Phenylpropanderivate sind Vorstufen der Ligni -ne (n).

Alka loide• Alka loide sind Ringsysteme, die Stickstoff ent-halten und daher alkalisch reagieren (organi-sche Basen). Man kennt heute einige Tausendverschiedene Alkaloide, die in den meistenPflanzen vorkommen. Unter den Alka loidensind viele bekannte Genussmitte l (Coffein 0, Ni-cotin, p), Drogen (Opium, Kokain), Medika-mente (Atropin q, Chinin, Colchicin) und Gifte(Coniin, Gift des Schierlings) . Einige Alkaloidedienen den Pflanzen als FraBschutz gegen Her-bivoren (Z. B. Pyrrolizidine r, S. 145). Auch dieNukleot idbasen Pyridin, Purin und Pyrimid insind Alkaloide.

Page 18: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

112 3 Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

rOH ~O ~ cxfOo -& 'OH COzH

a Menthol b II-Ionon c Abscisinsaure d Steran

OH0

OH 0

¢ - [2H] 0--HO+[2H]

HOHzC CH3 RO OH 0

e Saponin Cardenolid h Hydrochinon Chinon

R

aCHO

R::,.. OH

9 II-Carotin Salicylaldehyd

R1 Rl

#" HO OH COzHHO 9' 0 ::,.. I HO HO

HO-Q-Q-OH::,.. I I Rz

OH 0 OH OH COzH OH OH

Flavon k Anthocyanidin tsollavon m loslichesTannin

q Atrop in

p Nicolin

Pyrrolizidin

n Lignin

Page 19: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

3.2 Die troph ischen Ebenen

Pflanzen sind im Vergleieh zu Tieren reeht immobil. Sie konnen daher ungunstigenUmweltbedingungen (Stress) nieht einfaeh ausweiehen bzw. nur beschrankt Platzemit gunstigeren Bedingungen aufsuehen. Weil Pflanzen nur wenige Ausweiehmeeha-nismen zur Verfugung stehen, haben sie in erster Linie Abwehrmeehanismen (z, B.Schutz gegen FraBfeinde) odcr Toleranz gegen ungunstige Umweltfaktoren entwiekelt(S. 140). Gerade letzteres setzt einen hohen Anpassungsgrad an die Umweltbedin-gungen voraus . Pflanzen sind im Vergleieh zu Tieren tatsachlich viel wandelbarer; einund derselbe Genotyp kann sieh in versehiedenen Umwelten zu ganz versehiedenenPhanotypen entwickeln (phanotypische Plastizitat) (~ Abb. 1.1).

3.2.3 Primarkonsumenten: Herbivoren

Primarkonsumenten wird die Gruppe Lebewesen genannt, die sieh von den Primar-produzenten ernahren, Dies ist die erste Ebene von Organismen, die sieh heterotrophernahren. Es handelt sieh dabei in erster Linie urn Pflanzenfresser (Herbivoren). Her-bivorie ist im Tierreich weit verbreitet und kommt in allen Ticrgruppen vor. Herbi-voren fressen haufig nieht ganze Pflanzen, sondern zeigen eine Spezialisierung aufbestimmte Pflanzenorgane. Die meisten Sehmetterlingsraupen sind z. B. Blattfresser.Pflanzensaftsauger werden in Phloemsauger (z. B. Blattlause) und Xylemsaftsauger(z. B.einige Zikaden) eingeteilt . Tiere, die sieh mit ihrem ganzen Korper in das Pflan-zengewebe einbohren und in der Pflanze (endophytisch) leben, werden Minierergenannt. Man unterseheidet je naeh befallenem Pflanzengewebe Stangel-, Blatt- undWurzelminierer. Manehe Minierer induzieren morphologisehe Veranderungen in derbefallenen Pflanze. Meist handelt es sieh dabei urn Ansehwellungen des Pflanzenge-webes urn den minierenden Herbivoren herum. Diese Pflanzenstrukturen werden alsGallen (~ Abb. 3.16) bezeichnet und die Verursacher dementspreehend als Gallbild-ner. Herbivoren, die Samen bzw. Fruchte fressen, werden Granivoren bzw. Frugivorengenannt.DasVerarbeiten von Pflanzennahrung stellt an Herbivoren einige besondere Anfor-

derungen. 1mVergleich zu den Herbivoren selbst enthalt Pflanzengewebe einen deut-lich geringeren Gehalt an Stickstoff und Phosphor ( j-Abb. 3.5). Dies spiegelt sieh imVerhaltnis von Kohlenstoff zu Stickstoff (C:N-Verhaltnis) wider, das bei Pflanzen inder Regeluber 40:1 betragt, bei Tieren hingegen kleiner als 10:1 ist. Tatsachlich findetbei der Umsetzung von Pflanzen dureh Herbivoren der grofste stochiometrischeDbergang in der gesamten Nahrungskette statt, d. h. es mussen die grofsten Unter-sehiede in den Anteilen verschiedener Nahrstoffe uberwunden werden. ObwohlPflanzengewebe relativ energiereieh ist, sind viele Substanzen fur Herbivoren nichtnutzbar. Ihnen fehlen die Enzyme zur Verdauung von Cellulose, einem Hauptbe-standteil vieler Pflanzengewebe. Einige Herbivore sind aus diesem Grund Symbiosenmit Mikroorganismen eingegangen, die im Verdauungstrakt der Herbivoren lebenund fur sie den Celluloseabbau betreiben (z. B.Wiederkauer), Auch der Wassergehaltder Nahrung spielt fur Herbivoren eine groBe Rolle. Pflanzengewebe mit hohemWassergehalt (z. B. junge Pflanzenteile) konnen von Herbivoren besser verwertetwerden und werden daher in der Regel auch bevorzugt gefressen. Schliefllich sei noeh

113

Page 20: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

114 3 Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

1------11 Samen

Angiospermenblatter I-------l

Cymnosperrnenblatter I---l

I------------i Phloemsaft

I------------ ---li Xylemsaft

I i I I I I I

0,0001 0,0003 0,001 0,003 0,01 0,03 0,1i

0,3i

3i I

10 20

Stickstoffgehalt (%), Trockengewicht

3.5 Stickstoffgehalt pflanzlicher und tierischer Nahrung. Nach Mattson (1980).

erwahnt, dass pflanzliche Nahrung in ihrer Zusammensetzung viel variabler ist alstierische .

3.2.4 Sekundarkonsurnenten: Carnivoren

Tiere, die andere Tiere fressen, werden Carnivoren genannt. Im Gegensatz zu Zerset-zern erbeuten Carnivoren lebendige Tiere, und im Gegensatz zu Herbivoren totenCarnivoren ihre Beute in der Regel.Wir unterscheiden echte Rauber, die wahrendihres Lebens mehrere Beutetiere toten und verzehren, und Parasitoide, die nur einBeutetier zur Entwicklung benotigen (~ Tab. 3.3). Ein Rauber, der Herbivoren frisst,gilt als Carnivore erster Ordnung, einer, der Rauber erster Ordnung frisst, als Carni-vore zweiter Ordnung usw.Wenn Pflanzen also die erste trophische Ebene besetzenund Herbivoren die zweite, kann man Rauber erster Ordnung der dritten trophischenEbene zuordnen und Rauber hoherer Ordnung entsprechend hoheren trophischenEbenen.Echte Rauber sind in der Regel grofser als ihre Beute, urn sie leichter uberwaltigen

zu konnen. Im Gegensatz dazu sind Parasitoide aus energetischen Grunden kleiner alsihre Wirte, denn sie ernahren sich ja nur von einem Wirt. Carnivoren haben imGegensatz zu Herbivoren eine homogenere Nahrung, die auch viel eher ihrer eigenenKorperzusammensetzung entspricht, als dies bei Herbivoren der Fall ist ( ~Abb. 3.5).Tierische Nahrung enthalt weniger schwer verdauliche Bestandteile und ist auch nurin seltenen Fallen giftig.Ausnahmen bestatigen hier die Regel,denn einige Tiere pro -duzieren sehr potente Gifte (S. 128).

Page 21: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

3.2 Die troph ischen Ebenen

3.2.5 Omnivoren

Manchmal ist es schwierig, einer Art eine genaue trophische Position zuzuweisen, wei!viele Arten ihre Nahrung aus mehr als einer trophischen Ebene beziehen. Viele rau -berische Arten, z. B. Dachse, nehmen nicht nur tierische sondern auch pflanzlicheNahrung zu sich. Man spricht von Omnivorie, wenn sich eine Art von Organismenmehrerer trophischer Ebenen ernahrt. Omnivorie ist im Tierreich weit verbreitet.VieleHerbivoren erganzen ihre Diat mit tierischer Nahrung, die vie! eiweiBreicher ist,um ihre Stickstoffversorgung zu verbessern. Einige herbivore Insekten sind in fruhenEntwicklungsstadien sogar kannibalistisch, d. h. sie fressen ihre Geschwister underhalten so durch die hohe Nahrungsqualitat einen Entwicklungsschub (Barros-Bel-landa und Zucoloto 2001). Dies ist fur diese Arten vorteilhaft, da besonders die fru-hen Entwicklungsstadien anfallig fur abiotische und biotische Mortalitatsfaktorensind.

3.2.6 Parasiten, Krankheiten, Vektoren

Um einen Organismus als parasitisch einzustufen, mussen drei Bedingungen erfulltsein:

• Der Parasit nutzt seinen Wirt als Habitat.• Wahrend der parasitischen Phase des Lebenszyklus ist der Parasit obligatorisch vonseinem Wirt in der Synthese von mindestens einem lebensnotwendigen (essenzie!-len) Nahrstoff abhangig.

• Ein Parasit schadigt seinen Wirt .

1mGegensatz zu Parasitoiden, toten Parasiten ihren Wirt nicht obligato risch, um sicherfolgreich entwickeln zu konnen, zeigen aber ein breites Spektrum in Bezug auf dieSchadigung ihres Wirtes. Zwar gibt es Faile, in denen ein hoher Parasitenbefall denTod des Wirtes nach sich zieht, jedoch sterben in einem solchen Fall auch die Parasi-ten , sodass der Tod des Wirtsindividuums nicht zum Vorteil der Parasiten ist (es seidenn, der Parasit wird tiber den Kadaver des Zwischenwirts weiterverbreitet, z. B.Fuchsbandwurm).Ein parasitischer Lebensstil hat sich meh rfach und in vie!en Gruppen unabhangig

entwicke!t. Wir kennen Vertreter bei den Mikroorganismen, Pilzen, Pflanzen und Tie-ren. Die meisten freilebenden Organismen sind Wirte fur mehrere Arten von Parasi-ten. Gleichzeitig sind viele Parasiten recht spezifisch in der Wahl ihrer Wirte . Wennman diese beiden Informationen verbindet, ergibt sich, dass ein GroBteil der Lebewe-sen parasitisch lebt und aile Arten Parasiten haben konnen. Parasitismus muss daherals ein wichtiger Lebensstil angesehen werden , der in der Natur eine groBe okologi -sche Bedeutung hat .Eine fur den Okologen wichtige Einteilung von Parasiten in Mikro- und Makropa-

rasiten erfolgt anhand ihres Lebenssti!s. Mikroparasiten vermehren sich direkt imKorper ihres Wirtes , sind demnach klein und stehen in enger Wechse!wirkung zurWirtsphysiologie. Beispiele fur Mikroparasiten sind viele Bakterien , Viren und Ein-

115

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116 3 Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

zeller wie die Erreger der Malaria (Plasmodium, Sporozoa) und der Schlafkrankheit(Trypanosoma, Flagellata). In all diesen Beispielen werden Wirte nur von einer relativkleinen Anzahl Parasitenindividuen befallen, die in der Folge innerhalb der Wirte zuhohen Populationsdichten heranwachsen.Haufig leben Mikroparasiten in den Wirts-zellen. BeiMakroparasiten unterscheidet man Ekto- und Endoparasiten, je nachdemob sie auf oder in dem Wirt leben. Endoparasitische Makroparasiten vermehren sichin der Regelnicht in ihrem Wirt, was sie von den Mikroparasiten unterscheidet; hohePopulationsdichten von Makroparasiten in einem Wirt entstehen dadurch, dass sichein Wirt mehrfach mit dem Parasiten infiziert (multiple Infektionen), also z. B.Fiichse, die viele Beeren mit Bandwurmlarven gefressen haben. Es werden allerdingsinfektiose Stadien produziert (z. B. Sporen, Eier), die freigelassen werden, urn neueWirte zu infizieren. Ektoparasitische Makroparasiten sind Zecken (Ixodidae) undF16he (Siphonaptera), wahrend zu den endoparasitischen Makroparasiten viele Spul-wiirmer (Nematoda), Saugwurmer (Trematoda) und Bandwiirmer (Cestoda) gehoren.Viele Makroparasiten benotigen fur ihre vollstandige Entwicklung mehrere Wirte

verschiedener Arten (Wirtswechsel). Dabei wird der Wirt, in dem die Fortpflanzung

experimentellerWirt

(__-------.~ I~I Prapatenz: 70-80 d •

experimentelle natiirlicherWirtInfektion I~I --+

Eier(ca. 150 urn)t=\ werden mit Koto ausgeschieden

-----1-

Redienwerden inSporocysten gebildet

3.6 Makroparasiten mit Wirtswechsel. Entwicklungszyklus des GroBen Leberegels (Fasciolahepatica) in Schnecken als Zwischenwirt und Sauqetieren als Endwirt. Prapatenz ist derZeitabschnitt vom Eindringen (Aufnahme) der infektiosen Parasitenstadien bis zum Auftre-ten von Geschlechtsprodukten. (Bockeler und Walker (Hrsg) (1983) ParasitologischesPrakti-kum. Mit freundlicher Genehmigung von Wiley-VCH,Weinheim).

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3.3 Pr inzip ien der Wechselwirkungen 117

(genauer die Meiose) stattfindet, als Endwirt bezeichnet, die anderen als Zwischen-wirte. In Zwischenwirten entwickeln sich die Parasiten weiter. In dem Beispiel inAbbildung 3.6 entwickeln sich aus den Miracidien in der Schnecke als ZwischenwirtTochtersporocysten, die wiederum Cercarien ins Wasser entlassen. Manche Parasitenwerden von anderen Organismen auf neueWirte iibert ragen, ohne dass sich die Para-siten in ihnen weiterentwickeln. Diese Ubertrager werden Vektoren genannt. Stech-miicken z. B. konnen auf diese Weise Blutparasiten von einem Wirt zum andereniibertragen oder Insekten Pflanzenkrankheiten (z. B. Mehltau) von einer infiziertenPflanze auf gesunde.

3.3 Prinzipien der Wechselwirkungen

In der Okologie werden Wechselwirkungen zwischen zwei Arten in fur die Beteiligtenpositive, negative und neutrale eingeteilt. Aus dieser Einteilung ergeben sich die inTabelle 3.2a dargestellten Kombinationen. In mutualistischen Beziehungen (S. LSI)

Tabelle 3.2: Einteilung der Wechselwirkungen zw ischen Lebewesen anhand ihrer Auswir-kungen auf die beteiligten Arten. a) Klassisches Schema: Hier wird angenommen, dass dieWechselwirkungen zwischen zwei Arten immer zu demselben Resultat fuhren . In Klam -mern sind die Anzahl Arbeiten angegeben, die zu diesen Interaktionstypen veroffentlichtwurden . Suche in der Datenbank Web of Science mit den englischen Suchbegriffen. b) Rea-listischeres Schema, in dem das Resultat der Interaktion je nach Umweltbedingung ver-schieden sein kann.

Art A

Kommensalismus

Amensalismus

+++

+++++

+++

trophische Beziehung

trophische Beziehung

+

++

o+10

Kommensalismus(57)

- / 0Amensalismus

(8)

0/0Neutralismus

(3)

++

o

o 0

+

+1-Trophisch(2776)

- /-Konkurrenz(7683)

a

+

+1++ Mutualismus

(348)

'"t: -oct

0

b

Konkurrenz

Art A

Art B

oder

Mutualismus

Art A +

Art B +

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118 3 Wechse lwirkungen zwischen verschiedenen Arten

profitieren beide Arten von der lnteraktion, in trophischen Beziehungen (S. 127) pro-fitiert die eine Art, wahrend die andere einen Nachteil hat, und eine Konkurrenzsitu-ation (S. 119) ist fur beide Arten nachteilig . Bei lnteraktionen ist zu beachten, dass dieAuswirkungen meist in beide Richtungen gehen, d. h. beide Beteiligte sind betroffen.Eine Ausnahme stellen die einseitig neutralen lnteraktionen Amensalismus undKommensalismus dar, in denen eine Art keinerlei Auswirkungen auf die andere hat.Hierbei stellt sich oft die Frage, ob die lnteraktion tatsachlich einseitig ist oder ob dieAuswirkungen auf die andere Art bis jetzt nur nieht entdeckt wurden. Ebenso stelltsich bei einer beidseitig neutralen Interaktion die philosophische Frage, ob es siehhierbei uberhaupt urn eine lnteraktion handelt.Eine Einteilung der lnteraktionen zwischen zwei Arten wie sie in Tabelle 3.2a dar-

gestellt ist, erweckt oft den Eindruck, die Auswirkungen seien fur beide Arten festge-schrieben. Dies ist keineswegs der Fall.Ob die Auswirkungen einer lnteraktion fur diebeteiligten Arten positiv, negativ oder neutral sind, hangt haufig stark von denUmstanden abo Dazu einige Beispiele:Ob die Beziehung zwischen einem Putzerfischund seinem Wirt fur den Wirt positiv ist, hangt davon ab, wie viele Parasiten der Wirttragt und wie viel Gewebe ihm der Putzerfisch entfernt. Ist der Wirt stark parasitiert,ist die Beziehung zum Putzerfisch vorteilhaft fur den Wirt, ist er wenig parasitiert,kann die Beziehung sogar nachteilig werden, denn der Putzer wird, wenn er keineParasiten findet , unter Umstanden Stucke aus der Haut des Wirtes entfernen, urn aufseine Kosten zu kommen (S. 153). Auch Ameisen, die Blattlause vor ihren Feindenschutzen und dabei die zuckerhaltigen Ausscheidungen der Blattlause (Honigtau)sammeln, konnen von Mutualisten zu Raubern werden ,wenn sie anfangen, die Blatt-lause selbst zu fressen. Die meisten Pflanzen leben in enger Beziehung zu bodenbe-wohnenden Pilzen, die manchmal tief mit ihren Hyphen ins Pflanzengewebe eindrin-gen (Mykorrhiza). Ob diese Beziehung zum Vorteil (beide Partner tauschen fur sielimitierende Nahrstoffe aus) oder Nachteil (der Pilz parasitiert die Pflanze, die Pflanzewehrt den Pilz ab) fur die Beteiligten ist, hangt in erster Linie von der Nahrstoffver-sorgung der beiden abo Die Auswirkungen der Beziehung zweier Arten konnen inihrer Starke also sehr variieren und sich sogar ins Gegenteil umkehren. Man stelltdaher die lnteraktion zweier Arten besser als Kontinuum dar, in dem die Auswirkungin ihrem Vorzeichen und in ihrer Starke schwanken kann (..-Tab. 3.2b).Zu den Wechselwirkungen, die haufig uber die Nahrung vermittelt werden, zahlen

trophische lnteraktionen und Konkurrenz. Trophische lnteraktionen sind Beziehun-gen zwischen einem Konsumenten und seiner Nahrung in Form von lebendigenOrganismen. Unter trophische Wechselwirkungen fallen so vielfaltige lnteraktionenwie Rauber-Beute-, Parasit-Wirt- und Herbivore-Pflanze-Beziehungen. TrophischeBeziehungen kann man anhand von zwei Parametern, namlich der Intimitat derBeziehung von Konsument und Nahrung und der Letalitat, also dem Grad der Tod-lichkeit, in vier Klassen einteilen (..- Tab. 3.3). Wahrend Rauber und Weideganger(weideganger ist nicht gleichbedeutend mit Herbivoren, obwohl die meisten Weide-ganger Herbivoren sind) keine enge physiologische Bindung zu ihrer Nahrung auf-weisen, haben Parasiten und Parasitoide in der Regelstarke Bindungen zu ihremWirt,d. h. sie verbringen einen GroBteil ihres Lebens mit ein und demselben Wirtsindivi-duum. Andererseits toten Rauber und Parasitoide ihre Nahrung, d. h. sie haben eine

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3.4 Wechselwirkungen auf derselben trophischen Ebene

Tabelle 3.3: Einteilung trophischer Wechselwirkungen.

tetalitat

119

lntimitat hoch

niedrig

hoch

Parasitaid

Rauber

niedrig

Parasit

Weideganger

hohe Letalitat, wahrend Parasiten und Weideganger ihren Wirt in einem weitausgeringeren Ausmaf schadigen,

3.4 Wechselwirkungen auf derselben trophischenEbene

3.4.1 Interspezifische Konkurrenz

Zwischenartliche Konkurrenz urn eine gemeinsam genutzte Ressource tritt bei Artenauf, die ahnliche Nischen besetzen . Dies ist haufig bei nahe verwandten Arten der Fall,die wegen ihrer gemeinsamen Stammesgeschichte zwangslaufig eine groBe Nischen-uberlappung aufweisen (z. B. verschiedene Seepockenarten, die urn Raum auf Felsenin der Gezeitenzone konkurrieren), aber es konnen auch verschiedenste Arten mit-einander in Konkurrenz treten. In Wiistengegenden konkurrieren z. B.Ameisen mitKleinnagern urn Samen, die die Hauptnahrungsquelle in diesen Gegenden fur beideGruppen darstellen. Da oft verschiedene Pflanzenarten sehr ahnliche Anspriiche anNahrung und Habitat stellen (jedenfalls im Vergleich zu Tieren; S. 96), tritt interspe-zifische Konkurrenz im Pflanzenreich sehr haufig auf.Interspezifische Konkurrenz ist haufig noch starker asymmetrisch als intraspezifi-

sche Konkurrenz, d. h. die Individuen der einen Art erleiden grofsere FitnesseinbuBenals die Indiv iduen der anderen Art. Das fuhrt entweder dazu, dass die unterlegene Artvollstandig verdrangt wird oder dass sie nur in einer suboptimalen Nische im Habitatmit der iiberlegenen Art koexistieren kann. Mit anderen Worten: Die Nische, in derman die unterlegene Art im Habitat zusammen mit der Konkurrenzart findet (reali-sierte Nische), ist kleiner als die Nische, die die Art ohne ihren Konkurrenten belegenwiirde (fundamentale Nische; S. 40). Die konkurrierenden Arten unterscheiden sichbei Koexistenz in ihren Realnischen (nichedifferentiation), indem sie die gemeinsamgenutzte Ressource aufgeteilt haben (resource partitioning). Man findet haufig in derNatur, dass sich koexistierende Arten in ihrer Realnische unterscheiden. Allein dieseBeobachtung ist jedoch noch kein schliissiger Beweisfur Konkurrenz zwischen diesenArten, denn gerade durch die Nischendifferenzierung entgehen sie ja einer Konkur-renzsituation. Nur ein experimentelles Uberprufen, ob die Arten in Abwesenheit deranderen eine erweiterte Nische nutzen wiirden und erhohtes Wachstum, Uberlebenoder eine erhohte Fekunditat zeigen, kann den Beweiserbringen.

Page 26: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

120 3 Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

Wenn keine Nischenunterscheidung zwischen zwei konkurrierenden Arten mog-lich ist, wird die konkurrenzschwachere Art von der starkeren verdrangt. DiesesErgebnis erhielt man in vielen Laborexperimenten, in denen in der Regel zwei Artenurn eine gemeinsame Ressource konkurrieren mussten. Dieser Befund wird das Kon-kurrenzausschlussprinzip genannt. In Laborexperimenten ist haufig durch dieraumliche Begrenztheit und Strukturarmut der Untersuchungsarena keine Differen-zierung der Realnische moglich. In der freien Natur hingegen leben Organismen ineiner heterogenen Umgebung und konnen so eher interspezifischer Konkurrenz aus-weichen als unter den kunstlichen Laborbedingungen.Urn die Auswirkungen von Konkurrenz auf Populationsebene zu verstehen, ent-

wickeln wir am besten ein Modell. Nehmen wir an, die zwei Arten, die konkurrierensollen, wurden ohne Konkurrenz nach der kontinuierlichen logistischen Gleichung(S. 56)wachsen:

dN ='N(K-N) (3.5)dt K

wobei N die Populationsgrofse, r die spezifischeWachstumsrate und Kdie Umweltka-pazitat darstellt. Urn die Arten zu unterscheiden, verwenden wir fur Parameter undVariablen Indices (fur Art 1 N I , K" rl, fur Art 2 Nz'Kz' 'z). Der Term in der Klammerder logistischen Gleichung ist eine Darstellung der intraspezifischen Konkurrenz undbewirkt, dass das Wachstum der Population von der Populationsdichte N der eigenenArt abhangt; je grofser die Populationsdichte, desto starker wird das Wachstumgehemmt (desto kleiner wird der Betrag in der Klammer; S. 57). Wir konnen nun denhemmenden Einfluss der zweiten Art auf die erste mit einem Faktor alz als Aquiva-lent der ersten Art darstellen. Nehmen wir einmal an, dass zwei 1ndividuen der Art 2zusammen den gleichen hemmenden Einfluss aufArt 1 ausuben wie ein Individuumder Art 1, dann ware unser Konkurrenzkoeffizient alz = 1/2• Damit entspricht dergesamte Konkurrenzeffekt aufArt 1 (also der intraspezifische und der interspezifischezusammengezahlt) einer intraspezifischen Konkurrenz bei einer Populationsgrolsevon (NI + aJ2N). Urn den Effekt der interspezifischen Konkurrenz auf das Popula-tionswachstum der Art 1 herauszufinden, ersetzen wir also N in der Klammer derlogistischen Gleichung durch (N, + alzNz).

dN] _ N [KI-(N1+ CX,zNz)]_ N (KI-NI- CXlzNzJ (3.6)cit - 'I I KI - '\ I KI

Entsprechend gilt fur Art 2:

(3.7)

Mithilfe dieser beiden Gleichungen konnen wir untersuchen, unter welchen Bedin-gungen Art 1 und Art 2 zu- bzw. abnehmen und ob sie koexistieren konnen oder obeine Art die andere verdrangt. Am anschaulichsten machen wir dies graphisch. Dazubetrachten wir noch einmal die einfache logistische Gleichung fur nur eine Art, alsoohne interspezifische Konkurrenz. Diese gibt fur jede Populationsgrofse Nan, ob die

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3.4 Wechselwirkungen auf derselben trophischen Ebene 121

Population steigen oder sinken wird. Graphisch kann man die PopulationsgrofieN alseine Achse darstellen, auf der auch die Kapazitat K eingetragen wird (~ Abb. 3.7). Istdie Population kleiner als K, steigt sie, ist sie grofier als K, sinkt sie. Dies deuten wirdurch Pfeile an, die unterhalb von K nach rechts weisen, oberhalb nach links. DiesePfeile sind fur uns Vektoren, die an jedem beliebigen Punkt auf der Populationsachseangeben, in welche Richtung sich die Population entwickeln wird .Man erkennt deut-lich, dass am Punkt K, an dem die Vektorpfeile aufeinander stoBen, das Populations-wachstum gleich Null ist, die Population sich also im Gleichgewicht befindet. ZurErinnerung: Da Abweichungen in beide Richtungen vom Gleichgewicht dazu fuhren,dass sich die Population wieder zuruck zum Gleichgewicht entw ickelt, nennen wirdieses ein stabiles Gleichgewicht (S. 60).Urn unser Zwei-Arten-System mit interspezifischer Konkurrenz zu beschreiben,

benotigen wir nun zwei Achsen (ein so genanntes Phasendiagramm). Die Popula-tionsgrofie der Art 1 (N\) tragen wir auf der x-Achse ein, die Populationsgrofse der Art2 (N) auf der y-Achse ( ~Abb. 3.7). Fur jeden Punkt in der Hache, die von den Ach-sen umspannt wird, also fur jede Kombination von N) und N2>konnen wir angeben,ob die jeweiligen Populationen steigen oder sinken werden. Betrachten wir zunachstArt 1. Fur Art 1wird es auf der Hache einen Bereich geben, in dem ihre Populations-groBe steigt, und einen Bereich, in dem diese sinkt. Das Gleiche gilt natiirlich auch furArt 2, die wir etwas spater betrachten werden. Zwischen diesen Bereichen gibt es eineTrennlinie, auf der das Populationswachstum gleich Null ist, die so genannte Nulliso-kline. Da auf der Nullisokline die Anderung der Populationsgrofse gleich Null ist, gilt

cb

I I •a 0 K N

. •N21 N2

K1a'2 K2

3.7 a) Entwicklung der PopulationsgroBe N einer Art, die durch ihre Urnweltkapazitat Kbegrenzt wird. Wenn die Population kleiner als Kist, wachst sie, wenn sie groBer lst, sinktsie (angedeutet durch die Pfeile). Eine derartige Population wird z. B. durch die logistischeGleichung beschrieben. b) und c) Phasendiagramme fOr wechselseitige Konkurrenz zwi-schenzwei Arten N, und N2• b) Nullwachstumsisokline fOr N1• Rechts von der Isokline sinktdie Population von N" links von ihr steigt sie (angedeutet durch die Pfeile). c) Nullwachs-tumsisokline fOr N2. Oberhalb der Isokline sinkt die Population von N2, unterhalb von ihrsteigt sie (angedeutet durch die Pfeile). Weitere Erklarunqen im Text.

Page 28: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

122 3 Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

(3.8)

Dies gilt fur die trivialen Falle, wenn rl = 0 (eine solche Population kann nichtwachsen) oder N I = 0 (es ist keine Population vorhanden). Es gilt aber auch fur denweitaus intcressanteren Fall, wenn der Term in der Klammer Null wird , und zwarwenn

(3.9)

oder umgeformt

(3.10)

Die Nullisokline hat also in diescm Fall im Phasendiagramm die Form einer Gera-den mit N j-Achsenabschnitt K, und der Steigung -all" Achtung: Die Steigung inAbbildung 3.7b muss in vertikaler Richtung gelesen werden, so als ob N2 auf derx-Achse ware. Die Nullisokline schneidet die Nj-Achse bei K1 (wenn N2 = 0) und dieN2-Achse bei K/a12 (wenn N] = 0). Links von der Nullisokline, d. h. bei relativkleinem NI , steigt die Population, rechts sinkt sie. Dies ist durch die waagerechtenVektorpfeile angedeutet (parallel zur Populationsachse von Art 1). Fur die Nulliso-kline unserer zweiten Art gilt analog:

(3.11)

Die Nullisokline fur Art 2 ist in Abbildung 3.7 c eingetragen. Indiesem Fall mussendie Vektorpfeile, die uns das Wachstum oder die Abnahme von Art 2 angeben, natur-lich parallel zur Populationsachse von Art 2 eingetragen werden, hier also senkrecht.Wir konnen jetzt beide Nullisoklinen in dasselbe Achsendiagramm eintragen. Wie

wir sehen, gibt es prinzipiell vier Moglichkeiten, wie die Isoklinen zueinander stehenkonnen (~ Abb. 3.8a-d). Die Isoklinen trennen die Flache in drei (a, b) oder vierBereiche (c, d). In jedem Bereich kann die Entwicklung der Populationen von Art 1und 2 durch Addition der Vektoren ermittelt werden.InAbbildung 3.8a und b schneiden sich die Isoklinen nicht. Hier verdrangt jeweils

die Art, deren Isokline hoher liegt, die andere. Die ubrig gebliebene Art erreicht dannihre Kapazitat,Wenn man die Achsenabschnitte der Isoklinen betrachtet, dann gilt inAbbildung 3.8a:

KI d K 2- > K2 un - - <K Ia l2 a 21oder umgeformt

(3.12)

(3.13)

Die erste Ungleichung besagt, dass die innerartliche Konkurrenz bei Art 1 grofserist als die zwischenartliche Konkurrenz mit Art 2. (KI ist grofser als die Konkurrenz

Page 29: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

3.4 Wechselwirkungen auf derselben troph ischen Ebene 123

d

(3.14)

3.8 Phasendiagramme zu interspezifischer Konkurrenz. Vier Moqlichkeiten, wie sich inter-spezifische Konkurrenz zwischen zwei Arten (N1 und N2) auswirken kann . a) N, ist konkur-renzuberleqen und N2 stirbt aus. b) N2 ist konkurrenzuberleqen und N, stirbt aus. c) furbeide Arten ist zwischenartliche Konkurrenz bedeutender als innerartliche. sodass abhan-gig von den Ausgangsdichten eine Art die andere verdranqt, d) stabile Koexistenz der bei-den Arten. Weitere Erklarunqen im Text.

durch Art 2, umgerechnet in Aquivalente von Art 1: K2a12) Die zweite Ungleichunggibt an, dass im Gegensatz dazu die zwischenartliche Konkurrenz fur Art 2 groBer istals deren innerartliche. Einfach ausgedruckt heiBt es, dass Art 1 ein starker zwischen-artlicher Konkurrent ist und Art 2 ein schwacher. In Abbildung 3.8b ist der Fall genauumgekehrt, und hier gewinnt Art 2 die Konkurrenz durch Ausschluss von Art 1. UnserModell sagt also vorher, dass die konkurrenzstarkere Art die schwachere durch Aus-schluss verdrangt, und liefert uns damit eine Erklarung fur das experimentell beo-bachtete Konkurrenzausschlussprinzip.In Abbildung 3.8 c gilt:

K K_ I <K2 und _ 2 <K1a l2 a 21

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124 3 Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

und damit

(3.15)

Fur beide Arten ist zwischenartliche Konkurrenz bedeutender als innerartliche,beide Arten sind also starke zwischenartliche Konkurrenten. Es wird immer eine Artdie andere verdrangen, welche Art der Gewinner sein wird, hangt aber wesentlich vomVerhaltnis der Ausgangsdichten beider Arten abo Ganz generell kann man sagen , dassArt 1gewinnen wird, wenn sie im Verhaltnis zu Art 2 deutlich haufiger auftritt (z. B.im unteren rechten Abschnitt in Abbildung 3.8c) . Umgekehrt wird Art 2 die Konkur-renz gewinnen, wenn sie an fangs die Uberhand hat (z. B.im oberen linken Bereich derAbbildung). Der Ausgang der Konkurrenz wird in einem solchen Fall also nicht vonden Eigenschaften der Arten selbst bestimmt, sondern allein von deren Zahlenver-haltnis; die haufigereArt hat dabei immer einen Vorteil. Ein konkretes Beispiel vonKonkurrenz zwischen zwei Arten, bei denen interspezifische Effekte starker ausge-pragt sind als intraspezifische, waren zwei pflanzenarten, die chemische Substanzenabsondern, die auf andere Arten toxisch wirken, nicht aber (oder in geringeremUmfang) auf Individuen der gleichen Art. Dieses Phanornen wird Allelopathiegenannt.Viele Pflanzenarten besitzen tatsachlich derartige Toxine und geben sie auch an die

Umgebung abo Beispielsweise enthalten die Wurzelabscheidungen und abgefallenenBlatter von Walnussbaumen (Juglans regia) das ungiftige Iuglonglycosid, aus demdurch Mikroorganismen das giftige Iuglon gebildet wird, so dass unter Walnussbau-men kaum eine Pflanze wachst, Ahnliches passiert unter Fichten, die durch abgewor-fene Nadeln den Boden derart versauern, dass die meisten Pflanzen im Unterwuchsvon Fichten nicht aufkommen konnen. Bei einigen krautigen Pflanzen hat man sogarnachgewiesen, dass sie wahrend ihres Wachstums durch die Wurzeln Stoffe ausschei-den, die das Wachstum anderer Wurzeln hemmen.Der letzte Fall in Abbildung 3.8d fuhrt zu einer stabilen Koexistenz der beiden

Arten; aIleVektoren fuhren letztendlich auf den Schnittpunkt der beiden Isoklinen. Esgilt:

K K_ I >K2 und _ 2 >K[a l 2 a2\

und wieder umgeformt

(3.16)

(3.17)

In diesem Fall ist die innerartliche Konkurrenz bei beiden Arten starker ausgepragtals die zwischenartliche. Unser Modell sagt also voraus, dass zwei Arten koexistierenkonnen, wenn sie sich selbst starker hemmen, als sie jeweils durch die andere Artgehemmt werden. Dies kann allerdings nur dann der Fall sein, wenn sie sich in ihrenrealis ierten Nischen unterscheiden. Sobald sie die gleiche Nische besetzen und eineArt diese Nische nur ein wenig besser nutzen kann als die andere, ubt die uberlegeneArt einen starkeren Konkurrenzeffekt auf die andere Art aus als letztere auf sich selbst.Damit wurde die uberlegene Art die unterlegene verdrangen, wie in den in Abbildung

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3.4 Wechselwirkungen auf derselben troph ischen Ebene

3.8a und b dargestellten Fallen. Unser einfaches Modell erklart uns eben falls die Ko-existenz von konkurrierenden Arten, die Nischendifferenzierung zeigen.Die bisherigen Modelle nahmen an, dass die Umgebung fur die Konkurrenten

homogen ist. Haufig leben reale Populationen allerdings in Metapopulationen(S. 89), d. h. unter raumlich heterogenen Bedingungen. In Metapopulationen sterbenlokal Arten aus, wahrend Arten anderswo Platze neu kolonisieren. Wenn zwei Artenlokal aufgrund von Konkurrenzausschluss nicht koexistieren konnen, konnen sie inMetapopulationen durch lokale Aussterbe- und Wiederbesiedlungsprozesse unterUmstanden zu einer regionalen Koexistenz kommen. Dies wurde am Beispiel von dreiWasserfloharten (Daphnia sp.) auf schwedischen Inseln gezeigt (Bengtsson 1991).

3.4.2 Gegenseitige Forderung

Es kommt manchmal vor, dass zwei Arten, die um dieselbe Ressource konkurrieren,trotz der gegenseitigen Ausbeutung eine fur beide vorteilhafte Beziehung aufbauen.Diese Art von Mutualismus auf derselben trophischen Ebene ist aber eher selten. Bei-spiele kennen wir von Raubern, die die gleiche Beute fressen, aber durch ihre Art zujagen das Verhalten der Beute oder deren Prafsnische andern, weshalb diese fur denjeweils anderen Rauber leichter zu erbeuten ist (predator facilitation). Viele Fische inKorallenriffen (darunter besonders die kleineren Jugendstadien) werden von zweiKategorien Raubern angegriffen: sesshaften Raubern, die in Hohlen im Korallenrifflauern, und wandernden Raubern, die aus dem freien Wasser die Korallenriffe aufBeutezug durchstreifen . Als Schutz gegen die sesshaften Rauber fluchten die Riffbe-wohner hinaus ins offene Wasser, als Schutz gegen die wandernden Rauber fluchtensie in die Riffhohlen . Beide Rauber treiben die Rifffische in die Fange des jeweils ande-ren Raubers, was schliefslich zu einer erhohten Pradationsrate beider Rauber fuhrt.Beide Rauber profitieren also von der Anwesenheit des jeweils anderen.Auch bei Pflanzen gibt es Beispiele fur gegenseitige Forderung von Arten, die am

selben Standort unter Konkurrenzbedingungen wachsen . Durch die Ansammlungvon Nahrstoffen, Beschattung, Herabsetzen von Storungen und Abwehr von Herbi-voren konnen Pflanzen benachbarte Arten fordern. Ob die Interaktion insgesamtnegativ oder positiv fur die beteiligten Pflanzenarten ist, hangt von der relativenStarke der Konkurrenz und der Forderung aboObwohl es wenige Untersuchungengibt, zeichnet sich ab, dass je graBer der Stress an einem Standort ist, umso graBer istdie Bedeutung von positiven Interaktionen. Beispielsweise sind in alpinen Pflanzen-gesellschaften die Pflanzeninteraktionen zum grofsten Teil positiv, wahrend die glei-chen Pflanzengesellschaften in subalpinen Stufen von Konkurrenz dominiert werden(Callaway et al. 2002).

3.4.3 ~innikry

Viele Arten schutzen sich durch Giftigkeit oder Gefahrlichkeit vor Feinden und sig-nalisieren ihre Giftigkeit durch Warnfarben (aposematische Parbung) gegenuberpotenziellen Raubern (S. 239). Diese Warnflirbung erlaubt einem Rauber, die innere

125

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126 3 Wechse lwirkungen zwischen verschiedenen Arten

Giftigkeit eines Beutetieres mit dessen aufserem Erscheinungsbild in Relation zu set-zen. Bei einer zweiten Begegnung mit diesem Beutetier meidet der Rauber aufgrundseiner fruheren Erfahrung die aposematisch gefarbte Art (Gittleman und Harvey1980). Dieses Beispiel zeigt zwei wichtige Aspekte auf:

• Die Giftigkeit eines Tieres darf nicht zum Tod seines Raubers fuhren, denn dannkann der Rauber seine erlernte Erfahrung nicht mehr umsetzen.

• Die aposematische Farbung muss einfach und kontrastreich sein, sodass eine Asso-ziation mit der Giftigkeit der Beute leicht moglich ist.

Hieraus ergibt sich, dass die ideale Verteidigungsstrategie eine mittlere Giftigkeit ist,die eher zu Ubelkeit und Erbrechen fuhrt als zu einer Lahmung des Herz-Kreislauf-Systems. Leicht einpragsame Warnfarben sind kontrastreich, also beispielsweise gelb-schwarz oder rot-schwarz. 1m Sinne einer Signalvereinfachung tendieren verschie-dene Arten dazu, die gleichen Warnfarben zu benutzen. Oftmals haben Rauber aucheine angeborene Abneigung gegenuber solchen Warnfarben (Lindstrom et al. 1999).Wir bezeichnen dieses auf tatsachlicher Giftigkeit beruhende Phanornen nach seinemEntdecker als Miiller'sche Mimikry.Wespen, Bienen , Hornissen und noch einige andere wehrhafte Hautflugler tragen

die gleiche Warntracht. Dies nutzt ihnen allen, denn so meidet ein Rauber nach einemschlechten Erlebnis mit einer Art gleich alle ahnlichen Arten, ohne dass er wiederholtdie schmerzhafte Erfahrung mit jeder Art machen muss. Auch fur die Hautflugler istdies von Vorteil, denn sie werden seltener das Opfer von Raubern,Es liegt nahe, dass eine schutzende Warnfarbung auch von Arten ubemornmen

werden kann, die ungiftig sind, also die eigene Gefahrlichkeit nur vortauschen, Wennungiftige Nachahmer seltener als die giftigen Vorbilder sind, profitieren die Nachah-mer gleichwohl von der aposematischen Farbung. Eine solche vorgetauschte apose-matische Parbung wird nach ihrem Beschreiber Bates'sche Mimikry genannt.Bekannte Beispiele hierfur sind viele Schwebfliegen (Syrphidae) , die mit ihrerSchwarz-Gelb-Zeichnung eine Wespenahnlichkeit angenommen haben, aber alsZweiflugler naturlich vollkommen harmlos sind. Hierzu gehoren auch Bluten, diewegen ihrer Ahnlichkeit mit anderen Bluten von Insekten angeflogen werden, obwohlsie keinen Nektar anbieten.Bei diesen beiden Formen der Mimikry wird der Rauber durch ein zutreffendes

oder nichtzutreffendes Signal der potenziellen Beute gewarnt, wodurch in der Regeldas Uberleben der Beute (und manchmal auch des Raubers) gesichert wird. Wennjedoch ein Rauber ein anlockendes Signal abgibt, urn eine potenzielle Beute zu ihremNachteil zu tauschen, sprechen wir von aggressiver Mimikry, oder, nach ihremBeschreiber, auch von Peckham'scher Mimikry. Meeresfische wie der Seeteufel(Lophius piscatorius) locken mit Hautlappen, die in Form von Wurmern ausgebildetsind, kleine Fische an, die dann verspeist werden. Auch die Anlockung von Tieren, dieeine Dienstleistung fur die nachahmende Art erbringen sollen , gehort hierher. Man-che Orchideen haben ihre Blute in Form eines weiblichen Insekts ausgebildet, urn dasMannchen der gleichen Art anzulocken. Beim Versuch, mit dem "Weibchen" zu kopu-lieren, wird dann die Blute ohne die iibliche Gegenleistung der Pflanze bestaubt.

Page 33: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

3.5 Wechselwirkungen uber zwei trophische Ebenen

3.5 Wechselwirkungen fiber lwei trophische Ebenen

Wenn zwei Individuen, die verschiedenen trophischen Ebenen angehoren, miteinan-der interagieren, handelt es sich meist urn eine Situation, in der der Organismus derhoheren Ebene den Organismus der niedrigeren trophischen Ebene als Nahrungbenutzt. In diesen Abschnitt fallen daher Rauber-Bente-Beziehungen, Herbivoren-Pflanzen-Beziehungen und Parasit-Wirt-Beziehungen, Diese Beziehungen sind aIletrophischer Natur.

3.5.1 Rauber und Beute

In diesem Abschnitt werden wir uns hauptsachlich mit echten Raubern beschaftigen,die ihre Beute toten und komplett verzehren. Dies ist in der Regelbei Tieren der Fall,die andere Tiere fressen. Pflanzenfressende Tiere (Herbivoren) toten in der Regel ihre.Beute" nicht und werden auf Seite 138 besprochen.

Auswirkungen auf Individuen

Wenn ein Rauber ein Beuteindividuum frisst, ist die Beute tot und der Rauber fur einegewisse Zeit satt. Die aufgenommene Energie vom Fressen der Beute kann der Rauberfur die Erhaltung seines Stoffwechsels oder fur die Erzeugung von Nachkommen nut-zen (numerische Reaktion, S. 107). Ein Beuteindividuum solIte den fatalen Ausgangeiner Begegnung mit einem Rauber naturlich moglichst verhindern. Dieses Prinzipgilt fur jede Begegnung mit Raubern; Beuteindividuen konnen es sich nicht leisten,hiervon eine Ausnahme zu machen, weil sie ansonsten tot sind. Daher herrscht einstarker Selektionsdruck auf die Beute, effektiveMaBnahmen zu entwickeln, urn ihremRauber entkommen zu konnen,Anders sieht es auf der Rauberseite aus. Fur den Rau-ber ist es nicht lebensnotwendig, jedes geeignete Beuteindividuum, das er entdeckthat, zu uberwaltigen und zu fressen. Entkommt ihm ein Beuteindividuum, kann erimmer noch, meist ohne schwerwiegende Konsequenzen fur seine Fitness, ein ande-res finden und erlegen. Dies ist das so genannte Oberleben-Abendessen-Prinzip (life-dinnerprinciple), dessen Argumentation etwa so lautet : Ein Kaninchen rennt schnel-ler als ein Fuchs, wei! das Kaninchen urn sein Leben lauft, der Fuchs jedoch nur urnsein Abendessen . Erst wenn es nicht genugend leicht zu entdeckende und zu uberwal-tigende Beuteindividuen gibt (z, B.weil die Beute effektive GegenmaBnahmen entwi-ckelt hat), existiert fur die Rauber ein Selektionsdruck, der Individuen bevorzugt, diebesser mit den GegenmaBnahmen der Beute umgehen konnen, Man kann daher invielen Rauber- Beute-Systemen ein koevolutives Wettriisten (coevolutionary armsrace) zwischen dem Erwerb von VerteidigungsmaBnahmen der Beute und der Umge-hung dieser durch den Rauber finden (Dawkins und Krebs 1979).Grundsatzlich gibt es drei Wege,wie Beutearten ihren Raubern entgehen konnen.

Diese setzen an unterschiedlichen Stellen in der Beutesuch- und Fangsequenz desRaubers an. Als Erstes kann die Beute den Kontakt zum Rauber vermeiden. Dies wirdals Ausweichen bezeichnet. Die Beute kann sich also in Teilen des Habitats aufhalten,die vom Rauber wahrend der Nahrungssuche nicht aufgesucht werden. Sie kann dem

127

Page 34: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

128 3 Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

Rauber auch zeitlich ausweichen, indem sie einen anderen Tagesrhythmus als derRauber annimmt oder zu anderen Jahreszeiten vorkommt.Ein zweiter Weg,wie Beute der Pradation entkommen kann, ist, bei einem Kontakt

mit einem Rauber zu verhindern, dass dieser sie als Beute erkennt. Dies wird als Tar-nung bezeichnet. Auch dafur haben wir schon Beispiele auf Seite 99 kennen gelernt.Ein getarntes Beutetier gibt vor, etwas anderes aus der Umgebung zu sein, sodass Rau-ber nicht auf die Idee kommen, es sei etwas Essbares. Haufig handelt es sich hierbeiurn Krypsis, also eine Form der Tarnung, bei der die Beute praktisch vom Rauberubersehen wird.Es gibt aber auch das Gegenteil, namlich dass die Beute sehr auffallig ist und die

Warnsignale einer giftigen oder wehrhaften anderen Art nachmacht (Bates'scheMimikry, S. 126). Auch hierbei wird die Beute nicht als solche erkannt, sondern fureine andere ungenieBbare Art gehalten.Der dritte Weg fur die Beute, urn zu verhindern gefressen zu werden, besteht darin,

den Angriff eines Raubers abzuwehren. Dies wird unter dem Begriff Verteidigungzusammengefasst. Eine VerteidigungsmaBnahme kann mechanisch funktionieren,z. B. durch einen Panzer (Schildkroten, Krebse). Sie kann aber auch chemisch wirk-sam sein, z. B.durch die Absonderung giftiger oder abschreckender Substanzen.Wan-zen werden im Volksmund oft als .Stinkwanzen" bezeichnet, weil sie, wenn man siereizt, eine auch fur den Menschen ubelriechende Substanz ausscheiden, die Rauberdavon abhalt, sie zu fressen. Der Bornbardierkafer (Brachinus explodens) produziertmit seinen Drusen Wasserstoffperoxid und Hydrochinon, die er in einer Explosions-kammer mithilfe von Enzymen (Peroxidasen und Katalasen) zu Wasser und Sauer-stoff einerseits und Chinon andererseits reagieren lasst. Dabei wird Warrne frei, undes baut sich ein groBer Druck auf, sodass dann ein atzendes, 100 °C heiBes und durchdas Chinon schwarz gefarbtes Gasgemisch mit einem Knall aus dem Kafer heraus-schieBt. Wahrend der Rauber verwirrt (oder sogar verletzt) ist, kann der Kafer ent-kommen. Haufig sind giftige (bzw.wehrhafte) Arten optisch auffallig gefarbt (Apose-matismus, S. 125).Eine weitere Art der Verteidigung ist das Abschrecken oder Verwirren durch opti-

sche Reize. Schmetterlinge haben auf den Innenseiten ihrer Plugel haufig auffalligeMuster (oft Augenzeichnungen), die sie plotzlich und unerwartet dem Rauber pra-sentieren und ihn dam it in die Flucht schlagen. Tintenfische scheiden auf der Fluchtvor einem Rauber eine dunkel gefarbte Wolke aus, die diesen von seiner angestrebtenBeute ablenkt.Letztendlich kann eine Verteidigung auch durch das Verhalten der Beute funkti-

onieren. In diese Kategorie fallen Beutetiere, die sich bei einem Angriff wehren, ohnedass sie dafur spezielle Strukturen ausgebildet haben, oder Tiere, die die Flucht ergrei-fen. Zebras konnen sich mit ihren Hufen zum Teil erfolgreich gegen den Angriff einesLowen zur Wehr setzen; die Hufe sind allerdings nicht speziell fur die Rauberabwehr,sondern in erster Linie fur die Fortbewegung ausgebildet. Auch das Gruppenlebenkann eine Form der Verteidigung sein, da manche Rauber von der Vielzahl der fluch-tenden Beuteindividuen verwirrt werden und Schwierigkeiten haben, sich beimAngriff auf ein Einzeltier zu konzentrieren (Konfusionseffekt, Neill und Cullen1974). Das Gruppenleben kann auch noch weitere Vorteile bezuglich des Schutzes vorRaubern haben. Haufig reduziert sich in der Gruppe allein schon rein numerisch

Page 35: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

3.5 Wechselwirkungen uber zwei trophische Ebenen

durch das Zusammenscin mit Artgenossen die Wahrscheinlichkeit pro Beuteindivi-duum, bei einem Rauberangriff selbst zum Ziel zu werden, denn in der RegelwerdenGruppen von 100 Individuen nicht 100-mal haufiger von Raubern angegriffen alsEinzeltiere (Verdunnungseffekt) .Auch entdecken Gruppen sich anschleichende Rau-ber fruher als Einzeltiere, denn viele Augen sehen mehr. Da die Gruppenmitgliederschnell erfahren, wenn cin Individuum einen Rauber entdeckt hat, konnen sie flichen,bevor der Rauber sich nahe genug an die Gruppe angeschlichen hat, urn einen erfolg-reichen Angriff zu starten ( ~Abb. 3.9).In der Regel sind bei den Beutearten die Abwehrmechanismen gegen Rauber per-

manent ausgebildet (konstitutiveAbwehr). Esgibt allerdings auch Beispiele,wo dieseAbwehr erst in Anwesenheit des Raubers ausgebildet wird (induzierte Abwehr) . DadieseVerteidigungsmafsnahrnen nicht nur Vorteile, namlich den Schutz vor Raubern,haben, sondern deren Ausbildung und Unterhalt die Beutetiere auch etwas kosten(z. B. Energie, Baustoffe), sind die AbwehrmaBnahmen auch mit Nachteilen fur dieBeutetiere behaftet. In einigen Fallen scheint es sich daher fur die Beute zu lohnen,

129

3.9 Verteidigung. Links: Habichte (Accipiter gentilis) sind erfolgreicher, wenn sie kleinereGruppen von Tauben (Columba palumbus) angreifen (oben), denn grOBereGruppen habeneine groBere Fluchtdistanz als kleinere Gruppen oder Einzeltiere (unten). Nach Kenward(1978). Rechts: Induzierte Verteidigung: Wenn Wasserflohe (Daphnia sp.) die Anwesenheitvon Raubern wahrnehmen, bilden sie helmartige Strukturen aus (ROckenzahne), die Rau-bern die Oberwaltigung erschweren. Nach Agrawal et al. (1999).

Page 36: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

130 3 Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

diese Abwehr erst dann auszubilden, wenn die Pradationsgefahr hoch ist, also vieleRauber in der Umgebung sind . Ein Beuteindividuum, das noch keine Abwehr ausge-bildet hat, kann es sich natiirlich nicht leisten, erst einem Rauber zu begegnen, urndessen Anwesenheit zu registrieren, bevor esAbwehrmaBnahmen ergreift, weil es denersten Angriff ohne GegenmaBnahmen wohl kaum iiberleben wiirde.Urn eine induzierte Abwehr auszubilden, muss ein Beuteindividuum also indirekte

Hinweise aus der Umgebung nutzen, die auf die Anwesenheit von Raubern schliefsenlassen. Rauber, die durch ihr Habitat streifen , hinterlassen Zeichen ihrer Anwesenheitz. B. in Form von Duftspuren (also chemischen Signalen), Trampelpfaden (optischenSignalen) oder auch Gerauschen/Erschutterungen (akustischen/vibratorischen Sig-nalen). Die besten Beispiele fur induzierte Abwehr in Rauber-Beute-Systernen kom-men aus dem aquatischen Bereich, wo chemische Signale gut wahrgenommen werdenkonnen und dementsprechend eine wichtige Rolle spielen. Wasserflohe (Daphniasp.)bilden in der Anwesenheit von Raubern einen Riickenzahn alsVerteidigungsschild aus(Tollrian 1990;~ Abb. 3.9).Es gibt auch Verhaltensanderungen, die durch Rauber bei der Beute induziert wer-

den konnen. Durch die Anwesenheit von rauberischen Libellenlarven der GattungAnax reduzieren manche Kaulquappen (Rana sp.) die Zeit, die sie mit der Nahrungs-aufnahme verbringen (Peacor und Werner 2000). Dadurch wachsen diese Kaulquap-pen langsamer und haben eine geringere Fitness. Derartig nichtletale Effekte von Rau-bern konnen beachtlichen Einfluss auf die Beutepopulation haben, die in derselbenGrofsenordnung liegen konnen, wie der direkte Einfluss durch das Toren von Beute.Das liegt daran, dass die Anwesenheit von Raubern (l) sofort und (2) die ganze Beu-tepopulation beeinflussen kann. Hinzu kommt, dass dieser Einfluss wahrend einersehr langen Zeitspanne, unter Umstanden sogar wahrend der gesamten Entwick-lungszeit der Beute,bestehen bleibt. So konnen auch kleine Verhaltensanderungen derBeuteindividuen mit der Zeit zu grofsen Pitnesseinbufsen fiihren , die, da sie samtlicheBeuteindividuen betreffen, die Wachstumsrate der Beutepopulation als Ganzes mog-licherweise erheblich reduzieren.

Auswirkungen auf die PopulationWenn Rauber Beutetiere fressen, nimmt dadurch die Abundanz der Beute abo Gibt esdann dauerhaft weniger Beutetiere? Diese Frage kann man nicht pauschal beantwor-ten, denn das Ergebnis einer solchen Interaktion hangt von den biologischen Eigen-schaften von Rauber und Beute ab, von Umweltgegebenheiten und unter Umstandenauch von den anfanglichen Abundanzen der interagierenden Arten, wie wir im Fol-genden sehen werden.

Generalisten als RauberEin generalistischer Rauber frisst ausreichend verschiedene Beutearten, sodass ernicht von dem Vorkommen einer bestimmten Beuteart abhangig ist. Daher konnenwir ann ehmen, dass die Anzahl Rauber P (predators) konstant bleibt, auch wenn sichdie Abundanz einer Beuteart N andert, Die Dynamik von Rauber und Beute ist also

Page 37: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

3.5 Wechselwirkungen uber zwei trophische Ebenen

entkoppelt (ungekoppelte Dynamik). Die Abundanz der Rauber wird von anderenFaktoren geregelt, z. B. der Anzahl vorhandener Territorien.Zunachst mussen wir einige Annahmen tiber unseren Rauber treffen .Viele Tiere in

den gemafsigten Breiten leben im Rhythmus der durch die Jahreszeiten vorgegebenenSaisonalitat, d. h. sie haben aktive Zeiten , die sich mit passiven Ruheperioden abwech-seln. Dies auBert sich auch in der Reproduktion, die haufig wah rend eines begrenztenZeitraums im Iahr stattfindet. 50 pflanzen sich die meisten Insekten, aber auch vieleWirbeltiere, in gematsigten Klimazonen einmal im Iahr fort. Bei Insekten kommtnoch hinzu, dass die Adulten in der Regel nach der Fortpflanzung sterben und sich dieneue Population daher ausschlieBlich aus Nachkommen der vorigen Generationzusammensetzt. Daher gibt es bei Insekten haufig keine uberlappenden Generati-onen, d. h. aile fortpflanzungsfahigen Tiere einer Population entstammen ein undderselben Generation. Aus diesen Eigenschaften ergibt sich, dass Insektenpopulatio-nen in der Regel nicht kontinuierlich, sondern sprunghaft oder in diskreten Zeit-schritten wachsen (5. 53). Da Insekten die artenreichste Tiergruppe sind und vieleunter ihnen Rauber bzw. deren Beutetiere sind, arbeiten wir hier bei der Erlauterungvon Rauber-Beute-Interaktionen mit Insekten. 1m Gegensatz z. B. zur Konkurrenzunter Pflanzen, die permanent wahrend der gesamten Wachstumsperiode stattfindetund bei der wir daher kontinuierliche Modelle benutzt haben, wollen wir bei derBesprechung von Rauber-Beute-Interaktionen diskrete Modelle anwenden, d. h.Modelle, die die Veranderungen im Populationswachstum von Rauber und Beute vonGeneration zu Generation betrachten.Nehmen wir an, dass die Beutepopulation N, in Abwesenheit des Raubers expo-

nentiell wachsen wurde, bis sie ihre Umweltkapazitat (die z. B. durch die Ressourcenbestimmt wird) erreicht hat, oder, mit anderen Worten, dass die Nettoreproduktions-rate A> 1 ist.Anschaulich kann man sich vorstellen, dass jedes Beutetier ANachkom-men erzeugt. Wir nehmen hier eine parthenogenetische Fortpflanzung an, bei sexuel-ler Fortpflanzung wurde man nur die Weibchen betrachten (5.53). Bei relativ kleinenBeutedichten wird das Wachstum der Beutepopulation noch nicht durch limitierteRessourcen begrenzt, wachst also ohne den Rauber nach der Formel:

131

(3.18)

Wie tritt ein Rauber nun mit der Beutepopulation in Wechselwirkung? Wirbetrachten drei Faile: (1) Ieder Rauber frisst eine bestimmte, konstante Anzahl Beute-tiere pro Zeitintervall, (2) jeder Rauber frisst einen bestimmten, konstanten Prozent-satz der Beutepopulation, oder (3) jeder Rauber frisst einen bestimmten Prozentsatzder Beutepopulation, der von der Beutedichtc abhangig ist (funktionelle Reaktion,5.102).Ieder Rauber frisst eine bestimmte konstanteAnzahl Beutetiere. Nehmen wir an,

dass jeder der P Rauber eine konstante Anzahl Beutetiere pro Zeitintervall frisst (c,consumption), urn satt zu werden, und zwar unabhangig von der Populationsgrofseder Beutepopulation. Diese Annahme erscheint keineswegs unrealistisch, jedenfallswenn genug Beutetiere vorhanden sind, die von den Raubern uberwaltigt werdenkonnen, Wenn jetzt jeder der P Rauber c Beutetiere pro Zeiteinheit frisst , ergibt sichdie Rauber-Beute-Gleichung:

Page 38: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

132 3 Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

(3.19)

Die Beutepopulation wird daher in der nachsten Generation (t + 1) anwachsen,wenn in der jetzigen Generation (r) der Zuwachs grolser ist als der Anteil, der vonRaubern gefressen wird, oder mathematisch ausgedruckt, wird Nt+ 1 >N, sein, wenn

(3.20)

Diese Ungleichung sagt uns , dass Beutepopulationen mit einer hoheren Reproduk-tionsrate Aeher in der Lage sind, in Habitaten mit generalistischen Raubern zu tiber-leben, denn je groBer It, desto groBer ist die linke Seite der Ungleichung. Kann derRauber die Beutepopulation auf ein stabiles Gleichgewicht regulieren? Im Gleichge-wicht verandert sich die GroBe der Beutepopulation von einem Zeitschritt zumnachsten nieht (Nt + 1 = NJ Die GroBe der Beutepopulation im Gleichgewieht nen-nen wir N*.Wenn wir in Gleichung (3.19) N, + 1 und N, durch N* ersetzen, konnenwir die GroBe der Beutepopulation im Gleichgewicht errechnen:

N* = cPA-I

(3.21)

Ein Gleiehgewicht ist zwar moglich, aber es ist instabil. Wenn die Rauber etwasweniger Beute fressen, als die Beutepopulation anwachst, steigt die Beutepopulationin der nachsten Generation an . Da die Rauber ja immer eine konstante Anzahl Beute-tiere fressen, werden so von Generation zu Generation immer mehr Beutetiere ubrigbleiben, sodass die Beutepopulation unbegrenzt weiterwachst. Wenn die Rauberumgekehrt nur ein wenig mehr Beute fressen , als der Zuwachs der Beutepopulationausmacht, gibt es in jeder Generation immer weniger Beutetiere, sodass die Popula-tion letztendlich ausstirbt. Generell sind Modelle mit instabilen Gleichgewichtenunbefriedigend, da Arten, die ihnen folgen, von der Evolution ausgerottet werden.Ieder Rauber frisst einen bestimmten konstanten Prozentsatz der Beutepopula-

tion. Bei geringen Beutedichten ist es unrealistisch anzunehmen, dass die Raubergenugend Beutetiere finden , urn vollstandig satt zu werden, weil die einzelnen Beute-tiere schwieriger zu finden sein werden. Es ist vielleicht realistischer anzunehmen,dass die Anzahl Beutetiere, die von Raubern gefressen werden, mit abnehmender Beu-tedichte eben falls abnimmt. Dies kann am einfachsten modelliert werden, indem manannimmt, dass jeder Rauber einen konstanten Prozentsatz der Beutepopulation frisst,also seine Konsumptionsrate c einen Prozentsatz darstellt. Aile Rauber zusammenfressen demnach einen Anteil von cP = sBeutetieren (0 < s< 1).Wenn ein Rauber 1%der Beutepopulation fressen wiirde, dann fressen 10 Rauber 10 % (s= 10%), d. h. dieRauber wiirden 100Tiere aus einer Population von 1000 fressen, aber nur 10 aus einerPopulation von 100.Mechanistisch kann man sich das vielleicht am besten vorstellen,indem die Rauber nur einen konstanten Prozentsatz s des Habitats der Beute absu-chen (Annahme: Die Beute ist gleichmafsig oder zufallig im Habitat verteilt). UnsereBeutegleichung wird damit:

(3.22)

Page 39: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

3.5 Wechselwirkungen tiber zwei trophische Ebenen

1mGleichgewicht (Nt+ 1 == Nt == N*) gilt:

133

,t-l==s (3.23)

Die Beute erreicht einen Gleichgewichtszustand, wenn die Rauber genauso vieleBeutetiere fressen, wie diese an Nachwuchsuberschuss produzieren. Auch diesesGleichgewicht ist instabil, und zwar aus den gleichen Grunden wie im vorigenAbschnitt: Wenn die Rauber etwas weniger Beute fressen, wachst diese unbegrenztweiter; wenn die Rauber nur ein wenig mehr Beute fressen, stirbt die Population letzt-endlich aus.Rauber mit funktioneller Reaktion: Dichteabhangigkeit, In den beiden vorigen

Abschnitten haben wir gesehen, dass weder ein generalistischer Rauber, der eine kons-tante Anzahl Beutetiere frisst, noch einer, der einen konstanten Prozentsatz der Beu-tepopulation frisst, in der Lage ist, die Beutepopulation in einer biologisch sinnvollenWeise zu regulieren. Das deutet darauf hin, dass beiden Modellen unrealistischeAnnahmen zugrunde liegen. Die grofsten Schwachen liegen bei beiden Modellen inder Beziehung zwischen Beutedichte und Pradationsrate der Rauber. Wahrend daserste Modell (Rauber frisst konstante Anzahl Beutetiere) bei hohen Beutedichten rea-listisch erscheint (jeder Rauber frisst so viele Beutetiere, bis er satt ist), versagt es beiniedrigen Beutedichten (es werden irgendwann nicht mehr genug Beutetiere fur jedenRauber vorhanden sein) . Beim zweiten Modell ist es genau umgekehrt: Es scheint beiniedrigen Beutedichten gut die Realitat zu beschreiben, wah rend es bei hohen Beute-dichten unrealistisch wird (die Rauber wtirden mit steigender Beutedichte immermehr Beutetiere pro Kopf fressen, d. h. sie hatten einen unbegrenzten Appetit) .Wennwir die realistischen Eigenschaften von beiden Modellen vereinigen, erhalten wir einbiologisch sinnvolleres Modell. Wenn wir also annehmen, dass unser Rauber beihoher Beutedichte in der Anzahl Beutetiere, die er fressen kann, limitiert ist (Modell1: feste Anzahl) und bei niedriger Beutedichte eine geringere Anzahl Beutetiere frisst(Modell 2: proportionale Pradation), erhalten wir ein Modell, in dem der Rauber aufdie Beutedichte in Form einer funktionellen Reaktion reagiert (S. 102). Das Modell,das wir gerade beschrieben haben, gleicht in etwa einer funktionellen Reaktion vomTyp 2, also Z. B. Hollings Scheibengleichung. Wenn wir die Scheibengleichung inunser Rauber-Bente-Modell einbauen, erhalten wir:

(3.24)

wobei a die Angriffsrate, Th die Handhabungszeit und T die gesamte Zeit, wahrendder der Rauber nach Beute sucht, darstellt.Wie ist nun die Dynamik einer solchen Rauber-Beute-Beziehungi Am anschau-

lichsten konnen wir uns das graphisch vor Augen fuhren, indem wir in einem Koor-dinatensystem sowohl die Reproduktionskurve der Beute (Reproduktion == ANt) alsauch die Anzahl gefressener Beutetiere der Rauberpopulation (die Scheibenglei-chung) in Abhangigkeit der Populationsgrofie der Beute (Nt) darstellen (~Abb. 3.10).Betrachten wir zunachst eine Beuteart A, deren Reproduktionsrate Aniedrig ist undderen Reproduktionskurve dementsprechend flach verlauft. In diesem Fall schneiden

Page 40: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

134 3 Wechselwirkungen zw ischen verschiedenen Arten

sieh Rauber- und Beutekurven im Punkt N*, d. h. bei dieser Populationsgrofse derBeute werden genauso viele Beutetiere gefressen wie als Uberschuss produziert wer-den, die Beutepopulation befindet sich also im Gleichgewicht. Allerdings handelt essich hierbei urn ein instabiles Gleiehgewicht, denn bereits geringe Abweichungen zueiner Seite fuhren entweder zum Aussterben der Beute oder zu deren unbegrenztemWachstum. Wenn aus irgendeinem Grund die Beutediehte sinkt (z. B. ein JagererschieBt ein Beutetier ; dies bedeutet in Abbildung 3.10 eine Abweiehung von N*nach links), dann befindet sich die Reproduktionskurve der Beute unterhalb der Pra-dationskurve der Rauber. Mit anderen Worten, es werden mehr Tiere gefressen als anGeburtenuberschuss erzeugt. Dies hat zur Folge, dass die Beutedichte noch weiterabsinkt und damit die Diskrepanz zwischen der Pradations- und der Reproduktions-kurve groBer wird; die Beute ist zum Aussterben verdammt. Umgekehrt verhalt essich, wenn die Beutedichte durch ein Zufallsereignis urn ein Individuum steigt (z. B.durch Zuwanderung). In dem Fall befindet sich die Reproduktionskurve der Beutetiber der Pradationskurve der Rauber, und es werden weniger Tiere gefressen als anGeburtenuberschuss erzeugt, sodass die Beutediehte noch weiter steigt und letztend-lich die Beute dem Rauberdruck immer weiter davon wachst. Diese Trends der Popu-lationsentwicklung der Beute sind in Abbildung 3.10 durch die Pfeile in den verschie-denen Abschnitten der Grafik angedeutet. Dass die Pfeile vom Gleichgewiehtszustandzu beiden Seiten weg weisen bedeutet ein instabiles Gleichgewicht. Wenn eine Beute-art (B;~ Abb. 3.10) von vornherein schon eine derart hohe Reproduktionsrate Ahat,dass sich Pradations- und Reproduktionskurve niemals schneiden, kann sieh keinGleichgewieht einstellen. In diesem Fall entkommt die Beute immer dem Pradations-druck des Raubers, Ein generalistischer Rauber mit einer funktionellen Reaktion vonTyp 2 ist also nicht in der Lage,die Beutepopulation durch Pradation alleine zu regu-lieren.

Beuteart B Beuteart A

insta bil

Beutedichte

3.10 Dynamik eines Rauber-Beute-Systerns mit einer funktionellen Reaktion vom Typ 2(z. B. die Scheibengleichung). Die Beutepopulation wird nur vom Rauber in ihrem Wachs-tum begrenzt. Es sind die Reproduktionskurven zweier Beutearten mit niedriger (A) undhoher (B) Fortpflanzungsrate A. eingetragen. Der Gleichgewichtszustand N* liegt im Schnitt-punkt der Reproduktions- und Pradationskurven. Die pfeile deuten die Populationsent-wicklung der Beutepopulation zu beiden Seiten desGleichgewichtszustands an. FOr dieBeuteart mit der hohen Reproduktionsrate gibt es kein Gleichgewicht; sie wachst demRauber davon.

Page 41: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

3.5 Wechselwirkungen uber lwei trophische Ebenen

Bis jetzt haben wir nur Rauber kennen gelernt, die nicht in der Lage waren, eineBeutepopulation unter biologisch realistischen Bedingungen zu regulieren. Woranliegt das? Die Antwort ist einfach: Aile unsere bisher betrachteten Rauber haben keinepositive Dichteabhangigkeit (density dependence) in der Pradationsrate gegeniiberihrer Beutc gezeigt. Lassen wir sie noch einmal Revue passieren. Der erste Rauber fraBeine konstante Anzahl Beutetiere unabhangig von der Beutedichte, d. h. mit zuneh-mender Beutedichte sank der Anteil gefressener Tiere an der Gesamtpopulationimmer weiter ab ( ~Abb. 3.lla); seine Pradationsrate war negativ dichteabhangig(inverse densitydependent). Der zweite Rauber fraB immer den gleichen Prozentsatzder Beutepopulation, seine Pradationsrate war immer gleich oder auch dichteunab-hangig (density independent) ( ~Abb. 3.11b) . Rauber Nummer drei zeigt eine funk-tionelle Reaktion vom Typ 2. Hier sinkt die Pradationsrate mit zunehmender Beute-dichte immer weiter ab (~ Abb. 3.3b, S. 105).Eine positive Dichteabhangigkeit der Pradationsrate des Raubers kann zum Bei-

spiel durch eine funktionelle Reaktion vom Typ 3 dargestellt werden:

N =AN -cpr bNlT J (3.25)t +l t l+dN +bT. N 2

t h t

Die Dynamik eines solchen Rauber-Beute-Systems machen wir uns am besten auchwieder graphisch klar, indem wir die Reproduktions- und die Pradationskurvenzusammen in ein Koordinatensystem gegen die Beutedichte auftragen (~Abb. 3.12).An den Schnittpunkten befindet sich das System im Gleichgewicht, d. h. der Repro-duktionsiiberschuss wird genau von den Raubern aufgefressen. Das untere Gleichge-wicht (N") ist stabil, d. h . nach kleineren Abweichungen in der Beutedichte Wit dieBeutepopulation wieder auf den Gleichgewichtszustand zuriick. Das obere Gleichge-wicht ist instabil: Sinkt die Beutedichte ab, wird sie weiter sinken, bis sie den unterenGleichgewichtszustand erreicht hat. Steigt die Beutedichte hingegen iiber den Wertvon Nl hinaus, entkommt die Beute der Regulation durch die Rauber (wei! die Rau-

135

~sc:s..,'0:~

c..

a

Rauber 1

konstante Anzahl

Beutedichtenegativ dichteabhanqiq

<II

~c.g..,'0:~

c..

b

Rauber 2

konstanter Prozentsatz

Beutedichted lchteunabhanqiq

3.11 Dichteabhangigkeit der Pradationsraten (gefressene Beutetiere im Verhaltnis zurBeutetierdichte) vern Raubertyp 1 (a: frisst eine konstante Anzahl Beutetiere pro Zeitein-heit) und 2 (b: frisst einen konstanten Prozentsatz Beutetiere pro Zeiteinheit). Der Rauber1 zeigt eine negativ dichteabhanqiqe Pradationsrate, Rauber 2 eine dichteunabhangige.

Page 42: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

136 3 Wechselwirkungen zwischen versch iedenen Arten

25

c:.g 20""-6~0'"~.~ 15tx: :> Reproduktion~~~~ 10c: ....o c:

.;:; ~

"'~~ 5s:

0 ", I I

o 20 40stabil

Beutedichte

I

60instab il

3.12 Dynamik eines Rauber-Beute-Systemsaus einem genera-listischen Rauber mit einer sigmo-iden funktionellen Reaktion(Typ 3) und einer Beuteart, dienur vom Rauber in ihrem Wachs-tum begrenzt wird. Es gibt zweiGleichgewichtszustande N* (sta-bil) und Nl (instabil), die imSchnittpunkt der Reproduktions-und Pradationskurven liegen. Diepfeile deuten die Populationsent-wicklung der Beutepopulation zubeiden Seiten der Gleichge-wichtszustande an.

ber mit Beute gesattigt sind) und wird weiterwachsen, bis sie durch andere Faktoren(z. B. ihre Ressourcen) limitiert wird.Dichteabhangigkeit hei der Beutepopulation. Wir hatten schon am Anfang des

Kapitels angesprochen, dass natiirliche Beutepopulationen nicht unendlich weiter-wachsen, sondern zumindest durch ihre Ressourcen im Wachstum nach obenbegrenzt sind. In unseren bisherigen Betrachtungen zur Pradation haben wir dieseTatsache ignoriert, urn ein besseres Verstandnis des Einflusses von Raubern auf Beu-tepopulationen ohne storende weitere Faktoren zu erhalten. Wenn wir diese dichte-abhangige Selbstregulierung fur unsere Beutearten annehmen, dann ist die Fragestel-lung nun nicht mehr, ob ein generalistischer Rauber die Beutepopulation regulierenkann, sondern

• Wie weit unterhalb des durch die innerartliche Konkurrenz gesetzten Gleichge-wichts kann ein Rauber die Beutepopulation reduzieren?

• Konnen Rauber die Beutepopulation ausrotten?

Die Antwort auf diese Fragen lautet: Das hangt von der Art der Rauber und der Artder dichteabhangigen Konkurrenz abo Innerartliche Dichteabhangigkeit druckt sichdarin aus, dass die Wachstumsrate der Population Amit steigender Beutedichte klei-ner und bei sehr hohen Dichten sogar negativ wird. Eine solche Form der Dichteab-hangigkeit haben wir in Form der logistischen Gleichung bereits auf Seite 57 kennengelernt. Graphisch dargestellt bedeutet dies, dass die Reproduktionskurve nicht mehrwie bisher linear mit der Beutedichte ansteigt, sondern abknickt und im Gleichge-wicht ~hne (ohne den Rauber) wieder die x-Achse schneidet. Dies ist in Abbildung3.13 dargestellt. 1m oberen Teil (a) ist zusatzlich die Pradationskurve eines Raubers,der eine feste Anzahl Beutetiere frisst, eingezeichnet. In den zwei Schnittpunktenbefindet sich die Beutepopulation im Gleichgewicht, d. h. die im Uberschuss produ-zierten Beutetiere werden vom Rauber genau aufgefressen. Allerdings stellt nur derobere Schnittpunkt ein stabiles Gleichgewicht dar. Wenn die Beutedichte unter dasNiveau des niedrigeren Gleichgewichtszustands absinkt, stirbt die Beutepopulationunweigerlich aus. Beihoheren Beutedichten kann ein generalistischer Rauber, der eine

Page 43: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

3.5 Wechselwirkungen uber zwe i troph ische Ebenen 137

• Produktion

~ I IPradation

:J ~ I'O ~o (IJ

~.~a::J

~~.0'<='"c: '"o c:

·z «"'~'0

''''~I-.

instabil stabilN~hn.

a N'

Produktionc I.g 3.13 Dynamik eines Rauber-"":J ~ Beute-Systems aus einem genera-'O~0'"Ci"Z listi schen Rauber, der (a) eine(IJ~

konstante Anzahl Beutet iere (con-a::J. (IJ

~ ~ stant harvestpredation) oder (b).0'<= einen konstanten Prozentsatz'"c: '"o c: Beutetiere pro Zeite inheit frlsst,'z «"'~'0 und einer Beute, die durch ihre''''s: Urnweltkapazitat (N~hne) begrenzt

wird. Die pfeile deuten die Popu-instabil stabi l

N~nelat ionsentwicklung der Beutepo-

N' pulat ion zu beiden Seiten derb Beutedichte Gleichqewkhtszustande an.

konstan te Anzahl Beutetiere frisst, seine Beute auf ein Niveau regulieren, das unter-halb dessen liegt, was die Beutepopulation ohne den Rauber erreichen wurde. In Teilb der Abbildung ist die Pradation sku rve eines Raubers eingetragen, der einen kon s-tant en Anteil der Beutepopulation frisst. Hier ergib t sich nur ein Gleichgewichtszu-stand, der zudem stabil ist. Beide Raubertypen sind demnach in der Lage, ihre Beuteauf ein Niveau unterhalb der Umweltkapazitat zu regu lieren .

Spezialisten als Rauber

Ein Hauptgrund, weshalb die Beutepopulation in den vorigen Abschnitten so haufigder Kont rolle durch den Rauber entkam, war unsere Annahme , dass die Rauberpo-pul at ion eine konstantc GroBe hatte, ihre Fahigkeit zur Regulierung daher bei hohenBeutedichten lim itiert war. Mit anderen Worten, der Rauber zeigte keine numerischeReakt ion (S. 107) auf die Beutedichte. Dies ist eine sinnvolle Annahme fur einenGeneralisten, dessen Haufigkeit nicht von einem bestimmten Beutetyp abhangt.Kommt die Beute allerdings hau fig in der Umgebung des Raubers vor, dann wird derRauber die Beute leicht er und damit auch mehr von ihr fangen und diese in eigeneNachkommen umsetzen. Die Rauberpopulation sollte also bei hohen Beutedichtenansteigen und bei niedrigen wieder absin ken. P ist in un seren Gleichungen bei Rau-

Page 44: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

138 3 Wechselwirkungen zw ischen verschiedenen Arten

bern mit numerischer Reaktion auf ihre Beutedichte also keine Konstante, sonderneine Funktion der Beutedichte: P(N). Damit erhalten wir Rauber-Beute-Systerne mitgekoppelter Dynamik, d. h. sowohl Rauber- als auch Beutedichte hangen nicht nurvon sich selbst, sondern auch vom anderen Partner abo Urn dieses mathematisch dar-zustellen, benotigen wir eine Gleichung fur die Anderung der Beutedichte tiber dieZeit und eine weitere fur die Anderung der Rauberdichte.Nehmen wir anfangs der Einfachheit halber wieder an, dass wir auger der Repro-

duktion und Pradation keine weiteren Faktoren haben, die die Dichte von Rauber undBeute bestimmen (d. h. wir ignorieren Zu- und Abwanderung, innerartliche Konkur-renz usw.), und dass wir wieder diskrete Generationen haben (ohne kontinuierlicheFortpflanzung). Die Dynamik der Beute wird durch ihren Zuwachs in Form vonGeburten (ANt) sowie durch ihre Abnahme durch Pradation des Raubers bestimmt.Die Anzahl Beutetiere, die der Rauber frisst, wird durch dessen funktionelle ReaktionfiNt) multipliziert mit der Anzahl Rauber Pt bestimmt. Die Dynamik des Rauberswird ebenfalls durch seinen Zuwachs, indem er gefressene Beutetiere in eigene Nach-kommen umsetzt (numerische Reaktion), sowie durch seine Abnahme, in diesem Falldurch naturliche Mortalitat, bestimmt. Die Umsetzung von gefressener Beute inNachkommen ist die numerische Reaktion g[fiNt)], die wiederum von seiner funk-tionellen Reaktion, namlich der Anzahl gefressener Beutetiere, abhangig ist. Auch dienumerische Reaktion muss mit der Anzahl Rauber PImultipliziert werden. Die Todes-rate dder Rauber, d. h. die Wahrscheinlichkeit fur ein Rauberindividuum zu sterben,konnen wir in jeder Generation als konstant annehmen. letzt haben wir aile Kompo-nenten fur unser Rauber-Beute-System beisammen:

(3.26)

(3.27)

Die Dynamik des Rauber-Bente-Systems hangt jetzt von den funktionellen undnumerischen Reaktionen der Rauber abo Ganz generell kann man sagen, dass ein der-artiges Rauber-Beute-System nicht reguliert wird, wenn nicht in mindestens einerKomponente eine positive Dichteabhangigkeit auftaucht. Dabei spielt es keine Rolle,in welcher Komponente die Dichteabhangigkeit vorliegt; ohne sie ist eine langfristigeKoexistenz von Rauber und Beute an einem Ort ohne Zuwanderung nicht wahr-scheinlich. Die Dichteabhangigkeit musste sich nicht einmal in der funktionellen odernumerischen Reaktion ausdrucken, sondern konnte auch in Form der Rekrutierungder Beute oder der Todesrate der Rauber in das Modell eingehen.

3.5.2 Herbivoren und Pflanzen

Viele Herbivoren verhalten sich eher wie Parasiten und weniger wie Rauber, indem sieein einziges Pflanzenindividuum befressen, dies aber in der Regel nicht toten. In man-chen Fallen ahneln sie allerdings eher Raubern und verzehren die Pflanzenindividuenmehr oder weniger vollstandig, Dies ist z. B. bei Samenfressern der Fall, denn jeder

Page 45: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

3.5 Wechselw irkungen uber zwei trophische Ebenen

Samen ist ein Pflanzenindividuum. Auch Keimlinge sterben bei BefraB haufig, Eineeigene Kategorie bilden die Weideganger ( ~Tab. 3.3). Hierunter werden Herbivoren­arten zusammengefasst, die mehrere Pflanzenindividuen befressen, diese dabei abernicht so stark schadigen, dass die Pflanzen sterben. Wenn die meisten Pflanzenfresseranderen trophischen Kategorien ahneln, warum gibt es dann ein eigenes Kapitel uberHerbivoren-Pflanzen-Beziehungeni Wichtige Unterschiede zu tierischen Rauber­oder Parasitensystemen bestehen darin, dass Pflanzen durch ihren modularen Aufbau(S. 46) den Schaden durch Herbivoren haufig kompensieren und dass pflanzlicheNahrung im Gegensatz zu tierischer sehr viel heterogener ist. Insbesondere konnenPflanzen sowohl die Menge (durch kompensatorisches Wachstum) als auch die Qua­litat (z. B. durch induzierte Abwehr) der zukunftig gefressenen Menge nach einemBefall durch Herbivoren verandern und damit Wachstum, Reproduktion und Uber­leben der Herbivorenpopulation beeinflussen.

Auswirkungen auf die Pflanze

Generell werden Pflanzen, wenn sie nicht getotet werden (Herbivore in diesem Fall =Rauber), durch Herbivorenfraf geschadigt (Herbivore in diesem Fall = Parasit, Wei­deganger) . Dies auBert sich in einem geringeren Wachstum oder einer verringertenReproduktion. Herbivorie ftihrt bei der Pflanze zu einem Verlust an Biomasse. Dasowohl Wachstum als auch Reproduktion in der Regel proportional zur Pflanzen­groBe sind, wird die Pflanze schon allein uber den Biomasseverlust geschadigt. DerVerlust von photosynthetisch aktivem Gewebe, insbesondere der Verlust von Blattfla­che, fuhrt zu einer Reduktion der Nettophotosyntheserate. Von Herbivoren befres­sene Pflanzen erleiden also einen Nachteil, indem sie tiber eine reduzierte Photosyn­these weniger Biomasse fur das Wachstum synthetisieren konnen und so Schwierig­keiten haben, im Kampf urn Licht mit den sie umgebenden Konkurrenten Schritt zuhalten. Der tatsachliche Schaden fur die Pflanze geht aber haufig noch uber den blo­Ben Verlust an Biomasse hinaus (Zangerl et al. 2002). In vielen Experimenten, indenen z. B. Blattverlust durch Herbivoren durch mechanisches Entfernen der gleichenMenge Blattmaterial mit einer Schere simuliert wurde, hat sich gezeigt, dass der Scha­den durch Fraf auf die Pflanzen starker war als der kunstlich zugefugte. Dies kannunter anderem damit zusammenhangen, dass die Pflanze beim Fraf durch Herbivo­ren auch physiologisch durch Sekretabsonderungen (Speichel) beeintrachtigt wird.1m Speichel vieler Herbivoren befinden sich Substanzen, die bei Pflanzen die Produk­tion von Stoffen zur induzierten Abwehr auslosen. Die dafur benotigten Energie- undStoffreserven stehen den Pflanzen dann nicht fur Wachstum oder Reproduktion zurVerfugung.

Das Ausmaf der Schadigung einer Pflanze durch Fraf hangt von vielen Faktorenab, als Erstes von der Herbivorendichte. Ie mehr Tiere an einer Pflanze fressen, destogroBer ist der Schaden. Der bestimmende Faktor ist hierbei die Praflintensitat. DieFrafsintensitat erhoht sich auch, wenn die Herbivoren langer fressen (FraBdauer) oderhaufiger die Pflanze befallen (Prafshaufigkeit). Grofsere Tiere fressen in der Regelmehr als kleinere und konnen ebenfalls die Prafsintensitat erhohen,

Auch das von Herbivorie betroffene Pflanzenorgan bestimmt das Ausmaf desSchadens mit. Haufig sind es verschiedcne Herbivoren, die die verschiedenen Organe

139

Page 46: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

140 3 Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

einer Pflanze befallen. So kann man auch sagen, dass die Herbivorenart das Scha-densausmaB mitbestimmt. Bei der Goldrute (Solidago altissima) z. B. richtet dieSchaumzikade Philaenus spumarius, die das Xylem anzapft, den grofsten Schaden an,der blattfressende Kafer Trirhabda sp. mittleren und die phloemsaftsaugende BlattlausUroleucon caligatum den geringsten (Meyer 1993). Durch den Herbivorenfraf wur-den die gesamte Blattmasse, die gesamte Blattflache und die Wurzelmasse reduziert.Zusatzlich reduzierte die Schaumzikade die Anzahl der Apikalknospen und die derSeitensprosse sowie die Stangelmasse . Der Schaden, den die Pflanzenfresser anriehte-ten, fuhrte in erster Linie uber eine Reduktion der Blattflache im Verhaltnis zur Blatt-masse, wodurch den befallenen Pflanzen nunmehr eine relativ kleinere Blattflache furdie Photosynthese zur Verfugung stand, was im Endeffekt zu einer geringeren Syn-these von Biomasse fuhrte,Ein wichtiger Punkt, der durch dieses Beispiel unterstrichen wird, ist, dass die Aus-

wirkungen von HerbivorenfraB nicht allein am FraBort auftreten. Durch Herbivoriewerden Wachstumsprozesse in der ganzen Pflanze beeinflusst. Eine generelle Regelscheint dabei zu sein, dass SprossfraB das Wurzelwachstum reduziert und umgekehrt(Crawley 1997). Durch Stoffumlagerungsprozesse innerhalb der Pflanze kann es auchzu einer Veranderung in den Proportionen der Pflanzenorgane untereinander (Allo-metrie) kommen. Eine der haufigsten Veranderungen ist das Verhaltnis unterirdi-scher zu oberirdischer Biomasse (root-shoot ratio).

Reaktion der PflanzenWenn Pflanzen von Herbivoren befressen werden, sterben sie in der Regel nieht oderzumindest nicht sofort aboSie haben somit die Moglichkeit, auf FraBzu reagieren undden angerichteten Schaden zu verringern. Diese Pahigkeit zur Kompensation wirdToleranz genannt und kann in unterschiedlichem MaB ausgepragt sein. Pflanzenkonnen aber auch im Verlauf der Evolution Mechanismen erworben haben, die diePraferenz oder Performance von Herbivoren herabsetzen. Derartige Mechanismenwerden unter Resistenz zusammengefasst. Iede Eigenschaft der Pflanze, die ihre Fit-ness in Anwesenheit von pflanzenfressenden Tieren erhoht, verstehen wir als Vertei-digung. Zur Verteidigung zahlen also sowohl Toleranz von als auch Resistenz gegen-tiber Herbivoren.Toleranz: Kompensation, Uberkompensation, Pflanzen kompensieren den Scha-

den durch Tiere auf unterschiedliche Weise. Der Nettoeffekt von einfachem oderwiederholtem Herbivorenfraf auf das kumulative Wachstum von Pflanzen tiber dasIahr hinweg kann Null, negativ oder sogar positiv sein. Dies hangt von der Pflanzen -art, der Verfugbarkeit der verbleibenden photosynthetisch aktiven Blattflache, derAnzahl Meristeme/Knospen, der Menge gespeicherter Nahrstoffe, dem Gehalt verfug-barer Nahrstoffe im Boden und der Haufigkeit und Intensitat der Herbivorie aboDie meisten Pflanzen reichern wahrend des Wachstums Kohlenhydrate als Nahr-

stoffspeicher an. Diese werden zum Aufbau von neuen Pflanzenorganen nach demVerlust von Biomasse durch Herbivoren oder andere Katastrophen (Feuer, Wind,Frost, Hitze, Trampeln) mobilisiert. Bei Grasern wird haufig beobachtet, dass befres-sene Triebe eine hohere relativeWachstumsrate haben als unbefressene. Dies kann biszur vollstandigen Wiederherstellung der verlorenen Biomasse fuhren ( ~Abb. 3.14).

Page 47: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

3.5 Wechselwi rkungen uber zwei trophische Ebenen

Kompensation fur verlorene oberirdisehe Biomasse gesehieht in der Regelauf Kostender unterirdiseh in den Wurzeln gespeieherten Reserven, die ansonsten fur die Pro-duktion von Samen verwendet wurde. Haufiges Abweiden von Grasern kann derenWurzelwaehstum limitieren, was zu einer verminderten Wasser- und Nahrstoffauf-nahme aus dem Boden fuhrt. Bei wiederholtem intensiven HerbivorenfraB ist diePahigkeit zur Kompensation stark herabgesetzt, und sogar die Mortalitat kann sieherhohen.Herbivorie kann unter Umstanden aueh die Iahresproduktivitat von befressenen

Pflanzen gegenuber unbefressenen steigern ( ~Abb. 3.14). Dies ist insbesondere beiausdauernden Grasern der Fall, die nur maBig von Weidegangem befressen werden.1mAllgemeinen ist im Hoehsommer die Biomasse von beweideten Grasflachen zwarkleiner als die von unbeweideten, aber uber das Iahr summiert ist die Produktivitatvon beweideten Flachen hoher als die von unbeweideten Flachen. Die unbeweidetenGraser bilden Bluten aus, und die oberirdisehen Pflanzenteile sterben danaeh aboDureh die Beweidung wird die Blute der Graser verhindert, die Pflanzen verbleiben inder vegetativen Phase, und ihre oberirdisehen Teilesterben daher nieht aboHerbivoren konnen unter Umstanden aueh die Uberlebenswahrscheinlichkeit

von Pflanzen erhohen. Krauter, die einen zweijahrigen Lebenszyklus haben, produ-zieren im ersten lahr eine Rosette, die im zweiten Iahr einen Spross treibt, der bluhtund Samen produziert. Naeh der Samenreife stirbt die Pflanze aboHerbivoren, diediese Blute verhindern, indem sie entweder das Rosettenwaehstum so stark reduzie-ren, dass die Rosette keinen Spross treibt, oder den Blutenspross derart befressen, dassdieser nieht bluht, erhalten die Pflanze so langer am Leben. Wenn das Jakobskreuz-kraut (Senecio jacobaea) von Raupen des Karrninbaren (Tyriajacobaeae, Lepidoptera)befressen wird, sodass die Sprosse nieht bluhen, uberleben die Pflanzen uber vierJahre, wahrend ihre unbefressenen Naehbarn bereits naeh zwei Iahren tot sind (Gill-man und Crawley 1990).

141

CliUC

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keine Kompensation

/ teilwe ise Kompensation

Uberkompensatlon

lntensita; des Herbivorenbefalls

3.14 Reaktionsnormen von Pflanzen auf HerbivorenfraB. Mit ansteigender lntensitat desHerbivorenfraBes zeigen Pflanzen folgende Reaktionen: (1) stetiger Abfall der Nettopri-rnarproduktion, (2) Pflanzen kompensieren den durch Herbivorie angerichteten Schadenvollstandiq bis zu einem schwellenwert, ab dem die Produktivitat abfallt oder (3) Pflanzenzeigen eine vermehrte Produktivitat bei niedrigem FraBdruck. Es ist zu beachten, dass diey-AchseNettoproduktion oder Performance und nicht Fitness im Darwin'schen Sinneanzeigt. Nach Crawley (1997).

Page 48: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

142 3 Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

Resistenz: Abwehr von Herbivoren. Wahrend Toleranz nicht die Frafsintensitatreduziert, sondern nur den entstandenen Schaden mehr oder minder auffangt, sorgenResistenzmechanismen dafur, dass die Pflanzen weniger befallen werden. Resistenzsetzt daher entweder die Praferenz von Herbivoren fur die Pflanze herab oder redu-ziert deren Performance, wenn Herbivoren die Pflanze dennoch befressen. Wie wirschon auf Seite 113 gesehen haben, stellen Pflanzen wegen ihres geringen Stickstoff-gehalts eine ungunstige Nahrungsgrundlage fur Pflanzenfresser dar. Pflanzen ent-halten jedoch auch eine Vielzahl von Substanzen, die fur die meisten Herbivorenunverdaulich sind, wie z. B.Cellulose und Lignin (der Holzbaustoff). Diese Substan-zen dienen der Pflanze in erster Linie als Stiitzgewebe, spielen aber auch als Verteidi-gung gegen FraB eine Rolle. Die meisten Herbivoren zeigen eine ausgepragte Prafe-renz fur zarte, junge Gewebe, die nur wenig Holz- und Faserstoffe enthalten, und las-sen die verholzten Pflanzen oder Pflanzenteile stehen. Ebenso haben viele Pflanzen-gewebe einen geringeren Wassergehalt als Herbivore und konnen daher schlechterverwertet werden . Die Hauptgrunde, weshalb Pflanzengewebe fur Herbivoren un-gunstige Verhaltnisse dieser drei Inhaltsstoffgruppen (Stickstoff, Fasern und Wasser)haben, liegen primar weniger in der Abwehr von Herbivoren als in der Art und Weise,wie Pflanzen wachsen. Pflanzen enthalten relativ wenig Stickstoff, weil Stickstoff inder Umgebung von Pflanzen Mangelware ist. Stutzgewebe dienen den Pflanzen zumHohen- und Breitenwachstum, urn sich in der Konkurrenz mit anderen Pflanzenihren Platz an der Sonne zu sichern. Der niedrige Wassergehalt von z. B. Holz ist einNebeneffekt des hohen Anteils an Stutzgewebe. Trotzdem ist der Nebeneffekt, dendiese Pflanzeneigenschaften auf Herbivoren haben, stark .Pflanzen haben allerdings auch spezielle Eigenschaften entwickelt, die eigens der

Abwehr von Herbivoren dienen . Viele Pflanzen tragen auf ihrer Oberflache Struktu-ren wie Stacheln, Dornen oder Harchen (Trichome), die den an ihnen fressenden Tie-ren den Zugang zu den essbaren Pflanzenteilen erschweren (meehanisehe Abwehr).Nach der GroBe dieser Strukturen ist ersichtlich, gegen welche Tiergruppen dieAbwehr gerichtet ist. In der Regel sind Dornen und Stacheln gegen GroBherbivoren(Saugetiere) wirksam, wahrend Trichome gegen kleinere pflanzenfressende Tiere(Insekten, Milben, Schnecken) gerichtet sind. Pflanzen produzieren auch eine Viel-zahl chemischer Substanzen, die zur Abwehr von Herbivoren dienen (ehemiseheAbwehr; S. Ill). Da diese Substanzen nicht dem Primarstoffwechsel der Pflanze die-nen (Wachstum, Transport, Fortpflanzung), werden sie als sekundare pflanzlicheInhaltsstoffe zusammengefasst. Ie nach ihrer Funktion konnen diese Stoffe als Gifte(Toxine), abstoBende (Repellents) oder verdauungshemmende Substanzen eingeteiltwerden .Wahrend Toxine in der Regel schon in geringen Mengen wirken und damiteine qualitative Verteidigung darstellen, hangt die Wirkung von Repellents und ver-dauungshemmenden Substanzen von deren Konzentration abo Diese Stoffe bildendaher eine quantitativeVerteidigung.Verteidigungsstrategien: Plastisehe Pflanzenreaktionen. Herbivorenbefall ist

sehr variabel. Fur einzelne Pflanzenindividuen ist nieht von vornherein sicher, ob undwann sie befallen werden . Die meisten Pflanzen konnen daruber hinaus noch Opferverschiedener Herbivorenarten werden, die jeweils unterschiedliche Muster in Raumund Zeit aufweisen und aueh verschiedene Pflanzenorgane befallen. Da Verteidi-gungsmaBnahmen kostspielig sind, ist eine permanente oder konstitutive Verteidi-

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3.5 Wechselwirkungen uber zwei troph ische Ebenen

gung nicht immer die beste Strategie (d. h. sie kann zu Einbufsen in der Fitness gegen-tiber benachbarten Pflanzenindividuen fuhren). Da Pflanzen ebenso wie Tiere dasPotenzial haben, auf Veranderungen in ihrer Umwelt zu reagieren, konnen sie auchkomplexere und angepasstere VerteidigungsmaBnahmen gegen Herbivoren ergreifen.Pflanzen konnen z. B. ihre Resistenzmechanismen nur dann anschalten, wenn sieerwarten, dass es sich lohnt (urn es einmal anthropomorph auszudrucken), also wennsie einen auBeren Reiz bekommen, dass ein starker Befall bevorsteht. Ein solcherMechanismus wird induzierte Resistenz genannt. Damit induzierte Resistenz einenVorteil fur die Pflanze gegenuber konstitutiver oder auch gar keiner Resistenz dar-stellt, muss die Pflanze durch Informationen aus ihrer Umwelt das Risikovon zukunf-tigem Herbivorenbefall moglichst korrekt abschatzen konnen (Karban et al. 1999;S.241).Die Resistenzmechanismen, die Pflanzen zur Abwehr von Tierfraf besitzen, kon-

nen direkt gegen Herbivoren wirksam sein. Hierzu gehoren sekundare Pflanzenin-haltsstoffe wie Toxine,Verdauungshemmer und Repellents und mechanische Barrie-ren wie Stacheln und Dome, aber auch verholzte, schwer verdauliche Strukturen imAllgemeinen. Aufserdern gibt es Resistenzmechanismen, die indirekt tiber andereOrganismen wirken. Einige Pflanzen rekrutieren Ameisen oder rauberische Milben zuihrer Verteidigung, indem sie ihnen Nektar in extrafloralen Nektarien oder vorgefer-tigte Nistplatze in Form von hohlen Dornen (Akazien), Tunneln oder knollenartigenStrukturen (Domatien; viele epiphytische pflanzen) zur Verfugung stellen ( ~ Abb.3.15). Die Ameisen und Raubmilben saubern im Gegenzug ihre Wohnpflanze vonschadigenden Herbivoren. Das Zur-Verfugung-Stellen von Nistplatzen fur naturlicheFeinde der Herbivoren kann als eine Art konst itutive indirekte Abwehr angesehenwerden .

143

3.15 Die Ameisenpflanze Myrmecodia tuberosa. Die aufgeschnittene knollige Struktur amFuBder Pflanze enthalt Kammern, in denen die Ameisen leben und ihre Nester bauen.(© Nicholas W Plummer, Reproduktion mit freundlicher Genehmigung.)

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144 3 Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

Auswirkungen auf die Herbivoren

Wie wir gesehen haben, reagieren Pflanzen auf Herbivorie, indem sie die Nahrungs-menge (durch zeitliches und raumliches Ausweichen oder zeitverzogertes kompensa-torisches Wachstum) und/oder die Nahrungsqualitat fur ihre Fressfeinde herab set-zen. Herbivoren haben verschiedene Moglichkeiten entwickelt, urn negative Konse-quenzen fur ihre Fitness weitgehend zu umgehen. Sie konnen gezielt GegenmaBnah-men ergreifen, urn reduzierte Nahrungsmenge und -qualitat auszugleichen. Analogzur Verteidigung der Pflanzen gegen FraB konnen diese MaBnahmen als Angriff derHerbivoren auf die Pflanzen verstanden werden (herbivore offense; Karban und Agra-waI2002). Drei Bedingungen mussen erfullt sein, damit eine Eigenschaft eines Herbi-voren als Angriff auf die Pflanze angesehen werden kann:

• Die Eigenschaft muss einer Pflanzeneigenschaft entsprechen (z. B. ein Enzym zurEntgiftung im Herbivoren entspricht einem Toxin in der Pflanze).

• Die Eigenschaft muss eine messbare Steigerung der Nutzung der Pflanze durch denHerbivoren erlauben (z. B. erhohte Nahrungsaufnahmerate, Verdauungseffizienz,Eiablagemoglichkeit).

• Die Eigenschaft muss die Fitness des Herbivoren erhohen (d. h. seinen Anteil anNachkommen in folgenden Generationen).

Generell leben Herbivoren und Pflanzen also in einem Spannungsfeld zwischenAngriff und Verteidigung ahnlich dem von Raubern und ihrer Beute.Viele Herbivoren haben die Moglichkeit , einen reduzierten Nahrstoftgehalt ihrer

Nahrung zu kompensieren, indem sie einfach mehr Nahrung zu sich nehmen (com-pensatory feeding). Dies ist naturlich nur dann moglich ,wenn sie nicht bereits in ihrerNahrungsaufnahmekapazitat begrenzt sind . Pflanzenfresser, die normalerweisebereits permanent fressen mussen, urn ihre Nahrstoffbedurfnisse zu befriedigen, sto-Ben hier fruh an Grenzen. Minierende Insektenarten (Arten, die sich innerhalb vonpflanzengeweben entwickeln) scheinen im Vergleich zu ihren freilebenden Verwand-ten haufig mehr als 90 % ihrer Zeit mit Fressen zu verbringen und konnen daherweniger durch gesteigerte Nahrungsaufnahme kompensieren.Die Nahrung von Herbivoren ist nicht sehr reich an Nahrstoffen, aber deren Gehalt

und der von sekundaren Abwehrstoffen ist sehr variabel in unterschiedlichen Gewe-ben, Individuen und Arten (S. 110). Durch die Wahl des FraBortes (fur mobile Her-bivoren) oder des Eiablageortes (fur sedentare Herbivoren, z. B.viele Insektenlarven)konnen Pflanzenfresser die Nahrungsqualitat steigern. Fur viele pflanzenfressendeInsekten gilt, dass sie schneller wachsen, wenn sie ihre Nahrung selbst wahlen kon-nen (self-selection offood) als wenn sie gezwungen werden, sich einseitig zu ernahren(Waldbauer und Friedman 1991). Entgiftung von sekundaren Pflanzeninhaltsstoffendurch Enzyme des Herbivoren kann ebenfalls als Angriffsmechanismus aufgefasstwerden . Eine wichtige Enzymklasse, die an den Entgiftungsprozessen beteiligt ist, sinddie Cytochrom-P-450-mischfunktionelle-Oxidase-(MFO-)Enzyme, die sekundarePflanzeninhaltsstoffe entgiften, indem sie diverse Oxidationsprozesse katalysieren.Pflanzen enthalten auch verdauungshemmende Substanzen wie z. B. Proteinase-inhibitoren, die die Funktion von prote inabbauenden Enzymen hemmen. Herbivo-

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3.5 Wechselwirkungen uber lwei trophische Ebenen 145

ren, deren spezifische proteinabbauenden Enzyme durch Proteinaseinhibitorengehemmt werden, konnen andere Proteasen produzieren, die durch die Proteinasein-hibitoren nicht mehr in ihrer Funktion gehemmt werden und somit nur minimaleEinbuBen im Wachstum erleiden. Viele spezialisierte Herbivoren konnen die zurAbwehr dienenden sekundaren Inhaltsstoffe ihrer Wirtspflanze in ihrem Korper ein-lagern (sequestrieren) und sich so selbst gegen ihre Feinde schiitzen. Ein bekanntesBeispiel hierfiir ist der Monarchfalter aus Amerika (Danaus plexippus), dessen Rau-pen sich von Schwalbenwurzgewachsen (Asclepiadaceae) ernahren, die in ihremMilchsaft Pyrrolizidinalkaloide (Kasten 3.3, S. III f) enthalten. Wahrend des FraBesnehmen die Larven diese Toxine auf und lagern sie in ihrem Korper aboDer Schutz

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3.16 Beispiele far die Vielfalt an Gallen, die von Gallwespen (Cynipidae) der GattungAndricus an Stieleichen (Quercus robur) hervorgerufen werden. a) A. hungaricus,b) A. quercustozae, c) A. polycerus, d) A. kollari, e) A. quercusramuli, f) A. fecundator,g) A. coriarius, h) A. gallaetinctoriae, i) A. tinctoriusnostrus, j)A. sekendorffi, k) A. denti-mitratus, I} A. quercuscalicis, m) A. testaceipes, n) A. aries, 0) A. solitarius, p) A. inflator,q) A. lignicola, r) A. rhyzomae, s)A. quercuscorticis. NachCrawley (1997).

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146 3 Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

vor ihren eigenen Feinden durch die Toxine halt sogar beim ausgewachsenen Schmet-terling an, der ja wahrend des Adultstadiums nur Nektar zu sich nimmt. Zusatzlichsind die Raupen und Adulten auffallig gezeichnet (aposematisch, S. 125) und signali-sieren ihren Feinden ihre Giftigkeit.Auch symbiontische Mikroorganismen helfen den Herbivoren, ihre Wirtspflan-

zen effektiver auszunutzen, indem sie Nahrstoffe zuganglich machen, die Pflanzen -fresser ansonsten nicht verdauen konnten. Am bekanntesten sind die Mutualismenzwischen darmbewohnenden Bakterien oder Einzellern, die Cellulose abbauen, undihren Wirten (kein Tier kann Cellulose eigenstandig abbauen) . Diese kommen in soverschiedenen Herbivorengruppen wie Termiten und Wiederkauern vor. Manchedarmbewohnende Mikroorganismen sind auch an der Produktion von essenziellenAminosauren, die in der Pflanzennahrung fehlen, und an der Entgiftung von sekun-daren Pflanzeninhaltsstoffen beteiligt .Manche Herbivoren erhohen ihre Effektivitat sogar durch Manipulation der Wirts-

pflanze. Die Induktion von Pflanzengallen durch pflanzenfressende Arthropoden istein solcher Fall. Gallen sind Pflanzenstrukturen, die von Herbivoren bewohnt undbefressen werden. Sie bestehen aus Pflanzengewebe und konnen die unterschiedlichs-ten Formen annehmen (~Abb. 3.16). Die Gallenform wird durch Substanzen des ei-ablegenden Weibchens und durch die raumliche Anordnung der fressenden Tierebestimmt. In den meisten Fallen ist das Innere der Galle von aufserst nahrstoffreichemGewebe ausgekleidet, von dem sich die Pflanzenfresser ernahren, Gallbildende Herbi-voren zwingen die Pflanzen also, ihnen mit der Galle sowohl Schutz als auch ein nahr-stoffreiches Substrat zur Verfugung zu stellen.

3.5.3 Parasiten und ihre Wirte

Auswirkungen von Parasiten auf ihreWirte

Definitionsgernaf hat ein Parasit immer einen negativen Einfluss auf die Fitness(Wachstum, Fekunditat, Uberleben) seines Wirtes. Dieser steigt in der Regel mit derStarke des Befalls, d. h. mit der Anzahl der Parasiten pro befallenem Wirt (~ Abb.3.17). Die Auswirkungen von Parasiten auf den einzelnen Wirt sind also diehteab-hangig, Dies kann entscheidende Auswirkungen auf die Populationsdynamik vonParasiten und ihren Wirten haben. Sehr stark befallene Wirte (mit vielen Parasiten)haben eine reduzierte Uberlebenswahrscheinlichkeit und damit auch die in ihnenlebenden Parasiten. Der Tod eines stark infizierten Wirtsindividuums kann daher dieParasitenpopulation starker reduzieren als die Wirtspopulation, was zu einer Regula-tion beider Populationen fuhren kann.

Epidemiologie von Mikroparasiten

Wenn man die Populationsdynamik von Mikroparasiten (z. B. Malariaerregern)untersuchen mochte, stoBtman auf das Problem, dass sieh die Anzahl Mikroparasi-ten in einemWirt in der Regelnur schwer (oder uberhaupt nicht) feststellen lasst. DieAnzahl Viren in einer an Grippe oder Masern erkrankten Person festzustellen, ist

Page 53: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

3.5 Wechselwirkungen uber lwei trophische Ebenen 147

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a Umfang der Parasiteninfektion b Umfang der Parasiteninfektion c Umfang der Parasiteninfektion

3.17 Dichteabhangigkeit der Auswirkungen von Parasitenbefall auf die Mortalitat desWirts . a) Die SchneckeLymnaea gedrosiana, parasitiert von den Larvenstadien desTrematoden Ornithobilharzia turkestanicum, b) dieaquatische Wanze Hydrometra myrae, parasitiert von der Milbe Hydryphantes tenuabilis, c) Labormaus, parasi-tiert vom groBen Leberegel (Fasciola hepatica) . NachAnderson und May (1978).

schier unmoglich, auch wenn sich die Konzentration von Viren im Blut oder dieStarke der Immunreaktion tiber den Antikorpertiter feststellen lasst. Anstelle derAnzahl Parasiten untersucht man bei Mikroparasiten in der Regel die Anzahl infizier-ter Wirte (Pravalenz) . Sehr verbreitet ist dieser Ansatz in dem Zweig der Humanme-dizin, der sich mit der Dynamik von Infektionskrankheiten des Menschen (Epide-miologie) beschaftigt. Eine weitere Vereinfachung gegenuber den bisher besproche-nen Modellen besteht in der Annahme, dass die Populationsgrofse desWirtes von vie-len verschiedenen Faktoren und daher nicht vom Vorkommen einer einzelnenInfektionskrankheit abhangt. Man nimmt daher an, dass die Populationsgrofse desWirtes konstant ist. In der Epidemiologie betrachtet man also die Ausbreitung einerKrankheit (eines Parasiten) in einer konstanten Population von Wirten.Nehmen wir der Einfachheit halber einmal an, dass ein Mikroparasit durch Kon-

takt direktubertragen wird (oder uber sehr kurze Distanz), eine kurze Infektionszeithat und der Wirt nach einer Genesung eine lebenslange Irnmunitat erwirbt. Dies trifftauf viele bakterielle und virale Infektionen wie z. B. die Kinderkrankheiten Maseru,Roteln, Mumps und andere zu. Die Ubertragungsrate des Parasiten wird dann unteranderem von der Anzahl der Kontakte zwischen infizierten und empfanglichen Wir-ten bestimmt. In einer sich frei (d. h. homogen oder zufallig) durchmischenden,geschlossenen Wirtspopulation ist die Anzahl Kontakte II zwischen infizierten undempfanglichen Individuen von der Anzahl infizierter Wirte Y, der Anzahl empfang-licher Wirte X und der Durchmischungsrate fJ l abhangig:

(3.28)

Dieses wird in Analogie zu einem idealen Gas in der Epidemiologie auch das Mas-senwirkungsgesetz (lawofmassaction) genannt. Die tatsachliche Anzahl Infektionenpro Zeiteinheit I (incidence) , die sich aus diesen Kontakten ergeben, hangt von derWahrscheinlichkeit fJ2 ab, dass ein Kontakt zwischen einem infizierten und einemernpfanglichen Wirt tatsachlich zu einer Obertragung des Parasiten fuhrt. Also gilt:

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148 3 Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

(3.29)

Die Wahrscheinlichkeit einer Ubertragung nach einem Kontakt hangt einerseitsvon der Pahigkeit des Parasiten ab, sich in dem neuen Wirt zu etablieren (Infektio-sitat), und andererseits von der genetisch bedingten Empfanglichkeit des Wirtes.Unterschiede in der dem Parasiten eigenen Ubertragungswahrscheinlichkeit (f3) sinddafur verantwortlich, dass sich die verschiedenen Kinderkrankheiten unterschiedlichschnell ausbreiten. Wir sagen, sie sind unterschiedlich ansteckend. Der Koeffizientf3 = f31f32 wird Ubertragungsrate (transmission coefficient) genannt. Das Prinzip derMassenwirkung bei der Ubertragung von Mikroparasiten wird von Beobachtungenzur Ausbreitung von bakteriellen und viralen Infektionen bestatigt. Tatsachlich brei-ten sich diese in dichten Wirtspopulationen (z. B. in Stadten) schneller aus.Es gibt viele Beispiele fur Infektionen, die sich explosionsartig schnell in einer ernp-

fanglichen Population ausgebreitet haben (z. B. die Maul-und-Klauenseuche, diezuletzt im Iahr 2001 in GroBbritannien und dem angrenzenden Europa Tausende vonRindern, Schweinen und Schafen getotet hat; Haydon et al. 2002) . Es gibt allerdingsebenso Infektionen, die es nicht geschafft haben, in einerWirtspopulation FuB zu fas-sen . Dies geschieht wahrscheinlich sehr haufig, bleibt allerdings in der Regel unbe-merkt. Welche Faktoren bestimmen, ob sich ein Parasit erfolgreich ausbreiten kann?Intuitiv leuchtet ein, dass die Fahigkeit des Parasiten, sich von Wirt zu Wirt zu ver-breiten, kritisch fur eine erfolgreiche Ausbreitung ist. Insbesondere sollte bei einemerfolgreichen Parasiten ein befallener Wirt im Durchschnitt wah rend seines Lebensmindestens einen weiteren Wirt infizieren (andernfalls stirbt der Paras it aus). Stellenwir uns dazu die Nettoreproduktionsrate Ro von Mikroparasiten als die durch-schnittliche Anzahl neuer Krankheitsfalle vor, die durch einen mit Parasiten befaIle-nen Wirt in einer unbefallenen Wirtspopulation ausgelost werden. Die Nettorepro-duktionsrate entspricht dann der Ausbreitung der Krankheit in einer Wirtspopula-tion unter Idealbedingungen (alle Individuen sind empfanglich). Die Nettoreproduk-tionsrate Ro hangt nun, wenn wir das Prinzip der Massenwirkung annehmen, vonzwei GraBen ab: der Anzahl von Kontakten zwischen dem infizierten Wirt und ernp-fanglichen Wirtsindividuen (das Produkt aus der Anzahl ernpfanglicher Wirte X undder Ubertragungsrate f3 der Krankheit oder der Wahrscheinlichkeit, dass ein Kontaktzur Ubertragung fuhrt) und der Zeit D, wahrend der ein infizierter Wirt den Parasi-ten weiter ubertragen kann. Achtung: Bei manchen Krankheiten kann ein Wirt auchnach seinem Tod infektios sein ,wenn z. B. Dauerstadien gebildet werden. Zusammen-fassend kann man schreiben:

(3.30)

Damit sich eine Krankheit in einer Population ausbreiten kann, muss die Nettore-produktionsrate ~ > 1 sein . Wenn ~ < 1, fuhrt jeder infizierte Wirt in Zukunft zuweniger als einem neu infizierten Wirt, sodass die Krankheit aussterben wird. DieBedingung Ro = 1 wird die Dbertragungsschwelle (transmission threshold) genannt.Die Dbertragungsschwelle lasst sich auch als kritische Schwellendichte~., d. h. alsMindestdichte der empfanglichen Wirtspopulation, die benotigt wird, damit sich dieKrankheit noch ausbreiten kann, ausdriicken:

Page 55: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

3.5 Wechselwirkungen uber zwei trophische Ebenen 149

oder umgeformt:

1XT = {3D

(3.31 )

(3.32)

In Wirtspopulationen mit einer geringeren Diehte empfanglicher Individuen wirddie Krankheit aussterben, in Populationen mit hoherer Diehte kann sieh die Krank-heit ausbreiten. Wie kritiseh die Wirtsdiehte fur die Ausbreitung von Krankheiten ist,wird besonders in der Tierhaltung (aber aueh in der Pflanzenzueht) deutlieh, woWirte in einer unnaturlich hohen Diehte vergliehen mit ihren Freilandvorkommengehalten werden. Hier breiten sieh Infektionen mit Mikroparasiten explosionsartigaus, die im Freiland praktiseh keine Rolle fur die Wirte spielen. Viele Infektions-krankheiten treten gerade bei Rindern typiseherweise im Winter wahrend der Stall-haltung und nieht im Sommer im Freiland auf (z. B. Lungen- und Darmparasiten).Die Tatsaehe , dass eine Wirtspopulation von einem Parasiten befallen werden kann

(Invasionskriterium: Ra > I), heiBt nicht, dass sieh der Parasit aueh in der Populationhalten kann. Mit fortsehreitender Einwanderung des Parasiten in die Wirtspopulation(epidemisehe Phase) nimmt die Anzahl ernpfanglicher Wirte immer weiter abo Diesgesehieht dureh drei Prozesse:

• Bereits befallene Wirte konnen zwar erneut befallen werden (wah rend sie noeh denParasiten in sieh haben), tragen aber nieht zur Ausbreitung des Parasiten bei undfallen damit aus der Reehnung heraus.

• Befallene Wirte konnen sterben.• Befallene Wirte konnen (zumindest in ein igen Tiergruppen, aber aueh bei Pflan-zen) eine Imrnunitat erwerben, sodass sie bei erneutem Kontakt zu dem Parasitennieht infiziert werden.

Die abnehmende Anzahl empfanglicher Wirte ist daher ein limitierender Prozess furdie Ausbreitung und den Bestand des Parasiten. Damit sieh der Parasit in einer Popu-lation von Wirten halten kann (nieht ausstirbt), ist er darauf angewiesen, dass sieh ausder Wirtspopulation neue ernpfangliche Wirte rekrutieren. Dies kann dureh Gebur-ten , Verlust der Imrnunitat oder dureh Immigration gesehehen. Wenn die Rekrutie-rung neuer ernpfanglicher Wirte nieht ausreieht, urn durehsehnittlieh mindestenseine Neuinfektion von jeder bereits bestehenden zu garantieren, wird sieh der Parasitnieht in der Wirtspopulation halten konnen, d. h. er wird nieht zu einer endemischenParasitose werden und schliefslich aussterben. Bei vielen dureh Mikroparasiten ver-ursaehten Krankheiten sind die befallen en Wirte, die die Infektion uberleben, lebens-lang immun gegen einen Neubefall (z. B. bei allen Kinderkrankheiten) . Hier ist diehauptsachliche Quelle neuer ernpfanglicher Wirte in der Anzahl Neugeborener zusuehen, die wiederum selbst von der GroBe der Wirtspopulation abhangt. Es tiber-raseht daher nieht, dass eine bestimmte Wirtsdiehte benotigt wird , damit Kinder-krankheiten endemiseh in einer Population bestehen konnen. Auf Inseln findet maneinen starken Zusammenhang zwisehen der Einwohnerzahl und der Lange von Epi-demien (... Abb. 3.18).

Page 56: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

150 3 Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

3.18 Zusammenhang zwi-schen der Einwohnerzahlund der Dauer von Epide-mien auf Inseln am Beispielvon Masern, einer direktdurch engen Kontakt uber-tragenen Krankheit. NachNokes (1992).

10 100 1000Populationsqrofse der Insel(x 103)

100

Hawaii550 000

Haufig wechseln sich bei Krankheitsepidemien durch Mikroparasiten Phasen mitniedriger Pravalenz (Anzahl infizierter Wirte) mit Phasen hoher Pravalenz abo- Abb. 3.19). Solche regelmalsig schwankenden (oszillierenden) Muster werdendurch eine sinkende Anzahl empfanglicherWirte im Verlauf der Epidemie verursacht,gefolgt von Perioden, in denen sich die Zahl ernpfanglicher Wirte wieder erholt (z. B.durch Geburten). Die Lange der Periode zwischen zwei Krankheitsausbruchen istdirekt abhangig von der Ubertragungsrate (Ro) und der Rate, mit der der Wirtspoolwieder aufgefullt wird (z. B.Geburtenrate), und umgekehrt abhangig von der Latenz-zeit der Krankheit. Aus diesem Grund zeigen Infektionen in Populationen mit hoherGeburtenrate, wie sie z. B. typisch fur Entwicklungslander ist, in der Regel kurzereZeitraume zwischen zwei Epidemien als die gleichen Krankheiten in Industrielan-dern .Viele Krankheiten werden auch durch Bisse von Arthropoden ubertragen (z, B.

Malaria durch Mucken, Borreliose durch Zecken). In diesen Fallen konnen wir in derRegel davon ausgehen, dass dem Arthropoden als Vektor eine bestimmte AnzahlBisseoder Stiche pro Zeiteinheit zur Verfugung stehen (Bissrate), und zwar unabhan-gig von der Anzahl Wirte in seiner Umgebung. Diese Bissrate kann z. B.bei Bremsen(Diptera, Tabanidae) durch die Zeit bestimmt werden, die eine Fliege zur Verdauungeiner Blutmahlzeit benotigt, oder bei Stechmucken (Diptera, Culicidae) durch dieZeit zur Reifung eines Eigeleges. Die Ubertragungsrate von infizierten Arthropodenzu empfanglichen Wirten ist daher von der Bissrate f31 multipliziert mit der Wahr-scheinlichkeit, dass ein Wirt ernpfanglich ist (also erneut XlN), abhangig.Wir habensomit analog zu den sexuell ubertragenen Krankheiten eine Abhangigkeit der Uber-tragungsrate von der relativen Haufigkeit der Wirte:

(3.33)

In dieser Gleichung steht Y fur die Population der Vektoren. Die gleiche haufig-keitsabhangige Ubertragungsrate gilt ubrigens auch fur die Ubertragung von Parasi-ten von infiziertenWirten zu Arthropoden.Wenn man also die Population der Wirteerhoht, wird nicht die Ubertragungsrate erhoht, sondern die Anzahl Bisseoder Stiche

Page 57: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

Zeit

3.6 Mutualismus

3.19 Populationsdynamik von Wirtund Parasit anhand desBasismodells.

151

(3.34)

der Vektorenpopulation (die konstant bleibt) wird auf die Wirtspopulation verteilt .Damit verringert sich die Wahrscheinlichkeit, dass ein bestimmtes Wirtsindividuuminfiziert wird. Ebenso sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass ein bisher unbefallener Vek-tor mit Parasiten infiziert wird. Die Nettoreproduktionsrate ~ hangt yom Verhaltnisder Vektorenpopulation zur Wirtspopulation oder, anders ausgedruckt, von derAnzahl Vektoren pro Wirt (NJNh) ab:

Ro=f3d32N v DNh

Die kritische Schwellendichte gibt in diesem Fall das Verhaltnis Vektoren pro Wirtan, unter dem sich eine Infektion eines von Arthropoden ubertragenen Parasitennicht endemisch in einer Population halten kann (Ro= 1):

(3.35)

3.6 MutualismusAls Mutualismus werden Wechselwirkungen zwischen zwei (oder mehreren) Artenbezeichnet, deren Vorteile normalerweise die jeweiligen Nachteile uberwiegen. Mankann sich Mutualismen vielleicht am besten als biologische Markte (biological mar-kets) vorstellen, auf denen Arten ihren Partnern Waren oder Dienstleistungen anbie-ten, die fur sie selbst relativ billig herzustellen oder zu erbringen sind , im Austauschgegen andere Waren/Dienstleistungen, die fur sie selbst teuer oder sogar unmoglichzu produzieren oder zu leisten sind (Noe und Hammerstein 1994, Schwartz undHoeksema 1998). In dieser Sichtweise fasst man Mutuali smus als gegenseitiges Aus-

Page 58: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

152 3 Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

beuten (reciprocal exploitation) der Partner auf, wovon in der Summe beide profitie-reno

3.6.1 Einteilung von Mutualismen

Eine fruhe Einteilung der Mutualismen wurde nach der Starke der Bindung vorge-nommen. Wenn eine Art ohne ihren mutualistischen Partner nicht uberlebensfahigist, spricht man von einem obligaten Mutualismus. Ein Beispiel hierfur waren vieleSymbiosen (z. B. Darmbakterien-Wiederkauer, Mitochondrien/Chloroplasten-euka-ryotische Zelle, Blattschneiderameisen-Pilz). Haufig konnen Arten allerdings auchohne ihre mutualistischen Partner uberleben. Derartige Beziehungen nennt manfakultative Mutualismen. Zu diesen zahlen unter anderem viele Ameisen-Blattlaus-Mutualismen. Mutualismen gelten aufserdem als fakultativ, wenn der eine Partnernicht auf eine bestimmte Art als Mutualist angewiesen ist, sondern auf andere Artenausweichen kann. In Bestauberrnutualismen sind in der Regel sowohl die Pflanzendarauf angewiesen, bestaubt zu werden, als auch die Bestauber, Nektar als Futterquellezu erhalten. Beide Parteien sind allerdings bis auf wenige Ausnahmen nicht an einebestimmte Art der mutualistischen Partner gebunden; die Bestauber konnen ihrenBedarf an Nektar von mehreren Pflanzenarten decken, und Pollen kann von mehre-ren Bestauberarten ubertragen werden. Der Mutualismus ist hier nicht artspezifisch ,sondern auf eine ganze Gruppe ausgerichtet. Ahnliches gilt z. B.auch fur den Mutua-lismus zwischen Pflanzen und Mykorrhizapilzen, die die Pflanzen mit dem fur siehaufig limitierten Mineral Phosphor versorgen und dafur im Gegenzug Kohlenhy-drate erhalten. Sowohl Pflanzen als auch Pilze konnen oft mit verschiedenen Partnerneine Beziehung eingehen, dabei kann ein und dasselbe Pilzindividuum gleichzeitigeine Assoziation mit mehreren Pflanzenarten eingehen . Ein Mutualismus kann auchfur die eine Art obligat sein, wahrend er fur die andere fakultativ ist; einige Pflanzenz. B.versehen ihre Samen mit Olkorperchen (Elaiosomen), die von Ameisen als Nah-rung in ihren Bau eingetragen werden. Die Pflanzen sind darauf angewiesen, auf dieseWeise ihre Samen zu verbreiten (obligat) , wahrend die Ameisen eine Vielzahl vonNahrungsquellen konsumieren und die Elaiosomen nur fakultativ nutzen.Die Vielzahl der in Mutualismen ausgetauschten Waren oder Dienstleistungen tei-

len sich in nur drei Klassen ein: Schutz vor Feinden, Transport und Nahrung (Bron-stein 2001). Zu den Mutualismen, in denen ein Partner dem anderen Schutz gewahrt(Schutzmutualismen), zahlen Ameisen, die Homopteren (Blattlause und anderePflanzensauger), Blaulingsraupen oder Pflanzen vor ihren naturlichen Feinden schut-zen, aber auch Arten, die andere von ihren Parasiten befreien (Putzer) . Putzer gibt esunter den Fischen und Vogeln. Transportmutualismen sind solche, in denen der Vor-teil des einen Partners daraus besteht, dass entweder er selber oder seine Gameten aneinen Ort gebracht werden, der bessere Entwicklungs- oder Reproduktionsmoglich-keiten bietet. Zu den bekanntesten Beispielen dieser Kategorie zahlen Bestaubung undSamenverbreitung durch Tiere (Zoochorie). Die dritte Klasseumfasst Nahrungsmu-tualismen, in denen eine Art einer anderen Nahrung zur Verfugung stellt. Bestaubungund Samenverbreitung sind aus der Sichtweise der Tiere Nahrungsmutualismen, beider Assoziation von Pflanzen mit Mykorrhizapilzen sogar aus der Sichtweise beider

Page 59: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

3.6 Mutualismus

Partner. Auch die Beziehung zwischen Menschen und Kulturpflanzen und -tierenkann als wechselseitiger Nahrungsmutualismus aufgefasst werden.

3.6.2 Mutualismen sind kontextabhanqlq

Mutualismus wird haufig als eine Form der lnteraktion zwischen zwei Arten darge-stellt, in der sich unter dem Strich fur beide Partner ein Vorteil ergibt. Wenn wirjedoch Mutualismus aus einer Kosten-Nutzen-Perspektive betrachten, wird schnellklar, dass sowohl die Kosten als auch der Nutzen fur die Beteiligten von okologischenUmgebungsfaktoren abhangen. Wie groB der Vorteil einer Pflanze aus einer Bezie-hung zu einem Mykorrhizapilz ist, hangt davon ab, ob der Boden, in dem sie wachst,phosphatreich oder -arm ist. 1st er phosphatreich, kann eine mutualistische Bezie-hung zwischen beiden sogar in eine parasitische umschlagen. Ebenso haben Blau-lingsraupen nur dann einen Nutzen von Ameisen, die sie bewachen, wenn ihre Feindein der Umgebung tatsachlich vorhanden sind. Ansonsten entstehen fur die Blaulings-raupen nur Kosten, denn sie mussen Sekrettropfen produzieren, urn Ameisen alsBewacher zu rekrutieren. Wie hoch nun andererseits die Kosten fur eine Produktionvon Sekrettropfen sind, hangt wiederum von der Menge und Qualitat der Nahrungder Raupen abo Wenn also Kosten und Nutzen je nach Situation variieren, wird auchdas Resultat der Interaktion nicht immer gleich sein (Bronstein 1994). Der Vorteil,den die Arten aus einer lnteraktion ziehen, mag daher manchmal groB und manch-mal kleiner sein, in man chen Fallen wird sogar die mutualistische lnteraktion voneiner antagonistischen abgelost,Die Tatsache, dass Kosten und Nutzen variieren, heiBt nicht, dass das Resultat einer

derartigen lnteraktion unvorhersehbar ware. Ein wichtiger Faktor ist z. B. das Sta-dium, in dem sich die Partner befinden, ihr Alter oder ihre GroBe.Einige Pflanzenar-ten werden von Ameisen, die an extrafloralen Nektarien Nahrung finden, vor ihrenHerbivoren geschutzt. Die Nektarmenge als Belohnung fur den Dienst der Ameisenhangt aber von der GroBe der Pflanze ab, dies gilt besonders bei Baumen. KleinePflanzenindividuen produzieren dabei so wenig Nektar, dass sie kaum von Ameisenbelaufen werden. Dementsprechend werden auch die Herbivorenpopulationen aufkleinen Pflanzen kaum reduziert. GroBe Baume hingegen produzieren zwar genugNektar, allerdings ist hier die zu patrouillierende Pflanzenoberflache zu grofs, als dasssie effektiv durch Ameisen von Herbivoren geschutzt werden kann. In diesem Fallwerden Baume mittIerer GroBe am meisten von einer Assoziation mit Ameisen profi-tieren. Auch abiotische Faktoren konnen das Resultat einer mutualistischen Interak-tion beeinflussen. Pflanzen, die an sehr trockenen Standorten stehen, produzierenz. B. weniger Nektar, der zudem noch einen geringeren Zuckergehalt hat. Auch derBedarf an Mutualisten kann von den Standortbedingungen abhangen, Pflanzen, diein phosphatreichen BOdenwachsen, haben einen geringeren Bedarf an Mykorrhiza-pilzen als Pflanzen, die in armen Boden wachsen. Tatsachlich versuchen Pflanzen,wenn ihrer Erde Phosphat zugefugt wird, die Verbindung zu ihrer Mykorrhiza zu kap-pen.Weiter konnen dritte Arten durch ihre Anwesenheit und Haufigkeit einen Mutua-

lismus beeinflussen. Dies gilt insbesondere fur Schutzmutualismen, die nur dann

153

Page 60: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

154 3 Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

einen Vorteil fur den Beschutzten bieten, wenn dessen Feinde anwesend sind und inso hoher Dichte vorkommen, dass der Schutz sein Uberleben wesentlich steigert.SchlieBlich kann das Resultat einer mutualistischen Interaktion von der Haufigkeitder Mutualisten selbst abhangen. Beigeringen Dichten des Partners steigen haufig dieVorteile fur den einzelnen Mutualisten zunachst an, sinken dann aber mit steigenderDichte wieder und konnen sich sogar in Nachteile verwandeln, wenn der Partner sehrhohe Dichten erreicht. Dies gilt besonders fur Interaktionen, in denen ein Partnerdem anderen als Belohnung eine Nahrung zur Verfugung stellt. BeiYuccapalmen undihren Bestaubern steigt zunachst der Vorteil fur die einzelne Pflanze (d. h. ihre Samen-produktion) mit steigender Mottendichte an. Wenn allerdings zu viele Motten eineYuccapflanze bestauben, nimmt der FraBdruck auf die Samenanlagen zu und diePflanzen produzieren weniger Samen als bei geringeren Dichten.1mGegensatz zu Wechselwirkungen wie Pradation oder Konkurrenz, deren Ergeb-

nis fur die Beteiligten weit weniger variabel ist, scheinen Interaktionen, die wir alsmutualistisch bezeichnen, in ihrem Nettoergebnis sehr stark kontextabhangig zu sein.Dies gilt sowohl fur die Starke des Resultats (also die GroBe des Vorteils) als auch furdas Vorzeichen (manchmal kann sich ein Mutualismus auch zu einer einseitig nach-teiligen Beziehung entwickeln, .. Tab. 3.2b).

3.6.3 Ausnutzung von Mutualismen

Ein grofses Dilemma in unserem Verstandnis von mutualistischen Beziehungen ist,dass theoretische Modelle, die mechanistische Vorstellungen von solchen Beziehun-gen enthalten, Schwierigkeiten haben , sie als stabile Systeme zu charakterisieren,sowohl im evolutionaren als auch im okologischen Sinn. Somit sollten Mutualismenin unserer Vorstellung langfristig entweder durch andere Formen der Interaktionersetzt werden (nach den Modellen haufig durch Parasitismus) oder einfach nichtbestehen konnen und aussterben. Diese theoretischen Vorhersagen stehen im Gegen-satz zur Allgegenwartigkeit mutualistischer Beziehungen in der Natur, deren Existenzman nur schwer als kurzfristige Ubergangsstadien abtun kann. Urn diese Diskrepanzzu verstehen, mussen wir erst einmal verstehen, warum Mutualismen unserer Vor-stellung nach nicht stabil sind . Kommen wir dazu nochmals auf unser biologischesMarktmodell (S. 151) zuruck. Mutualisten bieten hier Waren oder Dienstleistungenan, urn im Austausch fur sie wertvolle oder essenzielleWaren oder Dienstleistungenzuruckzubekomrnen. Ein derartiges System ladt dazu ein, von Individuen unterwan-dert zu werden, die sich dasAngebot der Mutualisten aneignen, ohne dafur im Gegen-zug ihrerseits einen Beitrag zu leisten. Dieses Verhalten wird Ausnutzung genannt(exploitation) und ist in vielen Mutualismen beschrieben worden (Bronstein 2001).Mutualismen scheinen fast zwangslaufig zu Ausnutzung zu fuhren, Der Nettoeffekt

einer mutualistischen Interaktion ist fur jeden der beiden Beteiligten am grofsten,wenn es ihm gelingt, jeweils den eigenen Vorteil, der vom Partner bezogen wird , beimoglichst geringem eigenen Einsatz zu maximieren. Weil der Einsatz und damit auchdie Kosten des einen Partners aber in der Regel direkt den Vorteil des anderen Part-ners bestimmen, kommt es zu einem Interessenkonflikt zwischen den Beteiligten.Nektar ist z. B. in vielen Bestaubermutualismen einerseits ein Kostenfaktor fur die

Page 61: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

3.7 Wechselwi rkungen Ober mehrere troph ische Ebenen

Pflanze, aber andererseits einer der Vorteile fur den Bestauber, Pflanzen und Bestau-ber entwiekeln daher einen Interessenkonflikt tiber die optimale Nektarmenge proBlute; die Bestauber hatten gern viel Nektar, die Pflanzen moglichst wenig. SolcheKonflikte konnen eine Beziehung im okologischen Sinn destabilisieren. Die Bestauberkonnten z. B.Pflanzen mit geringem Nektarangebot nieht weiter besuehen oder ver-suehen, in einer Weise an die Nektarien zu gelangen, die ihnen eine bessere Nektar-ausbeute errnoglicht, indem sie z. B. den Kelch von auBen durehnagen (Hummeln).Auf diese Weise gelangen sie zwar an den Nektar, umgehen dabei aber die Antherenund Griffel, sodass die Bestaubung nieht mehr gewahrleistet ist. In beiden Fallen sinddie Bestauber keine Mutualisten mehr, sondern verhalten sieh antagonistiseh.Aueh im evolutionaren Sinn sollten Mutualismen anfallig fur Ausbeutung sein. Die

Kosten einer mutualistisehen Beziehung fur die Beteiligten sind mannigfaltig undkonnen teilweise erhebliehe Ausmafse annehmen. Dazu gehoren Kosten fur Meeha-nismen, urn Partner anzuloeken und zu belohnen, sowie fur Meehanismen, urn dieeigene Belohnung dureh den Partner effizient zu erhalten. Individuen, die die vomPartner angebotenen Vorteile beziehen und gleiehzeitig ihre eigenen Investitionenreduzieren konnen, genielsen gegenuber Artgenossen einen Selektionsvorteil. Es istalso billiger und damit vorteilhafter, den Partner auszunutzen als zu kooperieren.In der Regel findet man in mutualistisehen Beziehungen diverse Meehanismen, die

Ausnutzung verhindern. Haufig wird der niehtkooperierende Partner best raft, z. B.Mykorrhiza werden von der Pflanze mit weniger Kohlenhydraten versorgt, wenn dieseim Gegenzug nieht genug Phosphat erhalt, oder Bestauber weehseln die Blutenart,wenn diese zu wenig Nektar zur Verfugung stellt. Derartige Bestrafungen fur Nicht-kooperieren sorgen fur Stabilitat in Mutualismen.

3.7 Wechselwirkungen uber mehrere trophischeEbenen

In den vorangehenden Absehnitten haben wir bereits einige Male gesehen, dass in derNatur haufig mehr als zwei Arten miteinander interagieren. Dureh Erganzung vonZwei-Arten-Interaktionen urn eine oder zwei weitere Arten erhalt man so genannteGemeinsehaftsmoduIe (community modules;Holt 1997;~ Abb. 3.20). Diese Modulebilden die Bausteine von naturlichen Lebensgemeinsehaften bestehend aus vielenArten, und deren Analyse bildet eine Zwisehenstufe zum Verstandnis des Verhaltensganzer Gemeinsehaften. Beispiele fur haufige Gemeinsehaftsmodule sind in Abbil-dung 3.20 dargestellt. Manehe naturliche Systeme ahneln an sieh schon starkbestimmten Gerneinschaftsmodulen, z. B. wenn ein Teil einer naturlichen Artenge-meinsehaft, bestehend aus nur wenigen Arten , untereinander starke Weehselwirkun-gen zeigt, mit anderen Arten jedoeh nur sehwaeh interagiert. Dies ist bei vielen Wirt-Parasit/Parasitoid-Beziehungen der Fall, weil Vertreter dieser Gruppen haufig starkspezialisiert sind und daher mit anderen Arten eher sehwaehe Weehselwirkungenhaben. Aueh wenn Gemeinsehaftsmodule noeh nieht die Kornplexitat vieler natur-lieher Lebensgemeinsehaften adaquat widerspiegeln, zeigen sie grundsatzliche Pro-zesse und qualitative Eigensehaften komplexer Gemeinsehaften auf, die aus den Zwei-

155

Page 62: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

156 3 Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

rRauber

rBeute

• Ressource

a) Nahrungskette

\/ Rauber

Beute/Ressource

c) Ausbeutungskonkurrenz

oberer Rauber

1:>- mittlerer Rauber

Ressource

e) Intraguild predation

A Rauber

• • Beute

b) apparente Konkurrenz

A Rauber

\/Beute

• Ressource

d) Pradation aufkonkurrierende Beute

3.20 BeispielefOr Gemein-schaftsmodule (community modu-les), in denen indirekte Interaktio-nen zwischenArten eine wichtigeRolle spielen.

Arten-Interaktionen nicht ersiehtlich waren. Insbesondere wird die Bedeutung vonindirekten Interaktionen, also Auswirkungen von einer Art auf eine andere, ohnedass diese jemals direkt in Kontakt kommen, in komplexen Gemeinschaften deutlich.Wenn innerhalb von Gemeinschaftsmodulen Wechselwirkungen zwischen mehre-

ren Arten tiber mehr als zwei trophische Ebenen verteilt sind, werden sie multitro-phische Interaktionen genannt. Im einfachsten Fall haben wir eine lineare Nah-rungskette tiber drei trophische Ebenen (tritrophisch; ~Abb. 3.20). Das bekanntesteBeispiel ist die Interaktion zwischen Pflanzen, ihren Herbivoren und deren natur-lichen Feinden. Auch wenn wir die einzelnen Vertreter und ihre paarweisen Interak-tionen bereits kennen gelernt haben, konnen wir daraus nieht unbedingt das Verhal-ten einer Nahrungskette mit drei Arten vorhersagen .

3.7.1 Kaskadeneffekte einzelner Populationen

Die uberzeugendsten Beispiele fur trophische Kaskaden kommen aus dem aquati-schen Bereich. In Seen, Flussen und auch im Kustenbereich gibt es haufig natiirlichelineare Nahrungsketten, die von wenigen Arten gebildet werden. In der Wassersaulevon Seen wird das Phytoplankton, das als Primarproduzent an der Basis steht , vondem etwas grofseren Zooplankton gefressen,welches wiederum planktivoren Fischenals Nahrung dient . Durch ihre Pralsaktivitat halten die planktivoren Fische das Zoo-plankton in einer niedrigen Dichte, sodass das Phytoplankton grofse Populations-dichten erreicht und das Wasser trubt. Durch Besatz mit grofseren Fischen, die die

Page 63: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

3.7 Wechselw irkungen uber mehrere trophische Ebenen

kleinen planktivoren Fische fressen, lasst sich die Kaskade umkehren (Carpenter undKitchell 1993): Der primare Rauber (planktivore Fische) wird durch den sekundarenRauber in Schach gehalten , sodass das Zooplankton sich vermehren kann und dasPhytoplankton auf niedrigem Niveau halt; das Wasser des Sees erscheint wieder klar.Eines der beruhmtesten Beispiele fur eine trophische Kaskade aus dem maritimen

Bereich ist die Pradation von Seeottern (Enhydra lutris) auf herbivore Seeigel (Echi-noidea), die in Abwesenheit der Rauber verhindern, dass sich Walder aus GroBalgen(Nereocystis- und Laminaria-Arten) bilden konnen ( ~Abb. 3.21, Estes und Duggins1995). Auf Salzwiesen in der Gezeitenzone an der Ostkuste Amerikas wird dasSchlickgras (Spartina alterniflora) durch Schnecken der Gattung Littoraria geschadigt ,die zwar keine groBen Mengen Gras fressen, aber durch ihren FraBschaden Eintritts-wunden fur Faulnispilze schaffen (die Schnecken ernahren sich eigentlich von totemorganischen Material) und somit die Primarproduktion drastisch reduzieren konnen(Silliman und Bertness 2002). Salzwiesenbereiche, von denen die naturlichen Feindeder Schnecken (z, B. die Blaue Krabbe, Callinectes sapidus) ausgeschlossen wurden,sind innerhalb weniger Monate komplett von Vegetation befreit (~ Abb. 3.21).Auch in rein terrestrischen Systemen sind viele trophische Kaskaden beschrieben

(Schmitz et al. 2000). Besonders Ameisen haben sich als effektive Rauber herausge-

157

a b

+

3.21 Beispiele fur trophischeKaskaden. a) marin: Seeotter, See-igel und Braunalgen , b) terres-trisch: Strandkrabben, Schneckenund Schlickgras.Vergleiche Text.

Page 64: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

158 3 Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

stellt, die Pflanzen vor herbivoren Arthropoden schiitzen. Doch auch Vogel oderEidechsen sowieSpinnen konnen nachweislich dieseRolle iibernehmen.Eine generelle Frage in der Okologie ist, ob Populationen eher durch ihre

Ressourcen, also von der unteren trophischen Ebene (bottom-up control), oder durchihre natiirlichen Feinde, also von der oberen trophischen Ebene (top-down control) ,limitiert sind. DieAnhangervon top down-Kaskaden gehen davonaus, dassPflanzenund Rauber durch ihre Ressource limitiert sind,wahrend Herbivorendurch ihre Rau-ber begrenzt werden. Die Rauber regulieren die Herbivoren und niitzen damit denPflanzen. DieArgumentation zu topdown-Kaskaden geht auf dieAusfuhrungen vonHairston et a1. (1960) zuruck, die auf Seite162genauer besprochenwerden.AIle obenerwahnten Beispiele werdenvon den jeweiligenAutorenals topdown-Kaskaden inter-pretiert. Doch trotz der vielen direkten experimentellen Hinweise auf das Vorkom-men und die Bedeutung von top down-Kaskaden gibt es einige Beobachtungen,diesich nur schwierig mit der Wirkungsweise solcher Kaskaden in Einklangbringen las-sen.Einen alternativen Erklarungsansatzfindet man in so genannten bottom up-Kas-

kaden, die davon ausgehen,dass dieAbundanzen hoherer trophischer Ebenen durchdie Abundanz der niedrigsten Ebene geregelt wird. In vielen Lebensraumen gibt esBeispiele fur eine Regulierung der Primarproduktion durch dieRessourcen im BodenoderWasser, alsoeine bottom up-Regulierung der Primarproduktion (Polis1999).DernahrstoffreichsteOzean enthalt im Durchschnitt nur 0,00005 % Stickstoff, was etwa1/10000des Stickstoffs in der oberen Bodenschichtan Landentspricht. Dementspre-chend gering ist auch die Dichte an Primarproduzenten (Algen) im Meerwasser, wassich in der generell blauen FarbedesMeerwassers widerspiegelt (d. h. esenthalt kaumpflanz1iche Schwebstoffe). Eine gesteigerte Primarproduktion im Meer und damiteineVerfarbung desWassers (z. B. so genannte "rote Tiden",verursacht in erster Liniedurch Dinoflagellaten) findet nur in Bereichen erhohten Nahrstoffeintragsstatt, z.B.in Bereichen mit Auftriebvon Tiefenwasser oder in der Nahe von Flussmiindungen,die Nahrstoffeaus dem terrestrischen Bereich eintragen (S.218).Doch die Primarproduktion ist auch in vielen terrestrischen Systemen nahrstoffli-

mitiert. Wahrend sich Bereiche hoher Primarproduktion durch dunkle Boden, diereich an organischenSubstanzenund Nahrstoffensind, auszeichnen,sind nahrstoffli-mitierte Zonen durch anorganische und mineralischeBoden von vielfach roter oderweifser Farbegekennzeichnet. EinbekanntesBeispiel istder tropischeRegenwald, des-sen rote BodendieNahrstofflimitierungwiderspiegeln, bcsondersnachdem dieNahr-stoffe des Systems verbrannt und weggeschwemmt odcr dem System in Form vonlandwirtschaftlichenProdukten, Holz oder Viehentrissenwurden.Die Produktivitat bleibt in vielenSystemen nur durch einen Nahrstoffeintragvon

aufsen (allochthon) erhalten. Der Regenwald imAmazonaskann z. B.seineProdukti-vitat nur deshalb erhalten,weiler den grofsten Teil seines Phosphors von Staubparti-keln aus der Sahara erhalt (Swap et a1. 1992).Wenn die Primarproduktion in vielenSystemen durch Zugabe von Nahrstoffen erhoht werden kann, konnen die Pflanzenin diesen Systemen nicht durch Herbivoren limitiert sein, sondern sind durch ihreRessource limitiert, alsodurch bottom up-Prozesse. Es stellt sich die Frage, ob in die-sen Systemen auch diehoheren trophischen Ebenendurch ihre Ressourcenund damitletztlich durch die Primarproduktion limitiert sind. Befurwortervon bottom up-Kas-

Page 65: Ökologie kompakt || Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

3.7 Wechselwirkungen uber mehrere trophische Ebenen

kaden gehen davon aus, dass Herbivoren und ihre Rauber durch die Pflanzenbio-masse reguliert werden .

3.7.2 Nahrungsnetze

Betrachtet man die Nahrungszusamrnenhange einer Lebensgemeinschaft von Arten,erhalt man ein Nahrungsnetz (food web). Nahrungsnetze sind nach dem Prinzip .werfrisst wen" aufgebaut. Sie sind damit komplexer als Gemeinschaftsmodule. InGemeinschaftsnetzen (community webs) bemuht man sich, aIleArten eines Standor-tes zu berucksichtigen. Der Grundgedanke, der hinter den meisten Nahrungsnetzensteht, ist die Beschreibung der kompletten trophischen Beziehungen aller Arten einesStandortes, Habitats oder Lebensraums. Fur manche Fragestellungen wird nur einAusschnitt aller vorhandenen Arten des Standortes gewahlt, Manchmal interessiertman sich nur fur die naturlichen Feinde einer Art (Wirt, Beute) oder eines Arten-komplexes (z. B. Parasitoide von Blattminierern). In einem solchen Fall spricht mannicht mehr von Gemeinschaftsnetzen, sondern von Herkunftsnetzen (source webs).Wenn man Nahrungsnetze zusammenstellt, muss man naturlich wissen, welcheArt

von welcher gefressen wird. Dies korrekt festzustellen, ist in der Praxis nicht immereinfach. Die trophischen Beziehungen, die in einem Nahrungsnetz dargestellt sind,beruhen daher nicht immer auf direkten Beobachtungen von Rauber-Beute-Bezie-hungen. Besonders bei kleinen oder kryptischen Arten, deren Nahrungserwerb imFreiland schwierig zu beobachten ist, werden trophische Beziehungen haufig indirektaus FraBexperimenten oder aus Literaturangaben zu dieser oder ahnlichen Artengefolgert. Man unterscheidet drei Datenqualitaten (Hall und Raffaelli 1997):

• Empirische Netze. AIletrophischenVerbindungen (trophic links) basieren auf tat-sachlich gefundenen Rauber-Beute-Beziehungen, z. B. durch Darmuntersuchun-gen, FraBexperimente, Beobachtungen.

• Wahrscheinliche Netze. Die meisten Verbindungen basieren auf tatsachlich gefun-denen Rauber-Bente-Beziehungen, manche Verbindungen (z. B. schlecht unter-suchte Arten) basieren auf Expertenwissen oder Literaturangaben zur Nahrungs-breite der betrachteten Art oder nah verwandter Arten .

• Imaginare Netze. Artenaufnahme basiert auf Artenlisten eines Standortes, aIle tro-phischen Verbindungen basieren nur auf Expertenwissen oder Literaturangabenzur Nahrungsbreite.

Darstellung von qualitativen Nahrungsnetzen

In qualitativen Nahrungsnetzen werden aIle trophischen Verbindungen zwischenden Taxa eines Nahrungsnetzes gleich stark gewichtet, also nur ihre An- bzw. Abwe-senheit berucks ichtigt (presence-absence) . Qualitative Nahrungsnetze werden haufigals Organigramme dargestellt, in denen Raubertaxa mit ihren Beutetaxa durch Stri-che verbunden sind. Die Raubertaxa stehen dabei immer uber ihren Beutetaxa, sodasseindeutig ersichtlich ist, wer wen frisst ( ~Abb. 3.22). Die trophische Position einesTaxons wird ermittelt nach der Anzahl Kettenglieder in der langsten Nahrungskette

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160 3 Wechselwirkungen zwischen versch iedenen Arten

3.22 Qualitatives Nahrungsnetz der 33 wichtigsten Taxa aus dem mesohalinen Okosystemder Chesapeake Bay,Washington als Organigramm. 1 Phytoplankton, 2 Bakterien anSchwebepartikeln, 3 Sedimentbakterien, 4 benthische Aigen, 5 freischwebende Bakterienin der Wassersaule, 6 heterotrophe Mikroflagellaten, 7 Mikrozooplankton, 8 Zooplankton,9 Ctenophora, 10 Quallen (Chrysaora quinquecirrha), 11 andere Filtrierer, 12 Klaffmuscheln(Mya sp.), 13 Austern (Crassostrea virginica), 14 andere Polychaeta, 15 Nereis sp.,16 Macoma spp., 17 Meiofauna, 18 detritusfressende Crustaceen, 19 Krabben (Callinectessapidus), 20 Fischlarven, 21 Heringsartige (Clupeidae), 22 Anchovis (Anchoa mitchillt).23 Menhaden (Brevoortia tyrannus), 24 Amerikanischer Maifisch (Alosa sapidissima),25 Micropogonius undulatus, 26 Amerikanische Seezunge (Trinectes maculatus), 27 Leiosto-mus xanthurus, 28 Seebarsch (Morone americana), 29 Arius felis, 30 Blaufisch (Pomatomussaltatrix), 31 Adlerfisch (Cynoscion aregalis), 32 Flunder (Paralichthys dentatus), 33 Streifen-brassen (Morone saxatilis). Nach Bersier et al. (2002).

von dem betreffenden Taxon zu einem basalen Taxon plus 1. Qualitative Nahrungs-netze sind relativ einfach zu konstruieren und daher auch am haufigsten in der Lite-ratur zu finden.Die unterste Ebene in Nahrungsnetzen wird von den Primarproduzenten besetzt.

Diese kann man nach der Herkunft ihrer Energiequelle in autotrophe und heterotro-

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3.7 Wechselwirkungen Ober mehrere trophische Ebenen

phe Gruppen einteilen. Die erste Gruppe wird von den Pflanzen besetzt (AusnahmeChemoautotrophe), die zweite von Zersetzern. Beide Gruppen teilen das Netz in Kon-sumenten ein, die entweder aufbasalen Ressourcen von Pflanzen oder von Zersetzernangewiesen sind . Detritus und Pflanzen und die von ihnen abhangigen Konsumen-tenketten bilden zwei Energiekanale (energychannels), und der Grad der Vernetzungzwischen diesen spielt eine wichtige Rolle in der Stabilitat der Lebensgemeinschaft(Moore und De Ruiter 1997) und der Fahigkeit, die Abundanz der Ressource zu kon-trollieren (Polis 1999). Wenn die Energiekanale weitgehend getrennt sind, sprichtman von kompartimentierten Systemen, sind sie miteinander verzahnt, von ver-nctzten Systemen. In aquatischen Systemen findet man eher kompartimentierteStrukturen, in terrestrischen eher netzartige.

Beschreibung von qualitativen Nahrungsnetzen durch Indices

Nahrungsnetze sind komplexe Objekte. Urn okologisch bedeutsame Schliisse aus die-ser Vielfalt ziehen zu konnen, wurden Indices entwickelt, mit deren Hilfe dieZusamrnenhange in Nahrungsnetzen beschrieben werden konnen.Die erste Gruppe von Indices beschaftigt sich mit den Eigenschaften der beteilig-

ten Taxa. In einem Nahrungsnetz kann man Taxa anhand ihrer trophischen Stellungin obere (top),mittlere (intermediate) und untere (bottom) Taxa einteilen. Ein oberesTaxon hat nur Verbindungen zu Beutetaxa (dargestellt als N), aber nicht zu Raubern(P), ein unteres Taxon hat nur Verbindung zu Raubern, aber nicht zu Beutetaxa, undmittlere Taxa haben Verbindungen sowohl zu Raubern als auch zu Beutetaxa . DasVerhaltnis von oberen (% 0) zu mittleren (% M) und zu unteren (% U) Taxa bildeteinen Index. Auch das Verhaltnis von Beute- zu Raubertaxa (NIP = [% M +% U] I[% 0 +% M)) wird als wichtiger Index haufig genannt. In verschiedenen Nahrungs-netzen liegt das Verhaltnis Beute- zu Raubertaxa etwa bei 1, was bedeutet, dass Taxaim Durchschnitt etwa genauso viele Rauber- wie Beutetaxa haben. Die VerletzlichkeitV (vulnerability) steht fur die mittlere Anzah1 Rauber pro Beute und wird aus derAnzahl aller Rauber-Beute-Beziehungen (die Anzahl aller Verbindungen I) geteiltdurch die Anzahl aller unterer und aller mittlerer Taxa (nu + nm ) berechnet:

IV= - - (3.36)nu+nm

Die Generalitat G (generality) bezeichnet umgekehrt die mittlere Anzahl Beutetaxapro Rauber und berechnet sich dementsprechend aus der Anzahl aller Rauber-Bente-Beziehungen geteilt durch die Anzahl aller oberen und mittleren Taxa:

161

(3.37)

Eine zweite Gruppe von Indices beschreibt Eigenschaften der trophischenVerbin-dungen. Diese berechnen sich aus der Anzahl Verbindungen (I) und der Anzahl betei-ligter Taxa (s) im betrachteten Nahrungsnetz. Die Verbindungsdichte (link density)wird einfach als IIsberechnet. Ein MaB fur die Vemetzungsstarke (connectance) kannman aus der Anzahl tatsachlicher Verbindungen geteilt durch die Anzahl moglicherVerbindungen (inklusive kannibalistischer Verbindungen) bilden (ll s-). Indices zu

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162 3 Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

Verbindungseigensehaften von Nahrungsnetzen spielen eine zentrale Rolle in unse-rem Verstandnis der Stabilitat und Struktur von Lebensgemeinsehaften (Pimm 1984,Martinez 1992).Eine dritte Gruppe Indices betrifft die Eigensehaften von Nahrungsketten. Eine

Nahrungskette ist ein Weg im Nahrungsnetz von einem beliebigen Taxon herab zueinem unteren Taxon. Eine Nahrungskette, die ein oberes mit einem unteren Taxonverbindet, wird eine maximale Nahrungskette genannt. Die Anzahl maximaler Nah-rungsketten, deren durehsehnittliche Lange und Standardabweiehung (als MaB furdie Variabilitat: bei groBer Standardabweichung gibt es lange und kurze Ketten, beikleiner Standardabweiehung hauptsachlich Ketten mit einer bestimmten Lange)sowie die Lange der langsten Kette sind haufig benutzte Indices. Diese Eigensehaftenvon Nahrungsketten sind ein MaB fur die Komplexitat eines Nahrungsnetzes.

3.7.3 Kaskadeneffekte trophischer Ebenen

Urn der Vielfalt in Nahrungsnetzen Herr zu werden und generelle Muster besser zuerkennen, werden haufig Arten mit ahnlicher Form der Nahrungsaufnahme zu dis-kreten trophisehen Ebenen zusammengefasst. Man sprieht also von der Ebene der Pri-marproduzenten, Primarkonsumenten usw. als Ganzes, d. h. die Gemeinsehaften derPflanzen, Herbivoren und Rauber werden als einheitliehe trophisehe Ebenen betraeh-tet (S. 220).Ausgehend von diesem Konzept der trophisehen Gemeinsehaftsebenen wurden

zweibedeutende Hypothesen formuliert, die einen groBen Einfluss auf die Denkweisevon Lebensgemeinsehaften und Nahrungsnetzen in der Okologie hatten und bisheute haben. Die erste Hypothese wird als die GrOne-Welt-Hypothese bezeiehnet(green worldhypothesis, in der Literatur aueh haufig HSS genannt naeh den Namenihrer Besehreiber Hairston, Smith und Slobodkin, Hairston et al. 1960). Sie versuehtzu erklaren, dass ein GroBteil der Welt grun ist, weil Herbivoren die ihnen zur Verfu-gung stehende Nahrung (Pflanzen) nieht vollstandig ausnutzen, da sie dureh ihreFeinde (Rauber und Parasiten) in niedrigen Populationsdichten gehalten werden. Diedazugehorige Argumentationskette sieht folgendermaBen aus: FossileBrennstoffe rei-chern sieh momentan nicht auf der Erde an, weshalb man sehlieBen kann, dass samt-liehe assimilierte Energie dureh die Biosphare flieBt. Daraus folgt, dass die Organis-men als Ganzes dureh die fixierte Energie, also ressoureenlimitiert sind. Dies gilt ins-besondere fur die Gruppe der Destruenten (S. 108). Herbivoren kommen selten in sogroBen Diehten vor, dass sie KahlfraBverursaehen, und limitieren daher die Gruppeder Primarproduzenten (Pflanzen) nieht. Ebenso wenig wird die Klasse der Primar-produzenten dureh Katastrophen auf einem niedrigen Niveau gehalten, denn Kata-strophen sind vergleichsweise selten. Folglich mussen die Primarproduzenten alsGanzes dureh ihre Ressoureen limitiert sein.WeilHerbivoren unter gewissen Umstan -den durehaus in der Lagesind, einen KahlfraBzu verur saehen, werden sie offensieht-lieh normalerweise nieht dureh ihre Ressouree limitiert. Folglich mussen sie durehihre naturlichen Feinde beschrankt sein. Weil die Gruppe der Rauber und Parasitenihre eigene Nahrungsressouree begrenzt, mussen Rauber und Parasiten als Ganzesdureh ihre Ressouree limitiert sein. Zusammenfassend ergibt sieh also folgendes Bild:

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3.7 Wechselwirkungen uber mehrere trophische Ebenen

Destruenten, Pflanzen und Rauber/Parasiten sind durch ihre Ressourcen limitiert,wahrend die Gruppe der Herbivoren als Ganzes durch ihre naturlichen Feindebegrenzt ist. Die Struktur von Rauber- und Pflanzengemeinschaften wird daher durchinterspezifische Konkurrenz urn die Ressourcen (S. 119) bestimmt, die Struktur vonHerbivorengemeinschaften dagegen durch ihre naturlichen Feinde.Die GrOne-Welt-Hypothese geht von der Existenz dreier trophischer Ebenen aus.

Diese drei Ebenen findet man auch in produktiven Systemen wie Waldern und ihrenSukzessionsstadien. In unproduktiven Systemen (z. B. Halbwiisten, Tundren) beo-bachtet man, dass die Pflanzenpopulationen schon von geringeren Herbivorendich-ten dezimiert werden, als notig waren , urn effektive Rauberpopulationen aufrecht zuerhalten, die die Herbivoren kontrollieren konnten, Aufgrund der Verluste beim Kon-vertieren von Biomasse von einer trophischen Ebene zur nachsten (trophische/oko-logische Effizienz, S. 221) konnen sich in unproduktiven Systemen daher haufig nurzwei oder sogar nur eine trophische Ebene halten.Aus diesen Beobachtungen, dass die Anzahl trophischer Ebenen und damit auch

die Struktur der Lebensgemeinschaften von der Produktivitat des Standortes abhangt,entwickelte sich die so genannte Fretwell-Oksanen-Hypothese (exploitation ecosys-temhypothesis, EEH;Oksanen et al. 1981). Carnivoren konnen sich nur wahrend gele-gentlicher Massenvermehrungen von Herbivoren etablieren, nutzen also das zeitwei-lige Vorhandensein ihrer Ressource nur aus und sind somit ressourcenlimitiert. DieHerbivoren in solchen Systemen sind ebenfalls ressourcenkontrolliert, weshalb Her-bivorengemeinschaften durch interspezifische Konkurrenz strukturiert sein sollten,In unproduktiven Systemen sollten Herbivoren eine klare Nischenaufteilung zeigenund diejenigen Arten, die bei geringen Pflanzendichten existieren und Nahrung nied-riger Qualitat nutzen konnen, sollten am erfolgreichsten sein. Pflanzengemeinschaf-ten sind einem intensiven FraBdruck ausgesetzt und sollten durch apparente Konkur-renz strukturiert werden. In extrem unproduktiven Systemen (z. B. in Polargebieten)kann die knappe Vegetation keine Herbivorenebene mehr unterhalten. Die einzigetrophische Interaktion in diesen Systemen mit einer Ebene findet zwischen Pflanzenund ihren physikalischen Ressourcen statt. Die sparliche Vegetation wird durch Aus-beutungskonkurrenz urn die wenigen vorhandenen Platze, an denen Wachstum mog-lich ist, strukturiert.

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'} Fragen•

3 Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

1. Nennen Sie oko loq ische GrOnde fOr Nahrungsspezialisierung . D2. Erklaren Sie, warum Tiere in der Natur suboptimale Nahrung akzeptieren, auch wenn

optimale Nahru ng nicht selten ist . D3. Nennen Sie die verschiedenen Typen fu nktioneller Reaktionen. und erklaren Sie, wie sie

ent stehen . D4. Beschreiben Sie das Konk urrenzausschlussprinzip, und erk laren Sie, unter welc hen urnstanden

Arten koexistieren konnen, D5. Nennen und erk laren Sie die verschiedenen Arten von Mimikry mit jeweils einem Beispie l. D6. Welche Wege gibt es fu r eine Beuteart. ih ren Raubern zu entkommen? D7. Unter welchen Urnstanden kann ein Rauber eine Beutepopulat ion um ein Gleichgewicht

regulieren? D8. Nennen und erkla ren Sie die drei Wege, wie eine Pflanze auf Herbivorenbefall reagieren

kann . D9. Erklaren Sie den Untersch ied zw ischen Mikro- und Makroparasiten.10. Warum werden Mutualismen hauf iq als instabil angesehen? Wie kann die Stabilitat erhoht

werden? D11. Was ist eine troph ische Kaskade? D12. Erklaren Sie die GrOne-Welt-Hypothese. D

Die Auflosungen der Fragen sind im Internet zu finden (http://www.oekoIogiebuch.unibe.ch).