Ökonomie des Sozialstaats, Friedrich Breyer, Wolfgang Buchholz

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  • Springer-Lehrbuch

  • Friedrich Breyer Wolfgang Buchholz

    konomie des Sozialstaats

    Zweite, berarbeitete Auflage

    123

  • Prof. Dr. Friedrich BreyerUniversitt Konstanz78457 [email protected]

    Prof. Dr. Wolfgang BuchholzUniversitt Regensburg93053 [email protected]

    ISBN 978-3-540-87793-4

    DOI 10.1007/978-3-540-87740-0

    e-ISBN 978-3-540-87740-0

    Springer-Lehrbuch ISSN 0937-7433

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    c 2009, 2007 Springer-Verlag Berlin Heidelberg

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    X

  • Vorwort zur zweiten Auflage

    Die erste Auflage dieses Werks wurde vom Markt so freundlich aufgenommen, dass sich bereits jetzt, kaum zwei Jahre nach ihrem Erscheinen, die Notwendigkeit einer Neuauflage ergab. Wir haben die Gelegenheit dazu benutzt, nicht nur die blichen Kinderkrankheiten einer Erstauflage sorgfltig zu beseitigen, sondern auch die empirischen Angaben zu aktualisieren, insbesondere die zur Entwicklung der Armutsquoten in Kap. 2. Auch bei der berarbeitung haben wir wertvolle Hinweise von Mitarbeitern und Studierenden erhalten. Zu nennen sind hier vor allem Stefan Hupfeld und Dominik Sachs (Universitt Konstanz) sowie Andreas Graichen, Paul Guter und Jan Schumacher (Universitt Regensburg). Das Inhalts-verzeichnis und das Sachregister wurden von Gundula Hadjiani (Konstanz) mit der gewohnten Sorgfalt erstellt, noch immer verbliebene Mngel sind in vollem Umfang den Autoren anzulasten. Konstanz und Regensburg, Friedrich Breyer, im August 2008 Wolfgang Buchholz

    Vorwort zur ersten Auflage

    Der Sozialstaat nimmt in Deutschland wie in vielen anderen Industriestaaten ca. 30% der Wirtschaftskraft in Anspruch. Damit ist er nicht nur der grte Sektor der Volkswirtschaft, sondern seine Gestaltung steht auch seit Jahren im Zentrum der politischen Debatten in unserem Land. Zudem sind die normativen Grundlagen des Sozialstaats und seine Auswirkungen auf die Mrkte seit Jahrzehnten Gegen-stand konomischer Analysen. Dennoch existiert bis heute kein deutsches Lehr-buch, das die konomie des Sozialstaats auf einem wirtschaftstheoretisch gesi-cherten Fundament darstellt. Diese Lcke versucht das vorliegende Werk zu schlieen. Es soll als Grundlage fr Lehrveranstaltungen dienen, die die Theorie der Sozialpolitik im fortgeschrittenen Teil eines Diplom- oder Bachelor-Studiums oder im Master-Studium der Volkswirtschaftslehre behandeln.

    Der vorliegende Text ist aus Vorlesungen hervorgegangen, die die Autoren an den Universitten Konstanz und Regensburg gehalten haben. Er hat von zahlrei-chen Diskussionen mit unseren frheren und jetzigen Mitarbeitern an beiden Uni-versitten erheblich profitiert. Besonderen Anteil an seinem Gelingen hatten Prof.

  • VI Vorwort

    Dr. Mathias Kifmann (Universitten Konstanz und Augsburg), Dr. Eva Ackstaller, Julian Doenecke und Andreas Graichen (Universitt Regensburg), Normann Lorenz, Stefan Hupfeld, Nick Netzer (Universitt Konstanz) sowie Florian Scheuer (Konstanz und MIT). Wertvolle Verbesserungsvorschlge erhielten wir auch von Herrn PD Dr. Robert Fenge (ifo Mnchen) sowie von unseren Studenten, fr die stellvertretend Peter Klisch (Konstanz) genannt sei. Das Manuskript und die Gra-fiken wurden von Mila Bhm, Frauke Kurth (Regensburg) und Gundula Hadjiani (Konstanz) kompetent erstellt, die Endredaktion haben Melanie Zabel und Oliver Knttel (Konstanz) mit groer Sorgfalt durchgefhrt. Etwaige verbliebene Mngel sind in vollem Umfang den Autoren anzulasten. Konstanz und Regensburg, Friedrich Breyer, im September 2006 Wolfgang Buchholz

  • Inhaltsverzeichnis

    1 Einleitung.................................................................................................. 1 1.1 Soziale Sicherung als Teil der Staatsaufgaben:

    Versuch einer Einordnung ................................................................ 1 1.2 Begriff, Grundprinzipien und Instrumente der Sozialpolitik ............ 2

    1.2.1 Der Begriff Sozialpolitik....................................................... 2 1.2.2 Gestaltungsprinzipien der Sozialpolitik ................................ 3 1.2.3 Instrumente der Sozialpolitik ................................................ 4

    1.3 Der quantitative Umfang der Sozialpolitik in Deutschland .............. 5 1.3.1 Status Quo und Entwicklungstendenzen ............................... 5 1.3.2 Fundamentalkrise des Sozialstaates ...................................... 8

    1.4 Elemente einer Theorie der Sozialpolitik.......................................... 9 1.4.1 Normative Rechtfertigungen der Sozialpolitik...................... 9 1.4.2 Positive Erklrungen ber das Zustandekommen

    von Sozialpolitik ................................................................... 10 1.5 Der Aufbau des Buches .................................................................... 11 Literatur ..................................................................................................... 12

    2 Gleichheit und Gerechtigkeit .................................................................. 13 2.1 Vorbemerkung: Die positive Wahrnehmung von Gleichheit

    im Alltagsdenken .............................................................................. 13 2.2 Die Messung von Ungleichheit......................................................... 14

    2.1.1 Das Transferprinzip von Dalton und das Lorenzkurven-Kriterium .......................................... 14

    2.2.2 Absolute vs. relative Gleichheit bei Einkommensnderungen ................................................. 18

    2.2.3 Aggregierte Ungleichheitsmae ............................................ 19 2.2.3.1 Der Variationskoeffizient ....................................... 20 2.2.3.2 Der Gini-Koeffizient .............................................. 21

    2.3 Gesellschaftliche Wohlfahrtsfunktionen ........................................... 23 2.3.1 Utilitaristische Wohlfahrtsfunktion....................................... 23 2.3.2 Ungleichheitsaversion ........................................................... 25 2.3.3 Die Messung von Ungleichheit mit Hilfe

    des Atkinson-Maes.............................................................. 28 2.4 konomische Einwnde gegen eine

    gleichheitsorientierte Umverteilung.................................................. 30 2.4.1 Normative Fragwrdigkeit des Gleichheitsziels ................... 30

  • VIII Inhaltsverzeichnis

    2.4.2 Die Unbestimmtheit des Bezugspunkts fr Umverteilungsmanahmen .............................................. 32 2.4.2.1 Nutzen als Zielgre............................................... 32 2.4.2.2 Einkommen als Zielgre....................................... 33 2.4.2.3 Vermgen als Zielgre ......................................... 34 2.4.2.4 Chancen als Zielgre ............................................ 35

    2.4.3 konomische Grenzen der Umverteilung ............................. 36 2.4.3.1 Unvollkommene Information ................................. 36

    2.4.3.1.1 Das Modell............................................ 36 2.4.3.1.2 Tuschungsanreize der Individuen

    bei unvollkommener Information ......... 38 2.4.3.1.3 Begrenzter Umverteilungsspielraum

    bei unvollkommener Information ......... 39 2.4.3.2 Zusatzlasten ............................................................ 40

    2.5 Bekmpfung von Armut als alternatives verteilungspolitisches Ziel ................................................................ 44 2.5.1 Armutskriterien ..................................................................... 44 2.5.2 Numerische Armutsindikatoren ............................................ 45

    2.6 Empirische Befunde.......................................................................... 47 2.6.1 Methodische Vorberlegungen ............................................. 47 2.6.2 Armut und Ungleichheit in Deutschland............................... 49 2.6.3 Armut und Ungleichheit weltweit ......................................... 53

    2.7 bungsaufgaben ............................................................................... 55 Literatur ..................................................................................................... 56

    3 Effizienzorientierte Begrndungen fr Umverteilung.......................... 59 3.1 Spezielle Prferenzen der Individuen................................................ 59

    3.1.1 Altruismus............................................................................. 59 3.1.1.1 Der Fall eines einzelnen Geber-Individuums ......... 59 3.1.1.2 Der Fall mehrerer Geber-Individuen:

    Das Gefangenen-Dilemma ..................................... 61 3.1.1.3 Der optimale kooperative Transfer ......................... 63 3.1.1.4 Andere Strukturen des Spenden-Spiels .................. 64

    3.1.2 Statusorientierung ................................................................. 65 3.2 Die Versicherungsfunktion des Staates............................................. 69

    3.2.1 Das Problem.......................................................................... 69 3.2.2 Wohlfahrtserhhung durch Umverteilung bei Risiko:

    Das Grundmodell .................................................................. 69 3.2.3 Der Zusammenhang mit dem klassischen Utilitarismus

    und der Gerechtigkeitstheorie von Rawls ............................. 72 3.2.4 Die Theorie des Wohlfahrtsstaates von Hans-Werner Sinn:

    Wohlfahrtsgewinne durch erhhte Risikobernahme ........... 73 3.2.4.1 Das Modell ............................................................. 73 3.2.4.2 Der Domar-Musgrave-Effekt ................................. 75 3.2.4.3 Die Wirkung eines Umverteilungsmechanismus.... 77 3.2.4.4 Das Redistributionsparadoxon von Sinn ................ 79

  • Inhaltsverzeichnis IX

    3.3 Verbesserung der Funktionsbedingungen der Marktwirtschaft ........ 81 3.3.1 Verminderung kontrollbedingter Ineffizienzen ..................... 81 3.3.2 Verbesserter Schutz von Eigentumsrechten .......................... 84 3.3.3 Erhhung der individuellen Produktivitt ............................. 86

    3.4 Allgemeine Einschtzung der effizienzorientierten Anstze ............ 87 3.5 bungsaufgaben ............................................................................... 89 Literatur ..................................................................................................... 91

    4 Effizienzgrnde fr die Existenz einer Sozialversicherung.................. 93 4.1 Der erste Hauptsatz der Wohlfahrtskonomik .................................. 93 4.2 Adverse Selektion auf Versicherungsmrkten .................................. 94

    4.2.1 Das Versicherungsmarktgleichgewicht unter idealen Bedingungen.................................................... 94

    4.2.2 Mgliche Versicherungsmarkt-Gleichgewichte bei asymmetrischer Information............................................ 98

    4.2.3 Mgliche Trennlsungen ...................................................... 100 4.2.4 Staatliche Eingriffe zur Allokationsverbesserung ................. 102 4.2.5 Ein anderes Konzept

    von Versicherungsmarktgleichgewichten ............................. 103 4.2.6 Asymmetrische Information als Konsequenz

    staatlicher Regulierung.......................................................... 105 4.3 Verhaltensrisiko auf Versicherungsmrkten ..................................... 105

    4.3.1 Versicherungsnachfrage: Der Fall symmetrischer Information ..................................... 106

    4.3.2 Versicherungsnachfrage: Der Fall asymmetrischer Information ................................... 107

    4.4 Schlussfolgerungen fr Sozialversicherung bei Versagen von Versicherungsmrkten ............................................................... 109

    4.5 bungsaufgaben ............................................................................... 110 Literatur ..................................................................................................... 111

    5 Rentenversicherung ................................................................................. 113 5.1 Einleitung.......................................................................................... 113 5.2 Das Alterssicherungssystem in Deutschland .................................... 115

    5.2.1 Die Gesetzliche Rentenversicherung .................................... 115 5.2.2 Die Riester-Rente .............................................................. 118

    5.3 Die Wahl eines effizienten Finanzierungssystems............................ 118 5.3.1 Die beiden Grundtypen von Alterssicherungssystemen........ 118

    5.3.1.1 Das Kapitaldeckungsverfahren (KDV)................... 118 5.3.1.2 Das Umlageverfahren (UV).................................... 121

    5.3.2 Wohlfahrtsvergleiche zwischen Kapitaldeckungs- und Umlageverfahren............................................................ 124 5.3.2.1 Die kleine offene Volkswirtschaft .......................... 125

    5.3.2.1.1 Exogenes Arbeitsangebot...................... 126 5.3.2.1.2 Endogenes Arbeitsangebot.................... 129

  • X Inhaltsverzeichnis

    5.3.2.2 Die geschlossene Volkswirtschaft .......................... 132 5.3.2.2.1 Das Wachstumsgleichgewicht

    im Modell von Diamond (1965) ........... 132 5.3.2.2.2 Der Einfluss des umlagefinanzierten

    Rentensystems auf die private Ersparnis ............................................... 134

    5.3.2.2.3 Der Einfluss des umlagefinanzierten Rentensystems auf die Steady-State-Wohlfahrt .............................................. 137

    5.3.2.3 Weitere berlegungen zur Reform des Finanzierungsverfahrens .................................. 143

    5.4 Die Begrndung von staatlichem Zwang in der Alterssicherung...... 147 5.4.1 Hufig vorgebrachte Begrndungen ..................................... 147 5.4.2 Altersvorsorge und intergenerativer Altruismus ................... 148

    5.4.2.1 Das Grundmodell ................................................... 149 5.4.2.2 Versicherungszwang und Arbeitsanreize ............... 154

    5.5 Rentenversicherung und Bildungsinvestitionen................................ 157 5.6 Rentenversicherung und Renteneintritt............................................. 160

    5.6.1 Einleitung .............................................................................. 160 5.6.2 Versicherungsmathematische quivalenz ............................ 162 5.6.3 Keine versicherungsmathematische quivalenz ................... 167

    5.7 Rentenversicherung in der Demokratie............................................. 172 5.7.1 Ein Grundmodell................................................................... 172

    5.7.1.1 Modellannahmen .................................................... 172 5.7.1.2 Analyse des Whlerverhaltens................................ 175 5.7.1.3 Das Ergebnis der Abstimmung............................... 177 5.7.1.4 Komparative Statik

    des Abstimmungsergebnisses ................................. 179 5.7.1.5 Das Abstimmungsergebnis

    in einer Gerontokratie............................................. 179 5.7.2 Modellerweiterungen ............................................................ 182

    5.7.2.1 Eine Klassifikation der Modelle der Politischen konomie ...................................... 182

    5.7.2.2 Modelle der intragenerativen Umverteilung........... 183 5.7.2.2.1 Ein Modell der Umverteilung

    zwischen Einkommensgruppen............. 183 5.7.2.2.2 Ein Modell der Umverteilung zwischen

    Kinderreichen und Kinderarmen........... 184 5.8 bungsaufgaben ............................................................................... 185 Literatur ..................................................................................................... 188

    6 Krankenversicherung .............................................................................. 191 6.1 Grnde fr Staatseingriffe................................................................. 191

    6.1.1 Spezieller Altruismus und das Prinzip der Chancengleichheit ........................................................... 191

  • Inhaltsverzeichnis XI

    6.1.2 Spezielle Eigenschaften von Gesundheitsgtern................... 192 6.1.3 Die Relevanz adverser Selektion

    fr Krankenversicherungsmrkte .......................................... 195 6.1.4 Das Prmienrisiko als Motiv fr Staatseingriffe

    im Bereich von Krankenversicherungen ............................... 197 6.1.5 Die Sozialhilfe als Ursache fr Allokationsversagen

    auf dem Markt fr private Krankenversicherungen .............. 202 6.2 Probleme bei der Ausgestaltung von Vertrgen

    im Gesundheitsbereich...................................................................... 207 6.2.1 Moral-Hazard-Phnomene .................................................... 208

    6.2.1.1 Die beiden Typen des Moral Hazard ...................... 208 6.2.1.2 Formen der Kostenbeteiligung der Patienten.......... 209

    6.2.2 Angebotsinduzierte Nachfrage .............................................. 214 6.2.3 konomische Anreize bei verschiedenen

    Entlohnungsschemata fr Leistungsanbieter......................... 218 6.3 Alternative Formen der staatlichen Regulierung

    des Krankenversicherungsbereichs ................................................... 221 6.3.1 Grundlegende Optionen der Gesundheitspolitik:

    Pflichtversicherung oder staatliche Prmienzuschsse?........ 221 6.3.2 Finanzierungsalternativen fr das Gesundheitssystem.......... 224

    6.3.2.1 Die allokativen Nachteile lohnbezogener Beitrge .......................................... 224

    6.3.2.2 Das Kopfpauschalen-Modell .................................. 229 6.4 Gesundheitssysteme in der Praxis..................................................... 235

    6.4.1 Das Gesundheitswesen in Deutschland ................................. 235 6.4.1.1 Versichertenstruktur und Beitragsbemessung ........ 235 6.4.1.2 Leistungsumfang .................................................... 236 6.4.1.3 Organisationsstruktur der GKV.............................. 237 6.4.1.4 Formen der Honorierung medizinischer

    Leistungen im Rahmen der GKV ........................... 239 6.4.1.5 konomische Anreize auf Patientenebene ............. 242

    6.4.2 Das Gesundheitssystem in den USA ..................................... 242 6.5 bungsaufgaben ............................................................................... 244 Literatur ..................................................................................................... 247

    7 Arbeitslosenversicherung und Grundsicherung ................................... 249 7.1 Einleitung.......................................................................................... 249 7.2 Das System der sozialen Sicherung fr Arbeitslose

    in Deutschland .................................................................................. 251 7.2.1 Arbeitslosenversicherung (Arbeitslosengeld I) ..................... 251

    7.2.1.1 Die Versicherten ..................................................... 251 7.2.1.2 Anwartschaftszeit und Bezugsdauer....................... 251 7.2.1.3 Hhe der Ansprche ............................................... 251

  • XII Inhaltsverzeichnis

    7.2.2 Das System der Grundsicherung (Arbeitslosengeld II)......... 252 7.2.2.1 Anspruchsvoraussetzungen .................................... 252 7.2.2.2 Leistungen .............................................................. 252 7.2.2.3 Hinzuverdienstregelungen und zu

    bercksichtigendes Vermgen................................ 252 7.2.3 Ausgaben der Bundesrepublik Deutschland

    fr Arbeitslose....................................................................... 253 7.3 Private oder staatliche Arbeitslosenversicherung:

    Modellanalyse ................................................................................... 253 7.3.1 Modellannahmen................................................................... 253 7.3.2 Das Wettbewerbsgleichgewicht ............................................ 254 7.3.3 Staatlich oder gewerkschaftlich gesetzter Mindestlohn ........ 255 7.3.4 Die optimale Kombination aus Mindestlohn

    und Arbeitslosenversicherung ............................................... 256 7.3.5 Dezentralisierung ber eine private

    Arbeitslosenversicherung ...................................................... 258 7.3.6 Folgerungen fr die Organisation

    der Arbeitslosenversicherung................................................ 259 7.4 Sektorale oder zentrale Arbeitslosenversicherung? .......................... 259

    7.4.1 Sektorale Arbeitslosenversicherung ...................................... 260 7.4.2 Zentrale Arbeitslosenversicherung........................................ 261

    7.5 Grundsicherung fr Arbeitsfhige .................................................... 263 7.5.1 Die Begrndung fr ein staatlich

    garantiertes Existenzminimum .............................................. 263 7.5.2 Effekte der klassischen Sozialhilfe

    auf den Arbeitsmarkt............................................................. 264 7.5.3 Effekte der negativen Einkommensteuer .............................. 267 7.5.4 Zur Berechnung des Anspruchslohns.................................... 270

    7.6 bungsaufgaben ............................................................................... 272 Literatur ..................................................................................................... 274

    8 Familienpolitik ......................................................................................... 275 8.1 Einleitung.......................................................................................... 275 8.2 Familienlastenausgleich und Gerechtigkeit ...................................... 276 8.3 Familienlastenausgleich und Effizienz ............................................. 277

    8.3.1 Das Problem der optimalen Bevlkerungsgre ................... 277 8.3.2 Endogene Fertilitt und intergenerative Transfers ................ 279

    8.3.2.1 Individuelle Fertilittsentscheidungen.................... 279 8.3.2.2 Institutionen und ihre Anreizwirkungen ................. 281 8.3.2.3 Vergleich der Instrumente ...................................... 284 8.3.2.4 Schlussfolgerungen................................................. 284

    8.4 Instrumente der kollektiven Finanzierung der Kinderbetreuung....... 286 8.5 bungsaufgaben ............................................................................... 289 Literatur ..................................................................................................... 289

  • Inhaltsverzeichnis XIII

    9 Zukunftsprobleme des deutschen Sozialsystems ................................... 291 9.1 Einleitung.......................................................................................... 291 9.2 Herausforderung Arbeitslosigkeit ..................................................... 291 9.3 Herausforderung demographischer Wandel...................................... 293

    9.3.1 Ursachen und Indikatoren des demographischen Wandels.................................................... 293

    9.3.2 Reformbedarf in der Sozialen Sicherung auf Grund des demographischen Wandels ............................................. 298 9.3.2.1 Reformbedarf in der Rentenversicherung............... 298

    9.3.2.1.1 berlegungen zur Reform des Finanzierungsverfahrens in der Rentenversicherung..................... 298

    9.3.2.1.2 Weitere Reformen zur Stabilisierung der Rentenversicherung......................... 300

    9.3.2.2 Reformbedarf in der gesetzlichen Krankenversicherung.............................................. 306 9.3.2.2.1 Einflussfaktoren des Beitragssatzes

    zur GKV................................................ 306 9.3.2.2.2 Mgliche Reformstrategien in der

    gesetzlichen Krankenversicherung........ 310 Literatur ..................................................................................................... 313

    Sachverzeichnis ................................................................................................ 315

  • 1 Einleitung

    1.1 Soziale Sicherung als Teil der Staatsaufgaben: Versuch einer Einordnung

    In Deutschland wie in nahezu allen entwickelten Lndern besteht in der Bevlke-rung weitgehende bereinstimmung im Hinblick darauf, dass der Staat eine sozia-le Verantwortung trgt, der er durch entsprechende sozialpolitische Manahmen nachzukommen hat. Nach allgemeinem Verstndnis gilt der Sozialstaat auch heute noch als etwas Positives, whrend die Etikettierung eines politischen Reformvor-schlages als unsozial fast schon einem Totschlagsargument gleichkommt. Dieser Konsens ber die prinzipielle Wnschbarkeit sozialstaatlicher Aktivitten verdeckt aber die erheblichen Unterschiede in den Auffassungen darber, was berhaupt unter Sozialpolitik zu verstehen ist und wie weit diese reichen sollte.

    Aus wissenschaftlicher Sicht ist diese diffuse Wahrnehmung des Problemfeldes hchst unbefriedigend, weil auf einer solchen Basis weder aussagekrftige Analy-sen noch eine serise wirtschaftspolitische Beratung mglich sind. Um zu einem besseren Verstndnis der sozialen Aufgaben des Staates zu gelangen, ist deshalb zunchst eine Begriffsklrung erforderlich, bei der das Handlungsfeld des Sozial-staates in allgemeine konomische Zusammenhnge eingebettet und dabei insbe-sondere vor dem Hintergrund des Marktsystems erfasst wird. Der Ausgangspunkt fr die Charakterisierung und Motivation sozialpolitischer Manahmen besteht dann in der Feststellung, dass der Marktprozess in manchen Situationen zu Vertei-lungseffekten fhren kann, die aus bestimmten Grnden als nicht akzeptabel ange-sehen werden. Die Sozialpolitik lsst sich aus dieser Perspektive dann als Unter-form der Verteilungspolitik begreifen.

    Je nach Standpunkt des Betrachters uert sich diese distributive Unzulnglich-keit des Marktes in ganz verschiedener Weise: So herrscht bei vielen die Auffas-sung, dass die vom Markt sowohl auf weltweiter als auch auf nationaler Ebene zustande gebrachte Einkommensverteilung zu ungleich und damit ungerecht sei, was nur durch staatliche Umverteilungspolitik von oben nach unten behoben wer-den knne. Zudem wird vielfach beklagt, dass in Marktbeziehungen Abhngigkei-ten entstehen und verfestigt werden knnen. Dadurch werde eine Ausbeutung der Schwcheren mglich, die somit des sozialen Schutzes etwa durch das Ar-beits- oder das Mietrecht bedrften.

    Von besonderer Bedeutung fr die Rechtfertigung der zentralen Teile der So-zialpolitik ist schlielich die Feststellung, dass unter bestimmten Bedingungen die

  • 2 1 Einleitung

    Individuen berhaupt nicht in der Lage sind, das zur Sicherung ihres Grundbedarfs ntige Einkommen tatschlich am Markt zu erzielen. Individuen knnen etwa alt werden oder behindert sein und damit zu wenig produktiv sein, um ihren Lebensun-terhalt durch Erwerbseinkommen bestreiten zu knnen. Sie knnen krank und damit arbeitsunfhig werden oder aufgrund unzulnglicher Qualifikation oder ungnsti-ger wirtschaftlicher Entwicklung ihren Arbeitsplatz verlieren oder erst gar keinen bekommen. In besonderen Lebenslagen wie einer mit hohen Behandlungskosten verbundenen schweren Erkrankung oder im Falle der Pflegebedrftigkeit kommt es sogar zu einem zustzlichen Bedarf, der die Finanzierungsmglichkeiten auch des Durchschnittsverdieners vielfach weit bersteigt. Gerade im Hinblick auf solche Notlagen mit extrem hohen Kosten der Existenzsicherung besteht breiter Konsens ber die Notwendigkeit sozialer Schutzvorkehrungen, die von unserem Sozialstaat auch im Wesentlichen gewhrt werden. Ein besonderer Bedarf ergibt sich nach weitgehender Auffassung insbesondere auch dann, wenn aus einem am Markt er-worbenen Einkommen auch andere Personen ohne ausreichendes eigenes Markt-einkommen wie in erster Linie die eigenen Kinder mitversorgt werden mssen. Aus diesem Grund gilt traditionellerweise die Familienfrderung als wichtiges Teilge-biet der Sozialpolitik.

    Wer die Notwendigkeit der Bereitstellung dieser Sicherungsleistungen durch den Staat und damit letztlich durch Ausbung von Zwang gegenber allen Br-gern rechtfertigen mchte, muss allerdings auch nachweisen, dass private Orga-nisationen und Mrkte diese Funktion nicht bernehmen knnen. Fr viele Le-bensrisiken, etwa das Risiko des vorzeitigen Todes oder auch das Risiko der Krankheitskosten, haben sich jedoch bereits seit einem Jahrhundert oder lnger Versicherungsmrkte etabliert, auf denen der Einzelne Sicherungsleistungen in Form von Versicherungsvertrgen durch Zahlung von Prmien erwerben kann. In Anbetracht der Existenz dieser Mrkte ist daher zu begrnden, in wiefern sie un-vollkommen sind und mglicherweise zu einer ineffizienten Risikoallokation fhren. Gelingt es, dies zu zeigen, so hat man neben den oben genannten distribu-tiven Argumenten auch Effizienzgrnde gefunden, die fr die Existenz staatlicher Pflichtversicherungen sprechen.

    1.2 Begriff, Grundprinzipien und Instrumente der Sozialpolitik

    1.2.1 Der Begriff Sozialpolitik

    In der Literatur fehlt es nicht an Definitionen des Begriffs der Sozialpolitik. So definieren Lampert und Althammer (2005) Sozialpolitik als

    politisches Handeln, das darauf gerichtet ist,

    a. die wirtschaftliche und soziale Stellung von wirtschaftlich und/oder sozial absolut oder relativ schwachen Personenmehrheiten im Sinne der in einer Gesellschaft verfolgten ge-sellschaftlichen und sozialen Grundziele (freie Entfaltung der Persnlichkeit, soziale Si-cherheit, soziale Gerechtigkeit, Gleichbehandlung) zu verbessern,

  • 1.2 Begriff, Grundprinzipien und Instrumente der Sozialpolitik 3

    b. die wirtschaftliche und soziale Stellung von solchen Personenmehrheiten fr den Fall des Eintritts existenzgefhrdender Risiken zu sichern, die nicht fr sich selbst Vorsorge treffen knnen.

    Man sieht also, dass Sozialpolitik vor allem durch ihre Funktionen definiert wird, nmlich durch

    a. Umverteilung, b. Versicherung gegen existenzgefhrdende Risiken.

    Diese Zielsetzungen korrespondieren mit einer weiteren Einteilung, die verschie-dene Bereiche der Sozialpolitik gegeneinander abgrenzt, nmlich

    1. Frsorge-, Sozialhilfe-, und Familienpolitik: Steuerfinanzierte staatliche Trans-fers an bestimmte Bevlkerungsgruppen,

    2. Soziale Sicherung: Beitragsfinanzierte Versicherungen mit Zwangsmitglied-schaft, teilweise mit impliziter Umverteilung zwischen den Versicherten.

    1.2.2 Gestaltungsprinzipien der Sozialpolitik

    Hier kann man zunchst einige allgemeine Gestaltungsprinzipien voneinander unterscheiden, nmlich

    1. das Versicherungsprinzip und konkreter: das quivalenzprinzip

    Unter einer Versicherung versteht man die gegenseitige Deckung zuflligen schtzbaren Geldbedarfs zahlreicher gleichartig bedrohter Wirtschaften, es geht also um die Abdeckung eines Risikos. Angewendet auf die Sozialpolitik, besagt das Versicherungsprinzip allgemein, dass ein Leistungsanspruch im Fall des Ein-tretens eines Schadensereignisses (z. B. Arbeitslosigkeit) durch eine vorherige Beitragszahlung erworben wird. In seiner Konkretisierung besagt das quivalenz-prinzip, dass die Beitrge so kalkuliert werden, dass sie dem Erwartungswert der vom Versicherungsnehmer zu beanspruchenden Leistungen entsprechen. Nach dem quivalenzprinzip erfolgt also in der Ex-ante-Betrachtung keine Umvertei-lung von Einkommen zwischen verschiedenen Gruppen von Versicherten.

    2. das Versorgungsprinzip oder Frsorgeprinzip

    Unter Versorgung versteht man ffentliche Sach- oder Geldleistungen, auf die der Empfnger einen Rechtsanspruch hat, aber nicht aufgrund einer eigenen Beitrags-zahlung, sondern aufgrund anderer Voraussetzungen. Zu denken ist hierbei etwa an die Gewhrung von Kindergeld an alle Eltern.

    Frsorge bedeutet demgegenber die Gewhrung ffentlicher Sach- oder Geld-leistungen in einer Notlage nach Bedrftigkeit, ohne dass eine eigene Beitragszah-lung des Betroffenen dem vorausgegangen ist. Beispiele hierfr sind das Arbeits-losengeld II und das Sozialgeld. In der Bundesrepublik Deutschland besteht auch auf Frsorgeleistungen ein Rechtsanspruch, aber nur dem Grunde nach. Art und Hhe der Leistungen werden von den Behrden nach Wrdigung der Besonder-heiten der Lage des Betroffenen festgelegt.

  • 4 1 Einleitung

    1.2.3 Instrumente der Sozialpolitik

    Neben den eher abstrakten Grundprinzipien kann man auch danach fragen, wie die Leistungen der Sozialen Sicherung konkret organisiert sind. Man unterscheidet hierbei die Organisationsprinzipien oder Instrumente der Sozialen Sicherung nach den folgenden Kriterien:

    1. Freiwilligkeit versus Zwang

    Nach dem Kriterium des Ausmaes von Zwang, der auf die Betroffenen ausgebt wird, kann man drei verschiedene Stufen unterscheiden:

    a. Abwesenheit von Zwang: Den von einem Risiko Bedrohten wird es berlassen, ob und mit wem sie einen Versicherungsvertrag abschlieen. Beispiele hierfr sind

    das Risiko des Verlustes von Eigentum (Sachversicherungen), das Risiko des vorzeitigen Todes (Lebensversicherung), das Risiko der Krankheitskosten bei Besserverdienenden (private Kranken-

    versicherung).

    b. Versicherungspflicht: Die von einem Risiko Bedrohten werden verpflichtet, Versicherungsschutz in einem gesetzlich bestimmten (Mindest-)Umfang bei einem Versicherungsanbieter ihrer Wahl abzuschlieen. In Deutschland finden wir dieses Ausma von Zwang u. a. bei

    dem Krankheitskostenrisiko (gesetzliche Krankenversicherung mit Kassen-wahl),

    dem Haftpflichtrisiko eines Pkw-Halters (Kfz-Haftpflichtversicherung).

    c. Pflichtversicherung: Die von einem Risiko Bedrohten werden gezwungen, Ver-sicherungsschutz in einem bestimmen Umfang von einem bestimmten Anbieter abzuschlieen. Beispiele fr dieses hchste Ma von Zwang sind

    das Risiko der Langlebigkeit (gesetzliche Rentenversicherung), das Risiko des Berufsunfalls (gesetzliche Unfallversicherung).

    2. Privatrechtliche, ffentlich-rechtliche oder staatliche Organisation

    Die Tatsache, dass der Gesetzgeber den Brger zwingt, eine bestimmte Versiche-rung abzuschlieen, bedeutet noch lange nicht, dass der Staat selber diese Versi-cherung anbietet. Vielmehr kann man nach diesem zustzlichen Kriterium drei verschiedene Organisationsformen finden:

    a. privatrechtliche Organisation: Versicherungsanbieter sind private Unternehmen, b. ffentlich-rechtliche Organisation: Versicherungstrger sind Krperschaften

    ffentlichen Rechts. Damit knnen sie vom Gesetzgeber verpflichtet werden, hoheitliche Aufgaben zu bernehmen, gleichzeitig aber eine Selbstverwaltung besitzen.

    c. Staatliche Organisation: Versicherungstrger ist eine staatliche Behrde wie der National Health Service in Grobritannien.

  • 1.3 Der quantitative Umfang der Sozialpolitik in Deutschland 5

    3. Finanzierungsverfahren

    Bei einer Reihe von Lebensrisiken handelt es sich um Schadensereignisse, die in verstrktem Mae, wenn nicht ausschlielich, im hheren Lebensalter auftreten. Im ersten Fall ist an Krankheit und Pflegebedrftigkeit zu denken, im zweiten Fall an das Risiko unerwarteter Langlebigkeit. In beiden Fllen gibt es zwei unter-schiedliche Wege, die Leistungen zu finanzieren, nmlich

    a. das Kapitaldeckungsverfahren (KDV): Fr jede Kohorte von Versicherten wird aus deren Beitragszahlungen ein Deckungskapital aufgebaut, aus dessen Ertr-gen (und dessen Auflsung) die Versicherungsleistungen fr diese Versicherten vollstndig finanziert werden. Das KDV entspricht dem Prinzip der kollektiven Vorsorge. (Individuelle Vorsorge ist bereits bei Anwendung des Versiche-rungsprinzips gewhrleistet.)

    b. das Umlageverfahren (UV): Die Beitragszahlungen einer Periode (eines Jahres) werden dazu verwendet, die Versicherungsansprche zu finanzieren, die im gleichen Jahr anfallen. Der Versicherungstrger hat zu jedem Zeitpunkt ein De-ckungskapital von null. Er hlt lediglich eine Liquidittsreserve in bescheidener Hhe, um bei kurzfristigen Schwankungen des Beitragsaufkommens oder der Leistungsansprche keine teuren Kassenkredite aufnehmen zu mssen.

    1.3 Der quantitative Umfang der Sozialpolitik in Deutschland

    1.3.1 Status Quo und Entwicklungstendenzen

    Zur Einstimmung betrachten wir zunchst einige Zahlen, welche die in der Reali-tt hohe quantitative Bedeutung der staatlichen Umverteilungsaktivitten belegen.

    In amtlichen Statistiken werden Sozialleistungen als besonderer Posten ausge-wiesen. Wenn man diesen zum Bruttosozialprodukt in Relation setzt, ergibt sich die Sozialleistungsquote. Diese soll das Ausma der sozialstaatlichen Aktivitten in einer Volkswirtschaft messen. In Deutschland erreicht die Sozialleistungsquote zurzeit einen Wert von ungefhr 1/3, d. h. jeder dritte in Deutschland erwirtschaf-tete Euro fliet in Sozialleistungen. Der genaue Wert der Sozialleistungsquote betrug im Jahr 2005 31,2%, die Sozialleistungen insgesamt beliefen sich dabei auf ungefhr 719 Mrd. Euro.

    Die Sozialleistungsquote ist aber nicht nur hoch, sie hat im Zeitablauf auch stark zugenommen. Dies gilt zumindest fr einen lngeren Zeitraum, wie die fol-gende Tabelle 1-1 zeigt.

    Tabelle 1-1: Die Entwicklung der Sozialleistungsquote in Deutschland (in %)

    1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2003 2004 2005 22,5 24,5 30,7 29,8 29,1 26,9 30,4 31,3 32,3 31,6 31,2

    Quelle: Bundesministerium fr Arbeit und Soziales (2007), Tabelle 7.2

  • 6 1 Einleitung

    Pflegeversicherung2%

    Gesetzl. Krankenversicherung20%

    Gesetzl. Rentenversicherung32%

    Unfallversicherung2%

    Steuerliche Manahmen6%

    Frder- und Frsorgesysteme7%

    Arbeitgeberleistungen einschl. Zusatzversorgung

    8%

    Entschdigungssysteme

    1%

    Leistungssysteme des ffentl. Dienstes

    7%

    Familienleistungsausgleich5%

    Arbeitsfrderung10%

    Kinder- und Erziehungsgeld1%

    Sondersysteme1%

    Allerdings fllt auch auf, dass die Sozialleistungsquote schon im Jahr 1975 einen Wert von 30,7% erreicht hatte und zwischenzeitlich nur in einem einzigen Jahr, nmlich 1990, mit 26,9% wieder deutlich unter 30% lag. An dieser Zeitreihe wird damit auch klar, dass die in Deutschland relativ hohe Sozialquote keineswegs nur ein Phnomen der allerjngsten Vergangenheit darstellt.

    Im internationalen Vergleich liegt die Sozialleistungsquote Deutschlands im oberen Mittelfeld. Unter den EU-Staaten weisen auch Belgien, Dnemark, Frank-reich, die Niederlande, Finnland und Schweden Sozialleistungsquoten von ber 30% auf. Nur in einem Land der EU (nmlich Irland) liegt sie unter 20%. Eine erhebliche Steigerung der Sozialleistungsquote in den ersten 1520 Jahren nach dem 2. Weltkrieg war im brigen in fast allen Industriestaaten zu beobachten.

    Wie sich die Sozialleistungen in Deutschland fr das Jahr 2002 auf die einzel-nen Bereiche aufschlsseln lassen, zeigt die folgende Abbildung:

    Leistungen nach Institutionen

    Abb. 1-1: Aufschlsselung des deutschen Sozialbudgets 2002 (723 Mrd. DM) (Quelle: Statistisches Bundesamt 2004, S. 203) bea.: Steuerliche Manahmen und Familienleistungsausgleich sind indirekte Leistungen, sonstige Posten: direkte Leistungen. Grter Unterposten bei Frsorgesysteme: Sozialhilfe mit einem Anteil von 3,7% am gesamten Sozialbudget.

    Den dicksten Brocken an den gesamten Sozialleistungen macht die Gesetzliche Rentenversicherung mit 32,2% aus. Auf die Krankenversicherung entfallen 19,5%, auf die Arbeitsfrderung 9,8% und auf die (1995 neu eingefhrte) Pflege-versicherung 2,4%. Diese Zweige des sozialen Sicherungssystems werden durch Beitrge finanziert, wobei fr die meisten Versicherten, nmlich die Arbeitneh-

  • 1.3 Der quantitative Umfang der Sozialpolitik in Deutschland 7

    mer, die Beitragshhe proportional zum Lohneinkommen ist und die Hlfte des Beitrags vom Arbeitgeber bezahlt werden muss. Der Gesamtbeitragssatz fr diese vier Zweige der gesetzlichen Sozialversicherung hat im Lauf der Zeit stark zuge-nommen. Im Zeitraum von 19702003 stieg der Beitragssatz der Gesetzlichen Rentenversicherung von 17,0% auf 19,5%, der Beitragssatz der Gesetzlichen Krankenversicherung im Durchschnitt von 8,2% auf 14,3% und der der Arbeitslo-senversicherung sogar von 1,3% auf 6,5%. Der Beitragssatz der 1995 eingefhrten Pflegeversicherung betrgt zurzeit 1,95%.

    Tabelle 1-2: Sozialversicherungsbeitrge in % des Bruttoarbeitsentgelts (gesamt)

    1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2003 2007 26,5 30,5 32,4 34,9 35,5 38,1 41,0 42,0 40,9

    Quelle: Lampert und Althammer (2005), S. 244; Bundesministerium fr Arbeit und Soziales (2007), Tabelle 7.7

    Anders als bei der Sozialleistungsquote kam es hier auch in den letzten 25 Jah-ren zu einem erheblichen Anstieg. Von 30,5% im Jahre 1975 hat sich der Anteil des Sozialversicherungsbeitrags am Bruttoarbeitsentgelt auf (im Durchschnitt) 42% im Jahr 2003 erhht (siehe Tabelle 1-2). Weil die Sozialversicherungsbeitr-ge scheinbar wie eine Lohnsteuer wirken und den Produktionsfaktor Arbeit ver-teuern, wird gerade in diesem Anstieg ein zentrales Problem speziell des deut-schen Sozialsystems gesehen.

    Die steuerfinanzierte Sozialhilfe, die eine Grundabsicherung gegen ein unspezi-fisches Verarmungsrisiko gewhrt, bleibt im Hinblick auf ihr Ausgabenniveau gegenber den beitragsfinanzierten Zweigen der Sozialversicherung eher beschei-den. Am gesamten Sozialbudget hat sie nur einen Anteil von knapp 4%. Aller-dings hat sich dieser Anteil in den vergangenen 30 Jahren fast verdoppelt. Trotz dieser Steigerung besteht weiterhin ein Armutsrisiko. Zum Beispiel mussten sich 2003 laut dem Zweiten Armuts- und Reichtumsbericht ungefhr 13% der Bevlke-rung mit weniger als 60% des Medianeinkommens begngen.

    Worin besteht nun das gemeinsame Element dieser verschiedenen Teilsysteme der sozialen Sicherung? Vereinfacht ausgedrckt, fhren diese sozialen Aktivit-ten des Staates dazu, dass einem Teil der Brger durch staatlichen Zwang etwas genommen wird, um es anderen (in Form von Geld- oder Sachleistungen) zu ge-ben. Es erfolgt also zumindest in der zeitpunktbezogenen Betrachtung eine Umverteilung, je nach dem betrachteten Sozialsystem von Reichen zu Armen, von Jungen zu Alten, von Gesunden zu Kranken, von Beschftigten zu Arbeitslosen. Man kann jedoch nach dem Anlass der Umverteilung zwei Zweige des Sozial-staats unterscheiden:

    1. Transfers an wirtschaftlich Schwache, 2. Soziale Sicherung gegen elementare Lebensrisiken.

    Im ersten Fall organisiert der Staat die Umverteilung mit dem Ziel der Vermei-dung von Armut bei Personen, die sich in einer zumeist schicksalsbedingten Not-lage befinden und nicht selbst fr ihren Lebensunterhalt sorgen knnen. Die Per-

  • 8 1 Einleitung

    sonenkreise der Transferempfnger und der Finanziers lassen sich hier klar gegen-einander abgrenzen. Im zweiten Fall ist der Staat der Trger oder Initiator einer Versicherung gegen Risiken, denen prinzipiell jeder Brger ausgesetzt ist (Krank-heit, Pflegebedrftigkeit, Arbeitslosigkeit, Langlebigkeit) und fr die private Ver-sicherungen entweder nicht angeboten werden oder aus bestimmten Grnden nicht optimal zu funktionieren scheinen. Hier ist jeder in den jeweiligen Zweig des sozialen Sicherungssystems einbezogene Brger sowohl Beitragszahler als auch (potenzieller) Leistungsempfnger, das heit erst in der Ex-post-Betrachtung sieht etwas wie eine Umverteilung aus, was ex ante gar keine ist, weil nmlich jeder fr seinen Beitrag die gleiche Gegenleistung in Form eines Leistungsanspruchs im Schadensfall erhlt.

    1.3.2 Fundamentalkrise des Sozialstaates

    Die Sozialsysteme in Deutschland waren seit ihrem Bestehen permanenten nde-rungen unterworfen. An der Reformdebatte der vergangenen Jahre ist aber grund-stzlich neu und anders, dass die meisten der an dieser Debatte beteiligten Politi-ker und Wissenschaftler von einer Fundamentalkrise des deutschen Sozialstaats ausgehen. Dessen Totalumbau und das heit in sehr vielen Fllen Rckbau erscheint unumgnglich, um den ansonsten lngerfristig drohenden Zusammen-bruch der sozialen Sicherungssysteme zu vermeiden. Fr diese bedrohlich er-scheinende Lage werden vor allem die folgenden Ursachen angefhrt:

    1. die demografische Entwicklung, d. h. die schon jetzt einsetzende und sich in Zukunft erheblich verstrkende Alterung der Gesellschaft durch reduzierte Ge-burtenraten und einem Anstieg der Lebenserwartung. Dies fhrt zu verstrkten Belastungen der Jungen aufgrund steigender Ausgaben fr die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung, so dass die Herstellung von Generationenge-rechtigkeit mittlerweile fr viele als herausragendes verteilungspolitisches Ziel gilt.

    2. die Globalisierung, die den Sozialstaat sowohl auf der Einnahme- wie auch auf der Ausgabenseite zu bedrohen scheint. Kapital als besonders mobiler Pro-duktionsfaktor wird bevorzugt in die Lnder flieen, in denen die Lohnkosten niedrig sind und die Kapitalertrge nur gering belastet werden. Lohnabhngige Beitrge als zentraler Bestandteil der Finanzierung des Sozialsystems gelten aus dieser Perspektive als erheblicher Nachteil im internationalen Standortwett-bewerb. Aber nicht nur das Kapital, sondern auch die Individuen sind mobil. Befrchtet wird etwa, dass durch Armutsmigration nach Deutschland (aus Entwicklungs- und Schwellenlndern) der deutsche Sozialstaat ausgebeutet und auf Dauer ausgehhlt werden knnte.

    3. die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit als eines der dringendsten politischen Prob-leme in Deutschland, die von vielen Experten auch als Folge einer zu weit ge-henden sozialen Absicherung gesehen wird. Es wird befrchtet, dass sich Deutschland in einer Art Sozialstaatsfalle befindet, die zu folgendem Teu-felskreis fhrt: Die hohen Kosten des Sozialstaats und insbesondere der Ar-

  • 1.4 Elemente einer Theorie der Sozialpolitik 9

    beitslosigkeit erzeugen negative Beschftigungseffekte, die dadurch resultie-rende hhere Arbeitslosigkeit wiederum zieht eine Erhhung der Sozialausga-ben nach sich usw.

    1.4 Elemente einer Theorie der Sozialpolitik

    Die Theorie der Sozialpolitik lsst sich in einen normativen und einen positiven Zweig aufgliedern:

    1.4.1 Normative Rechtfertigungen der Sozialpolitik

    Jeglicher staatlicher Zwang kann aus konomischer Sicht entweder allokativ oder distributiv gerechtfertigt werden:

    1. allokativ: auf Versicherungsmrkten liegt Marktversagen vor. Hierbei ist aller-dings zu zeigen, dass staatliche Eingriffe eine Pareto-Verbesserung herbeifh-ren knnen.

    2. distributiv: Mrkte sorgen nicht fr eine gerechte Verteilung von Chancen und Einkommen: Gerechtigkeit ist zu definieren, und es ist nach geeigneten Institu-tionen zur Erreichung von mehr Gerechtigkeit zu suchen.

    Die genaue Diskussion der verschiedenen Begrndungsmuster wird im Zentrum dieses Buches stehen. Daher sollen an dieser Stelle die einzelnen Argumente nur angedeutet, jedoch nicht ausfhrlich besprochen werden. Den greren Umfang dabei die allokativen Begrndungen einnehmen. Marktversagen wird in verschie-dener Hinsicht behauptet:

    1. Versicherungsmrkte versagen, da manche der hier relevanten Risiken nicht versicherbar sind: Es liegen verbundene, d. h. positiv korrelierte, bzw. systemi-sche Risiken vor (konjunkturelle Arbeitslosigkeit, medizinischer Fortschritt in der Krankheitskostenversicherung).

    2. Versicherungsmrkte versagen wegen asymmetrischer Information ber Risi-ken (Market for Lemons): Versicherte knnen ihre Schadenswahrscheinlich-keit besser einschtzen als der Versicherer. Damit kann fr gute Risiken kein risikoquivalenter Vertrag mit voller Risikodeckung Bestand haben.

    3. Versicherungsmrkte versagen wegen Verhaltensrisikos (Moral Hazard), d. h. geringerer Vorsicht bei Bestehen eines Versicherungsschutzes.

    4. Versicherungsmrkte versagen dort, wo die rentabelste Art der Absicherung ein Vertrag zwischen den Generationen ist, der bilateral nicht justiziabel ist.

    5. Das Angebot privater Versicherungsvertrge gengt nicht, wenn Individuen aus mangelnder Voraussicht keinen abschlieen. Junge Individuen mssen im eige-nen Interesse und gegen ihre kurzfristigen Prferenzen zu vernnftigem Verhal-ten gezwungen werden. Eine langfristig angelegte Versicherung gilt aus dieser Perspektive als meritorisches Gut.

  • 10 1 Einleitung

    6. Das Angebot privater Versicherungsvertrge gengt nicht, wenn Individuen in unteren Einkommensbereichen keine Versicherung abschlieen, weil sie darauf vertrauen, im Notfall von der Gesellschaft aufgefangen zu werden und in die-sem Sinne als Trittbrettfahrer handeln.

    7. In der Gesellschaft besteht Altruismus (von Reichen gegenber Armen). Private Untersttzungszahlungen fallen jedoch wegen ihres Kollektivgut-Charakters zu gering aus. Daher ist staatlicher Zwang wohlfahrtserhhend.

    1.4.2 Positive Erklrungen ber das Zustandekommen von Sozialpolitik

    Anders als bei den normativen Theorien geht es hierbei nicht um die Rechtferti-gung, sondern lediglich um die Erklrung, warum bestimmte sozialpolitische Manahmen in Demokratien zu Stande kommen. Dabei unterscheiden sich die einzelnen Erklrungsanstze darin, wie detailliert die demokratischen Institutionen und ihre Funktionsmechanismen bercksichtigt werden.

    Im einfachsten Fall (direkte Demokratie) unterstellt man, dass ber konkrete sozialpolitische Manahmen unter den Brgern in Referenden abgestimmt wird. Dabei spielen folgende Grnde fr die Erklrung bestimmter Manahmen eine Rolle:

    1. Jegliche Umverteilung ist in einer Demokratie mehrheitsfhig, falls das Medianeinkommen geringer ist als das Durchschnittseinkommen und die Effizienzverluste nicht so gro sind, dass sie aus der Sicht des Median-

    whlers den Umverteilungseffekt kompensieren.

    2. Auch Nettozahler akzeptieren die mit der Sozialpolitik verbundenen Transfers, da sie im Gegenzug den sozialen Frieden erkaufen. Dieser ist wichtig, damit der Markt seine Produktivitt voll entfalten kann.

    3. Teile der Transferlasten innerhalb der Sozialversicherung (z. B. der Bundeszu-schuss zur Gesetzlichen Rentenversicherung) werden vom Staat getragen, und die Whler nehmen sie weniger deutlich wahr (fiskalische Illusion).

    4. Bei intergenerativen Transfers kann sich eine Mehrheit der Whler als Gewin-ner fhlen, solange Vertrauen in den Fortbestand des Systems herrscht. Poten-tielle Verlierer finden sich allenfalls unter den zuknftigen Generationen, die heute noch nicht wahlberechtigt sind.

    Im Rahmen einer reprsentativen Demokratie kommen folgende Gesichtspunkte hinzu:

    5. Im politischen Prozess sind die einzelnen Whlergruppen nicht immer gem ihrer Gre reprsentiert, sondern auch gem ihrer Organisierbarkeit. Gut or-ganisierte Interessengruppen wie die Arbeitnehmer knnen dann einen ber-proportionalen Einfluss ausben.

    6. Die Sozialversicherungsbrokratie hat ein Interesse daran zu berleben und versorgt Politiker und Bevlkerung mit einseitigen Informationen ber die Leistungsfhigkeit des Systems, so dass das System grer ist, als es bei ratio-naler Entscheidung der Whler unter vollkommener Information wre.

  • 1.5 Der Aufbau des Buches 11

    1.5 Der Aufbau des Buches

    Wir wollen uns im ersten Schritt (Teil I) deshalb berlegen, welche konomischen Grnde auf allgemeiner theoretischer Ebene fr staatliche Umverteilungsmanah-men im engeren Sinne sprechen knnen. Vielfach wird der Sozialstaat z. T. recht pauschal mit Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit und dem Wunsch nach einer gleichmigeren Verteilung von Lebenschancen zu begrnden und zu ver-teidigen versucht. Es soll deshalb errtert werden, was aus konomischer und teilweise auch sozialphilosophischer Sicht hinter derartigen Argumenten steckt. Dabei werden Gerechtigkeitsgrnde (Kap. 2) und Effizienzgrnde (Kap. 3) fr Umverteilung unterschieden.

    Im zweiten Schritt (Teil II) soll dann das System der Sozialen Sicherung sowie seine unterschiedlichen Teilsysteme nher analysiert werden. Auch dabei werden wir uns zunchst mit der Frage beschftigen, was berhaupt fr die staatliche Bereitstellung von Versicherungsleistungen spricht (Kap. 4). Im Anschluss daran wird untersucht, ob und in welchem Umfang speziell in Einzelbereichen der Sozi-alen Sicherung (bei der Altersvorsorge: Kap. 5, bei der Krankenversicherung: Kap. 6, bei der sozialen Grundabsicherung und der finanziellen Absicherung ge-gen Arbeitslosigkeit: Kap. 7) sowie bei der Untersttzung von Familien (Kap. 8) staatliche Eingriffe erforderlich sind. Fr praktische Anwendungen bedeutsam ist insbesondere die Diskussion der Frage nach der aus konomischer Sicht adqua-ten Ausgestaltung staatlicher Manahmen in diesen verschiedenen Bereichen der sozialen Sicherung. Damit einher geht eine Bestandsaufnahme und Beurteilung der in Deutschland existierenden Regelungen sowie eine Abschtzung des Re-formbedarfs. So wird etwa gefragt, inwieweit

    die Ausgliederung der reinen Einkommensumverteilung aus der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung sinnvoll und mglich ist und zu einer Ef-fizienzsteigerung und damit eventuell zu einer wirksamen Kostendmpfung im Gesundheitswesen beitragen kann. Taugt das Modell Schweiz (mit seinen Kopfpauschalen) auch fr Deutschland?

    die Schaffung einer zweiten kapitalgedeckten Sule im System der Alterssiche-rung (Riester-Rente) die Renten dauerhaft zu sichern vermag und inwieweit zustzliche Manahmen wie die Einfhrung eines demografischen Faktors oder die Erhhung des Renteneintrittsalters zur nachhaltigen Sicherung des deut-schen Rentensystems erforderlich sind.

    die Sozialhilfe reformiert werden muss, damit auch fr die unteren Lohngrup-pen gengend Anreize zur Aufnahme einer legalen Beschftigung bestehen.

    Mit den Zukunftsperspektiven, die der Sozialstaat in Deutschland angesichts all dieser Bedrohungen (noch) hat, wollen wir uns am Schluss des Buches (Kap. 9) auseinandersetzen.

  • 12 1 Einleitung

    Literatur

    Bundesministerium fr Arbeit und Soziales (2007), Statistisches Taschenbuch 2007. Arbeits- und Sozialstatistik, Bonn.

    Lampert, H. und J. Althammer (2005), Lehrbuch der Sozialpolitik, Berlin u. a.: Springer. Statistisches Bundesamt (2004), Statistisches Jahrbuch fr die Bundesrepublik Deutschland.

    Stuttgart: Kohlhammer.

  • 2 Gleichheit und Gerechtigkeit

    2.1 Vorbemerkung: Die positive Wahrnehmung von Gleichheit im Alltagsdenken

    Auf einer eher gefhlsmigen Ebene und bei vordergrndiger Betrachtung gilt Gleichheit als etwas prinzipiell Gutes. Auch bei vielen konomen herrscht eine implizite Vorliebe fr mehr Gleichheit, die allerdings im Lauf der Zeit erheblich zurckgegangen ist. Allgemein besteht auch heute noch der Wunsch nach einer gerechten Gesellschaft, in der die konomische Ungleichheit nicht allzu gro ist. Hinter dem Gleichheitsziel stehen ethisch-moralische Motive, die vielfach aller-dings ziemlich unreflektiert bleiben. Es drften in erster Linie die folgenden Grn-de sein, die im Alltagsdenken Gleichheit als etwas Positives erscheinen lassen:

    Menschen sind als Angehrige der gleichen biologischen Gattung in ihren phy-sischen und intellektuellen Fhigkeiten nicht allzu verschieden. Der Unter-schied der Spezies Mensch zu allen tierischen Gattungen ist enorm. Angesichts dieser natrlichen Gleichheit der Menschen erscheint eine zu groe konomi-sche Ungleichheit als nicht begrndbar und ungerecht. Der Wunsch nach Gleichheit erhlt dann einen moralischen Eigenwert. Die Gleichheit vor dem Gesetz und bei der politischen Partizipation (one (wo)man one vote), wie sie in allen demokratischen Staaten gilt, wird ohnehin allgemein akzeptiert. Daraus folgern manche, dass konsequenterweise Gleichheit auch im konomischen Be-reich anzustreben sei.

    Zudem wird angefhrt, dass Gleichheit positive Wesenszge der Menschen, wie Hilfsbereitschaft und Achtung vor anderen (Brderlichkeit) begnstige, whrend Ungleichheit negative Wesenszge wie Neid, Statusdenken und Ent-solidarisierung frdere. Die unterprivilegierten Individuen verlren Selbstwert-gefhl und Selbstachtung, was als nicht hinnehmbar erscheine. Schlielich ist Ungleichheit oft zufallsbedingt und Reichtum oft unverdient. Warum sollte ein Zustand akzeptiert werden, fr den es selber keine ethisch berzeugenden Rechtfertigungsgrnde gibt?

    Die systematische Errterung dieser Grnde, die vielfach hinter Forderungen nach einer Korrektur der vom Marktprozess zustande gebrachten Verteilungsergebnisse stecken, wrde ein tieferes Eindringen in die philosophische Ethik und der dort ver-tretenen egalitaristischen Positionen erfordern und damit den Rahmen dieses Buches berschreiten (vgl. hierzu aber Kersting, 2000, und Krebs, 2001). Wir konzentrieren uns im Folgenden auf konomische Anstze und Argumente in der Gleichheits-

  • 14 2 Gleichheit und Gerechtigkeit

    debatte. Dabei beschreiben wir im Abschn. 2.2 zunchst die gngigen Konzepte zur Messung von Ungleichheit gegebener Verteilungsprofile. Im Abschn. 2.3 wird der traditionelle konomische Ansatz zur Begrndung von Verteilungszielen prsen-tiert, bei dem eine Bewertung von Verteilungsprofilen durch Wohlfahrtsfunktionen erfolgt. In 2.4 werden dann die zentralen von konomen vorgebrachten Einwnde gegen gleichheitsorientierte Verteilungsziele behandelt. Die Bekmpfung der Armut als alternatives verteilungspolitisches Ziel ist Gegenstand von Abschn. 2.5 und em-pirische Befunde zur Entwicklung von Ungleichheit und Armut in Deutschland und weltweit werden in Abschn. 2.6 dargestellt.

    2.2 Die Messung von Ungleichheit

    2.1.1 Das Transferprinzip von Dalton und das Lorenzkurven-Kriterium

    Selbst in relativ einfachen Situationen lsst sich nicht unmittelbar und in eindeuti-ger Weise beurteilen, welche von zwei Verteilungen als ungleicher gelten sollte. Dies zeigt z. B. im Fall von sechs Individuen der Vergleich der beiden Einkom-mensprofile (1, 1, 1, 1, 1, 45) und (1, 4, 6, 8, 10, 21), bei denen der zu verteilende Gesamtbetrag beide Male 50 betrgt. Im ersten Einkommensprofil haben fnf der sechs Individuen zwar ein identisches Einkommensniveau, beim Einkommen des sechsten Individuums zeigt sich jedoch ein erheblicher Ausreier nach oben. Im zweiten Einkommensprofil hingegen weisen alle Individuen ein unterschiedliches Einkommen auf, dafr ist der Abstand zwischen dem niedrigsten und dem hchs-ten Einkommensniveau wesentlich geringer als beim ersten Einkommensprofil. Intuitiv wrden wohl die meisten Menschen das erste Profil fr ungleicher hal-ten, aber wie misst man das? Bei der Bestimmung von Kriterien fr die Messung von Ungleichheit besteht also ein konzeptionelles Problem.

    Um hier mehr Klarheit zu schaffen, betrachten wir ganz allgemein eine aus n Individuen 1,...,i n= bestehende konomie, in der iy fr das fest vorgegebene Einkommen von Individuum i steht. Das zugehrige Einkommensprofil (bzw. die Einkommensverteilung) wird dann durch den Vektor 1( ,..., )nY y y= angegeben. Dabei unterstellen wir, dass dieses Einkommensprofil geordnet ist, d. h. dass

    1 ... ny y gilt. Wir formulieren in diesem Rahmen zunchst eine wohl unstritti-ge Minimalbedingung dafr, dass mehr oder weniger Gleichheit herrscht. Dieses Transferprinzip von Dalton lautet wie folgt:

    Mehr Gleichheit ergibt sich dann, wenn bei einem gegebenen (geordneten) Einkommensprofil 1( ,..., )nY y y= ein Einkommenstransfer in Hhe von T von einem reicheren Individuum l zu einem rmeren Individuum k stattfindet, der die Rangordnung aller Einkommen nicht ndert. 1

    1 Dabei handelt es sich um einen hypothetischen Transfer. Ob es berhaupt mglich ist, einen

    Betrag T von Person l zu Person k zu transferieren, ohne das Sozialprodukt insgesamt zu schmlern, ist in diesem Zusammenhang deshalb ohne Bedeutung.

  • 2.2 Die Messung von Ungleichheit 15

    Das Einkommensprofil nach Vornahme des Transfers lautet dann 1( ,..., ,..., ,..., )k l nY y y T y T y= + , und es gilt (gem der Forderung nach Erhal-

    tung der Rangordnung) 1k ky T y ++ und 1l ly T y . Das neue Einkommens-profil Y heit dann Dalton-gleicher als das alte Einkommensprofil Y.

    In einem Zwei-Personen-Diagramm, in dem auf der Horizontalen das Einkom-men des reicheren und auf der Vertikalen das Einkommen des rmeren Indivi-duums abgetragen ist, lsst sich das Daltonsche Transfer-Kriterium leicht illust-rieren (vgl. Abb. 2-1).

    0

    y1

    Einkommen armes Individuum

    Einkommen reiches Individuum

    45

    y2

    Abb. 2-1: Transfer-Kriterium von Dalton

    In Abb. 2-1 fhrt ein Transfer in Hhe von T vom reicheren zum rmeren Indi-viduum das ursprngliche Einkommensprofil 1 2( , )y y in das neue Einkommens-profil 1 2( , )y T y T+ ber. Alle gem dem Dalton-Kriterium im Vergleich zum Ausgangszustand A als gleicher geltenden Einkommensprofile liegen auf der Stre-cke AB.

    Man kann das Dalton-Konzept noch in einer anderen Weise grafisch veran-schaulichen, die eine Verallgemeinerung auf den Fall einer beliebigen Zahl von Individuen erlaubt. So ist in Abb. 2-2 dargestellt, ber welchen Anteil am Gesamt-einkommen das rmere Individuum 1 (also der Anteil 1/ 2x = der Gesamtbevlke-rung) verfgt.

    Der Streckenzug zwischen den Punkten (0,0) , 11 2

    1( , )2

    yy y+

    , (1,1) beschreibt die

    Lorenzkurve des Einkommensprofils 1 2( , )Y y y= . Durch den Dalton-Transfer T (von Reich zu Arm) verndert sich der Funktionswert bei 1/ 2x = . Er wchst um

    1 2

    Ty y+

    . Die neue Lorenz-Kurve, die sich nach Vornahme des egalisierenden

    Dalton-Transfers ergibt, liegt nher an der Winkelhalbierenden als die ursprngliche.

  • 16 2 Gleichheit und Gerechtigkeit

    0

    y1

    Anteil am Gesamteinkommen

    y1+ y2

    1/2

    1

    LY

    Anteil der rmsten Individuenan Gesamtpopulation

    Abb. 2-2: Lorenz-Kurve

    Die allgemeine Definition der Lorenzkurve fr ein gegebenes Einkommens-profil 1 2( ,..., )Y y y= lautet:

    1

    1( ) fr 0,...,j

    Y ii

    jL y j nn n

    =

    = = . (2.1) Dabei bezeichnet

    1

    1 ni

    iy

    n

    =

    = das Durchschnittseinkommen, so dass n das Ge-samteinkommen aller n Individuen angibt. Die Lorenzkurve an der Stelle /j n be-schreibt also, welchen Anteil des Gesamteinkommens die j rmsten Individuen auf sich vereinigen.

    Eine Einkommensverteilung 1( ,..., )nY y y= heit Lorenz-gleicher als 1( ,..., )nY y y= , falls die Lorenzkurve zum Einkommensprofil Y (mit Y Y ) nir-

    gends unter der Lorenzkurve von Y liegt. Formal bedeutet dies, dass

    YYj jL Ln n

    (2.2)

    fr alle 1,...,j n= gelten muss (vgl. Abb. 2-3). Wegen der unterstellten Nicht-

    Identitt von Y und Y gilt dann zumindest fr ein Individuum j in (2.2) sogar ein strenges Ungleichheitszeichen.

    Offensichtlich fhrt ein Dalton-Transfer zu einem Lorenz-gleicheren Vertei-lungsprofil: Mehr Dalton-Gleichheit impliziert also eine hhere Lorenz-Gleich-heit. Fr den Fall mit zwei Personen ist dies unmittelbar klar. Fr den allgemeinen Fall 2n > lsst sich diese Aussage leicht wie folgt begrnden:

  • 2.2 Die Messung von Ungleichheit 17

    0

    Anteil am Gesamteinkommen

    Anteil der rmsten Individuen

    1

    LY

    LY

    Abb. 2-3: Vergleich zweier Verteilungen nach dem Lorenz-Gleichheitskriterium

    Wir vergleichen die Lorenzkurven der beiden Einkommensprofile 1( ,..., )nY y y= und 1( ,..., ,..., ,..., )k l nY y y T y T y= + , wobei die Rangerhaltungs-

    bedingung 1 1 1... ... ...k k l l ny y T y y y T y+ + gelten soll. Fr j < k

    und j l gilt dann ( ) ( )YYj jL Ln n

    = , whrend man fr alle ,..., 1j k l= die Bezie-

    hung ( ) ( ) ( )Y YYj j T jL L Ln n n n

    = + > erhlt. Die Lorenzkurve fr Y hat also genau fr die zwischen k und 1l liegenden Individuen einen hheren Wert als die Lorenz-kurve zu Y .

    Aber auch die umgekehrte Implikation trifft in gewissem Sinne zu: Ist ein Ein-kommensprofil Y Lorenz-gleicher als ein Einkommensprofil Y, so gibt es nmlich eine endliche Sequenz von Dalton-Transfers, die Y in Y berfhrt. Im allgemeinen Fall ist diese Aussage ziemlich schwierig zu zeigen, so dass wir hier auf einen Nachweis verzichten wollen. Wenn man Transitivitt beim gleichheitsorientierten Vergleich von Einkommensprofilen fordert, folgt somit das Lorenz-Kriterium automatisch aus dem Dalton-Kriterium.

    Das Lorenz-Kriterium stellt ein wichtiges Hilfsmittel fr Verteilungsanalysen dar. Da es sich aus dem Transferprinzip von Dalton ableiten lsst (Wer Dalton ak-zeptiert, muss zwangslufig auch Lorenz akzeptieren.), beruht es nur auf elementa-ren und ziemlich schwachen normativen Voraussetzungen. Das tiefere Problem, ob gleichmiger auch mit gerechter = besser identifiziert werden kann bzw. soll, wird durch diese Motivation des Lorenzkurven-Kriteriums allerdings nicht gelst.

    Folgerung 2-1: Das Lorenzkurven-Kriterium als wichtigstes Instrument zur Messung von Ungleichheit lsst sich durch das intuitiv einsichtige Transferprinzip von Dalton begrnden.

  • 18 2 Gleichheit und Gerechtigkeit

    2.2.2 Absolute vs. relative Gleichheit bei Einkommensnderungen

    Wenn sich anders als im vorherigen Abschnitt die Summe der Einkommen der Beteiligten ndert, kann das Lorenz-Kriterium zu Konsequenzen fhren, die aus ethischer Sicht problematisch erscheinen knnen. Da sich das Lorenz-Kriterium auf relative Einkommensunterschiede bezieht, bleibt die Lorenzkurve unverndert, wenn alle Einkommen proportional, d. h. um den gleichen Prozentsatz, wachsen oder fallen (Equi-Proportionate Principle), wie es in Abb. 2-4 beim bergang von

    1 2( , )Y y y= zu 1 2( , )Y ky ky= der Fall ist. Darin kann man eine ungerechtfertigte Bevorzugung der Reichen durch das Lorenz-Kriterium sehen. Damit eine gleich-zeitige Erhhung der Einkommen von Arm und Reich nach dem Lorenz-Kriterium als verteilungs-/gleichheitsneutral eingestuft wird, muss der Reiche absolut gese-hen (eventuell sogar wesentlich) mehr erhalten als der Arme: 1% von 1 Mio. Euro ist 100mal so viel wie 1% von 10.000 Euro.

    Im anderen Extrem knnte man sich bei der Bewertung von Einkommens-zuwchsen auch an gleichen absoluten Einkommensnderungen orientieren. Im Zwei-Personen-Diagramm gelten dann alle Einkommensverteilungen als genau- so (un)gleich verteilt wie ein gegebenes Einkommensprofil Y, wenn sie auf einer 45-Linie durch den Punkt Y liegen in Abb. 2-4 (Equi-Absolute-Principle). Auch dieses Prinzip knnte gegen unsere Intuition von Gleichheit verstoen, da es die Verteilung (105, 100) als genau so ungleich einstuft wie die Verteilung (5, 0).

    Es gibt auch Mischlsungen zwischen diesen beiden Konzepten gleicher relati-ver und gleicher absoluter Ungleichheit, die sich im Zwei-Personen-Fall folgender-maen darstellen lassen: Fr eine beliebige Konstante 0M > und ein gegebenes Einkommensprofil Y = 1 2( , )y y beschreibt bei diesem Ansatz die Punktemenge

    1 2( (1 ) , (1 ) )y M y M fr variierendes 0 die Gesamtheit aller Ein-

    Einkommen des armen Individuums

    Einkommen desreichen Individuums

    y1

    y2

    absolutKompromiss

    relativ/Lorenz

    Y Y

    Y

    Abb. 2-4: Kompromisskriterien fr die Gleichheitsmessung

  • 2.2 Die Messung von Ungleichheit 19

    kommensprofile, die als genauso M-gleich wie Y gelten. Ein zum ursprngli-chen Einkommensprofil proportionaler Einkommensvektor wird dabei um den konstanten absoluten Betrag (1 )M vermindert. In Abb. 2-4 entspricht die Linie der Einkommensprofile, die genauso M-gleich wie das gegebene Einkommenspro-fil sind, dem im positiven Quadranten gelegenen Abschnitt der Verbindungsgera-den zwischen 1 2( , )y y und ( , )M M .

    Jedes M definiert ein Kompromisskriterium von equi-proportionate und equi-absolute. Je grer M ist, desto mehr Gewicht hat die absolute Verteilungs-komponente.

    Folgerung 2-2: Bei der Beurteilung von Einkommenszuwchsen erweist sich das Konzept der relativen Lorenz-Gleichheit als problematisch. Es las-sen sich aber Kriterien entwickeln, die auch der Vorstellung Rechnung tra-gen, dass gleich hohe absolute Einkommenszuwchse gerecht sind.

    2.2.3 Aggregierte Ungleichheitsmae

    Das zuvor beschriebene Lorenz-Kriterium zur Ungleichheitsmessung hat den Nachteil, dass es nicht vollstndig ist. Die Lorenzkurven verschiedener Einkom-mensprofile knnen sich nmlich schneiden, sobald es mehr als zwei Individuen gibt. Bei einem Vergleich der entsprechenden Einkommensprofile trifft das Lorenz-Kriterium dann keine Aussage. Als Beispiel fr eine solche Situation betrachten wir im Fall 3n = die beiden Einkommensprofile 1Y = (2,9,9) und 2Y = (4,4,12), deren Lorenzkurven in Abb. 2-5 dargestellt sind. An der Stelle 1/3 liegt die Lorenzkurve von 2Y ber der von 1Y , whrend dies bei 2/3 gerade umgekehrt ist.

    0

    Anteil am Gesamteinkommen

    Anteil der rmsten Individuen

    1

    11/3 2/3LY1

    LY2

    Abb. 2-5: Sich schneidende Lorenzkurven

  • 20 2 Gleichheit und Gerechtigkeit

    Die begrenzte Reichweite des Lorenz-Kriteriums ist allerdings nicht allzu ber-raschend, da es ja auf minimalen normativen Voraussetzungen, nmlich dem Dal-ton-Kriterium, beruht. Um diese Einschrnkung zu berwinden und alle Einkom-mensprofile im Hinblick auf den Grad ihrer Ungleichheit vergleichen zu knnen, gibt es verschiedene Mglichkeiten. In diesem Abschnitt stellen wir die wichtigs-ten aus der Statistik bekannten aggregierten Ungleichheitsmae (den Variations-koeffizienten und den Gini-Index) dar, bei denen jedem Einkommensprofil ein numerischer Ungleichheitskoeffizient zugeordnet wird. Je hher dieser Koeffizient ist, desto grer ist die Ungleichheit des zugrunde liegenden Einkommensprofils. Die Vergleichbarkeit aller Einkommensprofile und damit die Vollstndigkeit des entsprechenden Messkonzepts ist dann in offensichtlicher Weise sichergestellt. Allerdings ist bei jedem aggregierten Ungleichheitsma zunchst zu prfen, ob es dem Dalton-Transferprinzip gengt. Erst dann ist gewhrleistet, dass es tatschlich eine Erweiterung des Lorenz-Kriteriums liefert.

    2.2.3.1 Der Variationskoeffizient

    Der Variationskoeffizient ( )v Y ist bei gegebenem Einkommensprofil 1( ,..., )nY y y= mit Durchschnittseinkommen definiert als

    1/ 22

    1

    1 ( )( )

    n

    ii

    ynv Y

    =

    =

    (2.3)

    und misst die Relation zwischen der Standardabweichung und dem Mittelwert des Einkommens. Um zu zeigen, dass der Variationskoeffizient dem Transferprinzip von Dalton gengt und somit eine Vervollstndigung des Lorenzkurven-Kriteriums

    darstellt, prfen wir, wie sich der Term 2

    1( )

    n

    ii

    y =

    ndert, wenn ein Dalton-Transfer T von einem Individuum l zu einem rmeren Individuum k erfolgt. Von diesem Transfer betroffen sind nur die beiden zu k und l gehrigen Summanden des Ausdrucks fr die Varianz. Es gilt:

    2 2( ) ( )k ly T y T + + 2 2 2 2( ) 2 ( ) ( ) 2 ( )k k l ly T y T y T y T = + + + + 2 2 2( ) ( ) 2 ( ) 2k l l ky y T y y T = + + .

    (2.4)

    Der Ausdruck ( )22 2 l kT T y y gibt die vom Transfer T ausgelste nderung der Varianz an. Er ist kleiner als null, falls l kT y y< gilt, d. h. insbesondere dann, wenn sich wie bei einem Dalton-Transfer von uns vorausgesetzt die Rangordnung der Einkommen zwischen den betroffenen Individuen nicht ndert. Dann kommt es in der Tat zu einer Verminderung des Variationskoeffizienten,

  • 2.2 Die Messung von Ungleichheit 21

    und die Vertrglichkeit der Ungleichheitsmessung auf der Basis des Variationsko-effizienten mit dem Lorenzkurven-Kriterium ist gezeigt.

    Die soeben hergeleitete Formel zeigt zudem, dass der Effekt eines Dalton-Transfers auf den Variationskoeffizienten neben der Hhe des Transfers T vom Abstand der Einkommensniveaus von Geber und Nehmer l ky y abhngt.

    Betrachten wir etwa das Einkommensprofil Y = (10, 1000, 1990), bei dem fr die Einkommensabstnde 3 2 2 1y y y y = gelten. In dieser Situation kommt es gem der Formel (2.4) zur gleichen Vernderung des Variationskoeffizienten, wenn entweder Individuum 2 an das sehr arme Individuum 1 eine Geldeinheit oder aber wenn Individuum 3 an das weniger arme Individuum 2 eine Geldeinheit transfe-riert. In der Vernderung des Variationseffizienten spiegelt sich dieser Unterschied aber nicht wider, sondern beide Transfers lsen die gleiche Wirkung aus.

    2.2.3.2 Der Gini-Koeffizient

    Der Gini-Koeffizient ( )G Y zu einem Einkommensprofil Y errechnet sich als das Doppelte der in Abb. 2-6 beschriebenen Flche A zwischen der 45-Linie und der Lorenzkurve zu Y, so dass

    1( ) 2 2( ) 1 22

    G Y A B B= = = (2.5)

    gilt, wenn B fr die Flche unter der Lorenzkurve steht. Liegt die Lorenzkurve berall nher an der Winkelhalbierenden, verkleinert sich der Gini-Koeffizient, der deshalb in offensichtlicher Weise mit dem Lorenz-Kriterium vereinbar ist.

    Um die Implikationen des Gini-Koeffizienten besser verstehen zu knnen, be-rechnen wir ihn fr ein beliebiges Einkommensprofil 1 2 3( , , )Y y y y= im Drei-Personen-Fall.

    0

    Anteil am Gesamteinkommen

    Anteil der rmsten Individuen

    1

    1

    A

    B

    Abb. 2-6: Gini-Koeffizient

  • 22 2 Gleichheit und Gerechtigkeit

    0

    Anteil am Gesamteinkommen

    Anteil der rmsten Individuen

    1

    11/3 2/3

    y2

    y1

    y3

    3

    3

    3

    Abb. 2-7: Berechnung des Gini-Koeffizienten

    In der Abb. 2-7 ergibt sich dabei zunchst fr die Flche B unter der Lorenz-Kurve

    31 21 2 3

    1 1 2 1 1 1 1 1 1 1( ) ( ) (5 3 )2 3 3 3 2 3 3 3 2 3 3 6 3

    yy yB y y y

    = + + + + = + +

    mit als dem Durchschnittseinkommen Der Ausdruck fr B lsst sich durch

    Addition von 1 2 31 1 1( ) 06 3 6

    y y y

    + + = auf der rechten Seite umformen zu

    1 2 321 1(3 2 )

    63B y y y

    = + + . (2.6)

    Fr den Gini-Index selber erhlt man also

    1 2 321 2( ) 1 2 1 (3 2 )3 3

    G Y B y y y

    = = + + + . (2.7)

    Fr eine beliebige Zahl n von Individuen lautet die entsprechende Formel

    ( )1 221 2( ) 1 ( 1) ... nG Y ny n y yn n = + + + + . (2.8)Gem der Formel (2.8) erhlt bei der Berechnung des Gini-Koeffizienten das

    Einkommen eines Individuums ein umso hheres Gewicht, je weiter unten es in der Einkommenshierarchie angesiedelt ist. Ein Transfer eines reichen Individuums vermindert den Gini-Koeffizienten also umso strker, je rmer der Transferemp-fnger ist. Allerdings kommt dabei nur auf deren Position an, welche der Trans-

  • 2.3 Gesellschaftliche Wohlfahrtsfunktionen 23

    ferempfnger in der Einkommenshierarchie einnimmt, nicht aber auf die Hhe seines Einkommens und damit seine Bedrftigkeit.

    Folgerung 2-3: Das Lorenz-Kriterium erlaubt nicht den Vergleich beliebi-ger Einkommensverteilungen. Es lsst sich aber durch numerische Un-gleichheitsmae (z. B. den Variations- oder den Gini-Koeffizienten) ver-vollstndigen.

    2.3 Gesellschaftliche Wohlfahrtsfunktionen

    2.3.1 Utilitaristische Wohlfahrtsfunktion

    Sowohl der Variations- als auch der Gini-Koeffizient stellen ad hoc konzipierte Ungleichheitsmae dar, die keine unmittelbar einsichtige normative Basis haben. Man kann sich dem Problem der Ungleichheitsmessung aber auch aus ganz ande-rer Richtung nhern und von einer Bewertung der Einkommensprofile durch eine gesellschaftliche Wohlfahrtsfunktion H ausgehen. Im einfachsten Fall, auf den wir hier Bezug nehmen wollen, ist eine solche Wohlfahrtsfunktion additiv separabel und misst im Sinne einer Gleichbehandlung bei der Ermittlung des Gesamt-nutzens allen Individuen das gleiche Gewicht zu. Als Niveau der gesellschaftli-chen Wohlfahrt fr ein beliebiges Einkommensprofil 1( ,..., )nY y y= ergibt sich dann

    1( ) ( )

    n

    ii

    H Y h y=

    = , (2.9) wobei ( )h y eine streng monoton wachsende und streng konkave individuelle Nut-zenfunktion bezeichnet, die auf alle einzelnen Einkommensniveaus iy angewandt wird. Die Verwendung der gleichen Nutzenfunktion ( )h y fr alle Individuen be-deutet, dass alle Individuen als identisch angesehen werden.

    Mit Gerechtigkeitskriterien im engeren Sinne haben die durch ( )H Y gelieferten Bewertungen zunchst nichts zu tun. Vielmehr wird (im Sinne der utilitaristischen Maxime vom grten Glck der grten Zahl) der Gesamtnutzen in einer ko-nomie ermittelt, und in vielen Fllen werden Funktionen vom Typ (2.9) auch dazu verwendet, um bei gegebenen technischen Randbedingungen wohlfahrtsmaximale und damit optimale Allokationen zu bestimmen.

    Zur Motivation dieses utilitaristischen Ansatzes wird oftmals die fiktive Kon-struktion eines Schleier des Nichtwissens (engl. veil of ignorance) herangezo-gen, hinter dem ein reprsentatives Individuum nur wei, dass es spter mit der gleichen Wahrscheinlichkeit von 1/ n = eine der n mglichen gesellschaftlichen Positionen und die damit verbundenen Einkommensniveaus erreichen wird. Bei dieser Interpretation entspricht die Nutzenfunktion ( )h y dann einer aus der Ent-scheidungstheorie bei Risiko bekannten von-Neumann-Morgenstern-Nutzenfunk-tion, bei der strenge Konkavitt die Risikoversion des Individuums zum Ausdruck

  • 24 2 Gleichheit und Gerechtigkeit

    bringt. Wenn man das in (2.9) beschriebene Wohlfahrtsniveau ( )H Y durch n teilt, gibt die sich dann ergebende Wohlfahrt pro Kopf den Erwartungsnutzen des hinter dem Schleier des Nichtwissens stehenden Individuums an.

    Zwischen dem utilitaristischen Ansatz gem (2.9) und der Messung von Un-gleichheit besteht aber trotz des unterschiedlichen konzeptionellen Ausgangs-punkts ein enger Zusammenhang, wie die folgende berlegung zeigt. Dabei wird wiederum ein Dalton-Transfer vom reicheren Individuum l zum rmeren Indivi-duum k durchgefhrt und dann anhand von Abb. 2-8 geprft, wie sich dadurch die gesellschaftliche Wohlfahrt H ndert.

    Wenn in der Abb. 2-8 die zur Nutzenfunktion ( )h y gehrige Grenznutzenfunk-tion ( )h y fllt (das entspricht genau der Annahme der Konkavitt von ( )h y ), ist die Flche A (Gewinn an Wohlfahrt H durch den Transfer T) grer als die Flche B (Verlust an Wohlfahrt H durch den Transfer T). Bei gleichem Durchschnittsein-kommen fhrt eine Lorenz-gleichere Einkommensverteilung somit zu einer hhe-ren gesellschaftlichen Wohlfahrt gem H. Dies zeigt, dass der utilitaristische Ansatz in systematischer Weise zu einer Motivation des Gleichverteilungsziels beizutragen vermag.

    0

    Grenznutzen

    Einkommen

    h'(y)

    yk yk+ T ylyl - T Abb. 2-8: nderung der gesellschaftlichen Wohlfahrt

    Dalton-Transfers wirken sich auf die gesellschaftliche Wohlfahrt H sogar umso mehr aus, je niedriger das Anfangseinkommen des Empfngers ist. In Abb. 2-8 wchst dann die Flche A. Die relative Unempfindlichkeit des Effekts eines Dal-ton-Transfers gegenber der absoluten Bedrftigkeit des Empfngers, die wir beim Variationskoeffizienten und beim Gini-Koeffizienten festgestellt hatten, ist also bei einem utilitaristischen Kriterium mit streng konkaver Nutzenfunktion nicht gegeben. Auf der anderen Seite wird der Effekt eines Dalton-Transfers auf die Wohlfahrt kleiner, wenn das Einkommen des Gebers wchst. Auch dies ent-spricht der normativen Intuition, weil die Transferzahlungen einem Reichen eher zumutbar erscheinen.

  • 2.3 Gesellschaftliche Wohlfahrtsfunktionen 25

    Folgerung 2-4: Die utilitaristischen Wohlfahrtsfunktionen beruhen zwar nicht direkt auf einer Gleichheitsnorm, bei Verwendung einer konkaven Nutzenfunktion fhrt aber eine Lorenz-gleichere Verteilung zu einer hhe-ren Wohlfahrt. Auf diese Weise ergibt sich eine wohlfahrtstheoretische Be-grndung des Gleichverteilungsziels.

    2.3.2 Ungleichheitsaversion

    Die durch eine Gesellschaftliche Wohlfahrtsfunktion H bewirkte Bewertung von Ungleichheit hngt im starken Mae von der zugrunde gelegten individuellen Nutzenfunktion ( )h y ab. Um diesen Zusammenhang zu przisieren, betrachtet man fr ein gegebenes ( )h y zu jedem Einkommensprofil Y das Gleichheitsquiva-lent ( )he Y , das durch die Bedingung (( ( ),..., ( )) ( )h hH e Y e Y H Y= definiert wird. Ein solches Gleichheitsquivalent ( )he Y gibt also an, bei welchem vllig gleich-verteilten Einkommen die gesellschaftliche Wohlfahrt gem H genauso hoch wre wie bei Y.

    0

    Einkommen arm

    Einkommen reich y2eh(y)

    y1 = y2

    45o

    y1

    Abb. 2-9: Gleichheitsquivalent

    Das Gleichheitsquivalent ( )he Y wird in Abb. 2-9 als Schnittpunkt der durch das gegebene Einkommensprofil 1 2( , )Y y y= verlaufenden gesellschaftlichen Indifferenzkurve (dem geometrischen Ort aller Einkommensprofile mit dem glei-chen H-Wohlfahrtsniveau wie Y) mit der Winkelhalbierenden (der Gleichheitsli-nie) beschrieben. Wegen der Konvexitt der gesellschaftlichen Indifferenzkur-ven, die aus der unterstellten strengen Konkavitt der Nutzenfunktion h(y) folgt, ist das Gleichheitsquivalent immer kleiner als das Durchschnittseinkommen . Wie sich leicht zeigen lsst, gilt diese Aussage auch im allgemeinen n-Personen-Fall.

  • 26 2 Gleichheit und Gerechtigkeit

    Der Abstand zwischen ( )he Y und zeigt an, welches (in absoluten Gren ge-messene) Opfer an Gesamteinkommen gem der in der Wohlfahrtsfunktion H(Y) bzw. in der Nutzenfunktion h(y) zum Ausdruck kommenden gesellschaftlichen Prferenzen zur Herstellung einer absoluten Gleichverteilung der Einkommen akzeptabel erscheint. Je strker ( )he Y vom Durchschnittseinkommen abweicht, desto grer ist somit die von ( )h y zum Ausdruck gebrachte Ungleichheits-aversion. Wir wollen uns jetzt berlegen, von welchen Eigenschaften der Nutzen-funktion h(y) es im Einzelnen abhngt, wie gro diese Ungleichheitsaversion ist.

    Zu diesem Zweck betrachten wir zwei Nutzenfunktionen 1( )h y und 2 ( )h y mit den zugehrigen gesellschaftlichen Wohlfahrtsfunktionen 1H und 2H und nehmen an, dass die gesellschaftlichen Indifferenzkurven zu 2H fr jedes Einkommenspro-fil 1 2( , )y y mit 1 2y y< flacher verlaufen als die zu 1H , so dass

    2 2 1 2

    2 1 1 1

    ( ) ( )( ) ( )

    h y h yh y h y

    <

    (2.10)

    gilt. In diesem Falle wird jedes Gleichheitsquivalent zu 2 ( )h y kleiner als das Gleichheitsquivalent zu 1( )h y , so dass 2 ( )h y eine hhere Ungleichheitsaversion widerspiegelt als 1( )h y . Auf der linken (bzw. rechten) Seite von (2.10) steht der Betrag des Anstiegs der gesellschaftlichen Indifferenzkurve zu 2H (bzw. 1H ) im Punkt 1 2( , )y y . Die Bedingung (2.10) ist (wie man durch berkreuzmultiplizieren und Vertauschen der Seiten sieht) quivalent zu

    2 1 2 2

    1 1 1 2

    ( ) ( )( ) ( )

    h y h yh y h y

    >

    (2.11)

    Wegen 1 2y y< gilt diese Ungleichung, wenn der Quotient aus den beiden Grenznutzenfunktionen 2 ( )h y und 1( )h y mit steigendem y fllt, d. h. nach der

    Quotientenregel 2 2 1 2 121 1

    ( ) ( ) ( ) ( ) ( )' 0

    ( ) ( )h y h y h y h y h yh y h y

    =

    (2.12)

    ist. Die Elastizitt des Grenznutzens von 2 ( )h y ist dann berall grer als die Elas-tizitt des Grenznutzens von 1( )h y . In der Entscheidungstheorie bei Risiko ent-

    spricht die Elastizitt des Grenznutzens "( )

    '( )h y y

    h y

    bekanntlich dem Arrow-Pratt-

    Ma fr die Risikoversion. Im Rahmen einer Bewertung von Ungleichheit repr-sentiert sie, wie wir soeben gesehen haben, eine hhere Ungleichheitsaversion.

    Strebt die Ungleichheitsversion gegen Unendlich, nhern sich die gesellschaft-lichen Indifferenzkurven wie in Abb. 2-10 dargestellt einem L-frmigen Ver-lauf an.

  • 2.3 Gesellschaftliche Wohlfahrtsfunktionen 27

    0

    Einkommen arm

    Einkommen reich y2

    y1

    e ( y )

    e0( y ) Abb. 2-10: Ungleichheitsaversion und Gleichheitsquivalent

    Im Extremfall mit unendlich groer Ungleichheitsversion gilt dann auch im n-Personen-Fall fr jedes Einkommensprofil 1( ,..., )nY y y= mit 1 2 ... ny y y :

    1( )e Y y = . (2.13)

    Bei einer solchen extremen Ungleichheitsaversion ist man aus der Perspektive der gegebenen gesellschaftlichen Wohlfahrtsfunktion bereit, zur Herstellung von Gleichheit alle Individuen auf das Einkommensniveau des rmsten Individuums abzusenken. Mit der gngigen moralischen Intuition ist dies nicht vereinbar, insbe-sondere wenn die Anzahl n der Individuen gro und das zur Herstellung von Gleichheit ntige Einkommensopfer gro ist. Als gesellschaftliches Bewertungs-kriterium entspricht dieser Fall mit extremer Ungleichheitsaversion der aus der statistischen Entscheidungstheorie bekannten Maximin-Regel oder auch dem Dif-ferenzprinzip von Rawls.

    Das andere Extrem entspricht einer vlligen Abwesenheit von Ungleichheits-aversion, so dass Verteilungsneutralitt bei der Bewertung verschiedener Ein-kommensprofile herrscht. Dieser Fall ist bei ( )h y y= gegeben. Es gilt dann

    0 ( )e Y = . (2.14)

    Im Zwei-Personen-Diagramm sind die zugehrigen gesellschaftlichen Indiffe-renzkurven negativ geneigte 45-Linien. Bei einer solchen gesellschaftlichen Wohlfahrtsfunktion besteht keinerlei Bereitschaft zu irgendeinem noch so kleinen Verzicht an Gesamteinkommen, um eine Gleichverteilung der Einkommen herbei-zufhren. Das Gleichheitsziel spielt dann bei der gesellschaftlichen Bewertung von Einkommensprofilen berhaupt keine Rolle.

    Zur gngigen moralischen Intuition drfte es am ehesten passen, wenn ein Mit-telweg zwischen diesen beiden Extremen eingeschlagen wird. Jede streng mono-ton wachsende und streng konkave Nutzenfunktion ( )h y liefert ein solches Kom-

  • 28 2 Gleichheit und Gerechtigkeit

    promisskriterium. Der Grad der dabei zugrunde liegenden Ungleichheitsaversion hngt notwendigerweise von subjektiven Gerechtigkeitsvorstellungen ab.

    Folgerung 2-5: Die Ungleichheitsaversion einer gesellschaftlichen Wohl-fahrtsfunktion wird durch die zugrunde liegende Nutzenfunktion (und da-bei speziell durch ihre Elastizitt des Grenznutzens) bestimmt. Bei immer grer werdender Ungleichheitsaversion nhert sich die Bewertung dem Maximin-Kriterium bzw. dem Differenzprinzip von Rawls an.

    2.3.3 Die Messung von Ungleichheit mit Hilfe des Atkinson-Maes

    Mit Hilfe der zuvor betrachteten utilitaristischen Wohlfahrtsfunktionen wird es jetzt auch mglich, einen weiteren Typus von Ungleichheitskoeffizienten zu ent-wickeln. Das sich dabei ergebende Atkinson-Ma fr den Grad der Ungleichheit eines Einkommensprofils Y ist bei gegebener Nutzenfunktion ( )h y wie folgt definiert:

    ( )( ) 1 hh

    e YA Y

    = . (2.15)

    Ein Atkinson-Ma gibt also an, auf welchen prozentualen Anteil am Gesamt-einkommen man (bei einer Wohlfahrtsbewertung gem h bzw. H) zur Herstel-l