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140 Karin Bruckmüller Legistische und judizielle Aufarbeitung des Juliputsches 1. Die rasche Reaktion des Gesetzgebers auf den Juliputsch durch Schaffung zweier Spezialgesetze Nach dem gescheiterten Juliputsch im Jahre 1934 wurde seitens des Gesetzgebers sehr rasch auf die Ereignisse – insbesondere mit zwei Gesetzen – reagiert , wodurch die Vor- aussetzungen geschaffen wurden , am Putsch Beteiligte mit besonderen strafrechtlichen Verfahren zu verfolgen und mit speziellen „Sanktionen“1 zu belegen. Es handelt sich da- bei zum einen um das Gesetz über die Errichtung eines Militärgerichtshofes als Aus- nahmegericht zur Aburteilung der mit dem Umsturzversuch vom 25. Juli 1934 im Zu- sammenhang stehenden straaren Handlungen ,2 und zum anderen um das Gesetz über besondere Maßnahmen gegen die am Umsturzversuch vom 25. Juli 1934 beteiligten Per- sonen (sogenanntes „Putschistengesetz“).3 Im Folgenden werden diese Gesetze dargestellt und einzelne Gesetzesstellen analy- siert. Vorwegzunehmen ist , dass beide in einer Wechselwirkung zueinander stehen ; es bedarf somit des einen , um das andere interpretieren zu können. Zudem fügen sie sich in eine bereits bestehende Gesetzeslandschaſt ein , wodurch zur Auslegung und Beur- teilung dieser auch andere , allgemein geltende Gesetze herangezogen werden , so etwa das sogenannte „Anhaltegesetz“4 und das Bundesgesetz über die Beschlagnahme und den Verfall des Vermögens wegen verbotener politischer Betätigung.5 In weiterer Folge 1 Was hier unter dem Begriff „Sanktion“ zu verstehen ist , wird weiter unten erläutert. 2 Bundesverfassungsgesetz v. 26. 7. 1934 , BGBl. II 152 / 1934 , über die Einführung eines Militärge- richtshofes als Ausnahmegerichtes zur Aburteilung der mit dem Umsturzversuch v. 25. 7. 1934 im Zu- sammenhang stehenden straaren Handlungen (kurz: Militärgerichtshofgesetz , MGHG). 3 Bundesverfassungsgesetz v. 30. 7. 1934 , BGBl. II 163 / 1934 , über besondere Maßnahmen gegen die an dem Umsturzversuch v. 25. Juli 1934 beteiligten Personen (kurz: Putschistengesetz , PutschG). 4 Bundesgesetz v. 24. 9. 1934 , BGBl. II 253 / 1934 , betreffend die Verhaltung sicherheitsgefährlicher Personen zum Aufenthalte in einem bestimmten Orte oder Gebiete (kurz: Anhaltegesetz , AnhG). Sie- he dazu den Beitrag von Pia Schölnberger i n diesem Band. 5 Bundesgesetz v. 8. 6. 1934 , BGBl. II 71 / 1934 , über die Beschlagnahme und den Verfall des Vermö- gens wegen verbotener politischer Betätigung (kurz: Beschlagnahmegesetz). Siehe dazu die Beiträge von Ilse Reiter-Zatloukal und Christiane Rothländer i n diesem Band. Brought to you by | provisional account Unauthenticated | 128.148.252.35 Download Date | 6/21/14 10:13 PM

Österreich 1933-1938 (Interdisziplinäre Annäherungen an das Dollfuß-/Schuschnigg-Regime) || Legistische und judizielle Aufarbeitung des Juliputsches

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Karin Bruckmüller

Legistische und judizielle Aufarbeitung des Juliputsches

1. Die rasche Reaktion des Gesetzgebers auf den Juliputsch durch Schaffung zweier Spezialgesetze

Nach dem gescheiterten Juliputsch im Jahre 1934 wurde seitens des Gesetzgebers sehr rasch auf die Ereignisse – insbesondere mit zwei Gesetzen – reagiert , wodurch die Vor-aussetzungen geschaffen wurden , am Putsch Beteiligte mit besonderen strafrechtlichen Verfahren zu verfolgen und mit speziellen „Sanktionen“1 zu belegen. Es handelt sich da-bei zum einen um das Gesetz über die Errichtung eines Militärgerichtshofes als Aus-nahmegericht zur Aburteilung der mit dem Umsturzversuch vom 25. Juli 1934 im Zu-sammenhang stehenden strafbaren Handlungen ,2 und zum anderen um das Gesetz über besondere Maßnahmen gegen die am Umsturzversuch vom 25. Juli 1934 beteiligten Per-sonen (sogenanntes „Putschistengesetz“).3

Im Folgenden werden diese Gesetze dargestellt und einzelne Gesetzesstellen analy-siert. Vorwegzunehmen ist , dass beide in einer Wechselwirkung zueinander stehen ; es bedarf somit des einen , um das andere interpretieren zu können. Zudem fügen sie sich in eine bereits bestehende Gesetzeslandschaft ein , wodurch zur Auslegung und Beur-teilung dieser auch andere , allgemein geltende Gesetze herangezogen werden , so etwa das sogenannte „Anhaltegesetz“4 und das Bundesgesetz über die Beschlagnahme und den Verfall des Vermögens wegen verbotener politischer Betätigung.5 In weiterer Folge

1 Was hier unter dem Begriff „Sanktion“ zu verstehen ist , wird weiter unten erläutert.2 Bundesverfassungsgesetz v. 26. 7. 1934 , BGBl.  II 152 / 1934 , über die Einführung eines Militärge-richtshofes als Ausnahmegerichtes zur Aburteilung der mit dem Umsturzversuch v. 25. 7. 1934 im Zu-sammenhang stehenden strafbaren Handlungen (kurz: Militärgerichtshofgesetz , MGHG).3 Bundesverfassungsgesetz v. 30. 7. 1934 , BGBl. II 163 / 1934 , über besondere Maßnahmen gegen die an dem Umsturzversuch v. 25. Juli 1934 beteiligten Personen (kurz: Putschistengesetz , PutschG).4 Bundesgesetz v. 24. 9. 1934 , BGBl.  II 253 / 1934 , betreffend die Verhaltung sicherheitsgefährlicher Personen zum Aufenthalte in einem bestimmten Orte oder Gebiete (kurz: Anhaltegesetz , AnhG). Sie-he dazu den Beitrag von Pia Schölnberger in diesem Band.5 Bundesgesetz v. 8. 6. 1934 , BGBl. II 71 / 1934 , über die Beschlagnahme und den Verfall des Vermö-gens wegen verbotener politischer Betätigung (kurz: Beschlagnahmegesetz). Siehe dazu die Beiträge von Ilse Reiter-Zatloukal und Christiane Rothländer in diesem Band.

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Bruckmüller : Legistische und judizielle Aufarbeitung des Juliputsches : Legistische und judizielle Aufarbeitung des Juliputsches: Legistische und judizielle Aufarbeitung des Juliputsches

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werden die Einsetzung des Militärgerichtshofes und die Verfahren gegen (mutmaß-liche) Putschisten auf ihre Rechtsstaatlichkeit6 hin überprüft ; nämlich insbesondere dahingehend , ob dieses Sondergericht rechtskonform konstituiert wurde , ob Willkür bei der Anwendung der Gesetze herrschte oder ob grundlegende Verfahrensgrundsät-ze – somit nach heutigem Verständnis Menschenrechte – eingehalten wurden. Grund-sätzlich ist in diesem Zusammenhang zu sagen , dass derartige Anlassgesetzgebungen zumeist Regelungen enthalten , die sich außerhalb bestehender (Verfahrens-)Grund-sätze  –  etwa der Prinzipien der damals geltenden Strafprozessordnung  –  befinden , um eben auf die spezielle Situation angepasster reagieren zu können. Dennoch müs-sen sich diese innerhalb der Grenzen grundlegender Rechtsprinzipien , die nunmehr in den entsprechenden Regelungen über Menschenrechte und Grundrechte schriftlich verankert sind ,7 bewegen. Zudem sind bei Rehabilitationsfragen auch gegenwärtige Maßstäbe anzulegen. Als Grundlage zur Analyse werden die Gesetzeslage sowie die Gesetzesmaterialen herangezogen ; rechtliche Perspektiven knüpfen des Weiteren an die Forschungsergebnisse von HistorikerInnen an.

2. Die Errichtung des Militärgerichtshofes

Das „Gesetz über die Einführung eines Militärgerichtshofes als Ausnahmegerichtes zur Aburteilung der mit dem Umsturzversuch vom 25. Juli 1934 im Zusammenhang stehen-den strafbaren Handlungen“ führte , wie der Name schon sagt , zur baldigen Einrich-tung eines Militärgerichtshofes , der als Ausnahmegerichtshof statuiert war und des-sen Richter jene Täter verurteilen sollten , die führend am Putsch beteiligt8 und somit hauptverantwortlich waren.

2. 1 Täterkreis und Taten

Als Hauptverantwortliche wurden insbesondere jene Personen angesehen , welche die im Gesetz zur Einführung des Militärgerichtshofes (§ 1 Abs. 2) genannten – für Putsch-(versuche) typischen  –  Delikte wie etwa Hochverrat , Mord , Totschlag , Aufruhr , Auf-stand , Raub , schwere Körperverletzungen oder etwa auch Brandlegungen9 im Zusam-menhang mit dem Umsturzversuch begangen hatten. Außerdem sollten Personen vor

6 Die beiden Termini „Rechtsstaatlichkeit“ und „Menschenrechte“ werden unter der Annahme verwendet , dass in Verfahren gegen jedermann grundlegende Verfahrensgrundsätze , die Menschen-rechtscharakter haben , einzuhalten sind , somit auch gegen PutschistInnen oder heute – auch wenn dies immer wieder in Diskussionen in Frage gestellt wird – für TerroristInnen.7 Auch wenn es zur damaligen Zeit die „Menschenrechte“ nicht in der heute bestehenden Art und Weise gab , so waren doch grundlegende (Verfahrens-)Schutzrechte (als ius cogens) als Grenzen aner-kannt. Gerade auch die Herausbildung der Menschenrechte nach der NS-Zeit aufgrund der nachträg-lichen Feststellung von Vorgehensweisen als menschenrechtsverletzend zeigt , dass Basisverfahrens-rechte , wie etwa adäquate Verteidigungsrechte , auch damals unabdingbar gewesen waren. Allerdings besteht das praktische Problem , einen Vergleich mit der damaligen Rechtslage und deren Auslegung in der Praxis vorzunehmen , darin , dass es keine entsprechenden Kommentare und Lehrbücher dazu gibt.8 Im Gegensatz zu den Minderbeteiligten , die unter das Putschistengesetz (siehe unten) fallen.9 Es wird hier jeweils auf den entsprechenden Paragrafen im Strafgesetzbuch verwiesen. Somit sind die einzelnen Tatbestandselemente des Delikts aus diesem zu ersehen.

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dem Militärgerichtshof gerichtet werden , die der Durchführung dieser Taten Vorschub geleistet hatten (§ 1 Abs. 2 Z 11). Dazu zählten , wie aus einem Erlass des Bundesministe-riums für Justiz zum „Putschistengesetz“ hervorgeht ,10 insbesondere die „Rädelsführer“ ; etwa Rädelsführer des Aufruhrs , worunter nach der Judikatur des Obersten Gerichtshofs (OGH) „jeder Anführer einer aufrührerischen Zusammenrottung“11 oder nach Sicht des Justizministeriums diejenigen Personen verstanden wurden , welche die geistigen Urhe-ber des Putsches waren oder sonst wesentlich zu einer der Taten beigetragen hatten.12

2. 2 Die Verfahren vor dem Militärgerichtshof

Der Gerichtshof verhandelte in Senaten , die aus einem Verhandlungsleiter , einem Be-rufsrichter , und drei Offizieren des Bundesheeres , die als Richter fungierten und de-ren Rangältester den Vorsitz innehatte , zusammengesetzt waren.13 Die Senatsmitglie-der wurden ausnahmslos vom Justiz- und Landesverteidigungsminister bestellt.14 Laut Gesetz waren die Richter unabhängig.15 Dem Beschuldigten wurde ein Verteidiger zur Seite gestellt , allerdings von Amts wegen ,16 d. h. , der Beschuldigte hatte keine Aus-wahlmöglichkeit bei der Bestellung des Verteidigers. Das Verfahren wurde öffentlich und mündlich geführt. In bestimmten Fällen , wie etwa bei Mord , Aufruhr , Brandstif-tung oder Sprengstoffdelikten , hatte der Gerichtshof die Todesstrafe obligatorisch zu verhängen , die innerhalb von drei Stunden zu vollziehen war.17 Gegen das Urteil gab es kein Rechtsmittel , somit keine Überprüfungsinstanz , und Gnadengesuchen kam keine aufschiebende Wirkung zu.18

2. 2. 1 Warum ein Militärgerichtshof ?Es stellt sich die Frage , weshalb den politischen Machthabern und in weiterer Folge dem Gesetzgeber die Standgerichte , die etwa für Mord , Brandstiftung und schwere Sachbeschädigung zuständig waren , bzw. die ordentlichen Gerichte zur Aburteilung der Putschisten als ungeeignet oder nicht ausreichend erschienen , sodass über die zu-

10 Erlass des BMJ v. 1. 8. 1934 , Zl. 120.007 / 1934. Dieser Erlass gibt der Staatsanwaltschaft eine Richt-linie zur Abgrenzung der Minderbeteiligten von den führenden Beteiligten zur Hand ; diese erfolgt über ein Ausschlusssystem. Minderbeteiligte sind demnach „alle Personen […] , die nicht als Auf-wiegler oder Rädelsführer tätig waren , eine schwere Gewalttat begangen oder als geistige Urheber oder sonstwie in besonders wirksamer Weise den Umsturzversuche gefördert oder begünstig haben“ , abgedruckt bei Meister (1935) , 216.11 Entscheidung des Obersten Gerichtshofs v. 9. 7. 1934 , 5  Os 608 / 1934 , zit. n. Erlass des BMJ v. 1. 8. 1934 , Zl. 120.007 / 1934 , abgedruckt bei Meister (1935) , 216.12 Siehe Fn 10 , mit genauem Wortlaut ; siehe auch Enderle-Burcel (1986) , VIII / 7 , 638 (MRP 956 , 25. 7. 1934) , 644 (MRP 957 , 26. 7. 1934 , Wortmeldung insbes. Schuschnigg , Karwinsky). Dies basiert auf der allgemeinen Beteiligungslehre , vgl. dazu Gamp (1931) , 27 ff.13 § 3 Abs. 1 MGHG.14 § 2 Abs. 2 MGHG ; die Offiziere wurden vom Verteidigungsminister , der Berufsrichter sowie der Staatsanwalt und dessen Vertreter vom Justizminister bestellt.15 § 3 Abs. 2 MGHG ; vgl. zur Aufhebung der Unabhängigkeit der Justiz Neugebauer (2005) , 300 f.16 § 6 Abs. 2 MGHG.17 § 13 Abs. 1 MGHG.18 § 14 Abs. 2 MGHG.

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meist militärfremden bzw. aus dem Militärdienst ausgetretenen oder als Nationalso-zialisten entlassenen19 führenden Putschisten statt vor diesen ausgerechnet durch ein Militärgericht verhandelt wurde.

Die Idee für diese Sondergerichte wurde im Ministerrat von Justizminister Kurt Schuschnigg aufgebracht. Er war der Meinung , dass durch die ordentlichen Gerichte , aber auch durch Standgerichte , die Täter nicht eruiert und in weiterer Folge nicht ent-sprechend bestraft werden würden.20 Da bei der Aufklärung der Tötung von Bundes-kanzler Engelbert Dollfuß viele Sachverhaltsfragen offen geblieben waren , insbesonde-re hinsichtlich der Identität des eigentlichen Mörders , hätte es etwa beim Standgericht keine rasche und wohl auch keine eindeutige Aufklärung hinsichtlich der kausalen Handlung für den Mord geben können. Wie Odo Neustädter-Stürmer richtig bemerkte , galt „Standrecht […] zwar für Mord , aber nicht für Aufruhr. Die Leute werden sagen , sie wissen nicht , wer von den 140 es war.“21 Vor dem Militärgerichtshof konnte man in jedem Fall über die Annahme an der Teilnahme an einem Aufstand oder Aufruhr22 Kausalitätsprobleme rasch lösen , und zwar ohne weitere Beweisführung. Für die Ver-urteilung nach Mord hätte man demgegenüber beweisen müssen , wer tatsächlich die Tötungshandlung gesetzt und wer sich nur durch sonstige Hilfs- oder Bestimmungs-handlungen beteiligt hatte.

Die Entscheidung , auch Vorbereitungs- und nicht nur die direkten Putschhandlun-gen vor das Militärgericht zu bringen , war darüber hinaus aufgrund verfahrensökono-mischer Überlegungen getroffen worden: Man wollte keine Doppelgleisigkeit und eine dadurch entstehende Mehrbelastung für die ordentlichen Gerichte und Standgerichte.23

Ein weiterer Grund  –  aus rechtspolitischer Sicht  –  war wohl , dass möglichst strenge Strafen besonders schnell verhängt werden sollten , offenbar um die Regierung nach außen hin , sowohl der Bevölkerung als auch dem Ausland gegenüber , als gefestigt zu zeigen.24 Der damit in Zusammenhang stehende Sühnegedanke , als wahrscheinlicher Hauptgrund , kam in der Diskussion zur Einführung der Militärgesetze immer wieder zum Ausdruck. So betonte Schuschnigg , dass „bezüglich der ganz besonderen Ereignisse vom 15. Juli 1934 die absolut sichere Gewähr für eine gerechte Sühne gegeben sein müsse“.25 Beides , sowohl die strengen Strafen als auch die schnellen Verfahren , konnten damals überdies wohl auch besser durch Richter , die dem Militär entstammten , gewährleistet werden ,26 und zwar nicht nur , weil die Verfahren an sich stärker einem Militärprozess gleichen sollten , son-dern wohl insbesondere , weil sich die ordentlichen Gerichte oftmals – den Erkenntnissen der HistorikerInnen zufolge – als sehr „Nazi-freundlich“ gezeigt hatten.27

19 Siehe dazu unten bei FN 29.20 Siehe Enderle-Burcel (1986) , VIII / 7 , 638 (MRP 956 , 25. 7. 1934).21 Ebd. , 637 Fn XIV.22 Siehe zu den Tatbeständen Gampp (1931) , 82 ff.23 Siehe Enderle-Burcel (1986) , VIII / 7 , 645 ff. (MRP 957 , 26. 7. 1934). Zudem konnten dadurch auch Fragen hinsichtlich des Zusammenhangs der Taten mit dem Putsch offener gestaltet und gelöst werden.24 So siehe u. a. ebd. , 639 (Wortmeldung Kienböck ; in anderem Zusammenhang wird es angedeutet von Winterstein).25 Ebd. , 645.26 Die Argumente sind ebd. zu finden , 644 ff.27 Vgl. beispielsweise Neugebauer (2005) , 305 ; Rothländer (2012) , 229–250 , 297 f.

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Für die Schaffung und Zuständigkeit eines Militärgerichtshofes musste jedoch , weil die Militärgerichtsbarkeit in Österreich 1920 grundsätzlich beseitigt worden war , auch eine rechtlich-dogmatische Begründung gefunden werden.28 Zwar standen und stehen (erfolglose) PutschistInnen  –  historisch gesehen  –  zumeist vor einem Militärgericht , jedoch überwiegend deshalb , weil Putschversuche durch das Militär selbst erfolgten.29 Beim Juliputsch ging man während der Debatte um das Gesetz allerdings davon aus , dass von den mutmaßlichen 148 Tätern nur einer aktiver Angehöriger des Heeres war , und 106  ehemalige Heeresangehörige waren.30 Um die Zuständigkeit eines Militärge-richtshofes dennoch rechtlich begründen zu können , wurde die Zeit des Putsches als Kriegszustand eingestuft , und zwar mit dem Argument , dass das Militär hatte eingrei-fen müssen.31 Neben den genannten rechtlichen Gründen war nach Wolfgang Neuge-bauer32 aber für die Entscheidung , ein Militärgericht einzusetzen , auch ausschlagge-bend , dass zahlreiche Polizeiangehörige am Putsch beteiligt gewesen waren.33

2. 2. 2 Rechtliche ÜberlegungenDie Einsetzung eines derartigen Ausnahmegerichtes erscheint allerdings – nicht nur aus heutiger Sicht34  –  rechtsstaatlich bedenklich , da nach der österreichischen Rechtsord-nung seit 186235 niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden darf , um Be-einflussung und Parteilichkeit des Gerichts zu verhindern. Bereits zum Tatzeitpunkt muss der gesetzliche Richter feststehen. Auch in der Zwischenkriegszeit galt infolge der Rezeption dieser Bestimmungen 1918 das Recht auf den gesetzlichen Richter. Nach der Bundesverfassung von 1920 war überdies die Errichtung von Ausnahmegerichten36 ex-plizit nur „in den durch die Gesetze über das Verfahren in Strafsachen geregelten Fällen zulässig“ ,37 also in den Fällen , in denen nach der Strafprozessordnung (§§ 429 ff. StPO 1873) die Einsetzung des Standgerichtes zulässig war , d. h. bei Aufruhr , „wenn die üb-rigen gesetzlichen Mittel zu dessen Unterdrückung nicht ausreichen“ , oder wenn in einzelnen oder mehreren Bezirken Mord , Brandlegung und öffentliche Gewalttätigkeit durch boshafte Beschädigung fremden Eigentums „in besonders gefahrdrohender Weise um sich greifen“. Auch in der Verfassung 1934 war das Recht auf den gesetzlichen Rich-

28 Die eigentliche „Militärgerichtsbarkeit war – außer für Kriegszeiten – aufgehoben“ (Art. 84 B-VG).29 So z. B. beim Kapp-Lüttwitz-Putsch in Deutschland 1920.30 Siehe Enderle-Burcel (1986) , VIII / 7 , 644 (MRP 957 , 26. 7. 1934 , Karwinsky) ; siehe zur Rolle der SS während des Juliputsches Rothländer (2012) , 444 ff.31 Siehe Enderle-Burcel (1986) , VIII / 7 , 644 ff. (MRP 957 , 26. 7. 1934 , Neustädter-Stürmer).32 Siehe Neugebauer (2005) , 304.33 Vgl. dazu Rothländer (2012) , 411–413 , 429–436.34 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das mit dem Recht auf den gesetzlichen Richter verbunde-ne Recht auf ein faires Verfahren in der Europäischen Menschenrechtskonvention festgelegt , siehe Art. 6 EMRK.35 § 1 des Gesetzes v. 27. 11. 1862 zum Schutze der persönlichen Freiheit , RGBl. 87 / 1862 , das im Staatsgrundgesetz v. 21. 12. 1867 über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder , RGBl. 142 / 1867 , zu dessen Bestandteil erklärt wurde und daher bis heute in Kraft ist.36 Art. 83 B-VG.37 Art. 83 Abs. 3 B-VG.

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ter normiert , wobei Ausnahmegerichte nun „nur in den von den Gesetzen im voraus [sic] bestimmten Fällen zulässig“ waren.38 Dies war freilich hinsichtlich des Militärgerichts-hofes nicht der Fall , da dieser eben nicht schon zum Zeitpunkt des Putsches für derarti-ge Delikte bestanden hatte , sondern erst anlassbezogen eingerichtet worden war.

Wie sind nun die straff geführten , mit Einschränkungen bei den Verfahrensrechten verbundenen Verfahren vor diesem Militärgerichtshof aus rechtlicher Sicht zu beurtei-len ? Das Gesetz über die Einführung eines Militärgerichtshofes enthält einerseits Rege-lungen , welche rechtsstaatliche Grenzen , auch der damaligen Zeit , überschreiten. Zwar wird im Gesetz bei der Festlegung , wie und unter welchen Voraussetzungen das Ver-fahren zu führen ist , oftmals auf die Grundsätze der Strafprozessordnung verwiesen.39 Alleine durch dieses schriftliche Bekenntnis sind aber die Verfahrensgarantien in der Umsetzung nicht gesichert. Es wurden nämlich durch die Anwendung der strafprozes-sualen Normen ganz fundamentale Verfahrensgrundsätze ausgehebelt.40

Überdies liefen die Verfahren vor dem Militärgerichtshof nicht ohne Einfluss der Re-gierung auf alle Verfahrensbeteiligte ab: Bereits im Ministerrat wurde in Bezug auf die Abgrenzung zwischen Militärgerichtshof und ordentlichen Gerichten konstatiert , dass man der Staatsanwaltschaft interne Weisungen41 erteilen müsse.42 Im Falle der Verhandlung gegen den von den Putschisten als Bundeskanzler vorgesehenen Anton Rintelen wurde der Staatsanwalt sogar explizit angewiesen , den Prozess so zu führen (gemeint war damit wohl , bereits die Anklage derart zu gestalten) , dass vom Gericht „nur“ auf lebenslangen Kerker erkannt werden könne.43 Hier zeigt sich auch beispielhaft die Tendenz zur Ungleichbehandlung innerhalb der Sondergerichtsbarkeit , politisch bedeutende(re) Personen milder zu behandeln.44

Aufgrund der ausnahmslosen Einsetzung der Richter durch die Regierung konnten die Verfahren ebenfalls gelenkt werden. Die Unparteilichkeit der Richter , die im Gesetz zur Errichtung eines Militärgerichtshofes45 zumindest formell verankert war ,46 muss daher infrage gestellt werden und führte wohl zu der in der Literatur festgestellten „Vor-eingenommenheit der Richter“ in diesen Verfahren.47

38 Art. 100 Abs. 3 der Verfassung 1934 , BGBl. II 1 / 1934.39 Vgl etwa § 6 MGHG.40 § 6 Abs. 1 MGHG.41 Zwar ist die Staatsanwaltschaft – auch heute noch – eine weisungsgebundene Behörde , doch wur-den hier rechtlich nicht gerechtfertigte Weisungen erteilt.42 Siehe Enderle-Burcel (1986) , VIII / 7 , 651 (MRP 957 , 26. 7. 1934).43 Vgl. Jagschitz (1976) , 173.44 Vgl. Neugebauer (2005) , 305.45 § 3 Abs. 2 MGHG.46 So bezog sich § 28 des Bundesverfassungsgesetzes v. 19. Juni. 1934 betreffend den Übergang zur stän-dischen Verfassung (Verfassungsübergangsgesetz 1934) , BGBl.  II 75 / 1934 , auf die Unparteilichkeit der Rechtssprechung , allerdings im Zusammenhang mit der Einschränkung der Unab- und Unversetzbarkeit der Richter , die u. a. dann erfolgten konnte , wenn „ihr Verbleiben auf ihrem Dienstposten oder im richter-lichen Dienste überhaupt dem Ansehen der Rechtspflege offenbar zum Abbruch gereichen , insbesondere die Unparteilichkeit der Rechtsprechung nicht mehr gewährleisten würde“ , vgl. zur Verlängerung dieser Bestimmung bis zum „Anschluss“ Reiter (2007) , 105 ff. und insbes. 107. Vgl. u. a. Neugebauer (2005) , 306.47 Vgl. etwa Holtmann (1975b) , 39.

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Durch den Ausschluss eines Wahlverteidigers nach dem Gesetz und die Beigabe ei-nes Verteidigers von Amts wegen konnte ebenfalls Einfluss ausgeübt werden. Der Be-schuldigte hatte somit kein Recht und auch keine Möglichkeit , sich seinen Verteidiger , der tatsächlich seine Interessen vertreten hätte , selbst zu wählen. Den bestellten Vertei-digern wurde vom Justizminister freilich zugesichert , dass ihnen „aus der im Rahmen des Gesetzes ausgeübten Verteidigung in keiner Weise ein Nachteil erwachsen kann und erwachsen wird“.48 In der Praxis wurde dieser Garantie allerdings nicht (immer) ent-sprochen , wurde doch etwa Otto Planettas Anwalt , der bekannte NS-Anwalt Erich Füh-rer , wegen seines kritischen Plädoyers in das Anhaltelager Wöllersdorf eingewiesen.49

In der Umsetzung des Rechts zeigt sich weiters , dass die Findung der materiellen Wahrheit ein wohl nur nachrangiges Ziel darstellte. Dies kann durch die Ladung aus-schließlich anklagekonformer Tatzeugen und die Ablehnung sämtlicher der Entlastung dienenden Beweisanträge50 festgemacht werden. Zudem erscheint es bei der Kürze der Verfahrensdauer unmöglich , die komplexen , bei der Anklage z. T. noch nicht vollstän-dig ermittelten Kausalsachverhalte für einen Schuldspruch ausreichend zu klären.51

Die Urteile – sogar diejenigen , in denen die Todesstrafe ausgesprochen wurde – konn-ten nicht mit einem ordentlichen Rechtsmittel oder aufschiebenden Gnadengesuch bekämpft werden. Das Recht der überinstanzlichen Überprüfbarkeit gehört jedoch zu jedem fairen – somit rechtsstaatlichen – Verfahren. Bei der Verweigerung eines Rechts-mittels werden abermals , damals wie heute , die Verteidigungsrechte verletzt.

3. Zahlen zu den Verfahren

Nach der Literatur liegen mit Stichtag vom 22. Oktober 1934 folgende Zahlen zu den Ver-fahren des Militärgerichtshofes (MGH) vor: 527 Personen waren in 213 Verfahren rechts-kräftig verurteilt worden. Bei 96  Fällen mit 231  Angeklagten war es zu einer Verfah-renseinstellung gekommen. Gegen 672 Personen waren noch Verfahren anhängig und 126  Anklagen waren an die ordentlichen Gerichte abgetreten worden. Insgesamt ka-men letztlich 5.300 bis 5.500 Personen mit den Gerichten in Kontakt , wobei hier auch die mutmaßlichen Putschisten eingerechnet sind , die als sogenannte „Minderbeteiligte“ angezeigt52 und angehalten worden waren. Aus diesen Zahlen wird ersichtlich , dass die Reaktionen auf Straftaten , die während des Putsches begangen wurden , in drei Richtun-gen gingen: 1. Verfahren vor dem bereits behandelten Militärgerichtshof , 2. Verfahren vor bereits bestehenden ordentlichen Gerichten und 3. Anordnung der Anhaltung. Die graduelle Unterscheidung der Strafverfolgung und Strafbehandlung wird hier deutlich.

48 Zit. n. Reiter-Zatloukal (2010) , 21.49 Vgl. Jagschitz (1976) , 172.50 Holtmann (1975b) , 39.51 Jagschitz (1976) , 172 , schreibt dazu: „Das Militärgerichtsverfahren wurde […] oberflächlich und hastig durchgeführt , wichtige Fragen wurden nicht erörtert“.52 Vgl. Holtmann (1975b) , 38 f.

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4. Exkurs: Die Unschuldsvermutung

Aus den Zahlen ergibt sich , dass es bei den Verfahren gegen mutmaßliche Putschis-ten auch Einstellungen53 gab. An dieser Stelle ist daher kurz auf die Unschuldsvermu-tung zu verweisen: Die Unschuldsvermutung besagt , dass jeder bis zum Beweis seiner Schuld bzw. der tatsächlichen Tatbegehung in einem justizförmigen Verfahren als un-schuldig gilt.54 Die Einstellungen zeigen , dass Personen , die angezeigt wurden , nicht zwingend auch als am Putsch Beteiligte verurteilt wurden , etwa weil nicht genügend Beweise gegen sie vorlagen. Aus diesem Grund ist die Heranziehung der Anzeigesta-tistiken in der einschlägigen historischen Literatur ,55 um personenbezogene Daten der „Putschisten“ näher zu bestimmen – aus strafrechtlicher Sicht – zu hinterfragen. Auch wenn diese Statistiken interessante und gewinnbringende Erkenntnisquellen sind , dürften genau genommen , um jemanden als Putschisten zu bezeichnen , nur rei-ne Verurteiltenstatistiken und Beschlüsse der Staatsanwaltschaft für eine Anhaltung verwendet werden , sind doch in der Anzeigenstatistik auch unschuldige Personen er-fasst , wie etwa ein Passant , der sich gegen einen Putschisten wehrte und dabei von der Polizei fälschlicherweise festgenommen wurde , oder Personen , die aufgrund von Zeu-genaussagen verwechselt und angezeigt wurden.

5. Weitere Regierungsmaßnahmen gegen die am Juliputsch Beteiligten: Die Verbringung Minderbeteiligter in die Anhaltelager

Um das Verfahren hinsichtlich der Minderbeteiligten eruieren zu können , ist das bereits genannte „Putschistengesetz“ heranzuziehen. Hiernach waren „Personen , die an strafba-ren Handlungen beteiligt waren , die mit dem Umsturzversuch vom 25. Juli 1934 im Zu-sammenhang stehen , sofern sie nur als minder Beteiligte anzusehen sind , […] in einem bestimmten Ort anzuhalten“ (§ 1 PutschG). Bei diesem Gesetz handelt es sich um ein – bei näherer Betrachtung – sehr komplexes Gesetz. Man kann hier vorwegnehmen , dass es , je-denfalls aus heutiger Sicht , wohl einige „pseudolegale“ Gesetzesabschnitte enthält.

5. 1 Täterkreis und Taten

Um das „Putschistengesetz“ anwenden zu können , musste eine gerichtlich strafbare Handlung vorliegen , die während des Putsches von einem sogenannten „Minderbetei-ligten“ begangen worden war. Das Gesetz bestimmt jedoch nicht näher , wer als Min-derbeteiligter infrage kommt. Dies wird durch einen Erlass des Ministeriums für Justiz mittels Ausschlussverfahren etwas näher bestimmt.56 Diesem Erlass zufolge sind Min-

53 Dazu , dass es bei der ordentlichen Gerichtsbarkeit jedenfalls einen Freispruch gab , Bauer (2003) , 312.54 „Jede Person gilt bis zu ihrer rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig“ , so jedenfalls die heu-tige Strafprozessordnung 1975 (StPO) , BGBl. 61 / 1975 , in der Fassung von BGBl. I 103 / 2011 ; bis 2008 war der Grundsatz nicht geregelt , aber anerkannt.55 So etwa Bauer (2003) , 131.56 Vgl. Erlass des BMJ v. 1. 8. 1934 , Zl.  120.007 / 1934. Zu finden im Anhang an das „Putschistenge-setz“ bei Meister (1935) , 216 f.

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derbeteiligte alle Personen , die nicht als Rädelsführer oder Aufwiegler tätig gewesen wa-ren , die keine schweren Gewalttaten im Zuge des Putsches begangen hatten bzw. nicht dessen geistige Urheber gewesen waren , sowie jene , die nicht auf besonders wirksame Weise den Putschversuch gefördert oder begünstigt hatten. Es konnte somit sehr weit ausgelegt werden , wer als Minderbeteiligter anzusehen war.57

5. 2 Die Anhalteverfahren und deren Beurteilung

Das Verfahren bestimmte an sich die Sicherheitsbehörde ; wenn allerdings bereits eine Anzeige erstattet worden war , die Staatsanwaltschaft durch Beschlus. Sie legte dann fest, wer als Minderbeteiligter in Anhaltung zu nehmen sei.58 Ein Rechtsmittel ist auch hier nicht vorgesehen.59 Untersucht man den § 1 des „Putschistengesetzes“ näher , ergibt sich , dass es sich bei der Anhaltung nicht – wie dem ersten Anschein nach – um eine sicherheitspolizeiliche Maßnahme handelt. Die Anhaltung , die auf sicherheitspolizei-lichen Elementen aufbaut , war im sogenannten „Anhaltegesetz“60 verankert und zielte darauf ab , künftige Taten einer Person aufgrund ihrer Gefährlichkeit zu verhindern. So konnte man „von vornherein“ die „voraussichtlichen [Rädels-]Führer […] durch Inter-nierung […] unschädlich […] machen“.61 Im „Putschistengesetz“ hingegen war die An-haltung , so wie der Tatbestand in § 1 Abs. 1 beschrieben ist , mit Anordnung der schwe-ren Zwangsarbeit als repressive Sanktion für eine Tat , die im Zusammenhang mit dem Putsch begangen worden war , auszulegen.62

Rechtlich interessant , aber auch rechtsstaatlich bedenklich , ist die Konstruktion , dass grundsätzlich die Polizei eine Sanktion über eine gerichtlich strafbare Handlung durch Beschluss aussprechen konnte , ohne dass zuvor ein gerichtliches Verfahren mit Beweisführung stattgefunden hatte oder ein Urteil ausgesprochen worden war.63 War solch ein polizeilicher Beschluss erfolgt , musste zwar – so jedenfalls laut Erlass64 – jede Anhaltung bei der Staatsanwaltschaft angezeigt werden. Der Staatsanwaltschaft oblag es dann , diese Entscheidung der Polizei zu überprüfen. Inwieweit tatsächlich bzw. wie genau Überprüfungen stattgefunden haben , ist nicht ersichtlich. Auch wenn die Anhal-tung vom strafprozessualen Vorgehen her an eine Art Untersuchungshaft , die auf un-bestimmte Zeit ausgesprochen wurde , erinnert , handelt es sich doch um eine repressive Sanktion , die von der Polizei angeordnet und von der Staatsanwaltschaft überprüft bzw. von dieser letztendlich verhängt wurde.

57 Überspitzt gesagt , kann sogar etwa die Zurverfügungstellung von Zündhölzern für eine Brand-legung während des Putsches darunterfallen , wenn die Person Vorsatz darauf hatte , dass die Zünd-hölzer derart Verwendung finden.58 § 2 PutschG.59 § 7 PutschG.60 Bundesgesetz v. 24. 9. 1934 , BGBl.  II 253 / 1934 , betreffend die Verhaltung sicherheitsgefährlicher Personen zum Aufenthalte in einem bestimmten Orte oder Gebiete.61 Vgl. dazu Schölnberger (2010a) , 195 ; dies. (2010b).62 Diese Konstruktion ist mit den heutigen „vorbeugenden Maßnahmen“ zu vergleichen.63 § 1 Abs. 2 PutschG.64 Erlass des BMJ v. 1. 8. 1934 , Zl. 120.007 / 1934. Zu finden im Anhang an das Putschistengesetz bei Meister (1935) , 216 f.

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Die in der Literatur angeführte Begründung für die Zuständigkeit der Polizei bzw. Staatsanwaltschaft lautet wie folgt: Man wollte die Gerichte , die noch mit den Februar-prozessen beschäftigt waren , nicht überlasten.65 Es ist jedoch durchaus vorstellbar , dass der eigentliche Grund dafür jener war , dass die Richterschaft ausgeschaltet werden soll-te und man weisungsempfangende Personen die Entscheidungen treffen lassen wollte .Gleichzeitig jedoch trachtete man danach , den Schein der Rechtsstaatlichkeit zu wah-ren , indem bei Entscheidungen durch die Polizei , die eine so weitreichende Sanktion wie eine unbestimmte Anhaltung ermöglichten , dann doch die Staatsanwaltschaft mit Überprüfungskompetenz ausgestattet wurde. Es wird in diesem Zusammenhang in der Literatur immer wieder angedeutet , dass diesen Personen ein Verfahren erspart geblie-ben sei.66 Aus rechtlicher Sicht war jedoch bei so gravierenden Sanktionen wie einer zeitlich unbestimmten Anhaltung ein Verfahren vor einem Gericht , sogar vor einem Gericht zu Zeiten des Austrofaschismus , zu bevorzugen , da in solchen Verfahren doch zumindest ansatzweise Verfahrensgrundsätze wie Verteidigungsrechte eingehalten wurden. Im Falle eines polizeilichen Beschlusses sollte an sich ein begründeter Verdacht vorgelegen haben , allerdings ist fraglich , inwieweit die Polizei tatsächlich Untersuchun-gen anstellen bzw. diesen begründen musste , und inwiefern die Staatsanwaltschaft in der Folge tatsächlich Überprüfungen vornahm , die über Pro-forma-Handlungen hin-ausgingen. Im Ministerrat ging man jedenfalls davon aus , dass kein Zweifel über die Teilnahme am Umsturzversuch bestand , wenn jemand bei Kampfhandlungen gefangen genommen worden war.67 Dies ist aber zu verallgemeinernd , denn auch in diesem Fall hätten Opfer und sonstige Unschuldige angehalten werden können. Aufgrund der ange-gebenen Zahlen ist wohl eher anzunehmen , dass – wie im Ministerrat angedacht – fol-gendermaßen vorgegangen wurde: Wer den Anschein einer minderen Beteiligung er-weckte , wurde angehalten. Jedoch ist eine Bestrafung , die nur auf Anscheinsmomenten basiert , ohne ein Beweisverfahren durchzuführen und ohne faire Verteidigungsmög-lichkeit aus rechtsstaatlichen Gründen sehr bedenklich.

5. 3 Die Beschlagnahme des Vermögens als Form der Doppelbestrafung ?

Als zusätzliche Sanktion zur Anhaltung wurde das Vermögen derer , gegen die ein gerichtliches Verfahren eingeleitet worden war ,68 nach dem „Putschistengesetz“69 be-schlagnahmt. Auch diese Beschlagnahme hatte im Gesetz eher strafrechtlichen Sank-tionscharakter. Das Vermögen durfte nach dem Strafgesetz – wie auch heute – grund-sätzlich nur beschlagnahmt werden , wenn es aus einer Straftat stammte.70 Allerdings hatten schon vor dem „Putschistengesetz“ zahlreiche Regierungsverordnungen und Ge-setze die Möglichkeiten einer politisch motivierten Vermögensbeschlagnahme erheb-

65 Diesen Schluss zieht Holtmann (1975b) , 42 f.66 So Holtmann (1975b) , 39 , 43 ; Neugebauer (2005) , 305 ; Wolf (2008) , 187.67 Siehe Enderle-Burcel (1986) , VIII / 7 , 646 (MRP 957 , 26. 7. 1934).68 Fraglich ist hier , wie der Ausdruck „gerichtliches Verfahren“ auszulegen ist: War hier bereits die Anordnung durch die Polizei ausreichend , bedurfte es der Anzeige bei der Staatsanwaltschaft oder einer Weiterleitung an ein Gericht ?69 § 4 PutschG.70 Siehe für die heutige Rechtslage §§ 20 ff. StGB (in der Fassung BGBl. I 66 / 2011).

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lich ausgeweitet.71 Mit dem „Putschistengesetz“ wird das Vermögen beschlagnahmt , alleinig , weil eine Straftat begangen worden war. Der Strafcharakter wurde im Gesetz aber insofern verschleiert , als dadurch dem Verfall des Vermögens ein schadenersatz-rechtlicher Aspekt zukam: Das Vermögen sollte die Kosten der Anhaltung decken so-wie die Opfer des Putsches entschädigen.72

Beide Strafen , Anhaltung und Beschlagnahme des Vermögens , wurden nebeneinan-der ausgesprochen , womit die Frage der Doppelbestrafung relevant wird. Auch in der Literatur werden Beispiele für eine vermeintliche Doppelbestrafung bzw. Doppelver-folgung genannt.73 Wann genau eine – verbotene – Doppelbestrafung oder -verfolgung vorliegt , ist eine diffizile und komplizierte Fragestellung , die oftmals auch für Juristen nur sehr schwer zu beantworten ist.74 Um für die Verfahren über die Juliputschisten eine konkrete rechtliche Bewertung vornehmen zu können , würde es zudem näherer Anga-ben zu den Sachverhalten , den gesetzlichen Grundlagen und Entscheidungen bedürfen. Allgemein kann jedoch gesagt werden , dass bei gleichzeitiger Aussprache einer Strafe und einer Beschlagnahme , so wie sie im „Putschistengesetz“ angeordnet wurde , kein Ver-stoß gegen das Doppelbestrafungsverbot vorliegt , da beide Entscheidungen einander zwingend bedingen. Sie sind gleichsam als eine Gesamtentscheidung zu betrachten. Be-denklich erscheint jedoch aus strafrechtlicher Sicht das Ausmaß der „Vermögensstrafe“ , da  –  wenn man es als Strafe ansieht  –  die individuelle Schuld bei der Bemessung der Strafe nicht berücksichtig wurde , eine Strafe aber immer schuldangemessen sein muss.

Innerhalb des Beschlagnahmegesetzes75 gab es allerdings eine Bestimmung , die auf eine Doppelbestrafung hinweist: Wenn sich jemand weigerte , beschlagnahmtes Vermö-gen herauszugeben , konnte er sowohl mit einer Kriminalstrafe als auch einer Verwal-tungsstrafe für diese Tat belegt werden. Für ein und denselben Sachverhalt wurden also zwei Sanktionen mit Strafcharakter zu unterschiedlichen Zeiten und von unterschied-lichen Behörden ausgesprochen. Da die in Betracht kommende Verwaltungsstrafe auf Grund der Schwere der Sanktion als strafähnlich betrachtet werden kann , liegt hier wohl – auch nach dem damaligem Rechtsverständnis76 – eine Doppelbestrafung vor.77

71 Siehe dazu Reiter / Rothländer / Schölnberger (2009) , 48 ff. , und den Beitrag von Ilse Rei-ter-Zatloukal in diesem Band.72 § 5 Z 5 PutschistenG.73 Vgl. etwa Holtmann (1975b) , 43 ; Neugebauer (2005) , 311 ff.74 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in diesem Bereich sehr diffizile Leitlinien erarbeitet , die freilich nicht auf die damalige Zeit in dieser Form übertragbar sind.75 § 22 Abs. 1 Beschlagnahmegesetz: „[…] wird unbeschadet einer allfälligen strafgerichtlichen Ver-folgung von der polizeilichen Bezirksbehörde (Bundespolizeibehörde) mit Geldstrafe bis 2000 S oder mit Arrest bis zu drei Monaten bestraft“.76 In jedem Fall ist es nach der Rechtsprechung des EGMR eine nicht zulässige Doppelbestrafung.77 Auch die Praxis , politische Häftlinge zwar aus der Haftstrafe zu entlassen , aber der Polizei zur Anhaltung zu übergeben , vgl. Schwarzbuch (1934) , 105 , die wohl auch für Putschisten galt , wäre als Doppelbestrafung anzusehen. Denn die Anhaltung kann  –  wie man es heute nennen würde  –  als nachträgliche Sicherungsverwahrung angesehen werden , wenn die zukünftige Gefährlichkeit des Täters aus der Tat , die er als Putschist begangen hatte , hergeleitet wurde (die nachträgliche Siche-rungsverwahrung hat der EGMR mit Hinweis auf das Doppelbestrafungsverbot erst kürzlich als menschenrechtswidrig angesehen).

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6. Begnadigungen nach dem „Juliabkommen“ 1936

Schließlich wäre noch zu erwähnen , dass die auf Grund des Juliputsches inhaftierten und angehaltenen (mutmaßlichen) Täter unter die Amnestie auf Grund des „Juliabkom-mens“ 1936 fielen. Überwiegend erfolgten die Strafrestnachsichten bei Häftlingen mit Strafsätzen bis zu zehn Jahren. Viele Putschisten hatten allerdings eine längere bzw. le-benslange Freiheitsstrafe wegen des Tatbestandes des Hochverrates erhalten , wurden aber trotzdem ebenfalls teilweise begnadigt. Nach Gabriele Volsansky mussten 44 Kanz-leramtsputschisten weiterhin in Anhaltelagern bleiben , hinsichtlich der sonstigen in Haft befindlichen Personen gibt es keine genauen Angaben.78

7. Resümee

Es zeigt sich , dass die Justiz nach dem Juliputsch nicht nur heutigen , sondern auch da-mals geltenden grundlegenden Verfahrensprinzipien nicht standhalten kann. Ob man so weit gehen kann , dass Tucholskys Zitat „Das ist keine schlechte Justiz. Das ist keine mangelhafte Justiz. Das ist überhaupt keine Justiz“79 bejaht werden kann ? Wohl nicht , auch wenn sich zeigt , dass auf verschiedenen Ebenen die Grundsätze ausgehöhlt wur-den: auf der gesetzlichen Ebene , etwa indem in den Spezialgesetzen bereits Rechte ver-wehrt wurden ; auf der organisatorischen Ebene , und zwar durch Errichtung eines Son-dergerichts mit Militärrichterbesetzung oder etwa durch die Zuständigkeit der Polizei bzw. Staatsanwaltschaft bei Anhaltungen ; verstärkt wurde dies auf der Umsetzungsebe-ne , da Rechte des (mutmaßlichen) Täters durch das Vorgehen während des Prozesses (beispielsweise keine ausgedehnte Beweisführung) negiert wurden. Dennoch handelt es sich noch um Justiz , jedoch um eine grob mangelhafte und stark politisch motivier-te , da die gesetzlichen Grundlagen pseudorechtsstaatliche Elemente enthalten , und die Durchführung der Verfahren von Verletzungen der und Verstößen gegen die Menschen-rechte und dabei insbesondere der Verfahrensgrundsätze nur so strotzte.

78 Siehe dazu ausführlich Volsansky (2001) , 176 ff. , insbes. 181.79 Tucholsky (1970) , 105.

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