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Unverkäufliche Leseprobe aus: Orhan Pamuk Cevdet und seine Söhne Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elek- tronischen Systemen. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

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Unverkäufliche Leseprobe aus:

Orhan PamukCevdet und seine Söhne

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elek-tronischen Systemen.© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

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inhALt

eRsteR teiL

1 Am Morgen 72 Muslim und Kaufmann 143 die Jungtürken 224 die Apotheke 275 das alte viertel 326 das Mittagessen 407 im Pasa-Konak 498 Über Zeit, Familie und Leben 589 ein steinhaus in nisantası 67

10 der Wunsch des Kranken 7411 intelligente und dumme 8312 nacht und Leben 91

ZWeiteR teiL

1 ein junger eroberer in istanbul 992 das Feiertagsessen 1093 Am nachmittag 1154 Alte Freunde 1245 noch ein heim 1316 Was soll man mit seinem Leben anfangen? 1377 vor dem Aufbruch 1468 die Frauen in Beyoglu 1539 ein tag geht zu ende 159

10 ein Brief aus dem Osten 165

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11 ein sonntag in Besiktas 17012 Onkel und neffe 17713 um die hand anhalten 18514 An der frischen Luft 19315 der dichteringenieur bei der verlobung 20116 ehrgeizig und verlobt 21017 ein halbes Jahrhundert Kaufmannsleben 21618 die Beerdigung 22519 die hitze und das Baby 23420 Warum sind wir so? 24321 eine Kneipe in Besiktas 25122 tagebuch i 26023 Wieder ein Bayram 26824 der sturm 27425 das Zimmer von Rastignac 28626 der Morgen des ersten tages 29127 der dichter in Beyoglu 29928 Zum Zeitvertreib 30529 tagebuch ii 31330 Zwei Musikliebhaber 31731 ein erwachen? 32432 Kaufmannssorgen 33433 die stimme des herzens 34634 das Festbankett 35235 immer die gleichen öden diskussionen 35836 Auf nach heybeliada 36537 die Gleise werden verlegt 37238 der letzte Abend 38039 herbst 38740 Ankara 39541 eine tochter der Republik 40142 im haus des Abgeordneten 40843 der staat 41644 hoffnungen eines Abgeordneten 43045 ein Reformschriftsteller 43946 unter nationalisten 450

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47 Überdruss 45748 ein verzagter Abgeordneter 46349 Familie, Moral etc. 47150 Wieder in istanbul 48051 die Reise 48652 immer noch auf der suche 49053 Mit den jungen Leuten zusammen 50254 Zeit und echter Mensch 50955 die Beschneidung 51456 das verhör 52357 die Quallen 53258 sonntag 54359 Zusammenbruch? 55160 tagebuch iii 56061 ein spektakel 57162 Alles gut 576

dRitteR teiL

1 ein tag beginnt 5852 das Apartmenthaus in nisantası 5923 die schwester 5984 ein Freund 6055 das telefon 6156 das essen 6207 Zusammen 6288 das alte tagebuch 6369 Leben – Kunst 644

10 ein Lob auf das dahinfließen der Zeit 652

nachwort 659

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AM MORGen

»der nachthemdärmel, mein Rücken … die ganze Klasse … unddie Laken … herrje, das ganze Bett ist klatschnass! Alles ist nass,und ich bin aufgewacht!« dachte Cevdet. es war wirklich alles nass,so wie er es gerade geträumt hatte. Grummelnd drehte er sich im Bettherum und dachte erschrocken an seinen traum zurück, in dem er inder Knabenschule von Kula vor seinem Lehrer gesessen hatte. dannfuhr er von seinem nassgeschwitzten Kopfkissen hoch. »Genau, wirsaßen vor dem Lehrer, und in der ganzen schule stand uns das Wasserbis zu den Knien. Aber warum? Ach ja, weil es von der decke herab-tropfte! das salzige Wasser lief mir über stirn und Brust und verteiltesich im ganzen Raum. der Lehrer zeigte mit seinem stock auf michund rief: Alles nur wegen diesem Cevdet!« ihn schauderte bei dervorstellung, wie der Lehrer ihn so anprangerte und die anderenschüler sich zu ihm umdrehten und ihn vorwurfsvoll ansahen, insbe-sondere sein zwei Jahre älterer Bruder, dessen Blick voller verach-tung war. doch der Lehrer, der manchmal die gesamte Klasse durch-prügelte, ohne mit der Wimper zu zucken, und der einen schüler miteiner einzigen Ohrfeige bewusstlos schlagen konnte, kam merkwür-digerweise doch nicht, um ihn wegen des herabtropfenden Wasserszu bestrafen. »ich war anders als die anderen, ich war allein, und sieverachteten mich«, dachte Cevdet. »Aber keiner wagte es, mich auchnur anzurühren, obwohl doch die ganze schule mit Wasser voll lief!«Plötzlich wirkte der Alptraum nur noch wie eine nette, harmloseerinnerung. »ich war allein und anders als sie, aber sie trauten sichnicht, mich zu bestrafen.« Beim Aufstehen fiel ihm ein, wie er ein-mal aufs schuldach gestiegen war und dabei Ziegel zerbrochen hatte.

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»Wie alt war ich damals? sieben? Jetzt bin ich siebenunddreißig undverlobt, und bald werde ich heiraten.« Ganz aufgeregt wurde er beimGedanken an seine verlobte. »Ja, bald heirate ich, und dann … Aberwas trödele ich da herum! es ist bestimmt schon spät!« er eilte zumFenster und sah zwischen den vorhängen durch. es herrschte einseltsam nebliges Licht draußen. die sonne war jedenfalls schon auf-gegangen. Kopfschüttelnd besann er sich darauf, dass er ja neuer-dings eine uhr hatte: nach alttürkischer Zeit war es halb eins. »Jetztaber Beeilung!« brummte er und eilte auf die toilette.

Während er sich wusch, verbesserte sich seine Laune. Beim Rasie-ren fiel ihm der traum wieder ein. ihm stand ein Besuch im Konakvon sükrü Pasa bevor, weshalb er den neuen, blitzsauberen Anzuganlegte, ein hemd mit gestärktem Kragen und eine Krawatte, dieihm besonders elegant erschien. schließlich setzte er den Fes auf, dener für die verlobungsfeier eigens hatte aufbügeln lassen. er besahsich in dem kleinen tischspiegel, doch obwohl der Anblick ihn über-zeugte, legte sich ein leichter schatten über seine seele. dass er soaufgeregt war, wenn er in schicker Kleidung zum Konak seiner ver-lobten fuhr, musste doch etwas Lächerliches an sich haben. ein we-nig wehmütig schlug er die vorhänge zurück. die Minarette dersehzadebası-Moschee waren in nebel gehüllt, aber die Kuppel wargut sichtbar. die Laube im Garten nebenan erschien ihm grünerdenn je. »es wird wohl heiß werden heute.« unter der Laube lecktesich ausgiebig eine Katze. ihm fiel etwas ein, und er streckte denKopf zum Fenster hinaus: Ja, das Coupé stand schon vor dem haus.die Pferde wedelten mit dem schwanz, und der Kutscher rauchte,während er auf Cevdet wartete. dieser nahm seine Zigaretten, seinFeuerzeug und die Brieftasche an sich, steckte seine uhr nach einemletzten Blick darauf ein und verließ das Zimmer.

die treppe ging er so polternd hinunter wie immer. und wie im-mer stand daraufhin gleich Zeliha am treppenabsatz und eröffneteihm lächelnd, sein Frühstück stehe bereit.

Cevdet versuchte, sich mit einem hingebrummten »Keine Zeit,muss sofort weg!« an der alten Frau vorbeizudrücken, aber sie prote-stierte: »Aber doch nicht ungefrühstückt!« und als sie seine unent-schlossene Miene sah, lief sie gleich in die Küche.

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Cevdet sah ihr verzagt hinterher, aber davonstehlen konnte er sichnicht mehr. er überlegte, wie er die Frau nach seiner heirat loswer-den könnte. sie war eine weitläufige verwandte von ihm, und die bei-den lebten zusammen wie Mutter und sohn. Als er neun Jahre zuvordas haus in haseki gekauft hatte, hatte er sie zu sich genommen, inder Annahme, sie würde sich weniger in sein Leben einmischen als dieviel näheren verwandten, die er in der Gegend hatte. Zeliha war armund alleinstehend, und dafür, dass sie Cevdet den haushalt besorgteund für ihn kochte, durfte sie in dem kleinen vierzimmrigen holz-haus das erdgeschoss bewohnen. Cevdet sah wieder einmal, wiewohnlich sie sich dort eingerichtet hatte. »Wie soll ich sie nur dazubewegen, dass sie von mir wegzieht?« nach der heirat konnte sienicht bei ihm bleiben, denn in dem eheleben, dass er sich ausmalte,war für eine solche Frau kein Platz. so wie er sich die sache vorstellte,musste er danach zum hauspersonal ein distanziertes verhältnis ha-ben, und eine Art Mutter-sohn-Beziehung ziemte sich da nicht mehr.Zeliha ahnte das wohl. da sie über die bevorstehende heirat und denumzug auf die andere seite des Goldenen horns Bescheid wusste,war sie in letzter Zeit besonders eifrig um Cevdet bemüht. nun kamsie mit einem teller in der hand aus der Küche geeilt.

»einen Kaffee brauchst du doch auch, Junge. Warte, ich –«»ich habe wirklich keine Zeit!« unterbrach Cevdet sie. Lächelnd

nahm er das Marmeladenbrot vom teller, das ihn anstrahlte wie derjunge tag. er lächelte auch wieder, als er der Frau dafür dankte. Beimhinausgehen aber wurde ihm schmerzlich bewusst, dass es kein lie-bevolles Lächeln war, sondern ein mitleidiges, weil er sich von derFrau ja trennen musste. um nicht grußlos zu gehen, drehte er sichnoch einmal um und sagte: »es kann spät werden heute abend«, abersein Gewissen wurde dadurch nicht leichter.

Als er auf das Coupé zuging, fiel ihm der traum wieder ein: »ichbin eben anders als die anderen, aber keiner bestraft mich dafür!«das brachte ihn wieder ins Lot. Kaum aber erblickte er den Kutscher,war es um seine gute Laune schon wieder geschehen. Wie alle Kut-scher, die über das Privatleben ihrer Kunden gut auf dem laufendensind, sah der Kerl ihn nämlich an, als wollte er sagen: »tja, Freund-chen, ich weiß ganz genau, was du den ganzen tag so treibst und was

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in dir vorgeht!« Cevdet lächelte auch ihn an und fragte ihn nach sei-nem Befinden. dann hieß er ihn in sein Geschäft in sirkeci fahren,setzte sich in die Kutsche und biss in sein Marmeladenbrot.

das Coupé rüttelte zwischen den holzhäusern von vefa hin-durch. das Fahrzeug, das in so einem viertel ganz besonders auffiel,hatte Cevdet für drei Monate angemietet, da es ihm für die verlo-bungs- und die hochzeitsfeier standesgemäß erschien. Als er zweiMonate zuvor erfahren hatte, dass sükrü Pasa einwilligte, ihm diehand seiner tochter zu geben, war er sogleich nach Feriköy geeilt,wo so stattliche Kutschen vermietet wurden, und mit einem vermie-ter über drei Monate handelseinig geworden. Beim haus des Pasaswollte er nicht mit einer gewöhnlichen Mietskutsche vorfahren, aberder Kauf eines Coupés war mit seinen kaufmännischen Grundsätzennicht zu vereinbaren, denn zusammen mit der entlohnung des Kut-schers und den stallkosten hätte er sich übernommen. er biss wiedervon seinem Brot ab. er liebte Marmelade. »Aber diesen Wagen hierlänger als drei Monate zu behalten wäre auch verrückt!« dachte er.»Bei der Miete! Langfristig wäre ein Kauf natürlich doch besser …Aber dann müsste ich mich bei den Ausgaben im Laden einschrän-ken. Was soll ich also tun? diese hochzeit kommt mich teuer zu ste-hen, aber das ist nun mal alles notwendig.« er blühte wieder auf beidem Gedanken an seine heirat, an das neue Leben, von dem er jahre-lang geträumt hatte, an das haus, das er kaufen würde, an die nun zugründende Familie und an seine verlobte, deren Gesicht er erst zwei-mal gesehen hatte. ihm kam zwar in den sinn, dass viele der Pas-santen ihn wohl verachteten, weil er mit einem so protzigen Gefährtunterwegs war, aber seiner guten Laune tat das keinen Abbruch.Wieder biss er in sein Brot. »Wenn mich so etwas bekümmern würde,wäre ich doch erst gar nicht Kaufmann geworden!« dachte er. »undweil sie eben vor derlei zurückschrecken, trauen sich Muslime nicht,handel zu treiben … Aber ich bin anders! hm, und wenn meine Fraunun eine solche Kutsche will?« Wieder dachte er voller Genugtuungan seine verlobte und an sein künftiges Leben. es gefiel ihm, nigân,die er doch erst zweimal gesehen hatte, in Gedanken als seine Frau zubezeichnen. der Weg führte nun abwärts, und sanft schaukelte dieKutsche hin und her. »Wenn mein Geschäft das hergibt, dann kaufe

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ich eben eine Kutsche, Liebling!« murmelte er und stopfte sich denletzten Bissen Brot in den Mund. dann sah er auf seine Finger wieein Kind, das plötzlich nichts mehr zu essen in der hand hat. »dieseheirat wird wohl alles verschlingen, was ich habe!«

die Kutsche war an der hohen Pforte vorbei fast bis an den Bospo-rus hinuntergefahren und nun in eine seitengasse eingebogen. dernebel hatte sich aufgelöst, und es herrschte wieder grelles sommer-licht. Cevdet schwitzte in seiner Kutsche. »es wird wohl furchtbarheiß! Was werde ich heute anfangen? ich muss so schnell wie möglichdas Geschäftliche erledigen, und dann schaue ich vielleicht bei mei-nem Bruder vorbei.« der Gedanke an seinen Bruder, der in einer Pen-sion in Beyoglu krank daniederlag, löste bei Cevdet unbehagen aus.»und mit Fuat wollte ich zu Mittag essen. er ist ja aus saloniki zu-rück. und am nachmittag fahre ich nach nisantası, zum Konak vonsükrü Pasa!« er war ganz aufgeregt bei dem Gedanken, seine ver-lobte vielleicht ein drittes Mal zu Gesicht zu bekommen. »dann seheich mir das haus an, das der Makler gefunden hat.« Cevdet hatte be-schlossen, mit seiner Frau nach nisantası oder sisli zu ziehen. »dannfahre ich in den Laden zurück. viel werde ich mich dort nicht aufhal-ten können … Was ist eigentlich für ein tag heute? Montag!« An denFingern zählte er ab: vor drei tagen war auf sultan Abdülhamit beimFreitagsgebet ein Attentat verübt worden, und genau zwei Wochenzuvor hatte seine verlobung stattgefunden. »seit siebzehn tagen binich verlobt!« dachte er. die Kutsche hielt vor dem Laden.

Als Cevdet den Laden erblickte, wurde sein durch das Geschüttleetwas eingeschläferter Geschäftsgeist sogleich wieder wach. »dieBestellung für die Farben muss noch geschrieben werden. An wenwerde ich wohl die defekten Lampen los? Wenn eskinazi seine schul-den nicht heute zurückzahlt, dann sage ich ihm …« er unterbrachsich und sprach beim Übertreten der schwelle die eröffnungsformeldes Korans. »ich werde von eskinazi zweihundert Lira mehr verlan-gen, und wenn er darauf eingeht, stunde ich ihm das Geld einen Mo-nat länger.« streng grüßte er einen der beiden Lehrlinge. den ande-ren, den er gerne mochte, weil er fleißig und genügsam war, lächelteer an. dann wandte er sich wieder dem ersten, allzu verträumtenLehrling zu.

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»Bestell mir meinen Kaffee! und eine Pastete dazu!«dann ging er wie jeden Morgen eiligen, nervösen schrittes auf sei-

nen schreibtisch zu und nahm daran Platz. er warf rasche Blicke umsich, wie auf der suche nach irgendeinem vergehen, das zu ahndenwäre. dann sah er, dass wie immer seine Zeitung auf dem schreib-tisch lag, der Moniteur d’Orient, den alle Kaufleute abonniert hatten,weil er gut über das Geschäftsleben informierte, und der überdiesvon nutzen für das Französische war. er kam etwas zur Ruhe. Ge-wohnheitsmäßig blickte er zuerst auf das datum: 24 Juillet 1905;nach dem alten Kalender war das der 11. Juli 1321. dann ging er dieschlagzeilen durch. er erfuhr das neueste über das Attentat auf densultan. dann kam etwas über den Russisch-Japanischen Krieg, aberdas interessierte ihn nicht weiter. so blätterte er um zu den Börsen-nachrichten und fand dort auch zwei Meldungen vor, die für ihn vonBedeutung waren. im Anzeigenteil erfuhr er, dass der eisenhändlerdimitri sein Lager auflöste; er musste also in schwierigkeiten stek-ken. Panayot, der wie Cevdet mit elektrischen Geräten und eisen-waren handelte, machte Reklame für seine neueste Ware. Kurz erwogCevdet, selbst so eine Anzeige aufzugeben, verwarf den Gedankenaber sogleich wieder. Als er auf die Annonce einer theatertruppestieß, die ihr neues Programm im Odeon ankündigte, musste er wie-der an seinen schwerkranken Bruder denken, dessen Freundin einearmenische schauspielerin war. um seinen Bruder zu vergessen, aß erdie Pastete, die inzwischen gebracht worden war, trank seinen Kaffeeund nahm sich schwerfällig lesend einen neuen Artikel vor. Wie je-desmal bei der Lektüre der Zeitung seufzte er über die vielen franzö-sischen Wörter, die er nicht kannte. und wie jedesmal dachte er an alldie Mühe, die er aufs Französischlernen verwendet hatte, und an dasGeld, das ihn sein Privatlehrer gekostet hatte. Zusammen mit ihmhatte er im Lehrbuch das in einfachen sätzen geschilderte Alltagsle-ben einer französischen Familie gelesen und sich dabei immer selbstnach einer solchen schönen Familie und einem solchen haus ge-sehnt. daran erinnerte er sich gern, und mit seinem von der erstenZigarette des tages leicht umnebelten Geist stellte er sich wieder vor,dass auch er bald ein Leben führen würde wie jene französischeFamilie. Als er den Artikel zur hälfte durchhatte, kam er zu dem

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schluss, zuviel Zeit damit zu verlieren. daher legte er den Moniteurbeiseite und stand auf. die Pastete war verzehrt, der Kaffee getrun-ken, die erste Zigarette geraucht, und auch aufs nachrichtenlesenwar die nötige Zeit verwandt worden. nun fühlte er in sich genügendKraft, Anspannung und inneres Gleichgewicht, um sich der Arbeitdes tages zu widmen. sein Rechnen und sorgen waberte nun nichtmehr nur so dahin wie in den ersten Minuten nach dem erwachen,und es loderte auch nicht verzehrend wie soeben noch, sondern nunbrannte es, wie das im Kopf eines Kaufmanns nun mal zu sein hatte:wie ein starkes, doch unter Kontrolle gebrachtes Feuer. »so, als erstesgehe ich mit sadık noch einmal die Bücher durch!«

sadık war Cevdets Buchhalter, zehn Jahre jünger als er, dochwirkte er, als seien sie gleichaltrig. Cevdet ging zu ihm in das Zwi-schenstockwerk und unterhielt sich eine Weile mit ihm. Als er fest-stellte, dass sich zwischen den bis donnerstag eingehenden Geldernund den fällig werdenden Krediten eine kleine Lücke auftat, be-schloss er, von eskinazi seine schulden einzufordern.

dann ging der zu den verkäufern hinunter und sprach mit demAlbaner mittleren Alters, der dort die Leitung innehatte. Cevdetzeigte auf einen mit Farbtöpfen, Lampen und allerlei Zeug vollge-stellten Ladentisch und erklärte, die Kunden hätten es gerne, wennalles einen aufgeräumten eindruck mache. der Albaner wusste garnicht, wie ihm geschah, und versuchte sein Ordnungsprinzip zu ver-teidigen. daraufhin stellte sich Cevdet selbst hinter den Ladentisch,räumte strengen Blickes dieses und jenes auf und bediente sogar umdes vorbilds willen einen Kunden. nachdem er sich sicher war, dieAngestellten mit diesem unprätentiösen Gebaren hinreichend beein-druckt und beschämt zu haben, kehrte er an seinen schreibtisch zu-rück, von dem er alles überblicken konnte.

er machte sich daran, bezüglich einer Farbbestellung einen Briefzu schreiben, und war auch gleich, rapide und routiniert, bei derhälfte angekommen, als ihm wieder einmal einfiel, wie angebracht esdoch wäre, für dergleichen einen schreiber anzustellen. doch hättedas schon wieder eine neue Ausgabe bedeutet. »Wo mich doch dieseheirat schon so viel kostet!« da kam der Wächter des etwa zweihun-dert schritt entfernten Firmenlagers und meldete, die riesigen Kisten

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mit den neuen Lampen seien einfach nicht ins Lager hineinzubekom-men, und er sorge sich, dass etwas kaputtgehen könne. verärgertstand Cevdet auf. er ging auf und ab und ordnete schließlich an, dieKisten alle öffnen und leeren zu lassen. das war zwar höchst unprak-tisch, da die Lampen anschließend nach Anatolien gesandt werdensollten, aber anders war es nun einmal nicht zu bewerkstelligen. AlsCevdet den Wächter wieder los war, schrieb er seinen Brief zu endeund lamentierte dabei innerlich, wie sehr es ihm doch an Zeit und anGeld mangele. Wem sollte er nur die defekten Lampen verkaufen?Am besten war es wohl, sich darüber mit Fuat zu beraten, seinemKaufmannskollegen, auf dessen Klugheit und Freundschaft er vielgab. hastig sah er auf die uhr: bald halb zwei. er verließ den Ladenund machte sich auf den Weg zu eskinazi.

2

MusLiM und KAuFMAnn

Kaum war er aus dem Laden, stellte er erfreut fest, dass die erstenhürden des tages schon genommen waren, noch dazu ohne größereKraftanstrengung, und dass alles seinen gewohnten Gang ging. un-bemerkt von seinem Kutscher, der unter einem Baum mit einem Kol-legen ein schwätzchen hielt, ging er in Richtung sultanhamam. derLaden eskinazis war kaum sechshundert schritt entfernt. unterwegsüberlegte er, wie er eskinazi die sache darlegen und wieviel mehr erfür eine stundung der schulden verlangen sollte. dabei grüßte er im-mer wieder zu anderen Kaufleuten hinüber, und diese gaben ihm mitihren Blicken und ihrem Lächeln zu verstehen, wie interessiert undverwundert sie zur Kenntnis nahmen, dass sich da ein Muslim untersie gemischt hatte. die Blicke besagten: »schau, schau, da haben wirjetzt einen Kaufmann mit Fes auf dem Kopf! deinen Mut und deineentschlossenheit können wir nur bewundern!« und so wie Cevdetgrüßend zurückblickte, hieß das: »ich weiß schon, was ihr über michdenkt, und ich weiß auch, von welchem schlag ich bin!« Kurz vor

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eskinazis Laden rief ihm einer der vorwiegend jüdischen und grie-chischen Kaufleute aus seinem Geschäft heraus zu: »Oh, Lampen-Cevdet! Wie elegant sie heute sind!«

um zu zeigen, dass er sinn für humor hatte, gab Cevdet zurück:»elegant bin ich doch immer!« errötend fiel ihm dann aber ein, war-um er sich so feingemacht hatte.

Kaum hatte er den Laden betreten, in dem eskinazi Baumaterialund haushaltsartikel verkaufte, erkannte er an der legeren Atmo-sphäre und der unbekümmertheit der Lehrlinge, dass der Chef nichtanwesend war, und er ärgerte sich. einer der Lehrlinge erklärte ihm,wegen nebels habe der stadtdampfer von den Prinzeninseln her ver-spätung. Cevdet fiel wieder ein, dass eskinazi die sommermonateauf Büyükada verbrachte. er seufzte. Zwischen all den jüdischen,griechischen und armenischen händlern fühlte er sich doch manch-mal mutterseelenallein.

er beschloss, nicht auf dem gleichen Weg zurückzugehen, son-dern über die hauptstraße. die Betriebsamkeit dort würde ihn aufandere Gedanken bringen. »dieses Außenseitertum setzt mir dochmanchmal zu! Wie viele Muslime gibt es denn schon, die es so wie ichzum wohlhabenden Kaufmann gebracht haben? in ganz sirkeci undMahmutpasa gibt es außer meinem Laden gerade mal das stoffge-schäft von diesen Leuten aus saloniki, den neuen Laden von Fuat unddie Apotheke von ethem Pertev. und der erfolgreichste davon binich. ich stehe allein da.« er schwitzte in seiner warmen Kleidung. »indem traum war es genauso. ich gegen alle anderen. und meine stirnwar ganz nass.« vergeblich kramte er nach einem taschentuch. »naja, um so etwas wird sich bald meine Frau kümmern!« sinnierte er,doch selbst der Gedanke an seine heirat und sein künftiges Fami-lienleben war ihm jetzt kein rechter trost. »Was habe ich getan, umso ganz anders zu sein als die anderen? ich habe gearbeitet. ständiggearbeitet, ohne an etwas anderes zu denken, mit nichts anderem imsinn als der vergrößerung meines Geschäfts!« erfreut sah er an einerecke einen saftverkäufer. »und der erfolg hat mir recht gegeben …«er ließ sich ein Glas saft geben und trank es hastig aus. das tat ihmgut. es war doch alles nur wegen dieser fürchterlichen hitze. dasprach ihn jemand an.

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