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Weltreligionen im 21. Jahrhundert Vortrag am 17. April 2001 Orthodoxes Christentum” Prof. Dr. Vasilios Makrides (Universität Erfurt) Das Orthodoxe Christentum hat heute mehr denn je Konjunktur. Das weltweite Interesse an der Orthodoxie hat in den letzten Jahren erheblich zugenommen. Dies bedeutet jedoch keineswegs, daß es früher in Vergessenheit geraten wäre. Die schwierige Lage vieler Orthodoxer Kirchen hinter dem „Eisernen Vorhang“ vor dem Jahr 1989 war in der westlichen Welt hinreichend oft thematisiert worden. Zudem grassierte vom Orthodoxen Christentum eine andere Vorstellung - als einer spannenden und exotischen Form des Christentums, die auf Mystiker, Romantiker und Orientliebhaber eine besondere Anziehungskraft ausübte. Viele Touristen hatten für sich die Orthodoxie (z.B. bei den Osterfeierlichkeiten) als eine ausgeprägte Kultgemeinschaft mit einem reichhaltigen rituellen Apparat erlebt (z.B. beeindruckenden Gottesdiensten und anderen Zeremonien, imposanter Kirchenmusik und Hymnographie, Ikonen, Weihrauch und Kerzen sowie byzantinischen Legenden).

ORTHODOXES CHRISTENTUM: PROBLEME UND … · kontrollierten „Orthodox Church of America“ von 1970, deren panorthodox kanonischer Status bis heute ungeregelt ist) unternommen. Solche

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Weltreligionen im 21. Jahrhundert

Vortrag am 17. April 2001

“Orthodoxes Christentum”

Prof. Dr. Vasilios Makrides (Universität Erfurt)

Das Orthodoxe Christentum hat heute mehr denn je Konjunktur. Das

weltweite Interesse an der Orthodoxie hat in den letzten Jahren erheblich

zugenommen. Dies bedeutet jedoch keineswegs, daß es früher in

Vergessenheit geraten wäre. Die schwierige Lage vieler Orthodoxer

Kirchen hinter dem „Eisernen Vorhang“ vor dem Jahr 1989 war in der

westlichen Welt hinreichend oft thematisiert worden. Zudem grassierte

vom Orthodoxen Christentum eine andere Vorstellung - als einer

spannenden und exotischen Form des Christentums, die auf Mystiker,

Romantiker und Orientliebhaber eine besondere Anziehungskraft

ausübte. Viele Touristen hatten für sich die Orthodoxie (z.B. bei den

Osterfeierlichkeiten) als eine ausgeprägte Kultgemeinschaft mit einem

reichhaltigen rituellen Apparat erlebt (z.B. beeindruckenden

Gottesdiensten und anderen Zeremonien, imposanter Kirchenmusik und

Hymnographie, Ikonen, Weihrauch und Kerzen sowie byzantinischen

Legenden).

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Das heutige Interesse am Orthodoxen Christentum, das übrigens die

drittgrößte christliche Gemeinschaft in Deutschland bildet, ist jedoch mit

diversen völlig neuen Entwicklungen verknüpft, die von der Warte der

früheren bloßen Orthodoxie-Schwärmerei allein nicht verstanden werden

können. Diese neuen Aspekte reichen von der angeblich bestimmenden

„Rolle“ der Orthodoxie während der militärischen Konflikte im

ehemaligen vereinten Jugoslawien bis zum fragwürdigen Beitrag der

Orthodoxie zur Demokratisierung und Umstrukturierung

postkommunisti-scher Gesellschaften. Hierbei handelt es sich um

Themenkomplexe, die zum Teil kontrovers diskutiert werden, denn

genau an diesem Punkt scheiden sich die Geister: Für manche ist die

Orthodoxie eine conditio sine qua non für die künftige Neugestaltung der

osteuropäischen Gesellschaften und für den Dialog mit den christlichen

Kirchen des Westens. Für andere aber ist die Revitalisierung und neue

gesellschaftliche Etablierung der Orthodoxie mit etlichen Problemen

bzw. mit negativen Entwicklungen so eng verbunden, daß sie mit

undemokratischen, antiliberalen und intoleranten Einstellungen und

Haltungen identifiziert wird. Diese fatale Rolle habe sie während des

vergangenen Jahrzehnts angeblich mehrmals unter Beweis gestellt.

Insofern rückt das Orthodoxe Christentum erneut in den Mittelpunkt der

allgemeinen Aufmerksamkeit und erfordert deshalb eine angemessene

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Betrachtung und - soweit möglich - eine Prognose für die potentielle

künftige Entwicklung dieser religiösen Tradition mit Blick auf das

gerade beginnende 21. Jahrhundert. Aus diesem Grund werde ich im

heutigen Vortrag insgesamt auf vier breite Problemfelder eingehen, die

ich für die größten gegenwärtigen wie auch künftigen Herausforderungen

für das Orthodoxe Christentum erachte: erstens auf die orthodoxe Einheit

in der Vielfalt der Orthodoxen Kirchen und die Konsequenzen der

Nationalisierung; zweitens auf die Politisierung der Orthodoxie; drittens

auf die erneut aufgebrochenen Spannungen zwischen dem Orthodoxen

und dem Lateinischen Christentum; und schließlich viertens auf die

heutige gesellschaftliche Präsenz und Relevanz des Orthodoxen

Christentums.

Bevor ich aber in medias res gehe, sei hier deutlich gemacht, daß mein

besonderes Anliegen am Orthodoxen Christentum im Rahmen des im

deutschsprachigen Raum bislang einmaligen Lehrstuhls, den ich an der

Universität Erfurt innehabe, religionswissenschaftlich und

kulturgeschichtlich ausgerichtet ist. Mit anderen Worten versuche ich

beider Untersuchung des Orthodoxen Christentums als eines

Kulturphänomens die Besonderheit, die Vielfalt der Erscheinungsformen

dieser religiösen Tradition sowie ihre gesellschaftlichen Einflüsse ans

Licht zu bringen und zu verstehen. Aus dieser Perspektive versuche ich

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keinen akribischen und typologischen Essentialismus zu betreiben, um

eine angebliche „Quintessenz“ bzw. das vermeintliche „Wesen“ dieser

Religion zu lokalisieren. Die Konstruktion von großen

Erklärungsschemata im Rahmen eines solchen Ansatzes könnte zu

verallgemeinernden und einseitigen Äußerungen über das Orthodoxe

Christentum führen, dessen Hauptmerkmale schon allzu oft in Schwarz-

Weiß-Malerei dargestellt worden sind. Dies geschieht bei der

Konstruktion von Fremdbildern über den „Anderen“, der von dem

westlichen „Selbst“ abgegrenzt wird. Dies ist z.B. der Fall bei dem

neuesten geopolitischen Ansatz von Samuel Huntington über den Kampf

der Kulturen nach dem Ende des Kalten Krieges, der für eine neue

Trennung zwischen West- und Osteuropa entlang religiöser Grenzlinien

plädierte. Aus diesem Grund werde ich heute abend versuchen, Ihnen

keine fertige Typologie des Orthodoxen Christentums zu bieten, sondern

- um die Entstehungsgründe von Stereotypen und Fremdbildern zu

hinterfragen - die Komplexität, die Vielgestaltigkeit und schließlich die

Dialektik seiner Erscheinungsformen anhand der o.g. Problemfelder

aufzuzeigen. Diese Dialektik geht aus der Betrachtung des ersten

Problemfeldes, nämlich der Einheit in der Vielfalt der Orthodoxen

Kirchen, deutlich hervor.

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1. Die orthodoxe Einheit in der Vielfalt der Orthodoxen Kirchen

Wie war es überhaupt möglich, die orthodoxe Einheit in einer so großen

Vielfalt unterschiedlicher nationaler Orthodoxer Kirchen zu bewahren?

Kann man die Orthodoxen Kirchen tatsächlich als eine, ja als einheitliche

Glaubensgemeinschaft betrachten? Überwiegen in diesem Kontext nicht

vielmehr ihre Differenzen? Jeder Versuch einer Antwort auf diese Fragen

sollte zuerst in Betracht ziehen, daß es die eine Orthodoxe Kirche im

strikten Sinne des Wortes nicht gibt. Wir haben es im Gegenteil mit

einem Konglomerat von unabhängigen, nämlich autokephalen und

autonomen Kirchen zu tun, die zwar in Gemeinschaft zu einander stehen,

die aber untereinander gleichzeitig etliche kleine oder größere

Differenzen aufweisen. Es sind genau diese Differenzen, die oft zu

Kooperationsproblemen zwischen ihnen führten, was letztendlich die

orthodoxe Einheit aufs Spiel setzte. Welches aber sind diese

Differenzen?

Es gibt zunächst viele Unterschiede zwischen ihnen, die historisch und

soziopolitisch bedingt sind. Da gibt es zum Beispiel geographische,

sprachliche, kulturelle und andere Besonderheiten in den verschiedenen

Orthodoxen Kirchen, die als normal und selbstverständlich empfunden

werden und die zu keinem besonderen Konflikt zwischen ihnen führen.

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Es sei hier nebenbei betont, daß nach dem traditionellen orthodoxen Usus

bis zur Zeit des modernen Nationalismus die kulturellen Besonderheiten

der jeweiligen nationalen Kirche nahezu immer Berücksichtigung fanden

und daß über lange Zeit keine Homogenisierung angestrebt wurde. Es

gibt weiterhin andere Unterschiede, die wichtige Aspekte des orthodoxen

Habitus berühren, die aber in ähnlicher Weise zu keinen sonderlichen

Problemen führen. Einige Orthodoxe Kirchen folgen z.B. noch dem alten

julianischen Kalender (in Rußland, in Serbien), wobei andere den

korrigierten gregorianischen Kalender haben (in Finnland), wenngleich

ohne die westliche Osterberechnung (in Griechenland). Dies hat zur

Folge, daß Weihnachten in Griechenland am 25. Dezember und in

Rußland am 7. Januar gefeiert wird. Dies ist aber kein strittiger Punkt

zwischen den beiden Kirchen. Ein weiteres Beispiel: Die meisten

Orthodoxen Kirchen sind aktive Mitglieder des Ökumenischen Rates der

Kirchen, wobei andere (z.B. die Orthodoxe Kirche von Georgien 1997)

sich jüngst aus diversen Gründen entschlossen haben, diesen Rat zu

verlassen. Daraus folgt, daß für die Orthodoxen Kirchen in vielen Fragen

sehr wohl die Freiheit besteht, einen eigenen Weg einzuschlagen, ohne

die Einheit der orthodoxen Gemeinschaft in irgendeiner Form zu

gefährden. Dies ist ein weiteres Zeichen des historisch allgemein

liberalen Geistes der Ostkirchen und ihrer Vielgestaltigkeit.

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Auf welche Weise wird aber die orthodoxe Einheit gefährdet? Es gibt

einen hauptsächlichen Grund in verschiedenen Ausprägungen, der,

geschichtlich wie aktuell, dafür verantwortlich ist: Es handelt sich hierbei

um die zunehmende Nationalisierung der Orthodoxie, die in den letzten

zwei Jahrhunderten die orthodoxe Einheit besonders in Mitleidenschaft

zog. Diese Nationalisierung manifestierte sich in der oftmals

konfliktträchtigen Deklaration der Unabhängigkeit bestimmter

Orthodoxer Kirchen seit dem 19. Jh. (wie z.B. der Orthodoxen Kirche

Bulgariens 1870, die erst im Jahre 1953 allgemeine orthodoxe

kanonische Anerkennung fand, oder jüngst wieder im Falle

Mazedoniens, dessen seit 1967 unilateral für autokephal erklärte Kirche

bisher keinen kanonischen Status genießt). Mit anderen Worten handelte

es sich hier um einen stufenweisen Ausdifferenzierungsprozeß in der

Geschichte des Orthodoxen Christentums, der letztendlich die aus der

byzantinischen Zeit überlieferte Ökumenizität und Supranationalität der

Orthodoxie zunichte gemacht hat.

Ein weiterer Aspekt der Nationalisierung des Orthodoxen Christentums

bezieht sich auf die ethnischen Rivalitäten zwischen verschiedenen

orthodoxen Völkern. Besonders erwähnenswert sind in diesem Kontext

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die andauernden Spannungen zwischen der griechischen und der

slavischen Orthodoxie, die in die langjährige und heute noch existierende

Auseinandersetzung zwischen den Patriarchaten von Konstantinopel und

Moskau mündeten. Das Patriarchat von Konstantinopel war die

traditionelle Führungsinstanz im orthodoxen Osten und genoß seit

Urzeiten besondere Privilegien als „zweites Rom“. Der politische

Aufstieg Rußlands in der Neuzeit ging aber mit dem Bestreben nach

Übernahme einer Führungsrolle innerhalb der orthodoxen Welt einher.

Dies wurde systematisch im Rahmen von verschiedenen Ideologien (z.B.

der Lehre Moskau als „drittes Rom“ nach dem Fall Konstantinopels seit

dem 16. Jh., dem Panslavismus im 19. Jh.) sowie durch verschiedene

konkrete Maßnahmen (z.B. die Autokephalie-Erklärung der russisch-

kontrollierten „Orthodox Church of America“ von 1970, deren

panorthodox kanonischer Status bis heute ungeregelt ist) unternommen.

Solche Probleme betreffen häufig Jurisdiktionsfragen der verschiedenen

Orthodoxen Kirchen (z.B. bezüglich der orthodoxen Diasporas in

Westeuropa, in den USA oder in Australien) und lassen sich auch nach

1989 beobachten, wie etwa am Konflikt zwischen Konstantinopel und

Moskau über die Orthodoxe Kirche Estlands, der 1996 zu einem

vorübergehenden Bruch in ihren bilateralen Beziehungen führte.

Eigentlich werden alle Orthodoxen Kirchen als gleichrangig betrachtet,

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obwohl das Patriarchat von Konstantinopel, das heute fest in

„griechischen Händen“ ist, traditionell einige Privilegien besitzt, die

seine Führungsrolle innerhalb der orthodoxen Welt zementieren. Da sind

z.B. seine Funktion als letzte Appellations- und Entscheidungsinstanz bei

interorthodoxen Konflikten, sein ausschließliches Recht, die

Autokephalie einer Orthodoxen Kirche zu gewähren oder seine

Zustimmung bei der Autonomieerklärung einer Kirche zu geben sowie

das Recht, panorthodoxe Konferenzen einzuberufen. Es sind gerade diese

Privilegien, die aus russischer bzw. slavischer Sicht in Frage gestellt

werden, was immer wieder zu Problemen führt. Nicht zu übersehen sind

allerdings auch andere Konflikte innerhalb der griechischen oder der

slavischen Orthodoxie selbst (z.B. zwischen Konstantinopel und Athen

oder zwischen Rußland und der Ukraine). Solchen nationalistischen

Auswirkungen begegnet man heute besonders in der Ukraine, deren

kirchlicher Status nach ihrer Unabhängigkeit 1991 unter drei sich

konkurrierenden und rivalisierenden Orthodoxen Kirchen buchstäblich

zerrissen ist.

Im Heiligen Land treten vergleichende Aspekte der Nationalisierung der

Orthodoxen Kirche auf, so etwa in bezug auf die Konflikte zwischen der

arabischen und der griechischen Orthodoxie. Diese Konflikte traten

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zunächst im Patriarchat von Antiochien (Syrien) zutage, dessen Thron

seit 1898 - aufgrund russischer Einmischung - mit arabischstämmigen

Patriarchen besetzt wird. Dies wurde anfangs als ein Sieg des arabischen

Nationalismus gefeiert. Heutzutage manifestiert sich dieses Problem auf

andere Weise im Patriarchat von Jerusalem, das von einer griechischen

Minderheit kontrolliert wird, wobei die überwiegende Mehrheit der

Orthodoxen von palästinensischer Abstammung ist. Letztere fordern

einen stärkeren Zugang zu der Hierarchie ihrer Kirche, was wiederum zu

Konflikten führt. Man sollte in diesem Zusammenhang nicht vergessen,

daß den jeweiligen Orthodoxen Kirchen seitens der betroffenen Staaten

eine nationale Funktion zugesprochen wird.

Was bedeuten aber diese Probleme für die orthodoxe Einheit? Daß sie

eine Illusion ist oder daß sie ein ferner Traum bleibt? Nicht ganz. Solche

Phänomene haben, wie bereits angedeutet, eine dialektische Dimension

und können deshalb unterschiedliche Konsequenzen nach sich ziehen.

Beispielsweise existiert eine Reihe von Instanzen, in denen die Vorsteher

aller allgemein anerkannten Orthodoxen Kirchen zusammenkommen und

gemeinsame Erklärungen über diverse Themen, von innerkirchlichen bis

zu sozialen und ökologischen, abgeben oder interorthodoxe Probleme zu

lösen versuchen. Ein solches Treffen fand 1992 in Phanar

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(Konstantinopel) statt. Eine weitere gemeinsame orthodoxe Initiative

wurde 1998 unternommen, um eine Spaltung innerhalb der Orthodoxen

Kirche Bulgariens zu überwinden. Darüber hinaus wurden im Laufe des

20. Jhs. eine ganze Serie von panorthodoxen Konferenzen organisiert,

um die Hauptstreitpunkte unter den Orthodoxen Kirchen zu diskutieren

und verschiedene Lösungsmöglichkeiten zu ventilieren. Gegenwärtig

wird ein großes und heiliges Konzil der Orthodoxen Kirchen vorbereitet

(entspricht im Rang etwa dem Vatikanischen Konzil), das sich genau

diesen Problemen und besonders der Frage der künftigen Einheit und

Zusammenarbeit der Orthodoxen Kirchen widmen soll. Es wird erwartet,

daß dieses Konzil innerhalb des ersten Jahrzehnts des 21. Jhs. stattfinden

wird, was ein entscheidender Schritt zur Regelung vieler interorthodoxer

Probleme sein könnte. Abgesehen davon wird die orthodoxe Einheit

nicht im Sinne einer völligen Identifizierung und Uniformität aller

Orthodoxen Kirchen angestrebt. Das Kennzeichen der Vielfalt und der

Pluriformität statt zentralistischer Gleichförmigkeit wird als ein positives

Element der orthodoxen Welt angesehen. Aber genau dies hat ein

Janusgesicht. Insofern kann es gleichermaßen zu interorthodoxen

Spaltungen wie zu anpassungsfähigen und flexiblen Einheitsstrukturen

führen.

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2. Die Politisierung der Orthodoxie

Ein weiteres, damit verbundenes Problemfeld in der heutigen orthodoxen

Welt betrifft das Phänomen der Politisierung der Orthodoxie, nämlich die

engen Beziehungen zwischen Staat und Kirche und die politische

Instrumentalisierung der Orthodoxie - gleichgültig ob die Orthodoxie in

einem Land als Staatskirche anerkannt ist oder nicht. In diesem Kontext

lassen sich zahlreiche Differenzen zwischen der Entwicklung im

orthodoxen Osten und seinen westlichen Pendants feststellen. In der

orthodoxen Welt überwiegt nämlich die Tendenz, sich am alten

byzantinischen Muster der harmonischen Zusammenarbeit (symphonia)

zwischen Staat und Kirche zu orientieren. Die byzantinische politische

Ideologie über die nötige und enge Verbindung zwischen Staat

(imperium) und Kirche (sacerdotium) hat beträchtliche Einflüsse auf den

orthodoxen Osten geübt. Dies bedeutet, daß eine Trennung zwischen

Staat und Kirche dem orthodoxen Verständnis nach eher unerwünscht ist.

Trotz der möglichen Spannungen und Differenzen zwischen ihnen, die

auch in Byzanz häufig zu finden waren, sei es notwendig, die Bande der

engen Korrelation zwischen Staat und Kirche weiter aufrechtzuerhalten.

So begegnen wir im orthodoxen Osten deshalb keinen langandauernden

Konflikten wie zwischen dem Kaisertum und dem Papsttum im

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hochmittelalterlichen Investiturstreit oder anderen Entwicklungen, die

für den Westen kennzeichnend sind (z.B. die Gründung eines Vatikan-

Staates oder das Prinzip der Laïcité in Frankreich). Es ist außerdem

bemerkenswert, wie schnell jeweils ein enger Schulterschluß von Staat

und Kirche in den postkommunistischen Gesellschaften möglich wurde.

Es wundert also nicht, daß dies zu zunehmender Politisierung und

zwangsläufig zur Instrumentalisierung der Orthodoxie führt.

Ist aber das byzantinische symphonia-Modell heutzutage überhaupt

durchsetzbar? Können die Orthodoxen Kirchen in der heutigen Welt vor

Konflikten mit den jeweiligen Staaten verschont bleiben? Solche Fragen

sind komplexer Natur und nicht eindeutig mit „ja“ oder „nein“ zu

beantworten. Tatsache ist, daß es im heutigen orthodoxen Osten

verschiedene hybride Regulierungen der Staat-Kirche Beziehungen gibt,

die nicht explizit auf die byzantinische “Harmonie” zurückgreifen und in

denen die Kirche hauptsächlich als Teil des gesamtstaatlichen Apparats

angesehen wird. Diese enge Verflechtung mit dem Staat, die in manchen

Fällen auch verfassungsmäßig garantiert wird, bildet wiederum ein

zweischneidiges Schwert für die Orthodoxen Kirchen und eine Quelle

ständiger Probleme. Auf der einen Seite genießt die jeweils herrschende

Orthodoxe Kirche bestimmte Privilegien (z.B. finanzielle, sozio-

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politische) im Gegensatz zu anderen religiösen Minderheiten, die nicht

selten diskriminiert werden. Auf der anderen Seite bleibt sie immer der

Willkür einer staatlichen Organisation unterworfen, welche die Kirche

grundsätzlich auf diverse Weise kontrollieren will und gegebenenfalls ad

libitum für säkulare Zwecke funktionalisiert und manipuliert. Daß die

Orthodoxie in Gefahr war, vom Staat vereinnahmt zu werden, ließ sich

sogar zu Zeiten der kommunistischen Regime beobachten (z.B. während

der deutschen Invasion in Rußland, als Stalin die Orthodoxe Kirche zur

Stärkung des russischen Nationalbewußtseins einbezogen hatte) - und

dies, obwohl der Staat damals offiziell eine atheistische Ideologie vertrat

und die Kirche systematisch verfolgte. Dasselbe ließ sich in Jugoslawien

in der Zeit des Milošević-Regimes beobachten, der die Orthodoxe Kirche

Serbiens für politische und nationale Zweckmäßigkeiten mißbrauchte.

Diese Abhängigkeit vom Staat, die auch in der Geschichte vielfältig

beobachtet werden kann (vgl. den Cäsaropapismus in Rußland, als die

Zaren auch das Oberhaupt der Kirche darstellten) schadete oft dem

Ansehen der Kirche in der Gesellschaft und führte zu ihrer sozialen

Marginalisierung und Herausdrängung aus dem gesellschaftlichen Leben.

Die kirchliche Reaktion darauf war der Grund etlicher Konflikte

zwischen diesen beiden Institutionen in Geschichte und Gegenwart. Der

markante Streit zwischen Staat und Kirche in Griechenland im Jahr 2000

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bezüglich der Frage, ob die Angaben zur Religionszugehörigkeit aus den

neuen Personalausweisen gestrichen werden sollten oder nicht, ist ein

klares Beispiel dafür.

Es ist gleichzeitig bezeichnend, daß weder der Staat noch die Kirche eine

völlige Trennung wünschen, obwohl beide oftmals das Gegenteil -

wenngleich nur in Lippenbekenntnissen - behaupten. Der Staat braucht

zwar für verschiedene Zwecke eine gut funktionierende, aber gleichzeitig

eine gehorsame und autoritätsgläubige Kirche als Teil des

Staatsmechanismus, die keinen Widerstand leistet. Was die Kirche

betrifft, so scheint es, als ob sie ihrerseits eine staatliche

Schirmherrschaft bräuchte, um einen gehobenen sozialen Status zu

erlangen, was wiederum ihrer Selbständigkeit abträglich wirkt. Darüber

hinaus trifft sie andere umstrittene Entscheidungen, die deutliche

politische Assoziationen erwecken (z.B. den Wunsch nach einer

Rückkehr zum Zarentum bzw. zur Monarchie als der allerchristlichsten

Regierungsform), wie z.B. durch die im Jahre 2000 erfolgte offizielle

Kanonisierung des letzten Zaren Nikolaj II und seiner Familie von der

Bischofsynode der Russischen Orthodoxen Kirche. Ihre jüngste

Vergangenheit, wegen der zum Teil erzwungenen Kollaboration mit dem

atheistischen Regime, fügt ihr weiterhin großen Schaden zu. Es sei hier

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erwähnt, daß das innere Schisma innerhalb der Orthodoxen Kirche

Bulgariens in den 1990er Jahren aus solchen Gründen verursacht worden

ist, als nämlich eine Gruppe von Hierarchen die „Reinigung“ der Kirche

und eine selbstkritische Abrechnung aufgrund ihrer dunklen

Vergangenheit forderte.

All dies zeugt natürlich davon, daß die engen Beziehungen zwischen

Staat und Kirche in den orthodoxen Ländern eine besondere

Konstellation darstellen, die wieder dialektischer Natur ist. Es gibt

wiederum einige positive wie auch negative Entwicklungen aus dieser

Verbindung, wobei eine vernünftigere Regulierung ihrer Beziehungen

noch ein Desideratum bleibt. Um ein Gleichnis zu verwenden, könnte

man die heutigen Beziehungen zwischen Staat und Kirche mit dem

Leben eines verheirateten Paares vergleichen, das getrennt unter

demselben Dach wohnt. Eine Scheidung ist von beiden Partnern aus

praktischen Gründen nicht erwünscht, die Kooperation in Fragen von

gemeinsamem Interesse wird begrüßt, wobei die Meinungsunterschiede

und daraus resultierenden Konflikte ganz normal sind.

3. Die Spannungen zwischen Ost- und Westchristentum

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Ein weiteres Problemfeld, das die heutige orthodoxe Welt in besonderer

Weise angeht, sind ihre Beziehungen zu den christlichen Kirchen des

Westens. Dieses Thema ist beileibe nicht neu, sondern hat eine lange

Vorgeschichte seit dem Schisma von 1054 zwischen der Römisch-

Katholischen und der Orthodoxen Kirche. Um die orthodoxe

Empfindlichkeit gegenüber dem Westen besser zu begreifen, sollte hier

betont werden, daß sich der Westen insgesamt für viele Orthodoxe als die

Anti-Kultur par excellence darstellte. Auf der anderen Seite standen

immer auch pro-westliche Strömungen (z.B. bei den intellektuellen und

politischen Eliten), die eine Verwestlichung Osteuropas forderten. Die

Spannungen zwischen diesen gegensätzlichen Strömungen führten oft zu

Phänomenen von kultureller Schizophrenie und Dichotomisierung, die

bis heute zu beobachten sind. Wichtig ist in diesem Kontext, daß für

zahlreiche Orthodoxe der Westen eine reale Bedrohung darstellte, der es

mit verschiedenen Maßnahmen zu begegnen galt. Dies führte oftmals zu

einer Dämonisierung des Westens als Quelle allen Übels und aller

weiteren Probleme, mit denen sich die orthodoxen Länder seit der

Neuzeit konfrontiert sahen. So entwickelte sich unter den Orthodoxen

eine starke Verschwörungsmentalität; sie witterten überall Gefahren für

die Orthodoxie, für die sie hauptsächlich den Westen verantwortlich

machten.

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Die soziopolitische und gesellschaftliche Lage in Osteuropa leistete

solchen antiwestlichen Strömungen in vielen postkommunistischen

Staaten mit überwiegend orthodoxer Bevölkerung Vorschub. Es gab

sicherlich genügend Gründe hierfür. Die verbreiteten pro-westlichen

Orientierungen und die Sehnsucht nach westlichen

Gesellschaftsmodellen in der Öffentlichkeit führten oftmals dazu, daß die

Betroffenen sich die Zukunft ihrer Länder in einer Rückbesinnung auf

die eigene Vergangenheit ausmalen (vgl. die Ideen Aleksandr

Solženicyns und seine Apologie der „russischen Idee“). Die neu

entfalteten Aktivitäten protestantischer Organisationen und Kirchen aus

dem Westen, die diese Länder als evangelisierungsbedürftig ansahen,

haben wiederum kirchlicherseits sogar zu politischen Gegenmaßnahmen

geführt (z.B. das neue Religionsgesetz Rußlands von 1997). Die

Wiederbelebung des Uniatismus - dieser heiklen Frage, die

Verwundungen auf Seiten der Orthodoxen erweckt - in einigen Ländern

Osteuropas (z.B. in der Westukraine, in Siebenbürgen) führte erneut zu

Konflikten mit den Orthodoxen, welche die Unierten Christen als ein

großes Hindernis in dem seit 1980 bestehenden bilateralen Dialog

zwischen dem Orthodoxen Christentum und dem römischen

Katholizismus betrachten. Insbesondere aber wurde der Westen von

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politischen und kirchlichen „Hardlinern“ im Laufe der militärischen

Konflikte während der Auflösung Jugoslawiens in den 1990er Jahren

insgesamt dämonisiert. Die westliche Kultur wurde in diesem

Zusammenhang wiederholt ohne Unterschied als gottlos, unmenschlich,

antichristlich, skrupellos und verwerflich angeprangert. Der

Auflösungsprozeß wurde in Serbien und in anderen orthodoxen Ländern

als ein Geheimplan nicht nur der westlichen Mächte, sondern auch des

Vatikans angesehen, der bereits früher die römisch-katholischen Kroaten

tatkräftig unterstützt hatte (z.B. im Zweiten Weltkrieg, als diese einen

Genozid gegen die Serben verübten). Schließlich hat die Trennung

Europas entlang religiöser Grenzlinien in neueren geopolitischen

Ansätzen in Osteuropa das Gefühl erweckt, daß zwischen den beiden

Teilen Europas eine tiefe und schwer überwindbare Kluft existiert. Dies

erklärt die zunehmenden antiwestlichen Strömungen in letzter Zeit in

Osteuropa, deren Konsequenzen ganz unterschiedlich sind (z.B. die

Massenreaktionen auf den geplanten ersten Besuch eines Papstes in

Griechenland im kommenden Mai).

4. Die gesellschaftliche Relevanz der Orthodoxie heute

Das letzte Problemfeld, das eine wirkliche Herausforderung für die

Orthodoxen Kirchen darstellt, bezieht sich auf ihre heutige

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gesellschaftliche Präsenz und Relevanz, was natürlich unmittelbar an das

soziale Prestige der Orthodoxen Kirchen, besonders in

postkommunistischen Gesellschaften, gekoppelt ist. Dort sind diese

Kirchen mit neuen und früher ungeahnten Herausforderungen

konfrontiert worden und sind auf der Suche, neue Wege zur sozialen

Wiederetablierung zu erproben (z.B. Wiederherstellung von Kirchen,

Pfarrgemeinden und Bildungseinrichtungen). Dies scheint unbestritten

ein notwendiger Schritt zu sein, berücksichtigt man die dort wachsenden

sozialen Probleme (z.B. Armut, Arbeitslosigkeit, soziale Ungleichheit),

die raschen Entwicklungen in vielen Bereichen (z.B. Wissenschaft,

Technik, Industrie) und die Konsequenzen der Globalisierung. Eine

orthodoxe Stellungnahme zu den verschiedenen Problemen wird

selbstverständlich erwartet. Nicht zu vergessen ist allerdings, daß im

Orthodoxen Christentum - geschichtlich gesehen - wegen der

überwiegenden Jenseitsorientierung über lange Phasen hinweg soziale

Probleme vernachlässigt worden waren. Der protestantische Theologe

Adolf von Harnack hat zu Beginn des 20. Jhs. die orthodoxe Kirche als

eine „Jenseitigkeitsanstalt“ bezeichnet, um den Einfluß dieser Tendenzen

hervorzuheben. Er unterschied sie weiter von der Römisch-Katholischen

Kirche, die er zwar ebenfalls als eine „Jenseitigkeitsanstalt“ bezeichnete,

ihr aber auch ein Streben nach dem „Reich Gottes auf Erden“ attestierte.

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Das Fehlen einer artikulierten und systematischen Sozialethik, wie sie bei

den westlichen Kirchen zu finden ist, ist ein Zeichen dieses sozialen

Mankos der Orthodoxen Kirchen. Dies läßt sich auch aufgrund

bestimmter soziopolitischer und kultureller Entwicklungen im

orthodoxen Osten erklären. Trotzdem darf nicht übersehen worden, daß

die erste gesellschaftliche Etablierung und Institutionalisierung der aus

dem Westen stammenden marxistischen Ideologie in einem traditionell

orthodoxen Land Osteuropas, nämlich in Rußland, stattfand. Dies weist

deutlich auf die dortigen sozialen Defizite hin, für die auch die

Orthodoxe Kirche mitverantwortlich war.

Gegenwärtig versuchen die Orthodoxen Kirchen, ihr öffentliches Image

aufzupolieren und ein größeres Engagement für soziale und andere

Probleme an den Tag zu legen, um das Gebot der Stunde zu erfüllen. Der

Patriarch von Konstantinopel, Bartholomäus, wurde in den 1990er Jahren

für seine breit angelegten ökologischen Bemühungen bekannt und bekam

dafür den Spitznamen „der grüne Patriarch“. Die Russische Orthodoxe

Kirche hat im Jahr 2000 eine neue Sozialdoktrin beschlossen, die - trotz

mancher, teils umstrittener Aufforderungen - eine neue orthodoxe

Sozialpolitik zu formulieren versuchte. Auch in anderen orthodoxen

Ländern bemühen sich die jeweiligen Kirchenoberhäupter, die größere

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Öffnung der Kirche gegenüber den allgemeinen Problemen der

Gegenwart jenseits der strikten religiösen Sphäre zu ermöglichen und

eine effektivere Sozialpolitik zu gestalten. Dies ist aber keine einfache

Aufgabe, denn die Orthodoxen Kirchen bedürfen einer Reform in

mehreren wichtigen Punkten, um den Anforderungen der heutigen Welt

gerecht zu werden. Die bereits angeführten Probleme (z.B. in ihren

Beziehungen zum Staat) erschweren diese Bemühungen zusätzlich und

minimieren ihre Ergebnisse. Auch die nötige Abrechnung mit der

eigenen Vergangenheit bleibt oft aus. Trotzdem ist das Reformpotential

innerhalb der Orthodoxie nicht zu leugnen, berücksichtigt man z.B. die

beschlossenen Reformen im Landeskonzil der Russischen Orthodoxen

Kirche von 1917/18 mit der Einbeziehung von Klerus und Laien, was

einzig aufgrund der damaligen politischen Entwicklungen nicht zu Ende

geführt werden konnte. Ein wichtiges Resultat war damals die Befreiung

der russischen Kirche aus den Fängen des Staates, wobei sich der

Reformgeist des Konzils im Denken einiger Geistlicher und Laien später

in der Sowjetunion manifestierte, um aber dort massiv unterdrückt zu

werden.

5. Schlußwort

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Was folgt schließlich aus dem Gesagten? Wecken die erwähnten

Probleme im Betrachter Zweifel daran, daß in dieser Phase verbreiteter

Desillusionierungen überhaupt etwas getan werden kann? Kann man

demzufolge schon eine Prognose für das Orthodoxe Christentum wagen?

Es wäre zuerst illusorisch zu glauben, daß die angesprochenen Probleme

im Laufe des 21. Jahrhunderts mit Sicherheit gelöst werden können. Es

handelt sich nämlich hierbei um keine endgültige Erledigung von

Problemen, sondern um Versuche, die allgemeine Lage der Orthodoxen

Kirchen durch tiefgreifende Reformen zu erneuern und einen Neuanfang

überhaupt erst zu erproben. Größere oder kleinere Defizite und Versagen

wird es sowieso immer geben und diese sollten offen eingestanden

werden, denn die Kirche erweist sich eher als sündige Erde in der

himmlischen Sphäre und weniger als Himmel auf Erden (N. Berdjaev). In

Rußland hat die Orthodoxe Kirche nach der Wende etwa als

Wirtschaftsfaktor (als Exporteur von Öl und Importeur von Zigaretten

und Alkohol) Schlagzeilen gemacht. Dies ist aber nur die eine Seite der

Medaille, denn - dies ist für viele Orthodoxe heutzutage ein

grundsätzliches Paradox - die (künftige) Stärke der christlichen Botschaft

offenbart sich genau durch ihre (aktuelle) Schwäche.

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Um der Sache des Orthodoxen Christentums Gerechtigkeit angedeihen

zu lassen, wäre es für außenstehende Beobachter seiner gegenwärtigen

Stärke oder Schwäche angebracht, die bislang virulenten extremen

Fehleinschätzungen oder Pauschalurteile über die orthodoxe Welt zu

vermeiden, die im Augenblick viel Staub aufwirbeln und langfristig zur

Polarisierung führen. Die Orthodoxie ist nicht pauschal der

unruhestiftende Faktor und das Ferment für den Krieg auf dem Balkan,

wie dies von den westlichen Medien zu Beginn der 1990er Jahren oft

verbreitet worden war. Die Welt der Orthodoxie sollte man weiter nicht

nur auf der Basis des Schmuggelns von Ikonen aus dem Osten

wahrnehmen, die im Westen zu bloßen Handels- und Sammlerobjekten

degradiert werden - eine Kenose der Ikone im wahren Sinne des Wortes.

Im Laufe des Prozesses der gegenseitigen Wahrnehmung sollten deshalb

alte und gegenwärtige Klischees revidiert werden. Der Westen könnte

eine größere Sensibilität gegenüber den tatsächlichen Empfindlichkeiten

des orthodoxen Ostens zeigen und dabei versuchen, dessen

Besonderheiten besser zu verstehen. Dasselbe gilt natürlich für den

orthodoxen Osten, der die Romantisierung der eigenen Vergangenheit

und die übliche Dämonisierung des Westens überwinden und zugleich

auf die vielen positiven Seiten des Westens blicken sollte. Diese sind

jedoch schwierige Lernprozesse, die noch viel Reifezeit brauchen.

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Trotzdem sind sie durchaus realisierbar und können im Rahmen der

voranschreitenden gesamteuropäischen Integration verwirklicht werden.

Dieser Aufgabe fühle ich mich nicht zuletzt mit den bescheidenen

Mitteln meines Lehrstuhls hier in Erfurt verpflichtet und hoffe, mit dem

heutigen kleinen Mosaiksteinchen zu einer besseren Kenntnis des

Orthodoxen Christentums beigetragen zu haben.