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Oskar Bikkenin Nikolai Tscherepnin als musikalischer Neuerer im Lichte des Symbolismus Der im Mai 1873 geborene Nikolai Nikolajewitsch Tscherepnin be- gann seinen Weg als Komponist recht spät, mit der Gavottefür Orche- ster (1894) und der sinfonischen Dichtung Princessa Grjoza (La prin- cesse lointain) nach Edmond Rostand (1896). Auf das gleiche Sujet wurde interessanterweise in genau diesem Jahr auch ein Wandbild des berühmten russischen Künstlers Michail Alexandrowitsch Wrubel (1856-1910) fertiggestellt, eines Symbolisten. Und obwohl sich die Schaffenswege Wrubels und Tscherepnins in der Folge nicht mehr kreuzen sollten, ist dieses Zusammentreffen äußerst bedeutsam und symptomatisch. Denn Tscherepnin, den die symbolistische Poesie dauerhaft fesselte, unternahm unter dem Einfluß dieser künstlerischen Tendenz entscheidende Schritte zur Erneuerung seiner Musiksprache. Ungefähr ab 1900 wirken auf Tscherepnin zwei einflußreiche äs- thetische Strömungen ein: die Gruppe "Mir iskusstva" ["Welt der Kunst"] und der Symbolismus. In diesem Jahr schreibt Tscherepnin die dem "Mir iskusstva" zugehörige Romanze Tichoj nocju op. 8 [In stiller Nacht, nach Fjodor Tjutschew] und zwei Romanzen nach Percy Bysshe Shelley in der Übersetzung Konstantin Balmonts, Ski- talica nebes [Himmelsvagabundin] und Zatrepetala v nebe t'ma nocnaja o. op. [Im Himmelraume ragt die Nacht sich bebend] - die erste Hinwendung zur Lyrik des Symbolismus. Wenn die vom "Mir iskusstvo" ausgehende Schaffens linie Tscherepnins nicht von radi- kalen Neuerungen in den Bereichen der Harmonie, der Faktur und der Musiksprache begleitet wurde, so war es in seiner sym- bolistischen Schaffenslinie gerade umgekehrt, jedenfalls in denjeni- gen Werken, die nach 1909 entstanden. Dies fällt mit der Tendenz zur Erneuerung der musikalischen Ausdrucksmittel in der gesamten abendländischen Musik dieser Zeit zusammen. Genannt seien Gustav Mahler, Richard Strauss (Elektra), Arnold Schönberg (Pierrot lunai- re), Alexander Skrjabin (Prometej), Sergej Prokofjew, Igor Strawin- ski und Bela Bart6k. Den führenden europäischen Komponisten war die Krise, die Erschöpfung der Spätromantik und der romantischen Ausdrucksmittel klar bewußt, ebenso wie die Unausweichlichkeit der 134

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Oskar BikkeninNikolai Tscherepnin als musikalischer Neuerer im Lichte desSymbolismus

Der im Mai 1873 geborene Nikolai Nikolajewitsch Tscherepnin be-gann seinen Weg als Komponist recht spät, mit der Gavottefür Orche-ster (1894) und der sinfonischen Dichtung Princessa Grjoza (La prin-cesse lointain) nach Edmond Rostand (1896). Auf das gleiche Sujetwurde interessanterweise in genau diesem Jahr auch ein Wandbild desberühmten russischen Künstlers Michail Alexandrowitsch Wrubel(1856-1910) fertiggestellt, eines Symbolisten. Und obwohl sich dieSchaffenswege Wrubels und Tscherepnins in der Folge nicht mehrkreuzen sollten, ist dieses Zusammentreffen äußerst bedeutsam undsymptomatisch. Denn Tscherepnin, den die symbolistische Poesiedauerhaft fesselte, unternahm unter dem Einfluß dieser künstlerischenTendenz entscheidende Schritte zur Erneuerung seiner Musiksprache.

Ungefähr ab 1900 wirken auf Tscherepnin zwei einflußreiche äs-thetische Strömungen ein: die Gruppe "Mir iskusstva" ["Welt derKunst"] und der Symbolismus. In diesem Jahr schreibt Tscherepnindie dem "Mir iskusstva" zugehörige Romanze Tichoj nocju op. 8 [Instiller Nacht, nach Fjodor Tjutschew] und zwei Romanzen nachPercy Bysshe Shelley in der Übersetzung Konstantin Balmonts, Ski-talica nebes [Himmelsvagabundin] und Zatrepetala v nebe t'manocnaja o. op. [Im Himmelraume ragt die Nacht sich bebend] - dieerste Hinwendung zur Lyrik des Symbolismus. Wenn die vom "Miriskusstvo" ausgehende Schaffens linie Tscherepnins nicht von radi-kalen Neuerungen in den Bereichen der Harmonie, der Faktur undder Musiksprache begleitet wurde, so war es in seiner sym-bolistischen Schaffenslinie gerade umgekehrt, jedenfalls in denjeni-gen Werken, die nach 1909 entstanden. Dies fällt mit der Tendenzzur Erneuerung der musikalischen Ausdrucksmittel in der gesamtenabendländischen Musik dieser Zeit zusammen. Genannt seien GustavMahler, Richard Strauss (Elektra), Arnold Schönberg (Pierrot lunai-re), Alexander Skrjabin (Prometej), Sergej Prokofjew, Igor Strawin-ski und Bela Bart6k. Den führenden europäischen Komponisten wardie Krise, die Erschöpfung der Spätromantik und der romantischenAusdrucksmittel klar bewußt, ebenso wie die Unausweichlichkeit der

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Suche nach dem Neuen. Diese Suche begann schon am Ausgang des19. Jahrhunderts im Schaffen von Claude Debussy, im Rahmen derkünstlerischen Strömungen des Impressionismus und des Symbolis-mus. Vielleicht als erster in der europäischen Musik verwirklichtDebussy den Durchbruch über die Grenze der Dur-iMoll-Tonalität.

In den zwanziger Jahren wandten sich die Neuerungen nicht al-lein gegen die Spätromantik, sondern auch gegen Symbolismus undImpressionismus. Hierzu trugen Strömungen wie Neue Sachlichkeit,Neoklassizismus und Folklorismus bei, aber auch die gestiegeneRolle der Massenphänomene in der Musik: die Rhythmen und Mo-tive des Ragtime, des Shimmy, des Cake-Walk, des Jazz, die Musikder Estrade, der Music Halls, des Zirkus, der revolutionären Massen-lieder. Auf der einen Seite Bruchstückhaftigkeit und dodekaphoneKomplexität, auf der anderen äußerste Vereinfachung: Beides standder verfeinerten und raffinierten Kunst entgegen, die sich mit Sym-bolismus und Impressionismus verbindet. Und dennoch führtenKomponisten wie Albert Roussel, Maurice Ravel, Paul Dukas, Flor-ent Schmitt und Roger-Ducasse auch in den zwanziger und dreißigerJahren ein Schaffen fort, für das der Impressionismus seine Anzie-hungskraft noch nicht verloren hatte.

Für die russischen Komponisten bot der Stil des musikalischen Im-pressionismus als Ganzes keine Möglichkeit zur Anknüpfung, wohlaber wählte man einzelnes daraus für das eigene Schaffen aus. Das giltübrigens auch für die russischen Maler, für die der Impressionismusebenso wenig als künstlerische Weltanschauung dienlich war.

Nun zum Symbolismus. Der dichterische, malerische und musi-kalische Symbolismus hat einiges mit dem Impressionismus gemein-sam, insbesondere was den künstlerisch interpretierten subjektivenEindruck betrifft. Die Ungreifbarkeit, die Flüchtigkeit und Ver-schwommenheit dieses Eindrucks ist ein gemeinsames Merkmalbei der künstlerischer Richtungen. Bisweilen fällt es schwer, das je-weils vorliegende Kunstwerk der einen oder anderen Tendenz mitSicherheit zuzuordnen; manchmal ist es sogar auf beide zurückzu-führen, z. B. im Falle der Dichtungen Balmonts.

Und dennoch hat der Symbolismus seine eigene Sphäre, die ihnvom Impressionismus unterscheidet. Da ist das Bestehen von "Ent-sprechungen" zwischen dem äußerlich Sichtbaren einer Sache oder

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einer Erscheinung und ihrem inneren Wesen, das, da geheimnisvollverschleiert und voll von verborgenen Anklängen und Mehrdeutig-keiten, selbst in der Sprache der Kunst oft schwer auszudrücken ist.Dazu gehört ferner eine bezaubernde Suggestivität, die Macht be-stimmter Verfahren künstlerischer Einwirkung, über die die Dicht-kunst, zu einem geringeren Grad die Malerei und besonders die Mu-sik verfügt. Nicht zufällig erkannten die Symbolisten der Musik einesolch herausragende Rolle zu und räumten ihr unter den Künsten denersten Platz ein. Symbolisten wie die Dichter Balmont und Blok oderdie Maler Viktor Elpidiforowitsch Borisow-Musatow und MikolajusCiurlionis schätzten z. B. die "Musikalität" als Eigenschaft einesKunstwerks besonders hoch ein.

Ungeachtet des von den Theoretikern des Symbolismus hervor-gehobenen Primates der Musik unter den Künsten gab es in der rus-sischen Musik nur einen konsequent symbolistischen Komponisten,nämlich Alexander Skrjabin. Dagegen gab es jedoch eine ganze Rei-he von Komponisten, die vom Einfluß dieser Strömung zumindestberührt wurden, oder die sich, in den Worten Tatjana Lewajas, "imMagnetfeld des Symbolismus" befanden: Wladimir Rebikow, Ana-toli Ljadow, Sergei Tanejew, Sergei Rachmaninow, Nikolai Mjas-kowski, Sergei Prokofjew, Igor Strawinski, Sergei Wassilenko undMichail Gnessin. Es ist offensichtlich, dass von den führenden russi-schen Komponisten dieser Zeit nicht einer vom Einfluß des Symbo-lismus unberührt blieb, auch nicht Nikolai Tscherepnin.

Der Beginn seiner Begeisterung für die Texte des symbolistischenDichters Balmont, später auch für diejenigen Dmitri Mereschkows-kis, fällt in die Jahre kurz vor 1900, als die ersten, 1909 veröf-fentlichten Romanzen nach diesen Dichtem entstanden. Das Inter-esse und die Begeisterung für den Symbolismus erwiesen sich alsbeständiger als die Rezeption des Jugendstiles nach Art des "Miriskusstva". Diese war praktisch im Jahr 1911 mit der Kompositiondes Balletts Narciss i Echo abgeschlossen, während die sym-bolistische Linie in Tscherepnins Schaffen bis 1922 währte, als dieSieben Fünfzeiler alter und moderner japanischer Dichter ("Tanki")op. 52 nach Übersetzungen Balmonts entstanden.

Die hauptsächlichen Neuerungen Tscherepnins auf dem Gebietder musikalischen Ausdrucksmittel sind mit seiner symbolisti-

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schen Linie verknüpft und sollen im folgenden genauer betrachtetwerden.

Die Romanzen der 1900er Jahre, Skitalica nebes, Zatrepetala vnebe t'ma nocnaja (Shelley-Balmont), Uspokoennye teni und Usnut'by mne navek (Mereschkowski), sind im romantischen Stil geschrie-ben. Sie sind stilistisch kaum auffällig, abgesehen von einer größerenpsychologisierenden Zuspitzung, die im wesentlichen durch har-monische Mittel erreicht wird (Septakkorde der Nebenstufen). Einigeunerwartete Wendungen in der Romanze Skitalica nebes, wie derAustausch der dritten Stufe Dur gegen die dritte Stufe Moll, vermit-teln das Gefühl schmerzerfüllter Ausweglosigkeit und Hoffnungslo-sigkeit. Eine gewisse Aufhellung, der Vorschein erneuter Hoffnung,ergibt sich erst am Ende der Romanze auf die Worte "Ne znaja ni-eego, eto mozno poljubit''', die auch die eigenartige Kulmination desGanzen darstellen. Tscherepnin ging hier einer zu kategorischenBekräftigung der Durtonika aus dem Weg. Das Resultat ist der Ein-druck, den der symbolistische Text des Werks zwingend erforderte:nur eine halbe Bestätigung, nur eine ungreifbare Andeutung. DieVerwendung des übermäßigen Dreiklangs erwies sich in der gege-benen Episode wegen seiner Neutralität als äußerst angebracht. Indieser Romanze wird eine kaum merkliche Wendung zu einer Poetikdes musikalischen Symbolismus sichtbar, zum Teil im Verzicht aufdie Anwendung einer strengen Funktionsharmonik, zum Teil in derKonzentration auf nicht-funktionale Klangeffekte.

Da der Symbolismus-Begriff in der Musik durch die Musikwis-senschaft noch nicht ausreichend erforscht ist, verdient die PositionFrancis Claudons unsere Aufmerksamkeit. Im Artikel "Musik" der1978 in Paris erschienenen "Enzyklopädie des Symbolismus"l vertrittClaudon die Ansicht, dass der musikalische Symbolismus in den1870er oder gar 1850er Jahren begonnen habe. Dem französischenKunsthistoriker zufolge lag der Ausgangspunkt dafür in der ver-feinerten Einstellung zum Klangereignis und der psychologischenSättigung der Musik. Hierhin gehören einige Werke Franz Liszts undRichard Wagners, in denen Sujethaftigkeit und Handlungsbezugentweder ganz fehlen oder auf ein Minimum reduziert sind. Genannt

1 Hier zitiert nach der Ausgabe "Enciklopedija simvolizma", Moskau 1998.

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seien Liszts sinfonische Dichtungen Orpheus, Les Preludes, Von derWiege bis zum Grabe und Wagners Bühnenwerke Tristan und Isoldeund Parsifal. Claudon: "Der Ursprung der Orchestermusik des Sym-bolismus ist Liszts sinfonische Dichtung; seine letzten Werke diesesGenres sind den von den Literaten entwickelten Programmen völligangenähert." Bei aller offensichtlichen Anfechtbarkeit darf ClaudonsAuffassung in musikwissenschaftlichen Arbeiten zum Symbolismusnicht übergangen werden.

Unter den genannten Romanzen Tscherepnins vor 1909 ist Skita-liea nebes die unter künstlerisch-ästhetischen Gesichtspunkten vollen-detste und gleichzeitig diejenige, die sich der symbolistischen Poetikam meisten annähert. Tscherepnin, der die Romanze seiner EhefrauWarwara Leonidowna Spendiarowaja widmete, vertonte dieses her-vorragende Gedicht mit besonderer Begeisterung. In der Bereicherungder Dichtkunst durch die Musik ergibt sich eine neue künstlerischeEinheit. Es ist unmöglich, in dieser Romanze etwas zu verändern,ohne dabei die künstlerische Logik des Werkes, diese Synthese ausPoesie und Musik, zu entstellen. Alle musikalischen Ausdrucksmittelwerden mit äußerster Sorgfalt und Präzision eingesetzt.

Die übrigen Romanzen nach Worten symbolistischer Dichter sindzu einem noch größeren Grad mit Psychologie gesättigt. Besondersheraus ragt die Romanze Zatrepetala v nebe t 'ma nocnaja, in der esTscherepnin gelang, sowohl das Gedicht Balmonts (Übersetzungnach Shelley) in symbolistischer Form zu durchdringen, als aucheine musikalische "Entsprechung" für es zu finden. Er benutzt eineParallel führung übermäßiger Dreiklänge, die aus funktionsharmoni-scher Sicht schwer zu interpretieren ist - es hat auch keinen Sinn,dies zu tun, denn die Tonfolge, die von diesen Klängen begleitetwird (dis" -d" -ces" -b ') ist mehr ein klanglich selbständiges als einfunktionales Ereignis. Diese Tonfolge erklingt zu den Worten "t'manocnaja" und drückt jene Düsternis, Trauer und schmerzhafte Melan-cholie aus, die der Stimmung der Zeilen Balmonts entspricht (hier inder dem Notentext beigegebenen deutschen Übertragung):

Im Himmelraume ragt die Nacht sich bebendDa weißes Zwielicht stets sich mehrt;Vergrämt und siech ein Nebelrneer durchschwebend,

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erscheint der Mond der trübumflorten Erd!Er wankt, er schleicht Gewölk und Licht verwebend.So flicht zu ruheloser Schattenzeit sein BettManch krankes Weib voll Angst und Bangen,Und trostlos weinend läßt sein Haupt es hangenErfüllt von namenlosem Seelenleid.

Es versteht sich, dass ein wortsprachlicher Kommentar nicht inder Lage wäre, alle Schattierungen der in diesen Zeilen wiedergege-benen Stimmung zu erfassen - das kann einzig und allein die Musik.Gerade deswegen erwählten die symbolistischen Dichter die Musikzur ersten unter den Künsten. Das, was in der Poesie "unaussprech-lich", aber in der Musik "aussprechlich" ist, ist eine grundlegende,außerordentlich wichtige Kategorie der symbolistischen Ästhetik.Mit anderen Worten: Das, was in der Dichtung mit Hilfe von An-deutungen und Symbolen ausgesprochen werden kann, stellt sich inder Musik mit vielfältigen harmonischen, klanglichen, melodischenMitteln dar, denn die Musik ist weniger konkret als die Wortsprache.Genau darin erblickten die Symbolisten den Vorrang der Musik.

In seinen Balmont-Romanzen wendet Tscherepnin musikalischeAusdrucksmittel an, die aus der romantischen Kunst des 19. Jahr-hunderts herrühren, und nur in einigen Episoden nahm er sich dieFreiheit, über die vorgezeichneten Grenzen hinauszugehen. Was dieMereschkowski-Romanzen betrifft, so veranlaßten ihn diese Gedichteoffenbar nicht, sich auf die Suche nach Neuerungen zu begeben.

1909 schreibt Tscherepnin die Fejnye skazki [Feenmärchen], ei-nen Liederzyklus auf originale Balmont- Texte, nachdem er bis dahinnur Balmonts Übersetzungen fremdsprachiger Autoren vertont hatte.Aus den 71 Gedichten in Balmonts Sammlung wählte Tscherepnin18 aus, neun in jeder der beiden Folgen.

Diese unterscheiden sich stilistisch voneinander. Offensichtlichentstand die erste Folge um einiges eher als die zweite. Sie gehörtdem Genre der Musik für Kinder an, das von den russischen Klas-sikern vielfach bedacht worden ist.

Die erste Folge der Feenmärchen ist auf die Möglichkeit hin be-rechnet, eine kindliche Zuhörerschaft unmittelbar zu fesseln. Daswird in der verhältnismäßigen Simplizität der Sprache und der musi-

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kalischen Formen deutlich: Tscherepnin stützt sich auf die bekanntenIntonationen und ihre Fähigkeit, präzise Assoziationen hervorzuru-fen. Selbst die Titel legen dafür Zeugnis ab, dass wir uns hier in derWelt der Kindheit und den mit ihr verbundenen Gestalten befinden.In diesem Zyklus von neun Liedern gibt es praktisch drei Wiegenlie-der: Ispanskaja kolybel 'naja [Spanisches Wiegenlied], Glupen 'kajaskazka [Eine dumme Geschichte] mit einem Ostinato einwiegendenCharakters, und Kolybel 'naja pesnja [Wiegenlied] am Schluss dieserersten Folge. Dazu kommen drei Lieder ruhigen, zärtlichen Charak-ters, die entweder mit positiven Gestalten aus Kindermärchen ver-bunden sind (Zain 'ka), die Freuden des Erwachens (Utra - Morgen)oder die Schönheit der Umwelt ausdrücken (Anjutiny glazki -AnjutasÄuglein). Besonders herausgehoben sind die drei charakterlich zuge-spitzten Lieder U cudisc [Bei den Ungeheuern], Koskin dom [Kat-zenhaus] und Fejnaja vojna [Feenkrieg]. Das groteske Märchen Ucudisc ist in seinen rhythmischen Intonationen und seiner Bild-lichkeit nicht weit von den Visions fugitives oder gar den SarkasmenProkofjews entfernt.

Die erste Folge der Feenmärchen ist noch ganz in der traditio-nellen Manier und im Rahmen der Tonalität komponiert. Etwas ganzanderes sehen wir in der zweiten Folge der Feenmärchen. Die ein-fach gehaltenen, naiven Formen der kindlichen Märchenwelt machenhier ästhetisierten, fein nuancierten, mit ausgesuchtem Geschmack"instrumentierten" vokal-instrumentalen Miniaturen Platz. Die Mär-chen der zweiten Folge sind von Genrehaftigkeit weit entfernt, undauch von jeder tonalen und funktionsharmonischen Bestimmtheit,obwohl sie nicht als wirklich atonal bezeichnet werden können. Eintonales Gefühl ist durchgängig präsent, aber nicht auf der oberstenEbene. Tonalität und Funktionsharmonik sind manchmal ver-schleiert, verlieren ihre kategorische Geradlinigkeit. Die musika-lische Sprache der zweiten Folge der Märchen hebt sich durch Ver-feinerung und größere Leichtigkeit hervor. Die Faktur ist leicht undluftig. Die Timbre-Varianz der verschiedenen Register der Klavier-begleitung, wie auch der das Timbre betreffende Anteil der Har-monik, sind mit besonderer Aufmerksamkeit behandelt.

Die Stücke enthalten eine Vielzahl koloristischer und tonmaleri-scher Erfindungen, die durch vielfältigen Einsatz harmonischer Mit-

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tel (Quartenakkorde in der Prokofjew gewidmeten Trjasoguzka[Bachstelze], dort auch Zusammenklänge aus großen und kleinenSekunden, alterierte Akkorde) und artikulatorische Einfälle erreichtwerden, insbesondere durch den häufigen Gebrauch des Pedals.Hierhin gehören auch Vortragsbezeichnungen wie "quasi Trombe"oder "quasi Timpani".

Ihrem musikalisch-poetischen Gehalt nach sind die Feenmärchender zweiten Folge nicht Märchen in der tradierten Bedeutung desWortes, sondern eher eine Sammlung von Skizzen nach der Natur,obwohl ein Teil der Miniaturen, nach ihren Titeln zu urteilen, zwei-fellos eine Verbindung mit dem Ungewöhnlichen, Rätselhaften,Phantasischen hat: Cary fei [Feenzauber], Veterok fei [Feenbrise],Feja i bronzovka [Fee und Bronzekäfer]. Das Rätselhafte aber, dasUngewöhnliche und das Geheimnisvolle sind außerordentlich cha-rakteristisch für den Symbolismus und seine Ästhetik. Denn wo keinGeheimnis ist, ist auch keine Poesie und keine Kunst.

Es ist schwierig, einzelne der Lieder aus der zweiten Folge her-auszuheben, denn sie alle zeugen von der vorn Komponisten er-reichten hohen Meisterschaft und schöpferischen Selbständigkeit.Das Opus ist zweifellos Tscherepnins herausragendster Beitrag zurvokalen Kammermusik und stellt einen merklichen stilistischen Fort-schritt dar, auch hinsichtlich der Erneuerung seiner Musiksprache.

Im Jahre 1917 bevorzugte Boris Assafjew die erste Folge der Fe-enmärchen mit dem Hinweis, dass "in der zweiten Folge eine gewis-se Künstlichkeit zu spüren ist, anscheinend deswegen, weil derKomponist sich ausschließlich auf die koloristischen Effekte desKlaviers verläßt"2. In seinem Buch "Russkaja muzyka (Ot nacalaXIX veka)" ["Russische Musik (seit dem Anfang des 19. Jahrhun-derts)"], das 1930 in Leningrad veröffentlicht wurde, spricht sichAssafjew anerkennend über beide Folgen aus und bezeichnet sie als"zweifellos eine bedeutsame Leistung in der Musik der Epoche zwi-schen den beiden Revolutionsjahren 1905 und 1917. In dieser Zeitbegannen sich hinter dem Kult von Verklärung und Stilisierung desVergangenen bereits zeitgemäße Bestrebungen abzuzeichnen: der

2 Boris Asaf'ev, 0 simfoniceskoj i kamemoj muzyke [Über sinfonische Musikund Kammermusik], Leningrad 1981, S. 95.

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Anfang einer Bewegung zur Befreiung von den engen Gestaltungs-prinzipien und dem »ideenmäßigen Oblomowtum« der vorangegan-

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genen poc e.In unserer Zeit ist es undenkbar, den Vorzug nicht der zweiten Se-

rie der Feenmärchen zu erteilen. In ihr ist Tscherepnins Originalität alsdie eines Komponisten zu erleben, den man weder mit Debussy (einegewisse Nähe ist nur in Feja i bronzovka zu spüren) noch mit irgend-einem der russischen Komponisten verwechseln kann. In den Feen-märchen der zweiten Folge ist schon eine Vorwegnahme einiger Zügeder Sprache Prokofjews (Visionfugitives) und auch der Harmonik undder Klangfarblichkeit Olivier Messiaens hörbar.

Am Beginn der Einleitung der ersten Miniatur der zweiten Serieder Feenmärchen - Cary fei - erklingt über dominantischem Baß einesubdominantische Harmonie (VI. Stufe), und erst im 7. Takt er-scheint die Tonika für kurze Zeit. Die Gesangspartie folgt den Ton-höhen der Tonika h-Moll.

"Ja sel po lesu / Les temnyj byl tak stranno zacarovan" ["Ich gingdurch einen Wald / Der dunkle Wald war seltsam zauberhaft"].

Nach einer unerwarteten Wendung nach Art einer SkrjabinschenWechselbeziehung zweier um einen Tritonus versetzten Dominant-akkorde folgen erlesen klingende Akkorde unter Benutzung des Pe-dals. Die Aneinanderreihung von dominantischen Harmonien, dieauf keine bestimmte Tonika verweisen, folgt rein koloristischen Ab-sichten. Der Komponist verwendet klangfarbliche Effekte, darunterSekundklänge, macht das aber überlegt und mit Vorsicht und erzieltdamit eine eigenartige und verfeinerte Schönheit bei gleichzeitigerÖkonomie der Ausdrucksmittel (viele Pausen, Luft).

Nach den Worten "A znaju! Eto feja ..." ["Ich weiß! Es ist dieFee... "] kann der abschließende Gang in der Gesangspartie zwiespäl-tig gedeutet werden, so dass sogar im letzten Abschnitt eine tonal-harmonische Dualität herrscht, eine funktionale Unbestimmtheit.

3 Boris Assafjew, Die Musik in Rußland (Von 1800 bis zur Oktoberrevolution1917). Entwicklungen - Wertungen - Übersichten, hg. und aus dem Russischenübersetzt von Ernst Kuhn, Berlin (Verlag Ernst Kuhn) 1998, S. 130.

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Dies entspricht der symbolistischen Poetik der Andeutungen, desunvollständigen Ausdrucks, des Geheimnisses.

In Nr. 2, Veterok fei, ist der erste Zusammenklang eine Se-kundreibung, es folgen dreimal wiederholte absteigende Skalen,gleichsam das Wehen der Brise. Auch in diesem Lied fühlt man dietonal-harmonische Dualität: Die Klavierpartie steht im wesentlichenin E-Dur, die Gesangspartie in fis-Moll. Die Vokalpartie bewegt sichfast gänzlich in chromatischen Schritten. Im Klavier werden dieTonarten D-Dur und As-Dur einander gegenübergestellt. Auf dieWorte "Ja usel, no eto v sutku" ["Ich ging, doch nur im Spaß"] stehtauf dem letzten Wort die VI. Stufe von e-Moll bzw. die I. Stufe vonC-Dur, es folgt eine "gran pausa" und ein Schluß in E-Dur, in dassich jedoch Elemente von gis-Moll mischen.

So beobachten wir auch in dieser Miniatur eine harmonische Du-alität und eine tonale Unbestimmtheit. Tscherepnin gebrauchte ver-schiedenartige Mittel zum Ausdruck kaum wahrnehmbarer Fein-heiten in der Stimmung des Gedichts. Die Schönheit der Natur wirddurch die Musik hellsichtig und fein wiedergegeben. An einer Stelletreten sogar Merkmale des Sonorismus auf. In den folgenden Minia-turen dieser Folge wird es mehrere solcher Stellen geben.

Die Tonalität von Nr. 3, Lesnye korally [Waldkorallen], zu be-stimmen ist schon schwerer als in den vorangegangenen Liedern.Dem Fehlen einer Generalvorzeichnung und auch den Akkorden imKlavier nach steht das Lied in a-Moll. Die Harmonik in der Einlei-tung ist kompliziert, wie übrigens in der gesamten Miniatur: Gleich-zeitig erklingt gis in der linken und as in der rechten Hand, und dieMelodie bringt dazu g. Diese Zusammenklänge werden jedoch nichtals scharfe Dissonanzen aufgefaßt, sondern vermitteln assoziativ dieSchönheit der Waldkorallen, als ob man sich bildlich etwas unge-wöhnlich Schönes, Leuchtendes, mit Lichtreflexen spielendes vor-stellt - eine Synästhesie. Das mag subjektiv sein, aber der Symbolis-mus ist nun einmal diejenige künstlerische Strömung, in der dersubjektive Faktor eine entscheidende Rolle sowohl für das Schöpfe..rische als auch für das Rezeptive spielt. Die Erscheinung der Synäs-thesie ist bekanntlich außerordentlich charakteristisch für die Kunstdes Symbolismus, denn die Vieldeutigkeit der Symbole verlangt dieSynästhetisierung ihrer Rezeption.

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Zu den Worten "Sosny byli ogromny" ["Die Kiefern waren rie-sig"] steigt die Melodie in der vom Klavier verdoppelten Vokal-stimme zunächst bis zur großen Septime an, um danach auf die klei-ne Septime abzusinken, die Größe der Kiefern abbildend. In einemAbschnitt mit der Bezeichnung "misterioso" ist ein Dominant-septakkord mit weiteren Tönen zu hören, ein Nonenakkord undschließlich Sekundreibungen.

Im Schlußabschnitt erklingen zum E-Dur-Baß (Dominante zu a-Moll) einander abwechselnde terzlose Akkorde, Sekundreibungen,Nonen- und Septakkorde sowie Dreiklänge. In der Gesangspartieerklingt gleichzeitig eine kapriziöse, chromatisch gesättigte Melodie.Diatonische Wendungen sind in ihr selten. Sie endet mit dem Ton f'nach dis' und e', eine Tonika ist nicht ersichtlich. Diese Miniatur, dieIgor Glebow (Assafjew) in seiner Etüde über Tscherepnin sehr ge-schätzt hat, läßt noch weniger als die vorangegangenen eine tonale,skalenmäßige und harmonische Bestimmtheit erkennen. Harmoniehat hier eine mehr koloristische als funktionale Aufgaben.

In der zweiten Folge seiner Feenmärchen hat Tscherepnin somitentschiedene Schritte hin zu einer Erneuerung seiner musikalischenSprache unternommen. Dabei stand er unter dem Einfluß des für diesymbolistische Poetik so charakteristischen Auffindens von "Ent-sprechungen". Musikalische "Entsprechungen" sind dabei nicht ein-fach Abbildungen der Gestalten des dichterischen Textes. Eher sindes selbständige subjektive Interpretationen, die sowohl abhängig wieunabhängig vom Text, genauer: zu einem sehr geringen Grade ab-hängig von ihm sind. Es trifft jedoch nicht zu, dass die musikalischen"Entsprechungen" völlig willkürliche Interpretationen des zugrunde-liegenden Textes sind. Im folgenden sollte Tscherepnin sich noch oftder symbolistischen Dichtung zuwenden, insbesondere derjenigenBalmonts, z. B. in Amarillis op. 49 und der Okeanijskaja sjuita[Ozeanischen Suite] op. 53. In diesen Werken fuhr er fort, nach demsymbolistischen Prinzip des Auffindens von Entsprechungen zukomponieren.

In seinem Aufsatz "A forgotten firebird" schreibt Donald Street:"Die Verbindungen zur französischen Musik hatten einen entschei-denden Einfluß auf seine [Tscherepnins] Werke. Seinen SpitznamenDebussy Ravelewitsch Tscherepnin hat er sich offensichtlich erar-

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beitet. Er hat mit der Avantgarde dieser Zeit sehr sympathisiert.,,4

Dieser scherzhafte Beiname Tscherepnins bedarf meiner Ansichtnach einer Einschränkung. Denn wenn auch die schöpferische Me-thode Tscherepnins tatsächlich derjenigen der benannten Kom-ponisten nahesteht, so doch nicht sein Stil.

Abschließend seien die Worte des bekannten russischen DichtersWladimir Chodassewitschs aus dem Jahr 1928 zitiert: "Der Sym-bolismus ist nicht nur nicht erforscht, sondern anscheinend auchnoch nicht verarbeitet. Im wesentlichen ist es noch nicht einmal klar,was der Symbolismus eigentlich ist [...] Seine chronologischen Gren-zen sind nicht klar: Wann hat er begonnen, wann aufgehört? Gegen-wärtig kennen wir noch nicht einmal die Namen."s In unserer Zeit,mehr als 70 Jahre später, ist die Lage nicht um vieles besser, beson-ders was den musikalischen Symbolismus betrifft. In diesem Bereichmacht die Musikwissenschaft gerade ihre ersten Schritte.

4 In: The Musical Times, vol. 119. No. 1626 (August 1978).5 Vladislav Chodasevic, 0 simvolizme, 1928, zit. n. "Enciklopedija simvolizma",

Moskva 1998, S. 390.

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