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Thomas Klupp Paradiso Roman Berlin Verlag

Paradiso Leseprobe

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Leseprobe aus dem neuen Buch von Thomas Klupp. Der Beginn des Buches "Paradiso" und damit der langen Reise von Alex.

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Thomas K l uppParad i so

Roman Berl in Verlag

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Es ist noch früh am Nachmittag und glühend heiß, und ichstehe hier an einer Raststätte gleich bei Potsdam und wartedarauf, bald wegzukommen. Obwohl ich im Schatten desTankstellendachs stehe und nur eine kurze Hose und ein är-melloses T-Shirt trage, schwitze ich, als hätte ich Gewichtegestemmt. Das Shirt klebt mir im Nacken, und weil es neuist und ich vergessen habe, es zu waschen, juckt es am Saumganz schlimm. Ich bekomme sicher einen Ausschlag davon,weil ich eine sehr empfindliche Haut habe, die so etwasnicht verzeiht. Über mir schnarrt ein Gebläse, das den Ben-zingeruch mit warmer Toilettenluft mischt, und währendich den Gestank einatme, schaue ich immer wieder zu denZapfsäulen. Ein paar Leute tanken dort ihre Autos voll, undich bin mir sicher, dass mich jeder einzelne von ihnen füreinen Tramper hält. Wie ich neben meinem Rucksack an derWand des Tankstellenshops lehne und dauernd so verstoh-len hinüberblinzle, muss das auch so wirken: als würde ichgerade eine Pause machen und im nächsten Moment schonwieder mein bemaltes Pappschild rausstrecken, an alle mög-lichen Scheiben klopfen und betteln, dass ich einsteigendarf. Würde ich mich nicht so matt fühlen, ich glaube, ichwürde den Leuten reihum erzählen, dass ich hier auf meineMitfahrgelegenheit warte und übrigens selbst ein Auto habe,

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das momentan bloß in der Werkstatt ist. Das wäre nicht ein-mal gelogen, meine Eltern haben mir vor kurzem eins ge-schenkt, so ein kleines rotes mit Schiebedach, und vor einpaar Tagen hat es meine Freundin dann zu Schrott gefahren.Ihr selbst ist nichts passiert, nicht einmal eine Schramme hatsie abgekriegt, nur das Auto war hinüber. Sie ist gegen einenBaum gefahren oder vielleicht war es ein Laternenmast. Ichbin mir nicht ganz sicher, ich habe nicht weiter nachgefragt.Johanna hat andauernd geweint und sich dabei hysterischentschuldigt, und ich wollte nicht den Anschein erwecken,als ginge es mir ums Blech. Ehrlich gesagt war es mir tat-sächlich egal, dass das Auto kaputt war und jetzt Reparatur-kosten anfallen und die Versicherungsgebühren höher wer-den und so weiter. Mein Vater kümmert sich um solcheSachen, er kennt da alle Tricks.

Damit hier auch wirklich keiner auf falsche Gedankenkommt, lehne ich mich extra unbeteiligt gegen die Wandund schaue konsequent nur auf meine Schuhspitzen hinun-ter und auf die eingetretenen Kaugummis im Asphalt. Nurab und zu schaue ich hoch, und zwar wenn Frauen undMädchen in kurzen Kleidern und Röcken vorbeilaufen, wasrecht häufig passiert, ich stehe nämlich gleich neben demToiletteneingang. Ich kann die Aussicht aber gar nicht ge-nießen, weil das Jucken immer penetranter wird und ichmich mit aller Kraft konzentrieren muss, nicht zu kratzen;sonst rubbeln die Fingerspitzen die gefärbten Baumwoll-fasern noch tiefer in die Haut, und dort fangen sie erst rich-tig zu brennen an. Das ist dann wirklich unerträglich, so alswürde man barfuß in einen Ameisenhaufen steigen oder mitkurzen Hosen durch Brennnesselstauden waten. Mein Opa

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hat das manchmal gemacht, gegen sein Rheuma, aber derwar ja auch ein Bauer und hatte keine Allergien, der war im-mer an der frischen Luft. Und während ich noch meinenOpa vor mir sehe, wie er mitten im Wald in einem Ameisen-haufen steht und mich dauernd überreden will, mit hinein-zusteigen, fällt mir ein, dass meine Mitfahrgelegenheit einFörster ist. Ein Starnberger Förster mit einem gelben Passat,das hat er zumindest gesagt. Wir waren um Punkt eins ver-abredet, und wenn ich mich nicht täusche, ist es schon min-destens zwanzig nach.

Ich warte noch zehn Autos ab, dann gehe ich auf einen sil-bernen Sportwagen zu, so ein Audi TT-Modell mit diesenkompakten Tankdeckeln an der Seite, der weiter vorne beiden Mülltonnen parkt. Auf dem Beifahrersitz kramt eineziemlich hübsche Blondine in ihrer Handtasche herum, undich lächele ihr freundlich entgegen und frage sie, wie spät esist. Das heißt, ich will sie das fragen, komme aber überhauptnicht dazu, weil sie direkt vor meiner Nase den automati-schen Fensterheber betätigt. Mit einem leisen Surren fährtdie Scheibe hoch, und darin spiegelt sich zuerst mein Körperund dann mein Gesicht. Die Blondine schaut jetzt in die an-dere Richtung, so als hätte sie mich gar nicht bemerkt und alswäre die Sache mit der Scheibe reiner Zufall. Zuerst bin ichnoch von meinem Gesicht irritiert, ob das wirklich so unan-genehm breit aussieht wie in der Spiegelung, aber dann wer-de ich wütend. Ich kenne das schon von mir, so eine jähe, ab-grundtiefe Wut, die mich zu allem fähig macht, und ich denkemir, wie traurig es ist, dass die Natur so absolut widerlicheMenschen hervorbringt, die leider auch noch schön sind undreich. Die guten Menschen, denke ich, sollten schön sein

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und Glück haben mit allem und die schlechten hässlich undbald sterben. Was ja leider nicht der Fall ist, aber ich wünschees mir trotzdem, und vor allem wünsche ich mir, das dieserFrau zu sagen. Stattdessen drehe ich mich um und murmledas Wort Schlampe in mich hinein. Genau gesagt murmle ichdas Wort erst in mich hinein, nachdem ich mich umgedrehthabe, so dass die Frau es auch bestimmt nicht hört.

Ich stelle mich wieder in den Gestank hinein und fluche leisevor mich hin, dann schnüre ich den Rucksack auf und wüh-le nach meinem Telefon. Ich ertaste es ganz unten zwischenden Hemden und Socken, und als ich es herausziehe und dieZeit ablese, rutscht es mir fast aus der Hand. Weiter links,um genau 13:14 Uhr, geht die Tür des Tankstellenshops auf,und ein komplett kahl rasierter Typ kommt heraus. Er drehtden Kopf in meine Richtung und schnalzt dabei laut mit derZunge, und dann läuft er geradewegs auf mich zu. Er ist nichtbesonders groß, aber ziemlich muskulös und starrt michdurch die verspiegelten Gläser seiner Pilotenbrille an. Dieoberen zwei Hemdknöpfe sind geöffnet, so dass man seinegebräunte Brust sehen kann, und ich denke, dass ich sichergleich Ärger und vielleicht sogar ein paar aufs Maul bekom-me – wieso ich das denke, weiß ich nicht, ich habe ja nichtsgetan –, jedenfalls ducke ich mich schon ein bisschen, daschiebt der Typ seine Brille hoch und sagt: Mensch, Böhm,ist ja derb, dass du immer noch trampst! Vor Schreck schütt-le ich den Kopf, aber dann drücke ich mein Rückgrat durchund sage: Konrad, na aber hallo. Und tatsächlich: Vor mirsteht Konrad, der Computerkonrad aus der Schule, zweioder drei Klassen über mir.

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Konrad boxt mir gegen die Schulter und grinst mich an. Ergrinst wie besessen, so wie der Familienvater auf dem Anti-raserplakat auf der anderen Seite der Autobahn, und dasUnheimliche ist: Seine Zähne sind mindestens so weiß undgerade wie die von dem toten Mann. Ich schaue ehrlichzweimal hin, Konrads Zähne sind mir nämlich unbekannt.Früher hat er immer diese Spange getragen, sogar zum Abihatte er die noch im Mund, aber die Briketts und Gummissind alle verschwunden, und jetzt steht er vor mir mit sei-nem Gletschergrinsen und sagt, dass er nach Süden fährtund mich mitnehmen kann. Ich sage erst einmal gar nichts,sondern schaue an ihm vorbei zur Tankstelle rüber. An denZapfsäulen stehen ein paar BMWs und Toyotas und einrotzgrüner Opel, aber kein einziger gelber Passat. Astrein,sage ich und will mich bedanken, aber er wartet das garnicht ab. Er greift sich meinen Rucksack vom Boden undläuft damit los. Er läuft an den Mülltonnen vorbei auf densilbernen Audi zu, wirklich schnurstracks in Richtung derblonden Frau. Ich bin mir sicher, dass das ein Irrtum ist, weiler die unmöglich kennen kann. Das tut er aber doch. Erbleibt tatsächlich neben der Beifahrertür stehen, klopft ge-gen die Scheibe und gibt ihr ein Zeichen, dass sie aussteigensoll. Ich stehe zwei Schritte hinter ihm und spanne wie be-sessen meine Bauchmuskeln an, aber als die Frau die Türöffnet und aus dem Wagen steigt, ist die Situation überhauptnicht unangenehm. Sie lächelt mich an, ich lächle zurück,und dann sagt sie: Hi, ich bin die Verena. Alex, sage ich undgebe ihr die Hand. Wir drücken beide kräftig zu, wie zweiPolitiker, die Gott und der Welt beweisen wollen, dass zwi-schen ihnen alles in bester Ordnung ist, und dafür möchteich ihr beinahe die Füße küssen. In ihrem weißen Kleid sieht

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sie wirklich fantastisch aus, und auf Konflikte habe ich japrinzipiell keine Lust.

Konrad hat in der Zwischenzeit meinen Rucksack auf dieRückbank geworfen, und als ich mich ebenfalls nach hintenquetschen will, hält er mich an der Schulter fest. Er sagt, ichsoll mich doch nach vorne setzen, weil wir uns sonst nichtunterhalten können. Ganz selbstverständlich sagt er das,und Verena klettert sofort in den Fond. Auf den zweitenBlick sieht sie fast noch besser aus als vorhin, und nachdemich beim Einsteigen auf ihren Hintern geschaut habe, fangeich an, im Rückspiegel nach ihren Brüsten zu schielen. Sonsthabe ich das bestens unter Kontrolle, aber ihr Ausschnittreicht fast bis zum Nabel hinunter, und genau mittig, wo dieNähte sich treffen, ist ein rosa Schmetterling aufgestickt.Die Flügel sind an den Rändern mit Pailletten besetzt undfunkeln wie wild in der Sonne, und das gibt mir wirklichden Rest. Dann rutscht sie aber zum Glück beiseite und gibtden Blick durch die Heckscheibe frei. Über den Spoiler hin-weg kann ich jetzt die Tankstelle sehen, die Zapfsäulen unddas rote Total-Schild und alles, und weiter hinten, bei derRaststätteneinfahrt, fährt gerade ein gelber Kombi heran.Ich glaube, dass es ein Passat ist, aber es kann auch sein, dassich mich täusche, und weil ich ohnehin froh bin, nicht mitdiesem Förster mitfahren zu müssen, sage ich keinen einzi-gen Ton.

Konrad dreht jetzt den Zündschlüssel um, der Wagen fängtdumpf zu vibrieren an, und dann tritt er aufs Gas. Er tritt dasPedal sehr brutal hinunter, der Motor heult auf, und derDrehzahlmesser schnellt tief in den roten Bereich. Schon auf

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dem Parkplatz beschleunigt er wie ein Verrückter, und als erden Wagen dann auf die Autobahn steuert, muss ich nochmal an den Raser denken und dass bei der Hitze womöglichein Reifen platzt. Keine Ahnung, weshalb ich so morbideDinge denke, jedenfalls hätten wir keine Chance. Wir sindnämlich nicht angeschnallt. Ich weiß nicht, ob Konrad es nurvergessen hat oder ob er es grundsätzlich lässt, und weil ichvor ihm nicht als Spießer dastehen will, habe ich es ebenfallsnicht getan. Mit meinem Shirt und den kurzen Hosen seheich ohnehin schon aus wie ein verblödeter Sportler, und erwirkt so souverän wie Tom Cruise in Top Gun. Er hat seinePilotenbrille wieder vor die Augen geschoben, die Hemds-ärmel lässig hochgerollt und hält das Steuer nur mit einerHand. Mit der anderen zündet er zwei Zigaretten an, undwährend die Tachonadel über die 200 gleitet, reicht er mireine rüber und fängt zu reden an. Er sagt noch ein paarmal,wie endlos derb er alles findet, unsere Begegnung und vorallem mich und so weiter, aber dass ihn das überhaupt nichtüberrascht. Die Guten, sagt er, trifft man nämlich immerwieder, diese Erfahrung hat er schon oft gemacht. Er klopftmindestens fünf Minuten lang seine Verbrüderungssprüche,und ich nicke so leicht und schaue dabei zum Fenster hin-aus. Die Landschaft schießt wie im Zeitraffer vorüber, Fel-der und Wälder und frisch gemähte Wiesen, und durch dasSchiebedach bläst angenehm kühl der Fahrtwind herein. Dasmildert den Juckreiz am Saum beträchtlich, und ich bin ge-rade dabei, zu entspannen, aber dann fängt Konrad mit sei-ner Firma an. Ich habe ihn wirklich nicht gefragt und will dasüberhaupt nicht wissen, aber er erzählt es mir trotzdem. Ererzählt mir von irgendwelchen Navigationssystemen, die erfür VW und Audi und demnächst sogar für BMW program-

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miert, er nennt mir die Rendite für Softwarepatente und rat-tert die Namen von zehntausend Satelliten herunter, und amSchluss erklärt er mir GPS. Ich sitze neben ihm wie verstei-nert und schlucke den Dreck. Ein paarmal sage ich sogar:Alter Schwede, du bist ja richtig dick im Geschäft. Er nicktdaraufhin so ultrabescheiden und sagt, dass ihm der ganzeSchotter aber überhaupt nicht wichtig ist. Der belastet ihnsogar, sagt er, weil er gar nicht mehr weiß, wohin damit. Des-wegen hilft er auch allen möglichen Leuten, mir zum Bei-spiel, aber auch den Bettlern auf der Straße, denen er ausMitleid manchmal sogar Scheine gibt.

Als er das mit den Bettlern sagt, wird mir heiß im Gesicht.Ich fange an, ihn so richtig zu hassen, aber das noch vielSchlimmere ist: Obwohl ich den Zweck seiner Rede kom-plett durchschaue, habe ich gewaltig Respekt. Früher war derKonrad ja ein unendlicher Loser, und keiner hätte auch nurzehn Pfennig auf ihn gesetzt. Während wir alle wie die Irrengefeiert haben, hat er seine halbe Jugend vor dem Bildschirmverbracht. Nicht nur vor dem eigenen, aus lauter Verzweif-lung hat er auch den Mädchen die Rechner klargemacht. Erist damals über die Dörfer getourt, hat sich in den Arbeits-zimmern der Väter vergraben, Modems und Soundkartenund sonst was installiert, und hinterher bekam er von denMüttern noch eine Tasse Kaffee spendiert. Abends wollteihn dann trotzdem keiner kennen, am allerwenigsten dieMädchen, denen er am Nachmittag noch geholfen hat. Diehaben ihn von vorne bis hinten beschissen, aber ihm hat dasüberhaupt nichts ausgemacht. Er hat das einfach weggebis-sen, und jetzt sitzt er da mit seiner Firma und seinen schnee-weißen Zähnen, und das macht wirklich Eindruck auf mich.

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Ich weiß nicht, wie sehr es mich beeindrucken würde, würdedie Verena nicht hinten sitzen, aber sie sitzt ja eben da. Daslässt sich ja nicht leugnen, ich spüre sie sogar. Schon seit einerWeile ihre Knie, die sie mir durch den Sitz so spitz in denRücken drückt, aber jetzt auch ihre Hand. Sie berührt michan der Schulter und bittet mich, kurz ihr Tuch zu halten, dasgenau die Farbe des Schmetterlings hat. Während ich andem glänzenden Stoff herumreibe, steckt sie mit ein paarSpangen ihr Haar zusammen. Sie benutzt beide Händedazu, so dass ich aus den Augenwinkeln ihre glatt rasiertenAchseln sehen kann. Dann nimmt sie mir das Tuch wiederab und bindet es um ihren Kopf. Sie bindet es so, dass zweiblonde Strähnen seitlich an ihren Wangen hinunterfallen,und jetzt sieht sie wirklich aus wie ein Model aus irgendei-ner Modezeitschrift. Beziehungsweise fast. Ich bemerkenämlich, dass dieses Tuch gerade so ein Tuch ist, wie musli-mische Frauen es tragen, um sich zu verschleiern, nur wirdes hier sexuell eingesetzt. Welcher Designer sich das auchimmer ausgedacht hat, ich wünsche ihm die Pest an denHals, weil ich, glaube ich, noch nie so ein Verlangen nach je-mandem hatte, und dieses Tuch genau den Zweck hat, diesesVerlangen noch zu verstärken.

Ein paar Kilometer später bekomme ich aber bessere Laune,und da ist der Konrad selbst dran schuld. Er fragt mich näm-lich, was ich so mache, und ich sage, dass ich Drehbuch-schreiben an der Potsdamer Filmhochschule studiere. ImRückspiegel sehe ich Verena, die ihre Ellenbogen auf die Vor-dersitze gestützt hat, damit sie von unserer Unterhaltungauch was mitbekommt. Dann treffen sich unsere Blicke,und ohne dass ich es vorher beabsichtigt hätte, fange ich zu

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schwindeln an. Ich sage, dass ich vor ein paar Wochen meinerstes Drehbuch verkauft habe und es im Herbst verfilmtwird, wahrscheinlich mit Daniel Brühl und Alexandra MariaLara, und dass es auch für einen Preis vorgeschlagen ist unddas Drehbudget sich auf circa drei Millionen Euro beläuft.Das ist natürlich kompletter Unsinn, weil ich noch gar keinDrehbuch geschrieben habe und noch nicht einmal eine Ideefür eines habe, vor allem aber auch, weil Konrad ja auf je-den Fall herausbekommen kann, ob das stimmt. Spätestensim nächsten Sommer, wenn der Film dann nicht in die Kinoskommt. Der nächste Sommer ist aber noch weit, außerdemhabe ich jetzt schon angefangen, und deshalb erzähle icheine wilde Geschichte, wovon der Film, Im Fadenkreuz derAngst nenne ich ihn, handelt und worüber jeder Drehbuch-autor den Kopf schütteln würde. Konrad und Verena findenes aber derb und spannend und sagen, dass sie unbedingt zurPremiere kommen wollen. Ich verspreche, ihnen zwei Plätzezu reservieren, Loge, sage ich, und Verena holt eine Visiten-karte aus ihrer weißen Handtasche heraus. Verena Schneider,Wilden Consult steht da drauf, und ich frage mich, ob sie dastut, weil sie den Konrad demnächst abservieren will oder obdas einfach Routine ist. Dann zückt sie einen Kugelschreiberund schreibt am Rand ihre Privatnummer dazu. Sie drücktmir die Karte in die Hand und sagt, dass ich anrufen soll, da-mit wir was abmachen können, auf einen Cappuccino viel-leicht. Ich nicke ihr zu wie eine pickende Taube, obwohl ichmit so einer Geschäftsfrau ja niemals auch nur das Aller-geringste zu tun haben kann. Ich finde sie absolut attraktivund begehrenswert und alles, aber auf einem Abstraktions-niveau, das jede Skala sprengt, und sie registriert das zu nullProzent. Sie glaubt offenbar wirklich, dass wir miteinander

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sprechen können, aber das können wir nicht, auf gar keinenFall. Ich lasse mir natürlich nichts anmerken, sondern steckedie Karte in meinen Geldbeutel, als würde ich das immer somachen. Und vielleicht, denke ich, rufe ich ja doch mal an.

Konrad geht auf die Visitenkarte nicht weiter ein, sondernlenkt jetzt eilig vom Thema ab. Er fragt mich, ob ich wohlauf dem Weg nach Weiden bin. Daher kommen wir beideursprünglich, aus Weiden in der Oberpfalz, und als er dasfragt, lache ich laut und sage: Nein. Ich erzähle ihm, dass ichnach München will, weil meine Münchner Freundin da aufmich wartet und wir morgen gemeinsam nach Portugal flie-gen. Weiden, sage ich, ist ein abgeschlossenes Kapitel fürmich. Er nickt und sagt, dass ihm das genauso geht, und imnächsten Moment fangen wir auch schon zu lästern an. Min-destens eine halbe Stunde lang erinnern wir uns an alte Be-kannte und ziehen sie durch den Dreck. Wir lassen keingutes Haar an der Stadt und an den Leuten, und immer,wenn Konrad niemand mehr einfällt, nenne ich ihm einenneuen Namen. Während er ihn so richtig fies heruntermacht,entspanne ich auf dem Beifahrersitz. Ich kann sogar an dieVerena denken, ohne ihm etwas Schlechtes zu wünschen.Nicht einmal die kann ihn all den Frust vergessen lassen, dener in seiner Jugend in sich hineingefressen hat, und das findeich gut. Schon seit er mich vorhin auf dem Rastplatz ange-sprochen hat, kämpfen ja diese zwei Konrad-Bilder in mei-nem Kopf gegeneinander an: Der Loserkonrad von früherund der Siegerkonrad, der neben mir am Steuer sitzt. Wäh-rend er sich jetzt ereifert und dabei in seinen OberpfälzerDialekt verfällt, bekomme ich immer deutlicher den altenKonrad in den Blick. Einen Moment lang sehe ich ihn sogar

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scharf umrissen vor mir. Er steht in der Konzerthalle des Al-ten Schlachthofs und hat seine braune Jeans und den vielzu langen Tschechenpulli an. Er steht ganz nah bei den Bo-xen, und als die Speichelbroiss ihre letzte Zugabe gespielthaben, fragt Simon ihn, ob er nicht endlich einen Fanclubgründen will. Mindestens zehn Leute stehen außen herumund hören das, und Konrad lächelt und fragt Simon, wie erdas meint. Ganz höflich fragt er, so als wäre er ernsthaft aneiner Antwort interessiert. Weil du die besten Vorausset-zungen hast, sagt Simon, steckt ihm blitzschnell zwei Fingerin den Mund, und dann schiebt er ihm die Lippen auseinan-der. So wie man Pferden die Lippen auseinanderschiebt, umihr Alter zu bestimmen, genauso sieht das aus. Im Schein-werferlicht funkelt Konrads Spange leicht gelblich, aber hin-ten bei den Backenzähnen, wo die Gummis sich zwischenden Briketts aufspannen, erkennt man ein paar helle Spei-chelfäden. Genau da schauen alle hin. Und der Wenzer, derspuckt sogar hinein.

Ich kann wieder das Gelächter hören, das die Konzerthalledes Alten Schlachthofs durchdringt und jetzt als verstärktesEcho in meinem Schädel widerhallt. Ein paar Sekunden lebeich ganz im Inneren dieses Gelächters, wie in einem Kokonist das, die völlige Auslöschung von Raum und Zeit. Dannkommt der Fahrtwind zurück, ich sehe wieder das flache,trockene Land, das vor den Fenstern vorbeifliegt, und fühlemich schäbig und leer und gemein. Ich höre sofort auf, wei-tere Namen zu nennen, weil, so bin ich ja nicht, zumindestmöchte ich so nicht sein. Ich möchte Konrad sein Glückdoch gönnen. Er hat ziemlich gelitten damals und jetzt einenechten Aufstieg hingelegt, und das ist eigentlich schön. So

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bin ich nicht, sage ich mir noch einmal, aber wenn ich ehrlichbin, stimmt das nicht ganz. Wenn ich ehrlich bin, habe ichden Erfolg anderer Leute schon immer gehasst, von Kind-heit an. Dieser Neid und diese Missgunst sind in mir drin wiemein Herz oder meine Lunge oder wie das Blut, das durchmeine Adern fließt, und meine einzige Hoffnung ist, dass esden anderen Menschen genauso geht. Bestimmt geht es denanderen Menschen genauso, das sind ja nicht meine Katego-rien, sondern die offiziellen Kategorien dieser Welt. Wahr-scheinlich erzählt mir Konrad auch nur Lügen, und der Wa-gen und die Verena sind in Wahrheit nur gemietet, geküssthaben sich die beiden jedenfalls noch nicht.

Es gibt aber noch einen zweiten Grund, weswegen ich auf-höre, weitere Namen zu nennen, und der hat nichts mit die-sen Überlegungen zu tun. Weiden ist einfach zu klein, als dassman sich länger als eine halbe Stunde darüber auslassen kann,und die letzten Namen, die ich genannt habe, waren ohnehinschon Freunde von mir. Nur Simon und Leni fehlen noch,und ich könnte nicht ertragen, wenn Konrad auch die nochruntermacht. Auf die beiden lasse ich kein schlechtes Wortkommen, wenn, dann höchstens aus meinem eigenen Mund.Die beiden fallen Konrad aber gar nicht ein. Vermutlich kanner mit seinen Hirnwindungen nur irgendwelche Formeln inden Rechner programmieren und sich teure Autos und Frau-en besorgen, aber sich erinnern, das kann er nicht. Das kannnur ich. Und natürlich habe ich ihn auch angelogen, als ichgesagt habe, Weiden sei ein abgeschlossenes Kapitel fürmich. Ohnehin kann man sich ja seine Vergangenheit nichtwie eine Geschwulst aus dem Fleisch schneiden, und dasmöchte ich auch nicht. Das heißt, ich möchte es nur teilwei-

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se. Ich möchte mir nur die unangenehmen Erinnerungenrausschneiden und die guten behalten, und wenn ich eingenialer Neurologe wäre, würde ich mich genau darumkümmern. Ich würde eine Maschine erfinden, die alle unan-genehmen Erinnerungen ortet und löscht und die guten un-berührt lässt, wie auch immer das zu bewerkstelligen ist.

Jedenfalls hören wir jetzt mit diesen Schmutztiraden auf,und weil wir uns ja sonst nichts zu sagen haben, wird es imWagen still. Mucksmäuschenstill sogar. Konrad raucht zweiZigaretten, ohne mir eine anzubieten, und schaut dabei kon-sequent zur Scheibe hinaus. Ich bin mir fast sicher, dass erähnliche Bilder vor Augen hatte wie ich. Sein Schweigenverrät mir das. Es fühlt sich ziemlich bitter an, und deshalbfrage ich ihn, wie viel sein Auto gekostet hat. Er antwortetaber nicht, sondern streckt bloß fünf Finger in die Luft. Erstals die Verena ihn bittet, das Radio einzuschalten, taut er wie-der auf. Aber klar doch, sagt er und drückt auf dem silber-nen Suchknopf herum. Er wählt einen sächsischen Super-hitsender, und bei jedem zweiten Song trommelt er den Taktauf dem Lenkrad mit. Als sie nach den Nachrichten dann dieStaus durchsagen, fängt er plötzlich zu fluchen an, und dieVerena hinten flucht lauthals mit. Die flucht, dass ich wirk-lich Angst bekomme: Ihre Stimme wird hart und klirrend,und als sie auch noch was von Scheißpollackenlastern sagt,frage ich mich, wie sie die Dinge eigentlich sieht. Politisch,meine ich. Sie hat ja diese blonden Haare und der Konradseine Glatze, keine Ahnung, was mit den beiden läuft. Ichbegreife auch nicht, warum sie so fluchen, der Laster ist jaauf einer anderen Autobahn umgekippt. Ich versuche, ihnendas zu erklären, ganz behutsam, so als wollte ich zwei plär-

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rende Säuglinge beruhigen, und als ich das tue, trifft michbeinahe der Schlag. Weil wir uns vorher nicht darüber unter-halten haben, erfahre ich erst jetzt, dass sie in eine andereRichtung wollen als ich. Sie wollen nach Würzburg, und nurich will nach München, und das eine liegt im Westen und dasandere im Süden. Und leider haben sie es sehr eilig und kön-nen deshalb beim besten Willen keinen Umweg fahren. Dassagen sie zumindest, und der Konrad sagt mehrmals: Super-sorry, Böhm. Supersorry mit einem englisch betonten U, sodass es sich wie Ju anhört. Das macht mich ganz verrückt,weil es ihm überhaupt nicht leidtut und das Wort sich wieSäure in meinen Gehörgang ätzt. In dem Moment, in dem eres sagt, weiß ich genau, dass mir in Zukunft immer diesesSjupersorry einfallen wird, wenn ich an ihn denke, und da-rauf habe ich überhaupt keine Lust. Dafür hasse ich ihn nundoch.

Es hilft aber nichts. Wir durchfahren noch ein kurvigesWaldstück, und als der Fichtenvorhang sich wieder beiseite-schiebt, tauchen überall diese blauen Hinweistafeln auf, dieanzeigen, dass die Autobahn sich gleich gabeln wird. Keinedrei Minuten später ist das Autobahnkreuz schon da, undKonrad lenkt den Wagen auf den Seitenstreifen hinaus. Erlässt den Motor im Stand laufen, er legt noch nicht einmalden Leergang ein, sondern hält die Kupplung im erstendurchgedrückt. Ich nehme meinen Rucksack von der Rück-bank und wünsche den beiden mit einem sehr optimistischenLächeln eine gute Fahrt. Verena lächelt zuckersüß zurück,Konrad ruft: Immer sauber bleiben, Böhm, dann tritt er dasGaspedal durch und rast davon. Ein paar Sekunden lang seheich Verenas Kopftuch hinter der Heckscheibe flattern, dann

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verschwindet das Auto um die Kurve, und ich stehe auf demSeitenstreifen und strecke ihnen den Mittelfinger hinterher.Ich strecke den Finger mit aller Inbrunst in die heiße Luftund schaue dabei in die Landschaft hinein: vertrockneteWiesen und Stoppelfelder mit gepressten Strohballen darauf,und darüber dieser gleißend blaue Himmel, der sich einenDreck um mich schert. Ich spucke in hohem Bogen auf dieAutobahn, dann schultere ich meinen Rucksack und mar-schiere los. Auf den ersten hundert Metern drehe ich michnoch ein paarmal um und strecke den Daumen raus, aberweil kein Mensch in Deutschland jemals auf dem Standstrei-fen hält, gebe ich es bald auf. Stattdessen ziehe ich mein Shirtaus, schnalle die Rucksackriemen enger und laufe schnellerüber den Asphalt. Ich komme mir dabei vor wie ein Frem-denlegionär in der Wüste, dann muss ich plötzlich an DennisHopper denken, seine Rolle in dem Film Blue Velvet, wo erdiesen Drogenfreak spielt und alle Leute mit dem Wort Fu-cker anschreit. Den Film fand ich nicht einmal so gut, dieRolle aber schon, und so laufe ich über und über schwitzendauf dem Standstreifen entlang und fange an, mit mir selbst zusprechen. Genau gesagt schreie ich nur Wörter in der Ge-gend herum. Du Fucker, schreie ich, und immer wieder Sju-persorry mit englisch betontem U, und dabei sehe ich Kon-rad im Sand liegen, und ich stehe mit einem Vorderlader überihm und schlage mit dem Gewehrkolben auf ihn ein, so lan-ge, bis jeder einzelne Zahn in seinem Kiefer zertrümmert istund ihm das Hirnwasser aus dem Schädel rinnt. Ich brüllewirklich aus Leibeskräften und schwinge auch mit den Ar-men aus, was von der Autobahn aus bestimmt völlig krankaussieht, aber das ist mir egal. Das brauche ich jetzt, dasbrauche ich unbedingt, auch wenn mein Mund vom Brüllen

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immer trockener wird und ich keinen Tropfen Wasser beimir habe. Keine Ahnung, woher ich die ganze Kraft nehme,jedenfalls ist sie da. Ich glaube, das Schreien gibt mir erstKraft, jeder sollte ab und zu durch die Gegend laufen undschreien, nichts macht mehr Sinn. Meine Wut verraucht abernicht, sondern wird nur immer größer. Sie greift jetzt vonKonrad auf den Starnberger Förster über und dann auf Jo-hanna. Hätte sie ein bisschen besser aufgepasst und meinenWagen nicht zu Schrott gefahren, könnte ich jetzt darin sit-zen und ganz entspannt nach München fahren. Immer machtsie alles kaputt, denke ich, und das meine ich ganz prinzi-piell. Sie hat ja auch meine Beziehung zerstört. Fast fünf Jah-re lang war ich vorher mit Leni zusammen, und dann kommtdiese Münchnerin und küsst mich auf den Mund. Die erstenpaar Male nur zur Begrüßung, so wie es in ihrer tollen Schau-spielerfamilie üblich ist, aber dann auf einmal länger, undweil sie ein so strahlender Mensch ist und überall so gut an-kommt, lasse ich mich auf sie ein und schicke Leni zum Teu-fel. So einfach habe ich mich manipulieren lassen, denke ich,mit dieser plumpen Masche hat sie mich gekriegt und meinegroße Liebe zerstört. Und während ich ihr noch weitereVorwürfe mache und sie immer bodenloser beschimpfe, pas-sieren zwei Dinge gleichzeitig. Erstens entdecke ich weitervorne ein blaues Schild, das in drei Kilometern einen klei-nen Parkplatz ankündigt, und genau im selben Moment höreich dieses typische Pfeifen, das ein schleifender Keilriemenmacht. Als ich mich umdrehe, sehe ich dicht hinter mir einengelben Passat. Am Steuer sitzt ein älterer Mann mit Stirnglat-ze und Schnauzer, und das ist bestimmt der StarnbergerFörster. Ich trommle mit beiden Fäusten auf meiner nacktenBrust herum und schreie mir die Lunge aus dem Leib, und

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weil wir genau auf gleicher Höhe sind, bemerkt mich derMann auch und sieht mich an. Ich lächle ganz breit, aber inseinem Gesicht regt sich nicht der kleinste Muskel. DerMann dreht einfach wieder seinen Kopf nach vorne und fährtan mir vorbei. Ich kann das kaum glauben, weil er mir wirk-lich genau in die Augen gesehen hat, aber das ändert nichtdas Geringste daran. Keine drei Sekunden später ist der Pas-sat schon hinter der nächsten Hügelkuppe verschwunden,und ich stehe in dieser benzinverpesteten Autobahnluft undbin allein.

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