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BAYERISCHE AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN PHILOSOPHISCH-HISTORISCHE KLASSE SITZUNGSBERICHTE · JAHRGANG 2003, HEFT 1 RAINER WARNING Pariser Heterotopien Der Zeitungsverkäufer am Luxembourg in Rilkes Malte Laurids Brigge Vorgetragen in der Sitzung vom 8. November 2002 MÜNCHEN 2003 VERLAG DER BAYERISCHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN In Kommission beim Verlag C. H. Beck München

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BAYERISCHE AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN

PHILOSOPHISCH-HISTORISCHE KLASSE

SITZUNGSBERICHTE · JAHRGANG 2003, HEFT 1

RAINER WARNING

Pariser HeterotopienDer Zeitungsverkäufer am Luxembourg

in Rilkes Malte Laurids Brigge

Vorgetragen in der Sitzungvom 8. November 2002

MÜNCHEN 2003

VERLAG DER BAYERISCHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTENIn Kommission beim Verlag C. H. Beck München

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ISSN 0342-5991ISBN 3 7696 1622 7

© Bayerische Akademie der Wissenschaften München, 2003Satz und Druck: Druckerei C. H. Beck Nördlingen

Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier(hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff)

Printed in Germany

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Pariser Heterotopien 3

Pariser HeterotopienRainer Warning

I

Man hat gesagt, das 19. Jahrhundert sei ein Jahrhundert der Ge-schichte, des emphatischen Denkens von Geschichte und Ge-schichtlichkeit gewesen, wohingegen sich das 20. Jahrhundert zu-nehmend für Räume und Raumbeziehungen interessiert habe. Dasist eine etwas pauschale, aber sicherlich nicht unberechtigte Entge-gensetzung. Es waren wohl die pessimistischen Zeiterfahrungenund Zeittheorien des beginnenden 20. Jahrhunderts, mit denendiese Umgewichtung einsetzte. Ich sage Umgewichtung, weil na-türlich nicht einfach das eine das andere ablöste. Das zeigte sichinsbesondere Mitte des 20. Jahrhunderts, im Konflikt von Moder-ne und Postmoderne. Moderne, das war im wesentlichen das so-genannte ‚Projekt der Moderne‘, das, unter welchen Modifikatio-nen auch immer, an Geschichte und sozialgeschichtlichemFortschritt festhalten wollte. Den Vertretern der Postmoderne wardas aber letztlich nur noch symptomatisch für eine alteuropäischeTradition. Freilich blieb auch sie, die Postmoderne, eigentümlichgespalten. J. Derrida, um den einen der hier einschlägigen Namenzu nennen, wollte Heideggers Nietzsche-Rezeption weiterdenkenzu einer quasi-messianischen Aufschubstruktur, zu der von ihm sogenannten „différance“. M. Foucault, um den anderen Namen zunennen, sah in Nietzsche den Ahnherrn jener Trias von Wissen,Raum und Macht, „savoir“, „espace“ und „pouvoir“, die sein ei-genes Werk prägen sollte. So steht, mit diesen beiden Namen,„différance“ gegen Verräumlichung, gegen „spatialisation“. Demmuß man aber sogleich hinzufügen, daß Derrida durchaus aucheine Verräumlichung der Schrift kennt und daß Foucault den Be-griff des Ereignisses zwar umdenken will in Räume diskursiverÜberlagerungen und Antagonismen, dies aber paradoxerweise imRahmen temporal-sequentieller Argumentation. Wissen ist räum-lich gebunden an Orte seiner Genese und kontrollierten Verwal-tung, aber Foucaults bekanntestes Werk, Les mots et les choses

(1966), entfaltet gleichwohl eine Geschichte dieser Wissensdiskursevon der Renaissance über die Klassik und Aufklärung bis in dieModerne des 19./20. Jahrhunderts. Immerhin bleibt Foucault die

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zentrale Referenz für alle Theorien und Theoreme, die Raumbe-ziehungen gegenüber Zeitbeziehungen valorisieren, in welcherDisziplin sie auch immer entwickelt werden – von der Architekturbis hin zu den Geistes- und Kulturwissenschaften.

Foucault selbst vertritt jene Disziplin, die in Frankreich„sciences sociales“ heißt. Das entspricht ungefähr unserer ‚Wissens-soziologie‘, zeichnet sich aber aus durch die spezifisch französischeTradition epistemologischer ‚Positivitäten‘, d. h. historisch gegebe-ner und empirisch-beschreibbarer Wissensformationen. Die Be-schreibung versteht sich als systematisch, aber diese Systematik willeinfach Ordnung in geschichtliches Material bringen. Ihre Begriff-lichkeit wird nicht belastet mit und nicht in Abhängigkeit gebrachtvon fundierenden Theoremen. Sie bemißt sich am Potential vonAbleitbarkeiten und Anschließbarkeiten. Das erklärt FoucaultsKonjunktur auch bei der Literaturwissenschaft. Er macht ihr at-traktive Angebote, gibt ihr chancenreiche Vorgaben, und dies ge-wiß nicht zuletzt deswegen, weil er selbst ein literarisch hochinter-essierter Mensch war, als Wissenssoziologe immer auch schonliterarische Texte mit im Blick hatte und dies durchaus auch zuerkennen gab.

II

Dies gilt auch für das von ihm prominent gemachte Konzept derHeterotopie. Es geht zurück auf einen Vortrag, den Foucault 1967unter dem Titel „Des espaces autres“ vor dem Cercle d’études ar-chitecturales hielt und der erst 1984 mit der Publikation von Dits

et écrits einer breiteren Leserschaft zugänglich wurde1. Ein Vortragvor einem Architektenkongreß also – dies macht schon deutlich,daß Foucault den Begriff nicht in seiner kaum vertrauten medizi-nischen Bedeutung meint – als Entstehung von Gewebe an einemfalschen Ort, also z. B. von Knorpelgewebe im Hoden –, sondernin der allgemeinen Bedeutung ‚anderer Räume‘, anders in bezugauf uns vertraute räumliche Organisationen wie Serien, Baumdia-gramme oder Vernetzungen. Was damit erfaßt wird, ist das, was_____________________________________________________________________

1 Paris 1994, 4 Bde, Bd IV, S. 752–762.

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Pariser Heterotopien 5

Foucault den ‚Raum des Innen‘, den „espace du dedans“ nennt.Von ihm unterscheidet sich der ‚Raum des Außen‘, der „espacedu dehors“, und hier auch finden sich eben die ‚anderen Räume‘,die „espaces autres“. Diese ‚anderen Räume‘, diese heteroi topoiwerden zu Außenräumen dadurch, daß sie sich aus den„emplacements“, aus den ‚Plazierungen‘, die den Innenraum kon-stituieren, in spezifischer Weise ausgrenzen. Sie verfügen also sehrwohl über ein reales räumliches Substrat. Die Heterotopie ist daherkeine Utopie, bleibt ihr aber nahe, wie Foucaults zentrale Defini-tion lautet. Heterotopien sind, im Gesamt einer instituierten Ge-sellschaft,

des sortes de contre-emplacements, sortes d’utopies effectivement réalisées, danslesquelles les emplacements réels, tous les autres emplacements réels que l’on peuttrouver à l’intérieur de la culture sont à la fois représentés, contestés et inversés,sortes de lieux qui sont hors de tous les lieux, bien que pourtant ils soient effecti-vement localisables.2

,sozusagen Gegenplazierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, indenen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert,bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohlsie tatsächlich geortet werden können‘.3

Foucault entfaltet diese Ausgangsdefinition sodann zu einer aufriß-artigen systematischen Beschreibung, die sich auf sechs Aspektekonzentriert:1. Heterotopien sind kulturelle – Foucault sagt nicht anthropolo-

gische, sondern eben kulturelle – Konstanten, die historischemWandel unterworfen sind. Primitive Gesellschaften kennen„hétérotopies de crise“, ‚Krisenheterotopien’ wie Räume derAdoleszenz, der Menopause, der Geburt, des Alterns und Ster-bens. Ihre modernen Substitute sind „hétérotopies de déviati-on“, ‚Abweichungsheterotopien‘ wie psychiatrische Kliniken,Gefängnisse, Altenheime.

2. Heterotopien können aufgrund kultureller Rahmungen um-funktioniert werden. So erklärt sich die im 19. Jahrhunderteinsetzende Auslagerung der „hétérotopies du cimetière“, der

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2 S. 755.3 Die Übersetzungen übernehme ich von W. Seitter, M. Foucault, „Andere

Räume“, in Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik,hgg. K. Barck u. a., Leipzig 1990, S. 34–46.

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‚Friedhofsheterotopien‘ vom Ortszentrum an die Peripherie miteiner neuen Einstellung zum Tode, der als Krankheit stigmati-siert wird.

3. Die Heterotopie kann an ein- und demselben realen Ort meh-rere Räume nebeneinander plazieren, so im Theater oder imKino in Form zeitlicher Serialität, oder aber in der reichen eu-ropäischen wie außereuropäischen Geschichte jener „Jardins“,jener öffentlichen Parks und Gärten, die häufig als Mikrokosmosangelegt waren, der den Makrokosmos spiegelt. Ein anderesBeispiel dieser Struktur wären die zoologischen Gärten: dieFauna des ganzen Erdballs im Kleinformat.

4. Heterotopien sind gebunden an scharfe Diskontinuitätserfah-rungen, an Brüche mit traditionellen Zeitverständnissen,Heterochronien. So sind die „hétérotopies du temps“, ‚Zeit-heterotopien‘ wie Museen und Bibliotheken Orte potentiellunendlicher Zeitakkumulation, beherrscht von dem Willen, ‚aneinem Ort alle Zeiten, alle Epochen, alle Formen, alle Ge-schmäcker einzuschließen, die Idee, einen Ort aller Zeiten zuinstallieren, der selber außer der Zeit und sicher vor ihrem Zahnsein soll‘. Das Gegenteil sind die „hétérotopies chroniques“,‚chronische Heterotopien‘, d.h. Orte einer geradezu festlich be-gangenen flüchtigen Zeit wie Jahrmärkte oder Feriendörfer,wobei letztere in bestimmten exotischen Varianten beides ver-einigen können: in wenigen Wochen akkumulierte Mensch-heitsgeschichte.

5. Heterotopien weisen komplexe Formen der Öffnung undSchließung auf. Diese können magisch besetzt sein im Sinnevon Passagen, von Schwellenerfahrungen, dann auch illusionärals Zutritt zu einem scheinbaren Arkanum, das aber das tatsäch-liche gerade verbirgt – so bestimmte Gästezimmer in südameri-kanischen Farmen, die heterotop bleiben zum eigentlichen Fa-milienzentrum des Hauses. Ein modernes Relikt wäre dieHeterotopie des Motels als Ort absolut geschützter wir verbor-gener illegaler Sexualität.

6. Heterotopien können binär bestimmt werden: als Orte un-durchschauter Illusion oder reflektierter Kompensation. Einprominentes Beispiel für letztere sind die religiösen Koloniender frühen Neuzeit mit ihrem peinlich regulierten Tagesablauf.

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Kolonien evozieren ihrerseits das Schiff, mit dem man sie er-reichte. Vom 16. Jahrhundert bis in unsere Zeit, so Foucaultseffektvoller Schluß, ist das Schiff ‚ein schaukelndes Stück Raum,ein Ort ohne Ort‘, das größte Imaginationsarsenal, „la plusgrande réserve de l’imagination. Le navire, c’est l’hétérotopiepar excellence“ – ‚das Schiff ist die Heterotopie schlechthin‘.Ich will hier nicht die Konsistenz des Beispielkatalogs diskutie-

ren. Schiff und Kolonien lassen sich kaum einem urbanistischenDiskurs integrieren. Um so deutlicher machen sie etwas anderes.Es scheint nämlich, als sähe Foucault die Heterotopie generellwesentlich konstituiert durch das Imaginäre, ja als würde er siegeradezu bestimmen wollen als Orte privilegierter Entfaltung undManifestation eines sozial Imaginären. Das macht verständlich,weshalb der gesamte Beispielkatalog Foucaults spontan eine Fülleliterarischer Heterotopien assoziieren läßt. Bei dem, was er alsWissenssoziologe theoretisiert, scheint er immer auch schon Lite-ratur mit im Blick zu haben. Dem Literaturwissenschaftler aberstellt sich damit die Aufgabe, bei aller thematischen und struktura-len Identität der betreffenden Phänomene zugleich auch literatur-spezifische Differenzen herauszuarbeiten. Das bietet sich im vorlie-genden Fall schon deswegen besonders nachdrücklich an, weil derBegriff der Heterotopie als „contre-emplacement“, als ‚Gegen-plazierung‘ einen anderen Begriff Foucaults assoziieren läßt, den ersogleich im Blick auf Literatur geprägt hat. Ich meine den Begriffdes literarischen „contre-discours“, des ‚Gegendiskurses‘ oderauch, wie er ihn pointierter nennt, des literarischen „non-discours“, des ‚Nichtdiskurses‘.

III

Ich habe dieses Konzept poetischer Konterdiskursivität andernortsausführlicher diskutiert als Foucault selbst das getan hat und willmich hier auf drei Aspekte konzentrieren4:_____________________________________________________________________

4 Siehe zum Folgenden ausführlicher Vf., „Poetische Konterdiskursivität. Zumliteraturwissenschaftlichen Umgang mit Foucault“, in Die Phantasie der Reali-sten, München 1999, S. 313–345.

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1. Auch als Konterdiskurs bleibt der literarische Text allemal ein-gebettet in sein jeweiliges diskursives Umfeld. Er hat teil an je-nem je historischen Wissen, wie es diese kontextuellen Diskurseartikulieren. Aber man würde ihn reduktiv lesen, wenn manauch ihn allein auf dieses Wissen befragt, auch in ihm nur einepistemologisches Dokument sieht. Denn mit seiner spezifischimaginären Verarbeitung dieser Episteme grenzt er sich zugleichauch aus diesem diskursiven Umfeld aus. Es geht also um dieDialektik von Einbettung und Ausbettung. Erst die Ausbettungbringt das in den Blick, was das Spezifische des literarischenTextes ausmacht. Das muß nicht immer und unbedingt Kritikoder gar Subversivität an kontextuellen Diskursen sein, wohlaber spezifische Distanznahmen, die sich ganz einfach daraus er-geben, daß wir es in der literarischen Fiktion zwar immer auchmit einem historischen Wissen zu tun haben, primär aber mitder Phantasie, d. h. mit einer Imagination, die dieses Wissen be-arbeitet hat und damit unter ihre Perspektive bringt. LiterarischeKonterdiskursivität ist also Diskursivität, setzt Diskurse voraus,aber als Folie, vor der sie sich artikuliert, als Kontexte, aus de-nen sie sich ausbettet.

2. In dieser Ausbettung wird die ‚Ordnung des Diskurses‘, wieFoucault sie in seiner gleichnamigen Schrift dargelegt hat5, sus-pendiert. Suspendiert wird, allem voran, das Gebot diskursiverTransparenz. Beim Diskurs steigt die inhaltliche Prägnanz desvon ihm artikulierten Wissens proportional zur Durchlässigkeitder Ebene sprachlicher Vermittlung. Was zählt, ist das Ausge-sagte, der „énoncé“, nicht der Aussageakt, die „énonciation“.Das sprachliche Zeichen muß sich, der Glasur beim Bildvergleichbar, zum Verschwinden bringen im Interesse dervon ihm repräsentierten Dinge, Sachverhalte. Fiktionale Litera-tur ist demgegenüber bei allen generischen Differenzen prin-zipiell interessiert an sprachlicher Dichte, an Opazität. Sie willdas Medium selbst mit in den Dienst der Bedeutungsproduk-tion stellen. Dementiert, konterkariert wird damit zugleichein zweites konstitutives Merkmal diskursiver Ordnung, und dasist die von Foucault so genannte Diskursverknappung, die

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5 L’ordre du discours, Paris 1971.

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„raréfaction“6. Wissen kann in dem Maße internen wie exter-nen Kontrollmechanismen unterworfen werden, wie es diskur-siv ökonomisch und überschaubar aufbereitet wird. Der litera-rische Text ist demgegenüber, wiederum bei aller generischenDifferenzierung, prinzipiell interessiert an Reichtum, Fülle,Proliferation, Überschüssigkeit. Opazität und Überschüssigkeithalten ihn historisch am Leben, garantieren sein Leben durchdie Zeiten hindurch, seine stets neu ansetzende Rezeption, seinÜberleben. Strukturen und Verfahren zur Produktion literari-scher Opazität und Überschüssigkeit operieren prinzipiell aufallen Konstitutionsebenen des literarischen Textes: auf der seinerpragmatischen Fundierung, also bei den Konstituenten derSprechsituation, auf der Ebene von Syntax und Semantik,schließlich auf der Ebene von Strophik und Metrik. Opazitätund Überschüssigkeit betreffen also nicht nur das Medium Spra-che im engeren Sinne, d. h. Konnotationen, Polysemien,Mehrfachcodierungen, Rhetorik usw. Opazität und Überschüs-sigkeit werden auch angestrebt durch sprechsituative Unent-schiedenheiten – man denke etwa an die Ironie – oder durchsemantisch-syntaktische Brechungen, Verletzungen linguisti-scher Regularitäten usw. Unter all diesen Verfahren findet sicheines, das speziell für die Heterotopie, genauer: für die literari-sche Heterotopie wichtig wird und dem daher noch einige be-sondere Bemerkungen gewidmet seien. Es ist dies das Verfahrender Wiederholung.

3. Wiederholung steht quer zu diskursiver Linearität, ist, diskursivbetrachtet, unökonomisch, überflüssig. Schon damit steht zuerwarten, daß literarische Konterdiskursivität ein anderes Ver-hältnis zur Wiederholung hat. Sie kann über WiederholungenZeit thematisch machen, Zeitvorstellungen, Zeiterfahrungenmodellieren. Dabei gibt es, stark vereinfachend, drei Möglich-keiten7. Was sich identisch wiederholt, verliert an Einmalig-keitswert, wird ausgezehrt, eingesenkt in den Fluß der Zeit, re-duziert auf eine bloße Zeitstelle. Wiederholung kann so die

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6 S. 28 passim.7 Zum Folgenden siehe auch E. Lobsien, Wörtlichkeit und Wiederholung. Phäno-

menologie poetischer Sprache, München 1995.

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chronologische Zeit als solche, Zeit als naturale Chronologie, alsFließen, als Vergänglichkeit anschaulich machen. Wiederholungkann aber umgekehrt auch im Wiederholten die Differenz zumVorherigen betonen und damit dem Wiederholten eine schein-bar verlorene Einmaligkeit restituieren. Wiederholung undWiederholtes bilden dann eine semantische Beziehung oberhalbder Ebene der naturalen Chronologie, eine Beziehung derÄquivalenz oder der Opposition. Damit können imaginäreZeitvorstellungen modelliert werden. Äquivalenzen können sichals Oppositionen erweisen und damit Steigerung, Fortschrittinszenieren. Umgekehrt können sich scheinbare Oppositionenals Äquivalenzen erweisen und damit eine optimistische Zeit-vorstellung ironisieren oder offen dementieren. Ich kannschließlich und drittens beide Möglichkeiten kombinieren, d. h.ich kann auf einer primären Ebene über bloße Sequenzierung,vom springenden Sekundenzeiger bis zur chronologischen Wie-derkehr von Tagen, Monaten, Jahren, die Zeit zerlegen und insolcher Zerlegung anschaulich machen als sozial geregelte natu-rale Chronologie. Und ich kann auf einer übergeordneten Ebe-ne diese naturale Chronologie kontrastieren mit optimistischenoder pessimistischen Zeitsemantiken, die sich ergeben aus demSpiel mit Oppositionen und Äquivalenzen.

Letzteres ist im Prinzip identisch mit jener Paradigmatisierung dersyntagmatischen Achse, als welche R. Jakobson die poetischeFunktion des Textes beschrieben hat: „The poetic function pro-jects the principle of equivalence from the axis of selection into theaxis of combination“ – ‚Die poetische Funktion projiziert dasÄquivalenzprinzip von der Achse der Selektion auf die Achse derKombination‘8. Die Lektüre wird damit umgepolt von der Einsin-nigkeit des syntagmatischen ‚Und so weiter‘ in die Vielsinnigkeiteines Beziehungsgefüges, das den Text raumzeitlich dynamisiert.Das wird besonders deutlich und besonders ausbeutbar bei narrati-ven Texten. Ein „Erzählen im Paradigma“9 bewirkt einerseits mit

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8 „Closing Statement: Linguistics and Poetics“, in Style in Language, hg. Th.Sebeok, New York 1960, S. 350–377, hier S. 358.

9 Siehe hierzu ausführlicher Vf., „Erzählen im Paradigma. Kontingenzbewältigungund Kontingenzexposition“, in Romanistisches Jahrbuch 52 (2001) S. 176–209.

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seinen ana- und kataphorischen Bezügen bzw. Beziehbarkeiten dieSpatialisierung der Erzählung zu einem in sich bewegten Text-raum, wobei diese Bewegung zugleich auch bestimmte Zeitse-mantiken modellieren kann. Daraus ergibt sich die besondere Affi-nität paradigmatischen Erzählens zur Heterotopie, können hierdoch die Wiederholungsstrukturen zugleich raum- wie zeitseman-tisch aktiviert werden, mit der Heterotopie also zugleich eine He-terochronie modellieren. Die literarische Heterotopie kann sichdamit gestalten als ein Zeit-Raum des Imaginären, der gerade jenetemporale Dimension zur Vorstellung bringt, die C. Castoriadis inseiner Beschreibung des von ihm so genannten „radikal Imaginä-ren“ zu Recht betont hat: das Imaginäre als Emergenz, als„Andersheit und beständiger Ursprung von Anderswerden“10.

Ich bin damit am Ende jener theoretischen Rahmungen ange-langt, die ich für meine Rilke-Lektüre brauche, und ich kannmich nun dem Text selbst zuwenden.

IV

Die 59. Aufzeichnung des Malte Laurids Brigge zählt zu jenen Pari-ser Szenerien, mit denen Rilke Baudelaires Prosagedichte auf seineArt fortschreibt. Es geht um die phantasmatische IdentifikationMaltes mit einer auffälligen Figur, um Begegnungen, die immerauch unlösbar mit dem Ort verbunden sind, an dem sie statthaben:Die Frau an der Ecke rue Notre-Dame-des-Champs (5. Aufzeich-nung), der Sterbende in der Crémerie (18. Aufzeichnung), dieKranken in der Salpêtrière (19. Aufzeichnung), der Veitstänzer aufdem Boulevard Saint-Michel (21. Aufzeichnung) – und so nunauch der blinde Zeitungsverkäufer, „wenn er sich außen am Lu-xembourg-Garten langsam hin und zurück schiebt den ganzenAbend lang. Er kehrt dem Gitter den Rücken, und seine Handstreift den Steinrand, auf dem die Stäbe aufstehen“11. Er braucht_____________________________________________________________________

10 L’institution imaginaire de la société, Paris 1975; deutsche Übersetzung von H.Brühmann, Gesellschaft als imaginäre Institution, Frankfurt/M. 1990, S. 603.

11 Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, in Werke,hgg. M. Engel u. a., 4 Bde, Frankfurt/M. 1996, Bd. 3, hg. A. Stahl, S. 453–635, hier S. 599 f. Ich zitiere im folgenden mit Seitenangabe im laufendenText. Die 59. Aufzeichnung selbst ist im Anhang beigegeben.

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also Gitter und Steinrand zur Orientierung, aber derartige Hilfenwären auch andernorts denkbar. Und so macht der Text dennauch in seinem weiteren Verlauf deutlich, daß es, wie mit der Fi-gur selbst, so auch mit dem Ort, eben dem Jardin du Luxembourg,seine besondere Bewandtnis hat12.

Der Text der 59. Aufzeichnung ist deutlich zweigeteilt. Der er-ste Teil umfaßt die Absätze eins bis drei, der zweite Teil die Absät-ze vier bis sieben. Inhaltlich geht es um zwei Anläufe Maltes zueiner Identifikation mit dem blinden Zeitungsverkäufer, zwei An-läufe, „ihn einzubilden“ (600). Kontextuell aufgerufen ist mit die-ser ‚Einbildung‘ die Tradition christlicher Passionsmystik, der my-stischen Verschmelzung des Gläubigen mit dem Leidensmann.Spätmittelalterliche Passionstraktate sprechen von der conformatiomit dem Gekreuzigten, von einem imaginären Einswerden, einerimaginatio corporis13. Die Grundkonstellation ist also die einersubjektiven Hinsicht, die ihrerseits bereits höchst komplex, daperspektivisch gebrochen angelegt ist. Näherhin haben wir es zutun mit einer Interaktion zweier Perspektiven.

Da ist zunächst der Kranke, als den wir Malte von Anfang anund schon aus seinen Kindheitserinnerungen kennen, der Angst-besessene, der Neurotiker. So stehen all die bekannten Begegnun-gen, die mit dem Sterbenden in der Crémerie, mit dem Veitstän-zer auf dem Boulevard Saint-Michel, mit den PetersburgerNachbarn, mit dem Studenten der Medizin unter Halluzinations-verdacht. Das sind Rilkes Fortschreibungen romantisch-phantasti-scher Doppelgängerei. Der Text ist auf dieser Ebene paradigma-_____________________________________________________________________

12 Der Nachweis, daß im Prinzip alle Orte des Malte – also neben den eben be-reits genannten auch andere wie die Bibliothèque Nationale (16. Auf-zeichung), die Antiquariate in der rue de Seine (17. Aufzeichnung), das halbabgerissene Haus (18. Aufzeichnung), die Wohnung der Petersburger Nach-barn (49. Aufzeichnung) und das Zimmer des Studenten der Medizin (51. Auf-zeichnung) als Heterotopien lesbar sind, ist einer größeren Abhandlung imRahmen eines Forschungsprojekts zur „Literarischen Heterotopie“ vorbehal-ten.

13 Belege bei F. O. Schuppisser, „Schauen mit den Augen des Herzens. ZurMethodik der spätmittelalterlichen Passionsmeditation, besonders in der De-votio moderna und bei den Augustinern“, in Die Passion Christi in Literatur undKunst des Spätmittelalters, hgg. W. Haug/B. Wachinger, Tübingen 1993,S. 169–210.

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tisch-repetitiv strukturiert, d. h. wir haben es zu tun mit variieren-den Reprisen dieser Doppelgängerei – und in dieses Paradigmagehört eben auch unsere Episode. Auch sie ist gebunden an diePerspektive des Neurotikers Malte. Überwölbt aber ist dieses Para-digma von einem großen Spannungsbogen, also von einer teleolo-gischen Struktur. Am Anfang haben wir die anonyme Metropolemit ihren „Fortgeworfenen“ (481), mit ihren Armen und Sterben-den, ihren Hospitälern und der Salpêtrière. Das Ende aber steht imZeichen der großen Leidenden und Liebenden, schließlich derParabel vom verlorenen Sohn, der allein von Gott geliebt werdenwollte. „Der aber wollte noch nicht“ (635).

Man kann diese beiden Perspektiven vereinfachend bezeichnenals die phantastisch-halluzinatorische einerseits und die messia-nisch-apokalyptische andererseits. Dabei ist entscheidend, daß sienicht hierarchisierbar sind. Es gibt also nicht so etwas wie eine‚Überwindung‘ des Halluzinatorischen durch das Messianische.Zwar haben wir es zu tun mit einer Ich-Erzählung, aber wir kön-nen nicht das Halluzinatorische einem erlebenden Ich und dasMessianische einem rückblickend-erzählenden Ich zuordnen. Dar-aus folgt, daß jede Episode im Zeichen dieser nicht hierarchisier-baren Doppelperspektivik steht. Auch das Messianische also bleibtunter Halluzinationsverdacht. Das gilt, wie gesagt, für alle Episo-den und also auch die unsrige. Die Heterotopie des Luxembourgerscheint somit von vornherein in dieser gebrochenen Perspekti-vik, die ihrerseits Voraussetzung ist für eine höchst intrikate imagi-näre Besetzung.

Dafür ist schon bezeichnend, daß wir überhaupt nicht den Lu-xembourg als ganzen in den Blick bekommen, sondern immer nurden Rand, den Steinrand, in den das Gitter eingelassen ist und andem sich der Blinde entlangtastet. Dieser Rand markiert, so will eszumindest zunächst scheinen, eine räumliche Grenze, eine Innen/Außen-Differenz. Ein mit der Erzähltheorie Jurij M. Lotmans ver-trauter Leser würde vermutlich bei dieser Grenze aufmerken.Lotman hat eine kultursemiotische Erzähltheorie entworfen, diewesentlich mit räumlichen Relationen arbeitet14. Die Figuren ei-_____________________________________________________________________

14 Zum Sujet-Begriff bei Lotman siehe Die Struktur narrativer Texte, München1972, S. 329 ff. sowie „Zur Metasprache typologischer Kultur-Beschreibun-

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ner Erzählung, so Lotman, lassen sich zwei oppositiven Teilräu-men zuordnen, meist einem Innen- und einem Außenraum. DerText modelliert dann, wie Lotman sagt, ein Kulturmodell imkleinen. Innen haben wir den Raum der kulturellen Ordnung,den Wir-Raum, und außen den der kulturellen Unordnung, derNatur oder auch den einer rivalisierenden Kultur, den Sie-Raum.Zwischen beiden Teilräumen verläuft eine Grenze, eine Norm-Grenze, die als solche im Prinzip nicht überschreitbar ist. Löstsich aber aus einem der Teilräume eine Figur, die diese Grenzegleichwohl überschreitet, kommt es zu einem normbrechendenEreignis, und diese Transgression, dieser Bruch mit dem Normalenund Erwartbaren konstituiert dann ein narratives Sujet, wobeidie Figur, die diese Transgression begeht, der Held ist. Dabeiist auch eine doppelte Grenzüberschreitung möglich. In romanti-schen Erzählungen z. B. dringt der Held aus dem Außenraumin den Innenraum der bürgerlichen Welt, befreit die dortversklavte Geliebte und entführt sie in die Freiheit des Außen-raums.

Wichtig ist nun für unseren Zusammenhang, daß nach Lotmandiese topologischen Strukturen immer auch oder zumindest häufigtopographisch konkretisiert sind, insbesondere die Grenze: einBurgwall, eine Stadtmauer, ein Fluß oder anderes. Und damitkomme ich zu unserer Episode zurück. Mit Gitter und Rand istdie Grenze des Gartens deutlich markiert, aber der Lotman-kundige Leser wartet vergeblich auf ein Sujet, auf eine sujetkon-stitutive Transgression. Der Park ist geöffnet, Leute finden sichdrinnen wie draußen, und die Figur, auf die alles ankommt, machtgar keine Anstalten, von draußen nach drinnen zu kommen. Wohlaber nutzt sie den Steinrand, um sich mit der Hand daran zu ori-entieren, räumlich und vor allem zeitlich. Die Menschen kommenihr ganzes Leben lang in der Pause an ihm vorbei, „wenn er, laut-loser als alles was sich bewegt, weiter rückt wie ein Zeiger, wieeines Zeigers Schatten, wie die Zeit“ (600).

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gen“, in Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und Kultur, hg. K.Eimermacher, Kronberg Ts. 1974, S. 338–377.

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V

Wir haben es also mit einer Heterotopie zu tun, die wir aber nichtraumsemiotisch weiter aufschlüsseln können, symbolisiert doch dieGrenze offenbar keine Normgrenze innerhalb eines gegebenenKulturmodells, sondern die Zeit. Und das tut sie, was wir nichtvergessen dürfen, in der Perspektive Maltes. In bezug auf solcheperspektivischen Hinsichten bei Rilke generell gibt es nun eineUntersuchung von P. de Man, in der er spricht von einer Rilkespezifischen „Umkehrung der figuralen Ordnung“. Er meint damiteinen anti- oder zumindest nachromantischen Umgang mitsprachlicher Figuration. Das Ich findet nicht sprachlich zur Selbst-präsenz, wie es der romantische Subjektivitätsbegriff vorsah, son-dern „durch eine seltsame Umkehrung steckt die Subjektivität vonBeginn an, noch bevor die figurale Übertragung stattgefunden hat,in Objekten und Dingen“15. De Man hat diese Struktur exemplifi-ziert anhand eines Gedichts aus dem Buch der Bilder, betitelt „AmRande der Nacht“. Ich gehe auf dieses Gedicht selbst und auf deMans Interpretation nicht näher ein, betone nur den Titel: „AmRande der Nacht“ – also auch hier wieder ein „Rand“.

In der Tat erscheint dieses Lexem des „Randes“ ebenso wie die„Kante“ auffallend häufig bei Rilke, in seiner Lyrik wie in seinerProsa, also auch in den Aufzeichnungen, und zwar durchweg alsBild, als Metapher des Prekären, des Absturzes ins Grauen, deshalluzinatorischen Selbstverlusts. Ich beschränke mich auf einweiteres Beispiel aus der 23. Aufzeichnung, welche „die Existenzdes Entsetzlichen in jedem Bestandteil der Luft“ behauptet. DieMenschen suchen dieser „schrecklichen Wirklichkeit“ zu ent-kommen, sie zu vergessen. Doch es will nicht gelingen, selbstnicht im Schlaf, wo sie von Träumen heimgesucht werden:

Und sie wachen auf und keuchen und lassen einer Kerze Schein sich auflösen inder Finsternis und trinken, wie gezuckertes Wasser, die halbhelle Beruhigung.Aber, ach, auf welcher Kante hält sich diese Sicherheit. Nur eine geringste Wen-_____________________________________________________________________

15 „Tropes (Rilke)“, in Allegories of Reading, Yale UP 1979, S. 20–56, zit. nachder dtsch. Übersetzung von W. Hamacher, Allegorien des Lesens, Frankfurt/M.1988, S. 59–90, hier S. 68 und 82.

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dung, und schon wieder steht der Blick über Bekanntes und Freundliches hinaus,und der eben noch so tröstliche Kontur wird deutlicher als ein Rand von Grau-en. (506)

Dazu paßt die Evokation der bedrohlichen Zeit, die als Zeitangst,ja geradezu als Zeitneurose ebenfalls den gesamten Malte durch-zieht, am deutlichsten wohl in der Idee einer „Zeitbank“, auf derNikolaj Kusmitsch „wenigstens einen Teil seiner lumpigen Sekun-den umwechseln“ möchte (575). Mit dem „Steinrand“ am Lu-xembourg haben wir also gleich ein erstes Beispiel für die von deMan diagnostizierte Umkehrung der figuralen Ordnung: Nicht hatihn Malte metaphorisiert, sondern er erfährt ihn vorgängig als einangsteinflößendes Objekt. Und wenn Malte den Blinden „LaPresse“ sagen hört, dann steckt auch darin wieder die entfliehendeZeit, das heute Aktuelle und morgen schon Veraltete, und natür-lich auch die Konnotation des ‚Druckes‘, des mit dem BedrucktenBedrückenden, Erdrückenden.

Erst also die Objektwelt und dann, im Sinne der figuralen Um-kehrung, das, was sie im Innern auslöst: Malte ist „innen überausbeschäftigt“, beschäftigt mit der „Arbeit, ihn einzubilden“. InnereEinkehr, meditative Versenkung soll den Zeitungsverkäufer imBilde des Gekreuzigten erscheinen lassen. Aber diese Arbeit stößtzunächst auf Hindernisse. Die Neigung des Gesichts, der „trostloseBartnachwuchs im Wangenschatten“, die „endgültig schmerzvolleBlindheit seines verschlossenen Ausdrucks, der schräg aufwärtsgehalten war“ (600), lassen den Gedanken an irgendeine Pietà baldvor-, bald abtreten. Allein, Malte begriff „schon damals, daß nichtsan ihm nebensächlich sei“, und das muß dann ja wohl auch fürdiesen „schräg aufwärts gehaltenen“ Ausdruck gelten. Tatsächlichsteht dieses Detail, wie alle anderen auch, in einem intra- und in-tertextuellen Verweisungszusammenhang, der es semantisch anrei-chert und präzisiert.

Intratextuell wichtig ist hier die 25. Aufzeichnung: An abgele-gener Stelle in einer parkähnlichen Anlage – es kann durchauswiederum bzw. schon der Luxembourg sein – füttert ein un-scheinbarer Mann anfliegende Vögel mit kleinen Brotstückchen inder hoch ausgestreckten Hand. „Wie ein Leuchter steht er da, derausbrennt“, und „wenn die Zuschauer nicht wären und man ließeihn lange genug dastehen, ich bin sicher, daß auf einmal ein Engel

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käme und überwände sich und äße den alten, süßlichen Bissen ausder verkümmerten Hand“. Unübersehbar ist hier ein Spiel mit derEpiphanie, das vorausweist auf unseren Zeitungsverkäufer, unddiese Kataphorik verdichtet sich weiter mit dem Motiv der Schrä-ge. Die Engel bleiben aus, nur Vögel kommen, allein:

Was sollte sie auch erwarten, diese alte, verregnete Puppe, die ein wenig schrägin der Erde steckt wie die Schiffsfiguren in den kleinen Gärten zuhause; kommtauch bei ihr diese Haltung davon her, daß sie einmal irgendwo vorne gestandenhat auf ihrem Leben, wo die Bewegung am größten ist? Ist sie nun so verwa-schen, weil sie einmal bunt war? Willst du sie fragen? (510)

Biographische Gründe für die schräge Haltung werden gesucht,ohne Bestätigung zu finden. Damit aber wird die Schräge an sichkonnotativ bedeutsam, als eine den Aufstieg suggerierende Verti-kale, möglicherweise auch als Schrage, das der theologischen He-raldik vertraute Schrägkreuz, das Andreaskreuz.

Daß diese Vermutung durchaus berechtigt ist, macht wiederumunser Zeitungsverkäufer deutlich, denn hier ist die Schräge mitdem leeren Blick des Blinden gen Himmel enggeführt, und damitwären wir bei der intertextuellen Referenz, dem Zitat eines derbekanntesten Sonette Baudelaires:

Les Aveugles

Contemple-les, mon âme ; ils sont vraiment affreux !Pareils aux mannequins ; vaguement ridicules ;Terribles, singuliers comme les somnambules ;Dardant on ne sait où leurs globes ténébreux.

Leurs yeux, d’où la divine étincelle est partie,Comme s’ils regardaient au loin, restent levésAu ciel ; on ne les voit jamais vers les pavésPencher rêveusement leur tête appesantie.

Ils traversent ainsi le noir illimité,Ce frère du silence éternel. O cité !Pendant qu’autour de nous tu chantes, ris et beugles,

Éprise du plaisir jusqu’à l’atrocité,Vois ! je me traîne aussi ! mais, plus qu’eux hébété,Je dis : Que cherchent-ils au Ciel, tous ces aveugles ?16

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16 Les fleurs du mal, in Œuvres complètes, hg. Cl. Pichois, Paris 1976, 2 Bde, Bd. 1,S. 1–145, hier S. 92.

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Malte ist schockiert von der „endgültig schmerzvollen Blindheitseines verschlossenen Ausdrucks, der schräg aufwärts gehaltenwar“. Das ist lesbar als Rilkes Fazit aus dem Baudelaireschen So-nett: Wie endgültig ist diese Blindheit? Baudelaire beläßt demHimmel mit dem Kapitälchen zumindest als Möglichkeit einemetaphysische Dimension, Ciel also als Allegorie des jansenisti-schen deus absconditus. Damit aber wird eine doppelte Perspektivefreigesetzt, die Rilke gleichsam mitübernimmt: der suchende Blickder Blinden einerseits, der diese Blinden möglicherweise treffendeBlick Gottes andererseits. Mit ebendieser Ambivalenz aber ist zu-gleich auch Maltes „Arbeit, ihn einzubilden“ erfaßt. „Ich lernesehen“ heißt es programmatisch gleich zweimal zu Beginn derAufzeichnungen (456 f.). Insoweit steht der suchende Blick des Blin-den für den Maltes selbst, und vielleicht ist er mit ebendiesemBlinden seinem Ziel schon näher als er ahnt, ist die Selbstprojekti-on schon der geschaute Gott. Noch aber sieht er sich bei der„Arbeit“, und was diese Arbeit vor allem erschwert, sind Rockund abstehender Mantel, der den dürren Hals nirgends berührendeKragen, die ärmlich schwarze Krawatte, der steife Filzhut – irri-tierende Details, und doch erkannt als nicht nebensächlich, insge-samt ein incitamentum, die „Feigheit, nicht hinzusehen“ zu über-winden und „aufmerksam an ihm vorbeizugehen“ (601).

VI

Damit ist der Übergang zum zweiten Teil markiert, der im Zei-chen variierender Reprisen des ersten Teils steht. Maltes Wegführt wiederum mit den „vielen Leuten“ auf den „breiten, fort-laufenden Straßen“ hin zum Luxembourg: „Im Garten und davorwar so viel Bewegung von Menschen, daß ich ihn nicht gleichsah. Oder erkannte ich ihn zuerst nicht zwischen der Mengehindurch?“ (601). Das ist zunächst wieder eine Baudelaire-Reminiszenz: der Flaneur inmitten der Menge. Aber Malte ist ge-rade kein Flaneur, der die Menge sucht, sondern den einen amGitter, jenen also, an dem er seine „Einbildung“ üben will. Wich-tig dabei ist die unmerkliche Elimination des Gitters: „Im Gartenund davor“. Die Grenze, die den Heterotop als „espace autre“

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ausgrenzt, scheint aufgehoben, der Garten nicht als das andere zurNormalität, sondern ihr voll integriert. Andererseits ist diese Nor-malität so normal auch wieder nicht. Denn immerhin herrschtsonntägliche Festlichkeit: „Es mußte ein Sonntag sein“. Aber die-ser Sonntag ist für Malte offenbar ein anderer als für die flanieren-de Menge, gilt doch seine ganze Aufmerksamkeit wiederum derentsetzlichen Kreatürlichkeit des Blinden. Mit dem „Neigungs-winkel seiner Haltung“ wird das Motiv der Schräge aus dem erstenTeil wiederaufgenommen. Neu hinzu kommt die Todesevokationmit dem gräßlichen Bild des Mundes, „der eingezogen war wie dieÖffnung eines Ablaufs“. Das ruft, nun wieder intratextuell, die 18.Aufzeichnung in Erinnerung, wo Malte auf dem Weg in dieCrémerie zunächst einem blinden Blumenkohl-Verkäufer begeg-net und dann an einer Baustelle stehenbleibt, wo abgebrocheneHäuser den Blick freigeben auf bloßgelegte Mauern, auf ihre In-nenseite:

Man sah in den verschiedenen Stockwerken Zimmerwände, an denen noch dieTapeten klebten, da und dort den Ansatz des Fußbodens oder der Decke. Nebenden Zimmerwänden blieb die ganze Mauer entlang noch ein schmutzigweißerRaum, und durch diesen kroch in unsäglich widerlichen, wurmweichen, gleich-sam verdauenden Bewegungen die offene, rostfleckige Rinne der Abortröhre.Von den Wegen, die das Leuchtgas gegangen war, waren graue, staubige Spurenam Rande der Decken geblieben, und sie bogen da und dort, ganz unerwartet,rund um und kamen in die farbige Wand hineingelaufen und in ein Loch hinein,das schwarz und rücksichtslos ausgerissen war. (485 f.)

Dort also die Abortröhre, das ausgerissene Loch, hier jetzt, im Lu-xembourg, der wie ein Ablauf eingezogene Mund – das sind Kor-respondenzen, die der Leser bemerken soll, das ist, speziell in die-sem Fall, provokant zugespitzter sermo humilis. Das Höchsteverbirgt sich im Niedrigsten, und so folgt denn auch gleich daraufwieder das uns aus dem ersten Teil bereits bekannte „amorpheGefühl des Steinrands hinter ihm, an dem seine Hand sich ab-nutzte“. Da ist sie also wieder, die Umkehrung der figuralen Ord-nung: Der Steinrand ist sehr wohl noch da, aber jetzt wird ergleichsam von beiden betastet, vom Blinden wie auch von Malteselbst.

Damit gilt nun aber auch für beide zugleich die Konnotationder „sich abnutzenden“ Hand. Konnotiert wird die Zeit, wieder-

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um jene Zeit also, von der bei der erstmaligen Erwähnung desSteinrandes ausdrücklich die Rede war. Die Heterotopie des Gar-tens wird imaginativ besetzt mit einer Heterochronie, dem „espaceautre“ entspricht ein „temps autre“. Es ist Sonntag, aber für Maltewird es ein anderer Sonntag sein als für die flanierende Menge. Erist „stehengeblieben“, er sieht „alles fast gleichzeitig“, gleichzei-tig“, so auch den „anderen Hut“, die „sonntägliche Halsbinde“,mit denen auch der Blinde sein Teil zur allgemeinen Festtagsstim-mung beizutragen scheint, aus der er sich zugleich aber auch wie-der ausgrenzt. Die Halsbinde ist in gelben und violetten Viereckengemustert, der Hut zwar ein billiger Strohhut, aber mit grünemBand. „Es liegt natürlich nichts an diesen Farben, und es ist klein-lich, daß ich sie behalten habe“, meint Malte (602). Das will manihm nicht recht glauben, hatte es doch im ersten Teil ausdrücklichgeheißen, „daß nichts an ihm nebensächlich sei“. Und das gilt nunoffenbar auch hier. Die Farbe Violett hat im Kirchenjahr ihren Ortin der Fastenzeit und Grün an den Sonntagen nach Erscheinungdes Herrn und nach Pfingsten. Daher also waren diese Farben „anihm wie das Weicheste auf eines Vogels Unterseite“. Damit ist derUmschlag markiert, die Überwindung der Härte des Steinrandsund das endliche Gelingen der Arbeit: „Mein Gott, fiel es mir mitUngestüm ein, so bist du also. Es gibt Beweise für deine Existenz.“Sie liegen gerade im zunächst nebensächlich Scheinenden der Fi-gur, im Billigen, Bunten, im Unpassenden. „Und doch, nun wirdmirs gezeigt. Dieses ist dein Geschmack, hier hast du Wohl-gefallen. (. . .) Wenn es wieder Winter wird und ich muß einenneuen Mantel haben,- gieb mir, daß ich ihn so trage, solang er neuist“.

Und so ist denn für Malte der Luxembourg doch wieder zu ei-nem Heterotop geworden, zu einem „espace autre“. Gerade anseiner Grenze, am Gitter mit dem Steinrand wurde ihm ein ande-rer Sonntag denn der der Menge zuteil, der Sonntag einer gelin-genden „Einbildung“ Gottes. Dieses Gelingen aber verdankt sicheiner „Arbeit“, und diese Arbeit können wir jetzt identifizieren alseine Arbeit an, mit und in der Sprache. Die literarische Heteroto-pie ist nicht einfach mimetische Replik eines realen „contre-emplacement“, sondern sie modelliert ihn aus einer subjektivenSprecherperspektive, macht ihn zum Ort einer außerordentlichen

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poetischen Erfahrung, die sich artikuliert in einer nicht-diskursivenSprache, in einem poetischen Konterdiskurs. Eine solche Kom-plementarität von „contre-emplacement“ und „contre-discours“,darauf wies ich eingangs bereits hin, scheint mir wesentlich beiallen Versuchen, Foucaults Heterotopie-Konzept für literarischeTexte in Anspruch zu nehmen, und also gilt es nunmehr, nacheinem ersten Interpretationsdurchgang, noch einmal ausdrücklichzu machen, wie sich diese Komplementarität in unserer Episodemanifestiert.

VII

Konterdiskursivität, das benannte ich als ihr erstes Merkmal, kon-stituiert sich in Absetzung von Diskursivität. Dieser Diskurs ist inunserem Fall leicht identifizierbar. Doppelgängerei nämlich war,zeitgleich mit Rilke, auch Gegenstand diskursiven Interesses. Es istdies der Diskurs der Psychiatrie und insbesondere der sich formie-renden Psychoanalyse. U. Link-Heer hat gezeigt, daß Doppel- undMehrfachpersonen ein zentrales Thema, ja geradezu ein‚Faszinationstyp‘ dieses Diskurses waren17. Auch Rilke erlag offen-sichtlich dieser Faszination. Maltes Krankheit, seine Angst hat ebendiese medizingeschichtliche Referenz18. Aber seine Antwort istkonterdiskursiv, und diese Konterdiskursivität gewinnt er zunächstüber literarische Vorgaben. Er stellt seine Doppelgängerei in dieTradition romantischer und nachromantischer Phantastik bis hinzu Baudelaire, der in einigen Texten des Spleen de Paris ebenfalls_____________________________________________________________________

17 „Doppelgänger und multiple Persönlichkeiten. Eine Faszination der Jahrhun-dertwende“, in Arcadia 31 (1986) 273–296. – Zu Rilkes konterdiskursiverReplik auf diesen Diskurs siehe auch meinen dieser Abhandlung vorangehen-den Aufsatz „Nervenkunst bei Rilke: Malte und die Geschichte seiner Nach-barn (49.–53. Aufzeichnung)“, in R. Warning/W. Wehle (Hgg.), Fin de siècle.Romanistisches Kolloquium X, München 2002, S. 401–428.

18 Daher der Auftakt mit den „Hospitälern“ gleich in den ersten Aufzeichnun-gen. Auch das sind Heterotopien, die uns in Foucaults Katalog begegneten als„hétérotopies de déviation“, ‚Abweichungsheterotopien‘. Und auch hier ließesich zeigen, besonders eindringlich natürlich anläßlich der Salpêtrière, wieRilke diese Heterotopien als spezifisch literarische imaginativ besetzt, insbe-sondere mit den Angst- und Todesphantasmen.

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schon konterdiskursiv auf den psychiatrischen Diskurs reagierthatte19. Für diese Tradition der Phantastik gilt generell, was W.Preisendanz im Blick auf T. Todorovs bekannten Begriff der„hésitation“ ausgeführt hat, daß nämlich diese Ambiguität wesent-lich nicht im Gegenständlichen gründe, sondern in der erzähleri-schen Vermittlung, in der Destabilisierung elementarer narrativerVerfahren wie Erzählsituation, Erzählperspektive, Hierarchie derErzählebenen: „Mit der Ambiguität als konstitutivem Effekt derPhantastik erfährt der Leser eine Grenze: einmal als sein subjektivesUnvermögen, rational mit der Sache zu Rande zu kommen,zweitens objektiv als Struktur der Sachverhalte, welche die ratio-nale Bewältigung blockieren und sich daher auch nicht in eine al-legorische, symbolische, parabolische, mythische Bedeutungüberführen lassen. Phantastik bringt die Weltorientierung in eineGrenzlage, sie erzeugt eine Grenzerfahrung, weil dem Erklären/Begreifen/Verstehen der Boden und die nötigen Parameter entzo-gen werden“20.

Wie sich dieses Spiel mit Erzählsituation und Erzählperspektivenäherhin gestaltet, haben wir gesehen. Wichtig ist die Doppelungvon Halluzinatorischem und Messianischem, weil sie in die zitiertePhantastik die spezifische Fin-de-siècle-Motivik der Apokalypseeinspielt. Das läßt sich gleich an den ersten Aufzeichnungen bele-gen. So beginnt die imaginative Besetzung des Angstmotivs mitden „herrlichen Agonien“, die sich selbst eine Concierge hinterden Milchglasfenstern der kleinen Omnibusse auf deren Weg zumHôtel-Dieu ausphantasieren könne (458). Sie läuft weiter über das„große Geschwür“ im Kopfe des Sterbenden in der Crémerie.Aber dieses Bild ist raffiniert kontextualisiert: „vielleicht ging eingroßes Geschwür auf in seinem Gehirn wie eine Sonne, die ihmdie Welt verwandelte“ (489). Der psychiatrische Diskurs ist nichteinfach metaphorisiert mit einem Bild aus dem immerhin nochmedizinischen Bereich, sondern diese medizinische Metaphorik ist_____________________________________________________________________

19 Siehe hierzu Vf., „Baudelaire und der Wahnsinn der Dichter. Zum Prosage-dicht Le crépuscule du soir“, in Lektüren romanischer Lyrik, Freiburg/Br. 1997,S. 219–237.

20 „Die geschichtliche Ambivalenz narrativer Phantastik der Romantik“, inAthenäum. Jahrbuch für Romantik 2 (1992) 117–129, hier S. 119 f. – Zu Todo-rovs „hésitation“ siehe Introduction à la littérature fantastique, Paris 1970, S. 29 ff.

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ihrerseits eingelassen in und also hybridisiert mit dem messianisch-temporalen Bild der aufgehenden und die Welt verwandelndenSonne. Dasselbe Verfahren kehrt dann wieder in der Salpêtrière,wo das Bild der „Geschwulst“, die Malte aus sich herauswachsenspürt „wie ein zweiter Kopf“, schließlich einmündet in das Angst-Phantasma des „Großen“:

Und das Blut trat ungern ein in das Große und kam krank und schlecht zurück.Aber das Große schwoll an und wuchs mir aus dem Gesicht wie eine warmebläuliche Beule und wuchs mir vor den Mund, und über meinem letzten Augewar schon der Schatten von seinem Rande. (497)

Man darf hier nicht das Entscheidende überlesen: die uns bereitsbekannte Metapher vom „Rande“, in der der Passus kulminiert.So ist die Verbildlichung des „Entsetzens“ insgesamt prozeßhaftangelegt mit dem Ziel, ihn in eine temporale Metaphorik einmün-den zu lassen. Von der „Geschwulst“ läuft die Textbewegung zuauf das anschwellende „Große“, vom Konkreten also zu einemAbstrakten, das dann, mit dem „Rande“, scheinbar zurückgeholtwird in ein Konkretes. Tatsächlich aber bewegen wir uns längst ineinem Phantasma, das die Opposition konkret/abstrakt dekonstru-iert hat. Und eben dieses Oszillieren des Bildes insgesamt, das Spielder Terme gebiert schließlich das Zeitmoment als den eigentlichenKern der Angst: „schon der Schatten von seinem Rande“. Das istder sich nähernde Abgrund, die Leere, das Nichts, die Schwellen-situation der Apokalyptik in ihrer Ambivalenz von Ende undmöglichem Neubeginn.

Diese Ambivalenz ist allgegenwärtig. „Ich habe gesehen: Hos-pitäler“, heißt es, scheinbar harmlos gleich zu Beginn. Aber dasschon erwähnte „Ich lerne sehen“ in der 4. und 5. Aufzeichnungkonnotiert dieses ‚Sehen‘ mit visionärer Schau. Die 18. Aufzeich-nung dann ist gleichsam makrostrukturell hybridisiert. Zunächststeht sie, mit dem Sterbenden in der Crémerie, in der Traditionromantischer Doppelgängerei, um dann, mit der „Zeit der anderenAuslegung“, in einen biblisch-apokalyptischen Ton überzuge-hen:

Die Zeit der anderen Auslegung wird anbrechen, und es wird kein Wort auf demanderen bleiben, und jeder Sinn wird wie Wolken sich auflösen und wie Wasserniedergehen. Bei aller Furcht bin ich schließlich doch wie einer, der vor etwas

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Großem steht, und ich erinnere mich, daß es früher oft ähnlich in mir war, eh ichzu schreiben begann. Aber diesmal werde ich geschrieben werden. Ich bin derEindruck, der sich verwandeln wird. Oh, es fehlt nur ein kleines, und ich könntedas alles begreifen und gutheißen. Nur ein Schritt, und mein tiefes Elend würdeSeligkeit sein. (490 f.)

Nicht überlesen darf man wiederum, daß das „Große“ hier in denapokalyptischen Kontext eingeschrieben ist, jenes „Große“ also,das dann in der folgenden Aufzeichnung, der über die Salpêtrière,vor der Folie des psychiatrischen Diskurses konterdiskursiv aus-phantasiert wird21. Die halluzinatorisch-paradigmatische und diemessianisch-teleologische Textebene sind also offenbar über be-stimmte Schlüssellexeme miteinander verzahnt, womit ich zumzweiten und dritten Merkmal poetischer Konterdiskursivität über-gehen kann, als welche ich sprachliche Opazität und das Prinzipder Wiederholung benannt hatte.

VIII

Ist dem Diskurs Transparenz wesentlich, die Durchsichtigkeit dessprachlichen Zeichens auf das Bezeichnete, so nimmt der literari-sche Gegendiskurs das sprachliche Medium mit hinein in den Pro-zeß der Bedeutungsproduktion. Da ich mich hier auf Wesentlichesbeschränken muß, wähle ich jenes Verfahren, welches uns amhäufigsten begegnete, nämlich eine spezifische Form der Meta-phorisierung, die sich über rekurrente Konnotationen ergab. Bei„Geschwür“ oder „Geschwulst“ lassen sich ein metaphorischesprimum und ein secundum relativ leicht identifizieren: Ein psy-chisches primum wird verdeutlicht über ein physisches secundum.Beim „Großen“, der „Kante“, dem „Rand“, der „Schräge“, oderdem „Loch“ hingegen ist der metaphorische Charakter nichtsogleich erkennbar, wird doch mit diesen Lexemen vorderhand dieEbene der Denotation nicht merklich unterbrochen. Erst die Re-kurrenz erweckt hier die Aufmerksamkeit des Lesers, sie lädt die_____________________________________________________________________

21 Insofern scheint es mir geradezu eine Trivialisierung, das „Große“ psycho-analytisch zu denken als eine „ins Riesenhafte gewachsene Erektion“ – so P.Priskil, „Infantiler Sexualkonflikt und Regression in Rainer Maria RilkesWerk“, in System ubw 11 (1993) 5–62, hier S. 21.

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denotative Bedeutung konnotativ auf bis zu dem Punkt, da eineabstrakte Bildlichkeit gleichsam ‚kippt‘ ins bedrohliche Phantas-ma22.

Rilkes Metaphorik, zumindest dieser Typ der Konnotationsme-tapher, ergibt sich somit aus dem Prinzip der Wiederholung. DieAufzeichnungen werden damit zu einem eindrucksvollen Beispielfür Jakobsons Bestimmung der poetischen Funktion als einer Para-digmatisierung der syntagmatischen Achse. Das an kata- undanaphorischen Bezügen Benannte war exemplarisch gemeint, kei-neswegs erschöpfend, was ohnehin ein aussichtsloses Unterfangenwäre. Immerhin dürfte hinreichend deutlich geworden sein, wasich eingangs als die zeitsemantischen Effekte dieses Spiels mit Wie-derholungen ansprach. In bezug auf die Zeitstruktur des poeti-schen Texts sind Wiederholungen einerseits reduktiv: Was sichwiederholt, verliert an Eigenwert, wird temporalisiert. Andererseitsaktiviert jede Wiederholung ein Spiel von Oppositionen undÄquivalenzen, die mit ihrer semantischen Verdichtungsleistung derTemporalisierung entgegenarbeiten. So kann die Wiederholungparadoxerweise dem Wiederholten eine scheinbar verlorene Ei-genständigkeit zurückgeben. Sie polt die temporalisierende Ent-wertung um, läßt uns eine ganz andere Zeiterfahrung erahnen, jageradezu die Aufhebung von Zeitlichkeit, ihre Überführung inEwigkeit. Diese Tendenz wird im Malte dadurch bekräftigt, daßdas den Text spatialisierende Erzählen im Paradigma überwölbt istvon einer ostentativ teleologischen, also syntagmatisch organisier-ten Abfolge der einzelnen Episoden. Das ist jener große Span-nungsbogen, der mit den Hospitälern beginnt und sein Telos fin-det in der Parabel vom verlorenen Sohn mit ihrem messianischenAusblick auf den kommenden Gott und die Entdeckung einerneuen Sprache: „Er war wie einer, der eine herrliche Sprache hörtund fiebernd sich vornimmt, in ihr zu dichten. Noch stand ihmdie Bestürzung bevor, zu erfahren, wie schwer diese Sprache sei; erwollte es nicht glauben zuerst, daß ein langes Leben darüber hin-gehen könne, die ersten, kurzen Scheinsätze zu bilden, die ohne

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22 Zur Konstitution der Konnotation über Rekurrenz allgemein und zur Kon-notationsmetapher im besonderen siehe K. Stierle, „Versuch zur Semiotik derKonnotation“, in Text als Handlung, München 1975, S. 131–151.

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Sinn sind“ (633). Diese „Scheinsätze“ bezeichnen metapoetisch dieAufzeichnungen selbst, ihre messianisch-apokalyptische Dimension.

So partizipiert im Malte jede Episode an zwei Strukturebenen.Auf paradigmatischer Ebene wird in immer neuen Varianten un-erlöste Kreatürlichkeit, Zeitlichkeit, Angst, Krankheit und Todthematisch. Zugleich aber konstituiert sich über die ana- und ka-taphorischen Relationen ein Textraum, der insgesamt erfaßt wirdvon der zweiten Strukturebene, eben der messianischen. Dabei istindes zu beachten, daß auch für sie gilt, was ich eingangs mit deMan als „Umkehrung der figuralen Ordnung“ bezeichnet habeund was man mit einem Begriff Renate Lachmanns auch die spe-zifisch Rilkesche „Halluzinationssemantik“ nennen könnte23. Bei-de Ebenen, ich wiederhole es, sind Perspektiven Maltes, und diesePerspektiven lassen sich nicht hierarchisieren24. Nicht also steht dasMessianisch-Apokalyptische für eine Wahrheit, die Angst und Todüberwände, sondern auch und gerade das Messianische bleibt Pro-_____________________________________________________________________

23 „Der Doppelgänger als Simulakrum: Gogol, Dostojevskij, Nabokov“, in Ge-dächtnis und Literatur, Frankfurt/M. 1990, S. 463–488, hier S. 464 f.

24 Ich insistiere auf dieser Nichthierarchisierbarkeit, weil meine eigene Lesungder Aufzeichnungen wesentlich darauf beruht und ich mich damit zugleich voneiner seit langem dominanten Tendenz der Malte-Forschung absetze. Der er-ste, der nachdrücklich auf die Bedeutung der Perspektivik bei Rilke hinge-wiesen hat, ist A. R. Stephens in Rilkes Malte Laurids Brigge. Strukturanalyse deserzählerischen Bewußtseins, Bern und Frankfurt/M. 1974. Das geschieht bei Ste-phens in berechtigter Frontstellung gegen die dialektisch-totalisierende Lesungvon W. Seifert, Das epische Werk Rilkes, Bonn 1969. Was Stephens dem ent-gegensetzt, ist aber nicht eine Doppelperspektivik im hier entwickelten Sinn,sondern eine „Dualität der Perspektive“, die es dem Leser ermöglichen müß-te, im Sinne des von Stephens so genannten Prinzips der entgegengesetztenDarstellung hinter der Oberfläche den Kern, hinter dem Vorwand das Zen-trum zu gewärtigen, Gegenständlichkeit in Transparenz zu überführen (so ins-bes. Kap. 5: „Der Bereich der Vorwände“, S. 133 ff.). Tatsächlich aber werdedem Leser kein Maßstab geboten, „um ‚wirklich Erlebtes‘ von Halluzinationzu unterscheiden“, er wisse lediglich, „daß alles letzten Endes von der jeweili-gen Erzählperspektive abhängt, aber das verhilft ihm kaum zu einem eindeuti-gen Urteil“ (S. 124). Rilke halte Malte im Zustand pathologischer Ich-Spaltung, was die Aufzeichnungen daran hindere, „die ideale Anonymität reiferKunstwerke“ zu erreichen (S. 139). Stephens zieht also aus gegen diejenigen,die Malte „auf alle Kosten als eine Entwicklungs- und Erfolgsgeschichte“ lesenwollen, bleibt aber selbst einem klassisch-klassizistischen Kunstbegriff verhaf-tet.

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jektion. Freilich, und das ist entscheidend, eine Projektion Maltes,die ihrerseits vom Autor Rilke inszeniert ist. Beide Instanzen, Ril-ke und sein Erzähler Malte, rücken immer dann zusammen, wennMaltes Schreiben selbst Gegenstand expliziter Reflexion oder aberwenn Inszenierung metaphorisch zum Thema wird.

Der diesbezüglich dichteste Passus ist wohl die Gruppe der 63.bis 65. Aufzeichnung. Malte vermag nicht alle Schminke abzule-gen und „wirklich zu sein“, er bleibt im Zwielicht all derer, die„weder Seiende, noch Schauspieler“ sind (615) und entfaltet danndiese Formel in der Konfrontation der beiden folgenden Aufzeich-nungen, deren erste dem Theater zu Orange gilt und deren zweiteder Eleonora Duse. Das Theater zu Orange wird ihm Ort der Er-fahrung einer halluzinatorischen Epiphanie:

Hier, in diesem großen, eingebogenen Sitzkreis herrschte ein wartendes, leeres,saugendes Dasein: alles Geschehen war drüben: Götter und Schicksal. Und vondrüben kam (wenn man hoch aufsah) leicht, über den Wandgrat: der ewige Ein-zug der Himmel. (616)

Der Duse hingegen, die kein antikes Theater mehr bespielen kann,sind nur noch Spuren einer Epiphanie vergönnt:

Du hieltest dein Haar, deine Hände, irgendein dichtes Ding vor die durchschei-nenden Stellen. Du hauchtest die an, die durchsichtig waren; du machtest dichklein; du verstecktest dich, wie Kinder sich verstecken, und dann hattest du jenenkurzen, glücklichen Auflaut, und höchstens ein Engel hätte dich suchen dürfen.(617 f.)

Von der Menge aber wird dieser „kurze, glückliche Auflaut“ nichtgewärtigt, sie will die sehen, die sich unsichtbar machen, alsSchauspielerin die Nonnenschaft der Marianna Alcoforado an-nehmen, die Bühne in ein Kloster verwandeln möchte:

Die schlappen Türen, die hingetäuschten Vorhänge, die Gegenstände ohne Hin-terseite drängten dich zum Widerspruch. Du fühltest, wie dein Herz sich unauf-haltsam steigerte zu einer immensen Wirklichkeit und, erschrocken, versuchtestdu noch einmal die Blicke von dir abzunehmen wie lange Fäden Altweibersom-mers –: Aber da brachen sie schon in Beifall aus in ihrer Angst vor dem Äußer-sten: wie um im letzten Moment etwas von sich abzuwenden, was sie zwingenwürde, ihr Leben zu ändern. (618)

Das ist ein äußerst komplexer, in seiner Perspektivik extrem hybri-disierter Passus. Malte ist in die Angst des Beifalls offenbar nicht

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mehr involviert. Seine Apostrophe an die Duse wird insofern un-unterscheidbar von der des Autors Rilke, der gegen Ende der Auf-zeichnungen immer deutlicher mit der Epiphanie spielt, sie abernicht referentiell geschehen läßt, sondern in die Textbewegungselbst hereinzunehmen bestrebt ist. Und eben hierfür scheint mirgerade die Komplementarität der 64. und der 65. Aufzeichnungwichtig: Was sich im Theater der Antike noch ereignete, ist demder Moderne versagt25. Das Ereignishafte muß reflexiv werden,und hierfür bietet sich der über seine kata- und anaphorischen Be-züge dynamisierte Textraum eher an als die schauspielerische Per-formanz selbst.

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Dieser Textraum aber führt uns zurück zur Heterotopie, näherhinzum Ineinander von Heterotopie und Heterochronie. Im Malterivalisieren zwei Zeitvorstellungen. Das ist einmal die Zeit derKrankheit und des Sterbens, ein ‚Sein zum Tode‘, wie Heideggerein gutes Jahrzehnt später sagen wird, und das ist zum anderen eineZeit der Erwartung und Erlösung. Mit dieser Rivalität wird derTextraum dynamisiert zu einem Zeit-Raum des Imaginären. Ichbeziehe mich hiermit auf C. Castoriadis, näherhin auf jenen Zu-sammenhang von Zeit und Emergenz, wie er sich aus der Theoriedes von ihm so genannten „radikal Imaginären“ ergibt. Castoriadiswill die Aporien vermeiden, in die sich subjektiv-phäno-menologische Zeitkonzepte verstricken. An ihre Stelle setzt er alselementarste Opposition die einer identitätslogischen und einerimaginären Zeit. Beide sind wesentlich sozialgeschichtlich vermit-telt und unterscheiden sich darin von einem basalen naturalen_____________________________________________________________________

25 Für K. Kahl gehört die Duse zu den wenigen, denen der Schritt von der Ver-kleidung zum Seienden gelingt (Lebensphilosophie und Ästhetik. Zu Rilkes Werk1902–1910, Freiburg/Br. 1999, S. 231). Für A. Stephens hingegen zählt dieDuse ebenso wie Beethoven, Ibsen und Karl VI. zu den Idealgestalten, die„am Ende doch im Zeichen des Scheiterns stehen“ (Rilkes Malte Laurids BriggeS. 192). Im Konzept einer differentiellen Epiphanie scheint mir dieser Wi-derspruch aufgehoben, da die Epiphanie hier in die Textbewegung selbst hin-eingenommen ist.

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Stratum, der naturalen Chronologie. Identitätslogische Zeit meintgesellschaftlich geschaffene und entsprechend historisch variableMaßeinheiten – kalendarische Zeiten sind solche Maßeinheiten –,imaginäre oder poetische Zeit meint bedeutsame Zeit bzw. dieZeit der Bedeutungssetzung. Diese wird provoziert durch die Er-fahrung von Alterität, verstanden als ständige Emergenz neuerFormen und ihrer Zerstörung. Emergenz ist dabei strikt zu unter-scheiden von bloßer Differenz. Differenz ist deduzierbar und pro-duzierbar im Rahmen vorgegebener Gesetzmäßigkeiten, Alteritäthingegen nicht reduzierbar, nicht ableitbar, nicht produzierbar:„Otherness is irreducible, undeducible, and not producible“.Daraus ergeben sich verschiedene Zuordnungen von Zeit undRaum, wobei auch beim Raum zu unterscheiden ist zwischendem geometrischen, abstrakten Raum und dem konkreten, dempoetischen, der Anschauung gegebenen Raum. Solidarisch, so Ca-storiadis, sind einerseits Differenz und abstrakter Raum, anderer-seits Alterität und imaginäre Zeit. Emergenz und Zerstörung neuerFormen aber sind immer auch räumlich zu denken, näherhin imaktualen, konkreten Raum: „There is poetic space, space unfol-ding with and through the emergence of forms“. Poetische Zeitund poetischer Raum also sind gleichursprünglich. Der poetischeRaum präsupponiert die poetische Zeit. „Time is essentially linkedto the emergence of alterity. Time is this emergence as such –whilst space is ‘only’ its necessary concomitant“26.

Man muß den Mut zu einigen Abstraktionen haben, um ange-messen beschreiben zu können, was Rilke so großartig in Szenebringt. Deutlich lassen sich in unserer 59. Aufzeichnung die vonCastoriadis benannten Zeiten identifizieren. Die Menschen, „dieihr ganzes Leben lang in der Pause vorbeikommen“, die Hand desBlinden, die „wie ein Zeiger, wie eines Zeigers Schatten“ auf demSteinrand weiterrückt, die auf den „Frühling“ zugehende Jahres-zeit, der „Sonntag“ – all das sind Varianten identitätslogischer Zeit,_____________________________________________________________________

26 Der Sache nach geht es hier um das, was Castoriadis in L’institution imaginairede la société unter dem Titel „Temps et création“ (S. 269–279) verhandelt. Ichbeziehe mich hier aber auf eine spätere Abhandlung gleichen Titels, die Ca-storiadis im Jahre 1988 auf einem Symposion in Stanford vortrug: „Time andCreation“, in Chronotypes. The Construction of Time, hgg. J. Bender/D. Well-bery, Stanford 1991, S. 38–64, hier S. 58, 59, 61 f.

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d. h. sozial geschaffener Maßeinheiten, die auf einem basalen na-turalen Stratum aufruhen. Freilich erscheint sie in perspektivischerBrechung und wird demgemäß vom Perspektivträger bereits überdas bloß Meßbare hinaus semantisiert. Wenn die Sequenz „wie einZeiger, wie eines Zeigers Schatten“ syntaktisch ternär kulminiertim „wie die Zeit“, dann ist das schon die leere Temporalität, inder die „Fortgeworfenen“ ihr Dasein fristen, die Zeit der Angst,die Zeit zum Tode. Der Steinrand ist damit integriert in die para-digmatische Textebene, also in die Sequenz der Episoden, dieMaltes halluzinatorische Perspektive generiert. Er muß ja auch indiese Ebene integriert sein, um dann zur entscheidenden Schwellewerden zu können. Und mit ihr tritt er ein in die messianisch-apokalyptische Perspektive, wird er Träger einer nun im emphati-schen Sinne imaginären Zeit, einer Zeit höchster Bedeutsamkeit.

Völlig zu Recht also hat man dem Zeitungsverkäufer am Lu-xembourg einen zentralen Stellenwert in den Aufzeichnungen zuer-kannt. Wie keine ihrer Vorgängerinnen im Paradigma der„Fortgeworfenen“ ist sie angelegt auf die Erfahrung einer Epipha-nie, und wir sehen jetzt, weshalb die Szene an der Grenze des Lu-xembourg situiert ist. Der „Steinrand“ symbolisiert nicht eineGrenze zwischen dem Inneren des Parks und seinem Außenraum,sondern eine zeitliche Schwelle, eine apokalyptische Schwelle mitdem Blinden als einer Figur, die sich von Gottes Blick getroffenfühlt oder aber für Malte schon mit dem Menschgewordenenidentisch ist. Diese Erfahrung einer unmittelbaren oder einer proji-zierten Epiphanie mag das kommende Ende seiner Krankheit an-kündigen, das Halluzinatorische indes nimmt ihr den Charaktereiner eindeutig religiösen Erfahrung. Und so ist denn das, was sichin der perspektivischen Ambivalenz konstituiert, eine Erfahrung,die ich als differentielle Epiphanie bezeichnen möchte.

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Ich beziehe mich damit natürlich auf J. Derridas Konzept der„différance“, des Sinnaufschubs, vor allem aber auf eine Formelvon Jorge Luis Borges, mit der er seine kurze Erzählung La murallay los libros beschließt. Die Erzählung selbst handelt von dem ei-

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gentümlichen Umstand, daß Kaiser Shih Huang Ti, der Erbauerder chinesischen Mauer, derselbe Mann war, der alle existierendenBücher verbrennen ließ. Wie läßt sich beides zusammenbringen?Borges spielt eine ganze Reihe von Motiven durch, ohne zu ei-nem befriedigenden Ergebnis zu kommen. Aber vielleicht sollteman gar nicht fragen, was dahintersteckt. Vielleicht berührt uns andieser Geschichte gerade die Unaufhebbarkeit der „oposición deconstruir y destruir, en enorme scala“ – ‚der Gegensatz zwischenErrichten und Zerstören, in ihrem ungeheuren Ausmaß‘. Undvielleicht sollte man daraus den Schluß ziehen, „que todas las for-mas tienen su virtud en su mismas y no en un ‘contenido‘ conje-tural“ – ‚ daß alle Formen ihre Kraft in sich selber tragen und nichtin einem mutmaßlichen Inhalt‘. Vielleicht – und damit bin ich beider Schlußformel – vielleicht ist das Ästhetische gerade hierin zugewärtigen, in einer Form, die eine Aussage, eine Botschaft zuenthalten scheint, ohne daß wir sie entbergen könnten:

La música, los estados de felicidad, la mitología, las caras trabajadas por el tiempo,ciertos crepúsculos y ciertos lugares, quieren decirnos algo, o algo dijeron que nohubiéramos debido perder, o están por decir algo; esta inminencia de una revela-ción, que no se produce, es, quizá, el hecho estético.‚Die Musik, die Zustände des Glücks, die Mythologie, die von der Zeit gewirk-ten Gesichter, gewisse Dämmerungen und gewisse Orte wollen uns etwas sagenoder haben uns etwas gesagt, was wir nicht hätten verlieren dürfen, oder schickensich an, uns etwas zu sagen; dieses Bevorstehen einer Offenbarung, zu der esnicht kommt, ist vielleicht der ästhetische Vorgang‘.27

Die Epiphanie, die sich anzukündigen scheint, dann aber dochausbleibt – genau das ist es, was Rilke in immer neuen Varianteninszeniert. Derridas „différance“ ist eine metaphysikkritische Kate-gorie, keine ästhetische. Borges‘ Formel ist ausdrücklich als eineästhetische gedacht, also als eine sozusagen immer schon insze-nierte „différance“. Dabei ist Inszenierung ,stark‘ zu lesen, d. h. alstheatralisches Ereignis im imaginären Zeitraum der Aufzeichnungeninsgesamt. Das unterscheidet Rilke von einem vergleichbarenUnternehmen Thomas Manns, von dessen Zauberberg. Auch dortgeht es in der Heterotopie des „Berghofs“ um die Heterochronieaufgehobener Zeit, aufgehoben, wie Thomas Mann selbst sagt, in_____________________________________________________________________

27 Zitiert nach Prosa completa, 2 Bde, Barcelona 1980, Bd. 2, S. 131–33, hierS. 133.

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einem „magischen nunc stans“. Aber diese Magie ist eine Reflexi-onsebene tiefer angesetzt als bei Rilke. Es ist die Magie einer guthumanistischen Initiation in „geistige Bezirke, Prinzipien undWelten“28. Jahrzehnte zuvor hat Rilke diese Initiation dekonstru-iert, indem er sie einbrachte in einen Text, der Heterotopie samtHeterochronie nicht mimetisch traktiert, sondern als eine Insze-nierung, die sich als solche zeigt und reflektiert29.

Borges hat uns damit aber zugleich auch zurückgeführt zu Fou-cault, denkt er doch die differentielle Epiphanie in bestimmtenraumzeitlichen Kontexten. Sie hat statt, nun wieder mit Foucaultgesprochen, in „contre-emplacements“, aber nicht in solchen deruns umgebenden zivilisatorischen Realität, sondern in imaginärkonstruierten. Damit wird ihr eigentlicher Ort das Medium, indem diese Konstruktion statthat, also die Sprache, der Text. Woder reale Jardin du Luxembourg den Charakter eines Heterotopszu verlieren droht, da findet er seine Restitution in einer imaginä-ren Konstruktion wie der Rilkes. Hier und nur hier wird er zumOrt einer differentiellen Epiphanie. Nicht also modelliert der Texteinen begehrten Ort, sondern er selbst wird, als Text, zum Ort desBegehrens. Dabei ist die Rede vom Ort durchaus wörtlich zunehmen, Ort also als Konkretion von Räumlichkeit. Der Textselbst muß Merkmale der Spatialisierung aufweisen, soll denn die_____________________________________________________________________

28 „Einführung in den Zauberberg“, in Schriften und Reden zur Literatur, Kunstund Philosophie Bd. 2, Frankfurt/M. 1968, S. 326–338, hier insbes. S. 327 und334.

29 In dem frühen Aufsatz von Th. Ziolkowski über die Epiphanie in der klassi-schen Moderne ist dieses Merkmal der Selbstreflexivität noch nicht mitbe-rücksichtigt. Das Eigenartige der Epiphanie besteht für ihn darin, „daß dasschauende Subjekt das Wesen des Objekts objektiv erkennt, wobei die Auto-nomie von Subjekt und Objekt bewahrt bleibt“. Entsprechend liest er auchRilkes Epiphanien ohne jede perspektivische Brechung als „Maltes Durch-leuchtung der Weltwirklichkeit“ („James Joyces Epiphanie und die Über-windung der empirischen Welt in der modernen deutschen Prosa“, in DVjs35 (1961) 594–616, hier S. 603 bzw. 612 ff.). K. Bohrer, der sich in seinenStudien zur Epiphanie des ästhetischen Scheins zunächst einvernehmlichauf Ziolkowski beruft, hat später unter dem Eindruck der Kritik von U. Ecodie Ziolkowskische Zentralreferenz Thomistischer claritas qua quidditasfallengelassen (Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Frank-furt/Main 1981, S. 64 f. bzw. 194 ff.). Auf Rilke geht Bohrer nicht näherein.

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Rede von der literarischen bzw. künstlerischen Heterotopie nichtverblassen zu einer bloßen Metapher. Diese Spatialisierung aber,und damit komme ich zurück auf meinen ersten Interpretations-durchgang, wird höchst raffiniert bewirkt mit der Zweiteilung derAufzeichnung. Zwischen Maltes erstem und zweitem Anlauf, „ihneinzubilden“, liegt die Schwelle nun des Textraums, der Übergangvon noch vergeblicher zu gelingender „Einbildung“, wobei dieSyntagmatik dieses Übergangs, wie gezeigt, auf engstem Raumparadigmatisiert wird mit den variierenden Reprisen. Literatur istheterotop in dem Maße, wie sie die innen/außen-Differenz nichtinnerhalb eines gegebenen Kulturmodells situiert, sondern mit derGrenze des Modells selbst gleichsetzt30. Dann und nur dann auchhat Transgression nicht statt innerhalb des Modells, sondern wirddas Modell insgesamt transgrediert im Sinne der FoucaultschenTrias von „représentation“, „contestation“ und „inversion“. Der„Steinrand“ am Luxembourg symbolisiert daher weniger eineGrenze denn die Schwelle, mit der sich der Text selbst auf einen„espace autre“ öffnet. Das ist Rilkes höchst reflektiertes Spiel mitder apokalyptischen Schwellensituation, wie sie dem Fin de siècleso lieb war._____________________________________________________________________

30 Ich beziehe mich hier noch einmal kontrastiv zurück auf das oben vorgestellteModell eines narrativen Sujets mit zwei semantischen Teilräumen, einerGrenze und deren Transgression durch einen Helden, wie es Lotman entwik-kelt hat.

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ANHANG: 59. Aufzeichnung

Ich habe niemals gewagt, von ihm eine Zeitung zu kaufen. Ich binnicht sicher, daß er wirklich immer einige Nummern bei sich hat,wenn er sich außen am Luxembourg-Garten langsam hin und zu-rück schiebt den ganzen Abend lang. Er kehrt dem Gitter denRücken, und seine Hand streift den Steinrand, auf dem die Stäbeaufstehen. Er macht sich so flach, daß täglich viele vorübergehen,die ihn nie gesehen haben. Zwar hat er noch einen Rest vonStimme in sich und mahnt; aber das ist nicht anders als ein Ge-räusch in einer Lampe oder im Ofen oder wenn es in eigentümli-chen Abständen in einer Grotte tropft. Und die Welt ist so einge-richtet, daß es Menschen giebt, die ihr ganzes Leben lang in derPause vorbeikommen, wenn er, lautloser als alles was sich bewegt,weiter rückt wie ein Zeiger, wie eines Zeigers Schatten, wie dieZeit.

Wie unrecht hatte ich, ungern hinzusehen. Ich schäme michaufzuschreiben, daß ich oft in seiner Nähe den Schritt der andernannahm, als wüßte ich nicht um ihn. Dann hörte ich es in ihm „LaPresse“ sagen und gleich darauf noch einmal und ein drittes Mal inraschen Zwischenräumen. Und die Leute neben mir sahen sich umund suchten die Stimme. Nur ich tat eiliger als alle, als wäre mirnichts aufgefallen, als wäre ich innen überaus beschäftigt.

Und ich war es in der Tat. Ich war beschäftigt, ihn mir vorzu-stellen, ich unternahm die Arbeit, ihn einzubilden, und derSchweiß trat mir aus vor Anstrengung. Denn ich mußte ihn ma-chen wie man einen Toten macht, für den keine Beweise mehr dasind, keine Bestandteile; der ganz und gar innen zu leisten ist. Ichweiß jetzt, daß es mir ein wenig half, an die vielen abgenomme-nen Christusse aus streifigem Elfenbein zu denken, die bei allenAlthändlern herumliegen. Der Gedanke an irgendeine Pietà tratvor und ab –: dies alles wahrscheinlich nur, um eine gewisse Nei-gung hervorzurufen, in der sein langes Gesicht sich hielt, und dentrostlosen Bartnachwuchs im Wangenschatten und die endgültigschmerzvolle Blindheit seines verschlossenen Ausdrucks, der schrägaufwärts gehalten war. Aber es war außerdem so vieles, was zu ihm

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gehörte; denn dies begriff ich schon damals, daß nichts an ihm ne-bensächlich sei: nicht die Art, wie der Rock oder der Mantel,hinten abstehend, überall den Kragen sehen ließ, diesen niedrigenKragen, der in einem großen Bogen um den gestreckten, nischi-gen Hals stand, ohne ihn zu berühren; nicht die grünlich schwarzeKrawatte, die weit um das Ganze herumgeschnallt war; und ganzbesonders nicht der Hut, ein alter, hochgewölbter, steifer Filzhut,den er trug wie alle Blinden ihre Hüte tragen: ohne Bezug zu denZeilen des Gesichts, ohne die Möglichkeit, aus diesem Hinzu-kommenden und sich selbst eine neue äußere Einheit zu bilden;nicht anders als irgendeinen verabredeten fremden Gegenstand. Inmeiner Feigheit, nicht hinzusehen, brachte ich es so weit, daß dasBild dieses Mannes sich schließlich oft auch ohne Anlaß stark undschmerzhaft in mir zusammenzog zu so hartem Elend, daß ichmich, davon bedrängt, entschloß, die zunehmende Fertigkeit mei-ner Einbildung durch die auswärtige Tatsache einzuschüchternund aufzuheben. Es war gegen Abend. Ich nahm mir vor, sofortaufmerksam an ihm vorbeizugehen.

Nun muß man wissen: es ging auf den Frühling zu. Der Tag-wind hatte sich gelegt, die Gassen waren lang und befriedigt; anihrem Ausgang schimmerten Häuser, neu wie frische Bruchstelleneines weißen Metalls. Aber es war ein Metall, das einen über-raschte durch seine Leichtigkeit. In den breiten, fortlaufendenStraßen zogen viele Leute durcheinander, fast ohne die Wagen zufürchten, die selten waren. Es mußte ein Sonntag sein. Die Turm-aufsätze von Saint-Sulpice zeigten sich heiter und unerwartet hochin der Windstille, und durch die schmalen, beinah römischenGassen sah man unwillkürlich hinaus in die Jahreszeit. Im Gartenund davor war so viel Bewegung von Menschen, daß ich ihn nichtgleich sah. Oder erkannte ich ihn zuerst nicht zwischen der Mengedurch?

Ich wußte sofort, daß meine Vorstellung wertlos war. Die durchkeine Vorsicht oder Verstellung eingeschränkte Hingegebenheitseines Elends übertraf meine Mittel. Ich hatte weder den Nei-gungswinkel seiner Haltung begriffen gehabt noch das Entsetzen,mit dem die Innenseite seiner Lider ihn fortwährend zu erfüllenschien. Ich hatte nie an seinen Mund gedacht, der eingezogen warwie die Öffnung eines Ablaufs. Möglicherweise hatte er Erinne-

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rungen; jetzt aber kam nie mehr etwas zu seiner Seele hinzu alstäglich das amorphe Gefühl des Steinrands hinter ihm, an dem sei-ne Hand sich abnutzte. Ich war stehngeblieben, und während ichdas alles fast gleichzeitig sah, fühlte ich, daß er einen anderen Huthatte und eine ohne Zweifel sonntägliche Halsbinde; sie warschräg in gelben und violetten Vierecken gemustert, und was denHut angeht, so war es ein billiger neuer Strohhut mit einem grü-nen Band. Es liegt natürlich nichts an diesen Farben, und es istkleinlich, daß ich sie behalten habe. Ich will nur sagen, daß sie anihm waren wie das Weicheste auf eines Vogels Unterseite. Erselbst hatte keine Lust daran, und wer von allen (ich sah mich um)durfte meinen, dieser Staat wäre um seinetwillen?

Mein Gott, fiel es mir mit Ungestüm ein, so bist du also. Esgiebt Beweise für deine Existenz. Ich habe sie alle vergessen undhabe keinen je verlangt, denn welche ungeheuere Verpflichtungläge in deiner Gewißheit. Und doch, nun wird mirs gezeigt. Die-ses ist dein Geschmack, hier hast du Wohlgefallen. Daß wir dochlernten, vor allem aushalten und nicht urteilen. Welche sind dieschweren Dinge? Welche die gnädigen? Du allein weißt es.

Wenn es wieder Winter wird und ich muß einen neuen Mantelhaben,- gieb mir, daß ich ihn so trage, solang er neu ist. (899–903).

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