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Patientenwille und Behandlung Ethische Entscheidungsfindung im Spannungsfeld zwischen Autonomie und Fürsorge Dr.med.lic.theol. Diana Meier-Allmendinger Klinik St.Urban 19.03.2015

Patientenwille und Behandlung - lups.ch · − Informed consent wird intraprofessionell bindend −60er und 70er Jahre − Forderung nach informed consent innerhalb klinischer Medizin

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Patientenwille und Behandlung Ethische Entscheidungsfindung im Spannungsfeld zwischen Autonomie und Fürsorge

Dr.med.lic.theol. Diana Meier-Allmendinger Klinik St.Urban 19.03.2015

Übersicht

1. Patientenautonomie historisch 2. Recht auf Selbstbestimmung 3. Ethische Aspekte

1. Patientenautonomie historisch

Entwicklung westlicher Medizinethik

− Missbräuchliche Forschung − Nürnberger Aerzteprozesse 1946-48 − Nürnberger Kodex:Forderung nach freiwilliger und informierter Zustimmung

− 1948 Genfer Aerztegelöbnis − 1964 Weltärztebund Deklaration von Helsinki

− Informed consent wird intraprofessionell bindend

− 60er und 70er Jahre − Forderung nach informed consent innerhalb klinischer Medizin

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Informed consent Einwilligungsfähigkeit („competence“) Informationsvermittlung („disclosure“) Informationsverständnis („comprehension“) Freiheit der Entscheidung („voluntariness“) Einwilligung in eine konkrete medizinische Massnahme („consent“)

Belmont report 1979

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Einwilligungsfähigkeit

Einwilligungsfähigkeit = Urteilsfähigkeit in Bezug auf eine Heilbehandlung

Einwilligung in die Verletzung individueller Rechtsgüter (physische oder psychische Integrität)

Fähigkeit, zum gegebenen Zeitpunkt, Wesen, Bedeutung und Tragweite des Rechtsgutseingriffes zu beurteilen • Rippe/Schwarzenegger/Bosshard/Kiesewetter

Einwilligungs(un)fähigkeit in der Psychiatrie Geisteskrankheit bedeute Einwilligungsunfähigkeit (A.MOLL)

Direkte Ableitung aus vorliegendem Krankheitsbild (GOEPPINGER, 1956)

Krankheit an sich als Zustand verminderter Autonomiekompetenz (KOMRATH, 1983)

Beurteilungsmassstab anhand Klassifikationen nicht angemessen (HELMCHEN, LAUTER, 1995)

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Urteilsfähigkeit

• Erkenntnisfähigkeit • Wertungsfähigkeit • Fähigkeit zur Willensbildung • Fähigkeit, gemäss eigenem

Willen zu handeln V.DITTMANN

Urteilsfähigkeit

2. Recht auf Selbstbestimmung

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Schweizerische Bundesverfassung Grundrechte Art 8 Rechtsgleichheit 1. Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. 2. Niemand darf diskriminiert werden, namentlich wegen

der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache, der sozialen Stellung, der Lebensform, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung.

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Schweizerische Bundesverfassung Grundrechte Art. 10 Recht auf Leben und auf persönliche Freiheit 1. Jeder Mensch hat das Recht auf Leben. Die

Todesstrafe ist verboten. 2. Jeder Mensch hat das Recht auf persönliche Freiheit,

insbesondere auf körperliche und geistige Unversehrtheit und auf Bewegungsfreiheit

3. Folter und jede Art grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung sind Verboten.

3. Psychiatrische und ethische Aspekte

Prinzipienethik

− Prinzipienethik (BEAUCHAMP, CHILDRESS)

− Respect for Autonomy (Autonomie)

− Nonmaleficence (Nichtschaden)

− Beneficence (Fürsorge)

− Justice

Ethische Herausforderungen

Krankheitskonzept

Menschenbild Psychiatrie als Wissenschaft

Ethische Herausforderungen Psychiatrie

− Fachgebiet hat keine klar abgesteckten Grenzen, offen

gegenüber Psychologie und Sozialwissenschaft − Kann sich nicht auf ein einfaches Ursache-Wirkungs-

Prinzip stützen

− Persönliche Einschätzungen fliessen in Diagnostik ein

Psychiatrie als Wissenschaft

− Eigenständigkeit gegenüber Neurowissenschaften wird hinterfragt

− Psychiatrie als Teil der Neurowissenschaft

− Psychische Erkrankung = Störungen des Gehirns

Krankheitskonzept

− Verbunden mit dem in einer Kultur vorherrschenden Menschenbild

− Normvorstellungen, wie sich Menschen zu verhalten haben

− Verflechtung mit sozialen und ethischen Normen

− „Ideologieanfälligkeit“ der Psychiatrie (REITER-THEIL)

− Missbrauch

Ethische Herausforderung MENSCHENBILD?

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1. Der Mensch als Mensch-Maschine

Mechanistisches Menschenbild, Leitbild Effizienz

2. Der Mensch als souveräner Kunde Patient als Konsument, Leitbild Marktwirtschaft

3. Der Mensch als atomistisches Einzelwesen Individualistisches Menschenbild, Einzelentscheidung

4. Der Mensch als das Machbare Der Mensch als ein machbares Produkt, Machbarkeitsdenken Giovanni Maio

Menschenbilder in der Medizin

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Menschenbild und Willensfreiheit Gibt es einen freien Willen?

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Willensfreiheit

Ethische Aspekte

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Gibt es einen freien Willen?

Freiheit eine Illusion? Ja-Argumente (Wolf Singer, Gerhard Roth)

– Deterministisch strukturierten Welt – Selbsterleben gebunden an Hirnfunktionen – Neuronale Prozesse folgen Naturgesetzen – Sind deterministisch – Kein Platz für Freiheit von Entscheidungen oder Handlungen

Zweifel an Entscheidungsfreiheit Freier Wille vor den Traualtar: »Ja ich will»? G. Roth «Mensch ist nicht wirklich frei, wird von psychischen Extrembedingungen beherrscht: ist wahnsinnig verliebt und handelt im Affekt» «Entscheidungen mit kühlem Kopf frei füreinander sind nicht möglich».(Unbewusste Vorentscheidungen geprägt durch Gene, frühkindliche Einflüsse, Erfahrungen)

Willensfreiheit Philosophische Auseinandersetzung und wissenschaftliche Auseinandersetzung Empirische Wissenschaft −Feststellbare Fakten

Aufschluss darüber, ob Personen bestimmte Fähigkeiten haben und unter welchen Bedingungen sie davon Gebrauch machen können

Philosophisch −Begriffliche Normen

Frage nach dem, was unter Willensfreiheit zu verstehen ist bzw. welchen Kriterien eine Handlung entsprechen muss, um als frei zu gelten

Michael Pauen

Freiheit Abgrenzung von Freiheit gegenüber Zwang: Frei handelt eine Person nur dann, wenn sie autonom gegenüber

Zwang und äusserer Determination ist (Prinzip Autonomie)

Abgrenzung gegenüber Zufall Freie Handlungen müssen dem Prinzip der Urheberschaft

entsprechen Freiheit begründet Verantwortung

Michael Pauen

Drei Freiheitskriterien der Philosophie

Kriterium der Urheberschaft oder Autonomie Person muss Entscheidung oder Handlung verursacht haben

Kriterium des Alternativismus Person könnte auch anders handeln

Kriterium der Verantwortlichkeit Person fühlt sich für Handlung verantwortlich

Clemens Cording

Der Wille was ist das?

Wille ist ein Wunsch, der handlungswirksam wird, wenn die Umstände es erlauben und nichts dazwischen kommt

Unfreiheit: Wille wird gehindert, in eine Handlung zu

münden (Gelähmte will aufstehen, Gefangener will weglaufen)

Peter Bieri

Handlungsfreiheit

• Spielraum möglicher Handlungen, ist abhängig von Gelegenheiten Mittel Fähigkeiten Äussere Umstände Körperliche Bedürfnisse Charakter

«Die Grenzen, die dem Willen durch die Welt gezogen werden, sind kein Hindernis für die Freiheit, sondern deren Voraussetzung» Peter Bieri

Wille und Identität

Nur dadurch, dass ein Wille in einer Innenwelt mit festen Konturen verankert ist, ist er der Wille einer bestimmten Person, also überhaupt jemandes Wille

Welche meiner Wünsche sollen zu einem Willen werden und welche nicht? Durch Identifikation mit dem Willen entsteht Identität

Peter Bieri

Willensfreiheit und Bedingtheit

Freiheit des Willens liegt darin, dass er auf ganz bestimmte Weise bedingt ist: durch unser Denken und Urteilen

Freier Wille bildet sich unter Einfluss von Gründen, also durch Überlegen

Peter Bieri

Erfahrungen der Unfreiheit Der Getriebene (Wille passt sich allem an ohne

Eigenentscheidung) Der gedankliche Mitläufer (Gehirnwäsche, Sekten,

subtile Versklavung) Der erzwungene Wille (äussere Zwangslage,

Bedrohung) Der Unbeherrschte (führt nicht Regie über seinen Willen,

ohne Überlegungen, fehlende Kontrolle) Der zwanghafte Wille (Suchtleiden)

Peter Bieri

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Autonomie

Ethische Aspekte

Was bedeutet Autonomie?

Voluntaristische Fehlschluss

Paternalistische Fehlschluss

Naturalistische Fehlschluss

Autonomie

Wohl ohne Willen Ideal des Willens

Vom Ist zum Sollen

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Ethische Dilemma Situationen

Fürsorgeverpflichtungen

Abwehrrechte des Pat.

Autonomieanspruch - Autonomiefähigkeiten

Normative Ebene (SOLLEN): Anspruch auf Würde und Autonomie des Patienten

Deskriptive, empirische Ebene (IST): Tatsächliche Autonomiefähigkeiten und Abhängigkeiten des Patienten

Entscheidungsfindungs- prozess

Urteilsfähiger Patient: Anspruch auf „informed consent“ Nicht-urteilsfähiger Patient: Anspruch auf „mutmasslichen Willen“

Patientenempowerment

Autonomie und Abhängigkeit (1)

Urmenschliche Erfahrung der Abhängigkeit Sorgebedürftigkeit des Menschen Menschen sind «zeitgebundene Wesen mit

Bedürfnissen, beginnen ihr Leben als Säuglinge und erleben bis …Lebensende andere Formen der Angewiesenheit»

Martha C. Nussbaum

Autonomie und Abhängigkeit (2)

Menschen sind von ihrem Leib abhängige Wesen Leibliche Kondition geht unserem Selbstbewusstsein

und Handlungsfähigkeit voraus

Kranksein: Gefühl der Abhängigkeit Kranksein: Einschränkung der Handlungsfähigkeit

Jean-Pierre Wils, Ruth Baumann-Hölzle

Autonomie und Abhängigkeit (3)

Abhängigkeit

existentiell von Abläufen und Regeln

einer Institution

von der Hilfe anderer

Arzt-Patient-Verhältnis

Patient als Kunde

Patient als Partner

Patient als Der Andere

Wie werden wir dem Patienten als dem Anderen gerecht? Kranke Mensch: bildet Urszene der Moral ab in der

Gestalt des verletzten, des leidenden und des sterbenden Menschen

Unparteilichkeit als Standpunkt reicht nicht aus Welche Perspektive wir wählen hängt davon ab, welche

Bedeutung wir den Bedürfnissen und Möglichkeiten zuschreiben, die Menschen haben und haben können

Jean-Pierre Wils, Ruth Baumann-Hölzle

Was brauchen Patienten mit beeinträchtigter Urteilsfähigkeit und Autonomie? Bedürfnisse des Anderen erkennen

In Situation von Einschränkung haben Menschen

Anspruch auf Behandlung, die ihren «Möglichkeiten» entspricht

Haltung des Mitleids, des Respekts und des

Wohlwollens

Wie kann der Patientenwille herausgefunden werden?

Wille ist durch psychisches Leiden überdeckt

Wille im Zeitverlauf erschliessen

Zeitliche Dimension als Instrument der

Willensbestimmung akzeptieren

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