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Patrick Süskind

Der Kontrabaß

Diogenes

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Das Stück entstand 1980 und wurde am 22. September 1981 mitNikolaus Paryla als Regisseur und Darsteller des Kontrabassi-

sten im Cuvilliéstheater in München uraufgeführt.Bühnen-, Film-, Fernseh- und Funkrechte:

Stefani Hunzinger Bühnenverlag GmbH, Bad Homburg v. d. H.Umschlagmotiv von Sempé

Alle Rechte vorbehaltenCopyright © 1984 by

Diogenes Verlag AG Zürich200/89/8/13

ISBN 3 257 01658 1

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Der Kontrabaß

Zimmer. Eine Schallplatte wird gespielt, die Zweite Sinfonievon Brahms. Jemand summt mit. Schritte, die sich entfernen,wiederkommen. Eine Flasche wird geöffnet, der Jemandschenkt sich Bier ein.

Moment … gleich … – Jetzt! Hören Sie das? Da! Jetzt!Hören Sie’s? Gleich kommt’s nochmal, die gleiche Passage,Moment.

Jetzt! Jetzt hören Sie’s! Die Bässe meine ich. Die Kontra-bässe …

Er legt den Tonarm von der Platte. Ende der Musik.

… Das bin ich. Beziehungsweise wir. Die Kollegen und ich.Staatsorchester. Zweite von Brahms, es ist schon beeindruk-kend. In dem Fall waren wir zu sechst. Eine mittelstarke Be-setzung. Insgesamt sind wir acht. Manchmal werden wir ver-stärkt von außerhalb auf zehn. Auch zwölf ist schon vorge-kommen, das ist stark, kann ich Ihnen sagen,sehr stark. Zwölf Kontrabässe, wenn die wollen – theoretischjetzt –, die können Sie mit einem ganzen Orchester nicht inSchach halten. Schon rein physikalisch nicht. Da könnendie andern einpacken. Aber ohne uns geht erst recht nichts.Können Sie jeden fragen. Jeder Musiker wird Ihnengern bestätigen, daß ein Orchester jederzeit auf den Dirigen-ten verzichten kann, aber nicht auf den Kontrabaß. Jahrhun-derte-lang sind Orchester ohne Dirigenten ausgekommen. Der

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Dirigent ist ja auch musikentwicklungsgeschichtlich eine Er-findung aller jüngsten Datums. Neunzehntes Jahrhundert. Undauch ich kann Ihnen bestätigen, daß sogar wir im Staats-orchester gelegentlich vollständig am Dirigenten vorbeispielen.Oder über ihn hinweg. Manchmal spielen wir sogar über denDirigenten hinweg, ohne daß er es selber merkt. Lassen denda vorn hinpinseln, was er mag und rumpeln unsern Stiefelrunter. Nicht beim GMD. Aber bei einem Gastkapellmeisterjederzeit. Das sind geheimste Freuden. Kaum mitzuteilen. –Aber das am Rande.

Auf der andern Seite ist eines unvorstellbar, nämlich einOrchester ohne Kontrabaß. Man kann sogar sagen, daß Or-chester – Definition jetzt – überhaupt erst da anfängt, wo einBaß dabei ist. Es gibt Orchester ohne erste Geige, ohne Blä-ser, ohne Pauken und Trompeten, ohne alles. Aber nicht ohneBaß.

Worauf ich hinauswill, ist die Feststellung, daß der Kontra-baß das mit Abstand wichtigste Orchesterinstrument schlecht-hin ist. Das sieht man ihm nicht an.

Aber er bildet das gesamte orchestrale Grundgefüge, auf demdas übrige Orchester überhaupt erst fußen kann, Dirigent ein-geschlossen. Der Baß ist also das Fundament, auf dem sichdieses ganze herrliche Gebäude erhebt, bildlich. Nehmen Sieden Baß heraus, dann entsteht eine reinste babylonische Sprach-verwirrung, Sodom, in dem niemand mehr weiß, warum erüberhaupt Musik macht. Stellen Sie sich vor – Beispiel jetzt –Schubert h-Moll Sinfonie ohne Bässe. Eklatant. Sie können’svergessen. Sie können die gesamte Orchesterliteratur vonA bis Z – und zwar was Sie wollen: Sinfonie, Oper, Solisten-konzerte –, Sie können es so wie es ist wegschmeißen, wennSie keine Kontrabässe haben, so wie es ist. Und fragen Sieeinmal einen Orchestermusiker, wann er zum Schwimmenanfängt! Fragen Sie ihn! Wenn er den Kontrabaß nicht mehr

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hört. Ein Fiasko. In einer Jazzband ist das ja noch deutlicher.Eine Jazzband fliegt explosionsartig auseinander – bildlich jetzt–, wenn der Baß aussetzt. Den andern Musikern erscheint dannmit einem Schlag alles sinnlos. Im übrigen lehne ich Jazz ab,auch Rock und diese Dinge. Denn als ein im klassischen Sin-ne am Schönen, Guten und Wahren ausgerichteter Künstlerhüte ich mich vor nichts so sehr wie vor der Anarchie der frei-en Improvisation. Aber das am Rande. –

Ich wollte nur einleitend feststellen, daß der Kontrabaß daszentrale Orchesterinstrument ist. Im Grunde weiß das auchjeder. Es gibt bloß keiner offen zu, weil der Orchestermusikernaturgemäß leicht eifersüchtig ist. Wie stünde unser Konzert-meister mit seiner Violine da, wenn er zugeben müßte, daß erohne den Kontrabaß dastünde wie der Kaiser ohne Kleider –ein lächerliches Symbol der eigenen Unwichtigkeit und Eitel-keit? Nicht gut stünde er da.

Gar nicht gut. Ich darf einen Schluck trinken …

Er trinkt einen Schluck Bier.

… Ich bin ein bescheidener Mensch. Aber als Musiker weißich, was der Boden ist, auf dem ich stehe; die Muttererde, indie hinein wir alle verwurzelt sind; der Kraftquell, aus demheraus sich jeder musikalische Gedanke speist; der eigentlichzeugende Pol, aus dessen Lenden – bildlich – der musikali-sche Same quillt … – das bin ich! – Ich meine der Baß ist das.Der Kontrabaß. Und alles andere ist Gegenpol. Alles anderewird erst durch den Baß zum Pol. Zum Beispiel Sopran. Operjetzt. Sopran als – wie soll ich sagen … wissen Sie, wir habenda jetzt eine junge Sopranistin an der Oper, Mezzosopran, –ich habe eine Menge Stimmen gehört, aber das ist wirklichanrührend. Ich fühle mich zutiefst angerührt von dieser Frau.Ein Mädchen beinahe noch, Mitte zwanzig. Ich selbst bin fünf-unddreißig. Im August werde ich sechsunddreißig. Immer in

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den Orchesterferien. Eine herrliche Frau. Beflügelnd … dasam Rande. –

Also: Sopran – jetzt Beispiel – als das entgegengesetzteste,was sich zum Kontrabaß denken läßt, menschlich und instru-mentell-klanglich, wäre dann … wäre dann dieser Sopran …oder Mezzosopran … genau jener Gegenpol, von dem aus… oder besser: zu dem hin … oder mit dem vereint der Kon-trabaß … ganz unwiderstehlich – quasi – den musikalischenFunken schlägt, von Pol zu Pol, von Baß zu Sopran – oderMezzo hinaufzu, aufwärts – allegorisch die Lerche … gött-lich, hoch da droben, in universaler Höhe, ewigkeitsnah, kos-misch, sexuell-erotisch-unendlich-triebhaft, gleichsam … unddoch eingebunden in das Spannungsfeld des Magnetpols, dervom Sockel des erdnahen Kontrabasses abstrahlt, archaisch,der Kontrabaß ist archaisch, wenn Sie verstehen, was ich mei-ne … Und nur so ist Musik möglich. Denn in dieser Span-nung von hier und dort, von hoch und tief, da spielt sich allesab, was einen Sinn hat in der Musik, da zeugt sich musikali-scher Sinn und Leben, ja Leben schlechthin. – Also ich sageIhnen, diese Sängerin – das beiseite –, sie heißt übrigens Sa-rah, ich sage Ihnen, die kommt einmal ganz groß raus. Wennich was verstehe von Musik, und ich verstehe etwas davon,dann kommt die ganz groß raus. Und dazu tragen wir bei, wirvom Orchester, und jetzt speziell wir Kontrabassisten, alsoich. Das ist schon eine befriedigende Sache. Gut. Also Reka-pitulation jetzt: Der Kontrabaß ist das grundlegende Orchester-instrument wegen seiner fundamen-talen Tiefe. In einem Wortist der Kontrabaß das tiefste Streichinstrument. Er geht hin-unter bis zum Kontra-E. Ich darf Ihnen das vielleicht einmalvorspielen … Moment …

Er nimmt noch einen Schluck Bier, steht auf, nimmt sein In-strument, spannt den Bogen.

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… übrigens ist bei meinem Baß das Beste der Bogen. EinPfretzschner-Bogen. Der ist heut seine zweieinhalbtausendwert. Gekauft hab ich ihn für dreihundertfuchzig. Es ist ja einWahnsinn, wie die Preise in den letzten zehn Jahren gestiegensind auf dem Gebiet. Naja. –

Also jetzt passen’S auf! …

Er spielt die tiefste Saite.

… Hören’S das? Kontra-E. Exakt 41,2 Hertz, wenn er rich-tig gestimmt ist. Gibt auch Bässe, die noch tiefer gehen. BisKon-tra-C oder sogar Subkontra-H. Das wären dann 30,9 Hertz.Aber dafür braucht man einen Fünf-Saiter. Meiner hat vier.Fünf würde meiner nicht aushalten, da würde es ihn zerrei-ßen. Im Orchester haben wir welche mit fünf, man braucht’sfür Wagner beispielsweise. Klingen tut’s nicht besonders, weil30,9 Hertz ist eh kein Ton mehr in dem Sinn, können’S sichvorstellen, wo schon das …

Er spielt abermals das E.

… kaum mehr ein Ton ist, mehr eine Reiberei, etwas, wiesoll ich sagen, etwas Notgedrungenes, das schwirrt mehr alses klingt. Also mir reicht mein Tonumfang vollständig. Nachoben hin sind mir nämlich theoretisch keine Grenzen gesetzt,bloß praktisch. Also beispielsweise kann ich, wenn ich dasGriffbrett voll ausnutze bis c-drei spielen …

Er spielt.

… so, c-drei, dreigestrichenes c. Und jetzt werden Sie sa-gen ›Ende‹, weil weiter als das Griffbrett reicht, kann man jakeine Saite drücken. Denken Sie! Und jetzt – …

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Er spielt Flageolett.

… und jetzt? …

Er spielt noch höher.

… und jetzt? …

Er spielt noch höher.

… Flageolett. So heißt das Verfahren. Finger drauflegen undObertöne herauskitzeln. Wie es physikalisch funktioniert, kannich Ihnen jetzt nicht erklären, das führt zu weit, das können’Sdann anschließend selber im Lexikon nachschaun. Jedenfallskönnte ich da theoretisch so hoch spielen, daß man’s nichtmehr hört. Moment …

Er spielt einen unhörbar hohen Ton.

… Hören Sie? Das hören Sie nicht mehr. Sehen Sie! Sovielsteckt drin im Instrument, theoretisch-physikalisch. Nur her-auskriegen tut man es nicht, praktisch-musikalisch. Das istbei den Bläsern nicht anders. Und beim Menschen überhaupt– jetzt sinnbildlich. Ich kenne Menschen, in denen steckt einganzes Universum, unermeßlich. Aber herauskriegen tut manes nicht. Ums Verrecken nicht. Das am Rande. –

Vier Saiten. E – A – D – G …

Er spielt sie pizzicato.

… Alles Stahl mit Chrom umsponnen. Früher Darm. Aufder G-Saite, also hier oben, wird man hauptsächlich solistischtätig, wenn man kann. Kostet ein Vermögen, eine Saite. Ichglaube, ein Satz Saiten kostet heute hundertsechzig Mark. Wo

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ich angefangen habe, hat er vierzig gekostet. Es ist ein Wahn-sinn, die Preise. Gut. Also vier Saiten, Quartenstimmung E –A – D – G, respektive beim Fünfsaiter noch C oder H. Das istheut uniform so von Chikago-Symphonie bis Moskauer Staats-orchester. Aber bis dahin waren das Kämpfe. VerschiedeneStimmungen, verschiedene Saitenzahl, verschiedene Größe –es gibt kein Instrument, bei dem es soviele Typen gegeben hatwie beim Kontrabaß – Sie erlauben, daß ich nebenher Biertrinke, ich habe einen wahnsinnigen Flüssigkeitsverlust. Im17. und 18. Jahrhundert das reinste Chaos: Baßgambe, Groß-baßviola, Violone mit Bünden, Subtraviolone ohne Bünde,Terz-Quart-Quintenstimmung, drei-, vier-, sechs-, achtsaitig,f-Schallöcher, c-Schalllöcher – zum Wahnsinnig-werden. Nochbis ins 19. Jahrhundert haben Sie in Frankreich und Englandeinen Dreisaiter in Quintenstimmung; in Spanien und Italieneinen Dreisaiter in Quartenstimmung; und in Deutschland undÖsterreich einen Viersaiter in Quarten-stimmung. Wir habenuns dann durchgesetzt mit dem quartenstimmigen Viersaiter,weil wir in der Zeit einfach die bessern Komponisten gehabthaben. Obwohl ein dreisaitiger Baß besser klingt. Nicht sokratzig, melodiöser, einfach schöner. Aber dafür haben wirHaydn gehabt, Mozart, die Bachsöhne. Später Beethoven unddie ganze Romantik. Denen war das Wurscht wie der Baßklingt. Für die war der Baß nichts als ein Geräuschteppich,auf den sie ihre sinfonischen Werke hinstellen konnten – prak-tisch das Größte, was bis auf den heutigen Tag auf dem Ge-biet der Musik zu hören ist. Das steht ungelogen auf den Schul-tern des viersaitigen Kontra-Basses, seit 1750 bis ins zwan-zigste Jahrhundert, die gesamte orchestrale Musik aus zweiJahrhunderten. Und mit dieser Musik haben wir den Dreisaiterhinweggefegt.

Er hat sich natürlich gewehrt, können Sie sich vorstellen. InParis, am Konservatorium und an der Oper, haben sie bis 1832noch den Dreisaiter gespielt. 1832 ist Goethe gestorben, be-

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kanntlich. Aber dann hat Cherubini damit aufgeräumt. LuigiCherubini. Ein Italiener zwar, aber musikalisch ganz mittel-europäisch ausgerichtet. Flog auf Gluck, Haydn, Mozart. Erwar damals Obermusikintendant in Paris. Und er hat durch-gegriffen. Können’S sich vorstellen, was los war. Ein Auf-schrei der Empörung ging durch die Reihen der französischenKontrabassisten, daß ihnen der germanophile Italiener denDreisaiter wegnimmt. Der Franzose empört sich ja gern. Wennirgendwo eine revolutionäre Stimmung aufkommt, ist der Fran-zose ja dabei. Das war im 18. Jahrhundert so, im 19. Jahrhun-dert war das so, und das geht durch bis ins 20. Jahrhundert,bis in unsere Tage. Ich war Anfang Mai in Paris, da hat ge-streikt die Müllabfuhr, dieU-Bahn, dreimal am Tag haben sie den Strom abgestellt unddemonstriert, 15000 Franzosen. Sie können sich nicht vor-stellen, wie hinterher die Straßen ausgeschaut haben. KeinLaden, den sie nicht demoliert haben, Schaufenster zerschmis-sen, Autos zerkratzt, Plakate und Papier und alles möglicheherumgeschmissen und einfach liegenlassen – also ich mußsagen, beängstigend. Naja. Damals jedenfalls, 1832, hat esihnen nichts genutzt. Der dreisaitige Kontrabaß ist verschwun-den, endgültig. War ja auch kein Zustand, diese Vielfalt. Ob-wohl es schade ist drum, denn er hat einfach wesentlich bes-ser geklungen als … der da …

Er rumpelt an seinem Kontrabaß.

… Geringerer Tonumfang. Aber besser im Klang …

Er trinkt.

… Schauen Sie – aber so ist das häufig. Das Bessere stirbtab, weil ihm der Zug der Zeit entgegensteht. Und dieser wälztalles nieder. In dem Fall waren es unsere Klassiker, die alles,

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was sich ihnen entgegenstellte gnadenlos niedermachten. Nichtbewußt. Das möchte ich nicht sagen. Unsere Klassiker waren,für sich genommen, jeweils anständige Menschen. Schuberthätte keiner Fliege etwas zuleide tun können, und Mozart warzwar manchmal etwas derb, aber auf der andern Seite ein hoch-sensibler Mensch und überhaupt nicht gewalttätig. Auch Beet-hoven nicht. Trotz seinen Wutanfällen. Beethoven hat bei-spielsweise mehrere Klaviere zusammengeschlagen. Aber nieeinen Kontrabaß, das muß man ihm zugute halten. Er hat al-lerdings auch keinen gespielt. Der einzige bessere Kompo-nist, der Kontrabaß gespielt hat, war Brahms, … beziehungs-weise sein Vater. – Beethoven hat überhaupt kein Streichin-strument gespielt, bloß Klavier, das wird heute gern verges-sen. Im Gegensatz zu Mozart, der fast so gut Geige wie Kla-vier gespielt hat. Meines Wissens war Mozart überhaupt dereinzige größere Komponist, der sowohl seine eigenen Kla-vierkonzerte als auch seine eigenen Violinkonzerte spielenkonnte. Höchstens Schubert noch, zur Not. Zur Not! Er hatbloß keine geschrieben. Und er war auch kein Virtuose. Nein,ein Virtuose war Schubert wirklich nicht. Schon vom Typ hernicht und auch technisch. Können Sie sich Schubert als Vir-tuosen vorstellen? Ich nicht. Eine recht ansprechende Stimmehat er gehabt, weniger solistisch als im Männergesang-verein.Zeitweise hat Schubert jede Woche Quartett gesungen, übri-gens mit Nestroy zusammen. Das haben Sie wahrscheinlichnicht gewußt. Nestroy als Baßbariton und Schubert als … –aber das gehört ja alles nicht hierher. Das hat ja nichts zu tunmit dem Problem was ich schildere. Ich meine, wenn es Sieinteressiert, welche Stimmlage Schubert gehabt hat, bittesehr,das können Sie schließlich in jeder Biographie nachlesen.Brauch ich Ihnen nicht erzählen. Schließlich bin ich keinmusikalisches Auskunftsbüro. –

Der Kontrabaß ist das einzige Instrument, das man umsobesser hört, je weiter man davon entfernt ist, und das ist pro-

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blematisch. Schauen Sie, ich habe hier bei mir zuhause allesausgelegt mit Akustikplatten, Wände, Decken, Boden. Die Türist doppelt und innen versteppt. Fenster aus doppeltem Spezial-glas mit gedämmtem Rahmen. Hat ein Vermögen gekostet.Aber ein Schallschutzwert von über 95%. Hören Sie was vonder Stadt? Ich wohne hier mitten in der Stadt. Das glauben Sienicht? Moment! …

Er geht zum Fenster und öffnet es. Barbarischer Lärm vonAutos, Baustellen, Müllabfuhr, Preßlufthämmern etc. dringtherein.

Brüllt.

… Hören Sie das? Das ist so laut wie das Te Deum vonBerlioz. Bestialisch. Sie reißen drüben das Hotel ab, und vornan der Kreuzung kommt seit zwei Jahren eine U-Bahn-Stationhin, darum wird jetzt der Verkehr hier bei uns unten vorbeige-leitet. Außerdem ist heute Mittwoch, da kommt die Müllab-fuhr, das ist dieses rhythmische Schlagen … da! Dieses Schmet-tern, dieses brutale Hinschlagen, circa 102 Dezibel. Ja. Ichhab’s einmal gemessen. Ich glaube, jetzt reicht es wieder. Ichkann jetzt wieder zumachen …

Er schließt das Fenster. Stille. Er redet leise weiter.

… So. Jetzt sagen Sie nichts mehr. Ist das eine Schalldäm-mung? Man fragt sich, wie die Leute früher gelebt haben. WeilSie brauchen nicht glauben, daß es früher weniger Lärm gege-ben hat als heute. Wagner schreibt, daß er in ganz Paris keineWohnung hat finden können, weil in jeder Straße ein Blech-schmied gearbeitet hat, und Paris hatte meines Wissens da-mals schon über eine Million Einwohner, nicht wahr. Also einBlechschmied – ich weiß nicht, wer es schon einmal gehört

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hat, das ist wohl das infernalischste an Lärm, was einem Mu-siker begegnen kann. Ein Mensch, der permanent mit einemHammer auf ein Stück Metall haut! Die Leute haben ja da-mals von Sonnenaufgang bis Sonnen-untergang gearbeitet.Angeblich wenigstens. Dazu das Dröhnen der Kutschen aufdem Kopfsteinpflaster, das Brüllen der Marktschreier und dieständigen Schlägereien und Revolutionen, die ja in Frankreichvom Volk gemacht werden, vom einfachen Volk, von den drek-kigsten Proleten auf der Straße, bekanntlich. In Paris wurdeaußerdem schon Ende des 19. Jahrhunderts eine U-Bahn ge-baut, und Sie brauchen nicht glauben, daß das früher wesent-lich leiser abgegangen ist als heute. Im übrigen stehe ich Wag-ner skeptisch gegenüber, aber das am Rande. –

So, und jetzt passen Sie auf! Jetzt machen wir einen Test.Mein Baß ist ein ganz normales Instrument. Baujahr 1910,circa, Südtirol wahrscheinlich, 1.12 Korpushöhe, bis zurSchnecke hinauf 1.92, Länge der schwingenden Saite ein Me-ter zwölf. Kein überragendes Instrument, aber sagen wir obe-rer Durchschnitt, ich könnt heute achteinhalbtausend dafürverlangen. Gekauft hab ich ihn für dreizwo. Ein Wahnsinn.Gut. Ich spiele Ihnen jetzt einen Ton, irgendwas, sagen wirtiefes F …

Er spielt leise.

… So. Das war jetzt pianissimo. Und jetzt spiele ichpiano …

Er spielt ein wenig lauter.

… Lassen Sie sich nicht stören durch das Reiben. Das ge-hört so. Einen reinen Ton, also nur Schwingung ohne das Rei-ben vom Bogenstrich, das gibt’s auf der ganzen Welt nicht,nicht einmal bei Yehudi Menuhin. So. Und jetzt passen Sie

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auf, jetzt spiel ich zwischen mezzoforte und forte. Und wiegesagt: voll schallisolierter Raum …

Er spielt noch ein wenig lauter.

… So. Und jetzt müssen wir kurz warten … Moment noch… gleich kommt’s …

Von der Decke her ist ein Klopfen zu hören.

.. .Da! Hören Sie! Das ist die Frau Niemeyer von oben. Wenndie das geringste hört, dann klopft sie, dann weiß ich, daß ichdie Grenze zum mezzoforte überschritten habe. Sonst eine netteFrau. Dabei klingt es hier, wenn man daneben steht, nicht über-mäßig laut, eher diskret. Wenn ich jetzt zum Beispiel fortissi-mo spiele … Moment …

Er spielt jetzt so laut er kann und schreit, um den dröhnen-den Baß zu übertönen.

… klingt nicht übermäßig laut, würde man sagen, aber dasgeht jetzt hinauf bis über die Frau Niemeyer und hinunter biszum Hausmeister und hinüber bis ins Nachbarhaus, die rufendann später an …

Ja. Und das ist es, was ich die Durchschlagskraft des Instru-mentes nenne. Kommt von den tiefen Schwingungen. EineFlöte meinetwegen oder Trompete klingt lauter – denkt man.Stimmt aber nicht. Keine Durchschlagskraft. Keine Tragwei-te. Kein body, wie der Amerikaner sagt: Ich hab body, bezie-hungsweise mein Instrument hat body. Und das ist das einzi-ge, was mir daran gefällt. Sonst hat es nämlich nichts. Sonstist es eine einzige Katastrophe.

Erlegt das Vorspiel zu ›Die Walküre‹ auf.

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Vorspiel zu Walküre. Wie wenn der weiße Hai kommt. Kon-trabaß und Cello unisono. Von den Noten die dastehen spielenwir vielleicht fünfzig Prozent. Das da …

Er singt die Baßfigur nach.

… dieses Hinaufwischen, das sind in Wirklichkeit Quinto-len und Sextolen. Sechs einzelne Töne! In dieser rasendenGeschwindigkeit! Vollkommen unspielbar. Man wischt es halthin. Ob das dem Wagner klar war, wissen wir nicht. Wahr-scheinlich nicht. Auf jeden Fall war es ihm Wurscht. Er hat jaüberhaupt das Orchester verachtet. Daher auch die Abdeckungin Bayreuth, angeblich aus Klanggründen. In Wirklichkeit ausVerachtung des Orchesters. Und haupt-sächlich ist es ihm jaauf das Geräusch angekommen, Theatermusik eben, verste-hen Sie, Klangkulisse, Gesamt-kunstwerk und so weiter. Dereinzelne Ton spielt da überhaupt keine Rolle mehr. Das Glei-che übrigens in der Sechsten von Beethoven, oder Rigolettoletzter Akt – wenn ein Gewitter aufzieht, dann schreiben sie indie Partitur hemmungslos Noten hinein, die kein Baß auf derganzen Welt jemals spielen kann. Keiner. Uns wird überhaupteiniges zugemutet. Wir sind sowieso diejenigen, die sich ammeisten anstrengen müssen. Ich bin nach einem Konzert voll-ständig durchgeschwitzt, ich kann kein Hemd zweimal anzie-hen. Ich verliere bei einer Oper durchschnittlich zwei LiterFlüssigkeit; bei einem Sinfonie-konzert immerhin noch einenLiter. Ich kenne Kollegen, die machen Waldlauf und Hantel-training. Ich selber nicht. Aber mich wird es eines Tages mit-ten im Orchester so zusammenhaun, daß ich mich nicht mehrdavon erhole. Weil Kontrabaß spielen ist eine reine Kraftsache,mit Musik hat das erst einmal nichts zu tun. Drum kann auchein Kind nie im Leben Kontrabaß spielen. Ich selbst habe mitsiebzehn angefangen. Jetzt bin ich fünfunddreißig. Freiwillig

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bin ich nicht dazugekommen. Eher wie die Jungfrau zum Kind,aus Zufall. Über Blockflöte, Geige, Posaune und Dixieland.Aber das ist lange her, und mittlerweile lehne ich Jazz ab.Übrigens kenne ich keinen Kollegen, der freiwillig zum Kon-trabaß gekommen wäre. Und irgendwie leuchtet das ja auchein. Das Instrument ist nicht gerade handlich. Ein Kontrabaßist mehr, wie soll ich sagen, ein Hindernis als ein Instrument.Das können Sie nicht tragen, das müssen Sie schleppen, undwenn’s hinfällt, zerreißt’s ihn. Ins Auto geht er nur hinein, wennSie den rechten Vordersitz heraustun. Praktisch ist der Wagendann voll. In der Wohnung müssen Sie ihm immer auswei-chen. Er steht so … so blöd herum, wissen Sie, aber nicht wieein Klavier. Ein Klavier ist ja ein Möbel. Ein Klavier könnenSie zumachen und stehenlassen. Ihn nicht. Er steht immer her-um wie … Ich hab einmal einen Onkel gehabt, der war stän-dig krank und hat sich ständig beklagt, daß keiner sich um ihnkümmert. So ist der Kontrabaß. Wenn Sie Gäste haben, spielter sich sofort in den Vordergrund. Alles spricht bloß noch überihn. Wenn Sie mit einer Frau allein sein wollen, steht er dabeiund überwacht das Ganze. Werden Sie intim – er schaut zu.Sie haben immer das Gefühl, er macht sich lustig, er machtden Akt lächerlich. Und dieses Gefühl überträgt sich natürlichauf die Partnerin, und dann – Sie wissen selbst, die körperli-che Liebe und die Lächerlichkeit, wie eng liegt das zusammenund wie schlecht verträgt es sich! Wie miserabel! Es gehörtsich einfach nicht. Entschuldigen Sie …

Er stellt die Musik ab und trinkt.

… Ich weiß. Das gehört nicht hierher. Es geht Sie im Grun-de auch nichts an. Vielleicht belastet Sie das bloß. Und Siewerden Ihre eigenen Probleme haben auf dem Gebiet. Aberich darf mich aufregen. Und ich möchte auch das Recht habenein Mal ein deutliches Wort sagen, damit man nicht glaubt, als

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Mitglied des Staatsorchesters hätte man solche Probleme nicht.Weil ich habe seit zwei Jahren keine Frau mehr gehabt undschuld ist er! Das letzte Mal war 1978, da habe ich ihn im Badversteckt, aber es hat nichts geholfen, sein Geist schwebte überuns wie eine Fermate …

Wenn ich noch ein Mal eine Frau bekomme – es ist nichtwahrscheinlich, weil ich bin schon fünfunddreißig; aber esgibt welche, die schaun schlechter aus als ich, und ich binimmerhin Beamter, und ich kann mich noch verlieben! –

Wissen Sie … ich habe mich verliebt. Oder verschaut, ichweiß es nicht. Und sie weiß es auch noch nicht. Es ist die …wo ich vorhin gesagt habe … vom Ensemble an der Oper,diese junge Sängerin, Sarah heißt sie … – Es ist alles sehrunwahrscheinlich, aber wenn … wenn es einmal so weit kom-men sollte, jemals, dann bestehe ich darauf, daß wir es bei ihrmachen. Oder im Hotel. Oder außerhalb, auf dem Land, wennes nicht regnet …

Wenn er eines nicht verträgt, dann ist es Regen, bei Regengeht er ein, beziehungsweise auf, es schwemmt ihn auf, dasmag er überhaupt nicht. Genauso wie Kälte. Bei Kälte, daverzieht er sich. Dann können Sie ihn mindestens zwei Stun-den temperieren vor dem Spielen. Früher, wo ich noch imKammerorchester war, haben wir jeden zweiten Tag in derProvinz gespielt, in irgendwelchen Schlössern oder Kirchen,auf Winterfestspielen – Sie glauben ja nicht, was es alles gibt.Jedenfalls habe ich immer Stunden früher hinausfahren müs-sen als die andern, allein im VW, damit ich meinen Baß tem-perieren kann, in grauslichen Wirtshäusern; oder in der Sakri-stei am Heizofen; wie einen alten Kranken. Ja, das verbindet.Das schafft Liebe, kann ich Ihnen sagen. Einmal sind wirhängengeblieben, im Dezember 74, zwischen Ettal undOberau, im Schneesturm. Zwei Stunden haben wir auf denAbschleppdienst gewartet. Und ich habe ihm meinen Mantelabgetreten. Ihn mit meinem eigenen Körper gewärmt. Beim

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Konzert war er dann temperiert, und in mir keimte bereits eineverheerende Grippe auf. Sie erlauben, daß ich trinke. –

Nein, geboren wird man wirklich nicht zum Kontrabaß. DerWeg dorthin führt über Umweg, Zufall und Enttäuschung. Ichdarf sagen, daß bei uns im Staatsorchester von acht Kontra-bassisten nicht einer ist, den das Leben nicht gebeutelt hätteund dem die Schläge, die es ihm ausgeteilt hat, nicht nochheute ins Gesicht geschrieben stünden. Ein typisches Kontra-bassisten-Schicksal ist zum Beispiel meines: Dominanter Va-ter, Beamter, unmusisch; schwache Mutter, Flöte, musischversponnen; ich als Kind liebe die Mutter abgöttisch; die Mutterliebt den Vater; der Vater liebt meine kleinere Schwester; michliebte niemand – subjektiv jetzt. Aus Haß auf den Vater be-schließe ich, nicht Beamter, sondern Künstler zu werden; ausRache an der Mutter aber am größten, unhandlichsten,unsolistischsten Instrument; und um sie quasi tödlich zu krän-ken und zugleich dem Vater noch einen Fußtritt übers Grabhinweg zu versetzen, werde ich nun doch Beamter: Als Kon-trabassist im Staatsorchester, drittes Pult. Als solcher verge-waltige ich täglich in der Gestalt des Kontrabasses, des größ-ten der weiblichen Instrumente – formmäßig jetzt –, meineeigene Mutter, und dieser ewige inzestuöse symbolische Ge-schlechtsverkehr ist natürlich eine jedmalige moralische Ka-tastrophe, und diese moralische Katastrophe steht jedem vonuns Bassisten ins Gesicht geschrieben. Soviel zur psychoana-lytischen Seite des Instruments. Bloß hilft diese Erkenntnisnicht viel, weil … die Psychoanalyse ist ja am Ende. Das wis-sen wir ja heute, daß die Psychoanalyse am Ende ist, und diePsychoanalyse selbst weiß es auch. Weil, erstens wirft die Psy-choanalyse viel mehr Fragen auf, als sie selber lösen kann,wie eine Hydra – bildlich jetzt –, die sich selbst den Kopfabschlägt, und das ist der innere nie zu lösende Widerspruchder Psychoanalyse, an dem sie selbst erstickt, und zweitens istdie Psychoanalyse heute ja Allgemeingut. Das weiß ja heute

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jeder. Im Orchester sind ja von hundertsechsundzwanzig Mit-gliedern über die Hälfte in der Psychoanalyse. Da können Siesich vorstellen, daß heute das, was vielleicht vor hundert Jah-ren noch eine sensationelle wissenschaftliche Entdeckung ge-wesen wäre oder hätte sein können, heutzutage dermaßen nor-mal ist, daß sich darüber kein Mensch mehr aufregt. Oderwundert Sie das, daß heute zehn Prozent depressiv sind? Wun-dert Sie das? Mich wundert das nicht. Sehen Sie. Und dazubrauche ich keine Psychoanalyse. Viel wichtiger wäre es – wowir schon einmal dabei sind –, wenn wir vor hundert bis hun-dertfünfzig Jahren eine Psychoanalyse gehabt hätten. Dannwäre uns beispielsweise von Wagner einiges erspart geblie-ben. Der Mann war doch hochneurotisch. Ein Werk wie Tri-stan beispielsweise, das größte, was er zustande gebracht hat,wie ist denn das entstanden? Doch nur deshalb, weil er es mitder Frau von einem Freund getrieben hat, der ihn jahrelangausgehalten hat. Jahrelang. Und dieser Betrug, dieser, wie sollich sagen, diese schäbige Verhaltensweise hat ihn selber der-maßen vor sich selbst gewurmt, daß er daraus gleich die an-geblich größte Liebestragödie aller Zeiten machen mußte. To-tale Verdrängung durch totale Sublimierung. ›Höchste Lust‹et cetera, kennen Sie. Ehebruch war ja damals noch eine au-ßergewöhnliche Sache. Und jetzt stellen Sie sich vor, Wagnerwäre damit zum Analytiker gegangen! Ja – eins ist klar: DenTristan hätte es dann nicht gegeben. Soviel steht fest, denndazu hätte die Neurose dann nicht mehr ausgereicht. – Er hatja übrigens auch seine Frau geschlagen, der Wagner. Die erstenatürlich. Die zweite nicht. Die bestimmt nicht. Aber die erstehat er geschlagen. Überhaupt ein unangenehmer Mensch.Scheißfreundlich hat er sein können, wahnsinnig scharmant.Aber unangenehm. Ich glaube, er hat sich selbst nicht leidenkönnen. Hat ja auch dauernd Gesichtsausschläge gekriegt vorlauter … Ekelhaftigkeit. Naja. Aber die Frauen haben ihnmögen, reihenweise. Starke Anziehung auf Frauen ausgeübt,

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der Mann. Unbegreiflich …

Er überlegt.

… Die Frau spielt ja in der Musik eine untergeordnete Rol-le. In der schöpferischen Musikgestaltung, meine ich, in derKomposition. Spielt die Frau eine untergeordnete Rolle. Oderkennen Sie eine namhafte Komponistin? Eine einzige? SehenSie! Haben Sie darüber schon einmal nachgedacht? Darübersollten Sie einmal nachdenken. Über das Weibliche in derMusik schlechthin, vielleicht. Jetzt ist ja der Kontrabaß einweibliches Instrument. Trotz seinem grammatikalischen Ge-schlecht ein weibliches Instrument – aber ein todernstes. Wieja auch der Tod – jetzt assoziativer Gefühlswert – weiblich istin seiner bergenden Grausamkeit oder – wie man will – seinerunausweichlichen Schoßfunktion; zum andern auch als dasKomplementäre zum Lebensprinzip, Fruchtbarkeit, Mutter-erde und so weiter, hab ich recht? Und in dieser Funktion –jetzt wieder musikalisch zu reden – bekämpft der Kontrabaßals Todessymbol das absolute Nichts, in das Musik und Le-ben gleichermaßen zu versinken drohen. Wir, die Kontrabas-sisten, sind so gesehen die Zerberusse an den Katakombendes Nichts, oder andersherum der Sisyphos, der die Sinnes-last der ganzen Musik auf den Schultern den Berg hinaufwälzt,bitte stellen Sie sich das bildlich vor!, verachtet, angespienund mit zerhackter Leber – nein, das war der andere … Pro-metheus war das – apropos: Letzten Sommer waren wir mitder gesamten Staatsoper in Orange, Südfrankreich, Festspie-le. Extra Vorstellung von Siegfried, bitte sich das vorzustel-len: Im Amphitheater von Orange, einem annähernd zweitau-send Jahre alten Gebäude, klassisches Bauwerk aus einer derzivilisiertesten Epochen der Menschheit, unter den Augen desKaisers Augustus, tobt das germanische Göttervolk, schnaubtder Lindwurm, flegelt Siegfried über die Bühne, grob, fett,

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»boche«, wie die Franzosen sagen … – Wir bekamen zwölf-hundert Mark pro Mann, aber mir war diese ganze Vorstel-lung so peinlich, daß ich höchstens ein Fünftel der Noten spiel-te. Und hinterher – wissen Sie, was wir hinterher gemachthaben? Wir alle vom Orchester? Besoffen haben wir uns, wiedie Proleten haben wir uns aufgeführt, gegrölt bis drei Uhrnachts, voll boche, die Polizei hat kommen müssen, wir wa-ren so verzweifelt. Leider, die Sänger haben sich damals wo-anders besoffen, sie sitzen nie zusammen mit uns vom Orche-ster. Sarah – Sie wissen schon, diese junge Sängerin – ist auchbei denen gesessen. Sie hat Waldvögelein gesungen. Die Sän-ger haben auch in einem ändern Hotel gewohnt. Sonst wärenwir uns vielleicht damals begegnet …

Ein Bekannter von mir hat einmal was gehabt mit einer Sän-gerin, eineinhalb Jahre lang, aber er war Cellist. Ein Cello istja nicht so sperrig wie ein Baß. Das stellt sich nicht so derma-ßen mächtig zwischen zwei Menschen, die sich lieben. Oderlieben wollen. Da gibts auch jede Menge Solostellen für Cel-lo – Prestige jetzt –, Tschaikowskij Klavierkonzert, SchumannVierte Sinfonie, Don Carlos und so weiter. Und trotzdem, ichsage Ihnen, mein Bekannter ist völlig zermürbt worden vonseiner Sängerin. Er hat Klavier lernen müssen, damit er siebegleiten kann. Sie verlangte es einfach von ihm, und aus lau-ter Liebe – jedenfalls war der Mann nach kürzester Zeit derKorrepetitor der Frau, die er liebte. Ein miserabler übrigens.Wenn sie zusammen gespielt haben, war sie ihm turmhochüberlegen. Sie erniedrigte ihn förmlich, das ist die Kehrseitedes Monds der Liebe. Dabei war er, was das Cello anlangt,der bessere Virtuose als sie mit ihrem Mezzosopran, weitausbesser, kein Vergleich. Aber er mußte sie ja unbedingt beglei-ten, er wollte ja unbedingt mit ihr spielen. Und für Cello undSopran gibt’s nicht viel. Sehr wenig. Fast so wenig wie fürSopran und Kontrabaß …

Wissen Sie, ich bin sehr oft einsam. Sitze meistens allein

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bei mir zuhause, wenn ich dienstfrei habe, höre dann ein paarPlatten, übe gelegentlich, Spaß macht es mir keinen, es istimmer dasselbe. Heute abend haben wir Festspielpremiere vonRheingold; mit Carlo Maria Giulini als Gastdirigent und demMinisterpräsidenten in der ersten Reihe; das Feinste vom Fei-nen, Karten kosten bis dreihundertfünfzig Mark, ein Wahn-sinn. Aber mir ist das Wurscht. Ich üb’ auch nicht. Wir sind zuacht bei Rheingold, da ist es eh Wurscht, was der einzelnespielt. Wenn der Stimmführer einigermaßen spielt, schwingtsich der Rest mit ein … Sarah singt auch mit. Wellgunde.Gleich am Anfang. Eine große Partie für sie, es könnte ihrDurchbruch werden. Freilich ein Jammer, daß man seinenDurchbruch mit Wagner haben muß. Aber man kann es sichnicht aussuchen. Dort nicht und hier nicht. – Normalerweisehaben wir von zehn bis eins Probe und dann abends von sie-ben bis zehn Vorstellung. Den Rest der Zeit sitz ich zu Hause,hier in meinem Akustikzimmer. Ich trinke einige Bier wegendem Feuchtigkeitsverlust. Und manchmal setz ich ihn dann inden Korbstuhl da drüben, lehne ihn so hinein, den Bogen legich ihm daneben, und ich setz mich hierher in den Lehnsessel.Und dann schau ich ihn an. Und dann denke ich mir: ein grau-envolles Instrument! Bitte, schauen Sie sich ihn an! SchauenSie ihn sich einmal an. Er sieht aus wie ein fettes altes Weib.Die Hüfte viel zu tief, die Taille total verunglückt, zu hochhinauf ausgeschnitten und nicht eng genug; und dann dieseschmale hängende rachitische Schulterpartie – zumWahnsinnigwerden. Das kommt daher, daß der Kontrabaß einZwitter ist, entwicklungsgeschichtlich. Unten wie eine großeGeige, oben wie eine große Gambe. Der Kontrabaß ist dasscheußlichste, plumpeste, uneleganteste Instrument, das jeerfunden wurde. Ein Waldschrat von Instrument. Manchmalmöchte ich ihn am liebsten zerschmeißen. Zersägen. Zerhak-ken. Zerkleinern und zermahlen und zerstäuben und in einemHolzvergaserwagen … verfahren! – Nein, daß ich ihn liebe,

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kann ich wahrhaft nicht sagen. Er ist auch ekelhaft zum Spie-len. Für drei Halbtöne brauchen Sie die ganze Handspanne.Für drei Halbtöne! Zum Beispiel so …

Er spielt drei Halbtöne.

… Und wenn ich auf einer Saite einmal von unten nachoben spiel …

Er tut es.

… dann darf ich elfmal die Lage wechseln. Ein reiner Kraft-sport ist das. Jede Saite müssen Sie drücken wie ein Wahnsin-niger, schauen Sie meine Finger an. Da! Hornhaut auf denTingerkuppen, schauen Sie, und Rillen, ganz hart. Mit diesenFingern spüre ich nichts mehr. Ich habe mir die Finger ver-brannt, letztens, ich habe nichts gespürt, ich hab es erst ge-merkt am Gestank von meiner eigenen Hornhaut. Selbst-verstümmelung. Kein Schmied hat solche Fingerkuppen. Da-bei sind meine Hände eher zierlich. Gar nicht gebaut fürs In-strument. Von Haus aus war ich ja auch Posaunist. Ich habeauch anfangs nicht viel Kraft gehabt im rechten Arm, was manhaben müßte für den Bogen, weil sonst kriegen Sie keinenTon heraus aus dem Dreckskasten, einen schönen schon garnicht. Das heißt, einen schönen Ton kriegen Sie überhaupt nichtheraus, weil ein schöner Ton ist da nicht drin. Das … das sinddoch keine Töne, das sind doch … – ich möcht jetzt nichtordinär werden, aber ich könnte Ihnen sagen, was das ist …das unschönste aus dem Gebiet der Geräusche! Niemand kannauf einem Kontrabaß schön spielen, wenn das Wort einen Sinnhaben soll. Niemand. Auch die größten Solisten nicht, das hängtmit der Physik zusammen, nicht mit dem Können, weil einKontrabaß hat nicht diese Obertöne, er hat sie einfach nicht,und darum klingt er immer grauslich, immer, und darum ist

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das solistische Spielen auf dem Kontrabaß ein Riesenblödsinn,und auch wenn seit hundertfünfzig Jahren die Technik immerraffinierter wird, und wenn’s Konzerte gibt für Kontrabaß undSolosonaten und Suiten, und wenn demnächst vielleicht nochein Wundermann daherkommt und spielt die Chaconne vonBach auf dem Kontrabaß oder ein Capriccio von Paganini –es ist und bleibt grauslich, weil der Ton grauslich ist und bleibt.– So, und jetzt spiel ich Ihnen das Standardwerk vor, das Fein-ste was es gibt für Kontrabaß, gewissermaßen das Krönungs-konzert für Kontrabaß, von Karl Ditters von Dittersdorf, jetztpassen’s auf …

Er legt den ersten Satz des E-Dur-Konzertes von Dittersdorfauf.

… So. Das war’s. Dittersdorf, E-Dur-Konzert für Kontra-baß und Orchester. Eigentlich hat er Ditters geheißen. KarlDitters. Lebte von 1739 bis 1799. Nebenher war er Forstmei-ster. Und jetzt sagen Sie mir ehrlich, ob das schön war? Wol-len Sie’s noch einmal hören? Jetzt nicht kompositorisch, son-dern rein klanglich! Die Kadenz? Wollen’S die Kadenz nocheinmal hören? Die Kadenz ist doch zum Totlachen! Das Gan-ze klingt doch zum Weinen! Dabei ist das ein erster Solistgewesen, ich möcht jetzt den Namen nicht nennen, weil erkann wirklich nichts dafür. Und auch der Dittersdorf – meinGott, damals haben die Leute so was schreiben müssen, Be-fehl von oben. Er hat ja wahnsinnig viel geschrieben, Mozartist ein Dreck dagegen, über hundert Sinfonien, dreißig Opern,einen Haufen Klaviersonaten und andres Kleinzeug und fünf-unddreißig Solistenkonzerte, darunter das für Kontrabaß. Ins-gesamt gibt’s in der Literatur über fünfzig Konzerte für Kon-trabaß und Orchester, alle von minder bekannten Komponi-sten. Oder kennen Sie Johann Sperger? Oder DomenicoDragonetti? Oder Bottesini? Oder Simandl oder Kussewitzki

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oder Hotl oder Vanhal oder Otto Geier oder Hoffmeister oderOthmar Klose? Kennen Sie einen davon? Das sind dieKontrabaßgrößen. Im Grunde alles Leute wie ich. Kontrabas-sisten, die aus lauter Verzweiflung zum Komponieren ange-fangen haben. Und entsprechend sind die Konzerte. Weil einanständiger Komponist schreibt nicht für Kontrabaß, dafür hater zuviel Geschmack. Und wenn er für Kontrabaß schreibt,dann aus Witz. Ein kleines Menuett von Mozart gibt’s, Köchel344 – zum Totlachen! Oder von Saint-Saëns im Maskenballder Tiere, die Nummer fünf: »Der Elefant«, für solistischenKontrabaß mit Klavier, allegretto pomposo, dauert eineinhalbMinuten zum Totlachen! Oder in der ›Salome‹ von RichardStrauss, die fünfsätzige Kontrabaßpassage, wo Salome in dieZisterne schaut: »Wie schwarz es da drunten ist! Es mußschrecklich sein, in so einer schwarzen Höhle zu leben. Es istwie eine Gruft …« Fünfstimmige Kontrabaßpassage. Grau-envoller Effekt. Dem Zuhörer stehen die Haare zu Berge. DemSpieler auch. Zum Totfürchten! –

Mehr Kammermusik müßte man machen. Das tät vielleichtsogar Spaß machen. Aber wer nimmt denn mich mit meinemKontrabaß in ein Quintett auf? Lohnt sich ja nicht. Wenn sieeinen brauchen, dann mietens ihn dazu. Genauso beim Septettoder Oktett. Aber nicht mich. Zwei, drei Bassisten gibt’s inDeutschland, die spielen alles. Der eine, weil er seine eigneKonzertagentur hat, der andre, weil er ein Berliner Philhar-moniker ist, und der dritte hat eine Professur in Wien. Dage-gen kommt unsereins nicht auf. Dabei gab’s ein so ein schö-nes Quintett von Dvoøák. Oder Janáèek. Oder Beethoven,Oktett. Oder vielleicht sogar Schubert, Forellenquintett. Wis-sen Sie, das war das Höchste – jetzt musikalisch karrieremäßig.Das Traumstück für einen Kontrabassisten, Schubert … Aberda ist’s weit hin, weit. Ich bin ja bloß Tuttist. Das heißt, ichsitz am dritten Pult. Am ersten Pult sitzt unser Solist, nebenihm der stellvertretende Solist; am zweiten Pult der Vorspie-

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ler und der stellvertretende Vorspieler; und dahinter kommendie Tuttisten. Mit der Qualität hat das weniger zu tun, es sindeben Planstellen. Weil ein Orchester, müssen Sie sich vorstel-len, ist und muß sein ein streng hierarchisch gegliedertes Ge-bilde und als solches ein Abbild der menschlichen Gesellschaft.Nicht einer bestimmten menschlichen Gesell-schaft, sondernder menschlichen Gesellschaft schlechthin:

Über allem schwebt der GMD, der Generalmusikdirektor,dann kommt die erste Geige, dann die erste zweite Geige, danndie zweite erste Geige, dann die übrigen ersten und zweitenGeigen, Bratschen, Celli, Flöten, Oboen, Klarinetten, Fagot-te, das Blech – und ganz zum Schluß der Kontrabaß. Nach unskommt bloß noch die Pauke, aber nur theoretisch, weil diePauke ist allein und sitzt erhöht, daß sie jeder sehen kann.Außerdem hat sie noch mehr Volumen. Wenn die Pauke ein-mal hinlangt, das hört sich bis in die letzte Reihe, und jedersagt, aha, die Pauke. Bei mir sagt kein Mensch, aha, der Kon-trabaß, weil ich geh ja unter in der Masse. Darum steht diePauke praktisch über dem Kontrabaß. Obwohl die Pauke strenggenommen gar kein Instrument ist mit ihren vier Tönen. Aberes gibt Paukensoli, zum Beispiel im 5. Klavierkonzert vonBeethoven, letzter Satz am Ende. Da schaut alles, was nichtauf den Pianisten schaut, auf die Pauke, und das sind in einemgrößeren Haus gut und gerne zwölf- bis fünfzehnhundert Men-schen. Soviel schauen auf mich in einer ganzen Saison nicht.

Nicht, daß Sie denken, ich bin neidisch. Neid ist mir einfremdes Gefühl, denn ich weiß, was ich wert bin. Aber ichhabe einen Sinn für Gerechtigkeit, und einiges im Musikbe-trieb ist absolut ungerecht. Der Solist wird vom Beifall über-schüttet, die Zuschauer sehen es ja heute als Strafe gegen sichselber an, wenn sie nicht mehr klatschen dürfen; Ovationenwerden dem Dirigenten entgegengebracht: der Dirigent drücktdem Kapellmeister mindestens zweimal die Hand; manchmalerhebt sich das gesamte Orchester von den Sitzplätzen … –

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Als Kontrabassist kann man nicht einmal ordentlich aufste-hen. Als Kontrabassist – entschuldigen Sie den Ausdruck –sind Sie in jeder Hinsicht der letzte Dreck!

Und darum sage ich, das Orchester ist ein Abbild der mensch-lichen Gesellschaft. Denn hier wie dort werden diejenigen,die ohnehin schon die Drecksarbeit machen, darüberhinausnoch von den anderen verachtet. Es ist sogar noch schlimmerals in der Gesellschaft, das Orchester, weil in der Gesellschaft,da hätte ich – theoretisch jetzt – die Hoffnung, daß ich ichdereinst aufsteige durch die Hierarchie hinauf nach oben undeines Tages von der Spitze der Pyramide herabschaue auf dasGewürm unter mir … Die Hoffnung, sage ich, hätte ich …

Leiser.

… Aber im Orchester, da ist keine Hoffnung. Da herrschtdie grausame Hierarchie des Könnens, die fürchterliche Hier-archie der einmal getroffenen Entscheidung, die entsetzlicheHierarchie der Begabung, die unumstößliche, naturgesetzte,physikalische Hierarchie der Schwingungen und Töne, gehenSie nie in ein Orchester! …

Er lacht bitter.

… Freilich hat es Umwälzungen gegeben, sogenannte. Dieletzte war vor circa hundertfünfzig Jahren, in der Sitzordnung.Damals hat Weber die Blechbläser hinter die Streicher gesetzt,es war eine echte Revolution. Für die Kontrabässe ist nichtsherausgekommen, wir sitzen so und so hinten, damals wieheute. Seit dem Ende des Generalbaßzeitalters um 1750 sit-zen wir hinten. Und so wird das bleiben. Und ich beklage michnicht. Ich bin Realist und ich weiß mich zu fügen. Ich weißmich zu fügen. Ich habe es gelernt, weiß Gott! …

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Er seufzt und trinkt und schöpft Kraft.

… Und ich stehe dazu! Ich bin als Orchestermusiker einkonservativer Mensch, befürworte Werte wie Ordnung, Dis-ziplin, Hierarchie und das Führerprinzip. – Bitte das jetzt nichtfalsch zu verstehen! Wir Deutsche denken bei Führer gleichimmer an Adolf Hitler. Dabei war Hitler höchstensWagnerianer, und ich stehe Wagner, wie Sie wissen, ziemlichkalt gegenüber. Wagner als Musiker – jetzt vom Handwerkher gesehen – tät ich sagen: Unterprima. Eine Partitur vonWagner strotzt von Unmöglichkeiten und Fehlern. Der Mannhat ja auch selbst kein einziges Instrument gespielt außerschlecht Klavier. Der professionelle Musiker fühlt sich da beiMendelssohn, geschweige denn Schubert, tausendmal besseraufgehoben. Mendelssohn war übrigens, wie der Name schonsagt, Jude. Ja. Hitler seinerseits hat von Musik außer Wagnerso gut wie nichts verstanden und wollte selbst auch nie Musi-ker werden, sondern Architekt, Maler, Städteplaner und soweiter. Soviel Selbstkritik hat er doch noch gehabt, trotz sei-ner ganzen … Zügellosigkeit. Die Musiker waren ja für denNationalsozialismus sowieso nicht so empfänglich. Bitte, trotzFurtwängler und Richard Strauss und so weiter, ich weiß,problematische Fälle, aber diesen Leuten wurde mehr ange-hängt, weil Nazis im positiven Sinne waren sie nicht, niemals.Nazitum und Musik – das können’S nachlesen bei Furtwäng-ler –, das geht einfach nicht zusammen. Niemals.

Natürlich wurde damals auch Musik gemacht. Das ist dochklar! Die Musik hört doch nicht einfach auf! Unser Karl Böhmzum Beispiel, der stand doch damals in der Blüte seiner Jahre.Oder Karajan. Den haben doch sogar die Franzosen im be-setzten Paris umjubelt; auf der anderen Seite haben auch dieGefangenen im KZ ihre eigenen Orchester gehabt, soviel ichweiß. Genauso wie dann später unsere Kriegsgefangenen inihren Kriegsgefangenenlagern. Denn Musik ist etwas Mensch-

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liches. Jenseits von Politik und Zeitgeschichte. Etwas allge-mein Menschliches, möchte ich sagen, ein der menschlichenSeele und dem menschlichen Geist eingeborenes konstituti-ves Element. Und immer wird es Musik geben, und überall inOst und West, in Südafrika genauso wie in Skandinavien, inBrasilien genauso wie im Archipel Gulag. Weil Musik ist ebenmetaphysisch. Verstehen Sie,meta-physisch, also hinter oder jenseits der rein physischenExistenz, jenseits von Zeit und Geschichte und Politik undarm und reich und Leben und Tod. Musik ist – ewig. Goethesagt: »Die Musik steht so hoch, daß kein Verstand ihr bei-kommen kann, und es geht von ihr eine Wirkung aus, die allesbeherrscht und von der niemand imstande ist, sich Rechen-schaft zu geben.« Dem kann ich nur zustimmen.

Er hat die letzten Sätze sehr feierlich gesprochen, steht nunauf, geht einige Male erregt im Zimmer auf und ab, denkt nach,kommt zurück.

… Ich würde sogar noch weiter gehen als Goethe. Ich wür-de sagen, daß ich, je älter ich werde und je tiefer ich eindringein das eigentliche Wesen der Musik, desto klarer wird mir,daß die Musik ein großes Geheimnis ist, ein Mysterium, unddaß man, je mehr man von ihr weiß, desto weniger ist man inder Lage, noch überhaupt etwas Gültiges zu sagen. Goethewar ja, bei aller Hochschätzung, die er auch heute noch – undzu Recht – genießt, strenggenommen kein musikalischerMensch. Er war Lyriker in erster Linie und als solcher, wennman will, Rhythmiker oder Sprachmelodiker. Aber alles an-dere als Musiker. Anders wären ja auch seine mitunter grotes-ken Fehlurteile über Musiker gar nicht zu erklären. – Abervom Mystischen hat er eine Menge verstanden. Ich weiß nicht,ob Sie wissen, daß Goethe Pantheist war? Wahrscheinlich. Undnun steht ja der Pantheismus in enger Beziehung zur Mystik,

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er ist gewissermaßen ein Ausfluß der mystischen Welt-anschauung, wie sie auch schon im Taoismus und in der indi-schen Mystik und so weiter vorkommt, sich durchzieht durchdas ganze Mittelalter und die Renaissance und so weiter unddann unter anderem in der Freimaurerbewegung im 18.Jahr-hundert wieder auftaucht. Und jetzt war ja Mozart Freimau-rer, das wird Ihnen geläufig sein. Mozart ist schon in relativjungen Jahren zur Freimaurerbewegung gestoßen, als Musi-ker, nicht wahr, und das ist meines Erachtens – und ihm selbermuß das auch klar gewesen sein – ein Beweis für meine The-se, daß ihm, Mozart, die Musik letztlich auch ein Mysteriumgewesen ist und er weltanschaulich zu der Zeit einfach nichtmehr weitergewußt hat. – Ich weiß jetzt nicht, ob Ihnen das zukompliziert wird, weil Ihnen wahrscheinlich die Vorausset-zungen fehlen. Aber ich selbst habe mich jahrelang mit derMaterie beschäftigt, und ich sage Ihnen das eine: Mozart wird– vor diesem Hintergrund – weit überschätzt. Als Musiker wirdMozart weit überschätzt. Nein, wirklich, – ich weiß, daß dasheute wenig populär klingt, aber ich darf sagen als einer, dersich jahrelang mit der Materie beschäftigt hat und von Berufswegen studiert hat – daß Mozart, verglichen mit Hundertenseiner Zeitgenossen, die heute völlig zu Unrecht vergessensind, absolut auch nur mit Wasser gekocht hat, und geradedadurch, daß er schon als Kind so früh begabt war und schonals Achtjähriger das Komponieren angefangen hat, war derMann natürlich in kürzester Zeit total am Ende. Und die Haupt-schuld daran trägt der Vater, das ist ja der Skandal. Ich würdedoch meinen Sohn, wenn ich einen hätte, und er könnte zehn-mal so begabt sein wie Mozart, weil dazu gehört nichts, daßein Kind komponiert; jedes Kind komponiert, wenn Sie esdazu abrichten wie einen Affen, das ist kein Kunststück, abereine Schinderei ist es, eine Kinderquälerei, und das ist verbo-ten, mit Recht heute, denn das Kind hat einen Anspruch aufFreiheit. Und das ist das eine. Und das andere ist, daß es ja zu

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der Zeit, als Mozart komponiert hat, praktisch noch nichtsgegeben hat. Beethoven, Schubert, Schumann, Weber, Cho-pin, Wagner, Strauss, Leoncavallo, Brahms, Verdi,Tschaikowskij, Bartók, Strawinsky … – soviel kann ich garnicht aufzählen, wie es damals … fünfundneunzig Prozent vonder Musik, die unsereiner heute einfach intus hat, haben muß,geschweige denn ich als Professioneller, die hat es ja damalsnoch gar nicht gegeben! Die ist ja erst nach Mozart entstan-den! Davon hat ja Mozart überhaupt keine Ahnung gehabt! –Das einzige, ja?, was es damals an Namhaftem gegeben hat,das einzige – das war Bach, und der war total vergessen, weilder war Protestant, den haben ja erst wir wiederentdeckenmüssen. Und deshalb war die Lage für Mozart damals ja ganzunvergleichlich einfacher. Unbelastet. Da konnte einer herge-hen und unbekümmert, frisch daherspielen und komponieren– praktisch was er wollte. Und die Leute waren ja damals auchviel dankbarer. In der Zeit war ich ein weltbekannter Virtuosegewesen. Aber das hat Mozart niemals zugegeben. Im Gegen-satz zu Goethe, der da doch der ehrlichere war. Goethe hatimmer gesagt, daß er Glück gehabt hat, daß die Literatur zuseiner Zeit sozusagen ein unbeschriebenes Blatt war. Glückhat er gehabt. Ein Saumassel auf gut deutsch. Und Mozart hatdas nie zugegeben. Und das mache ich ihm zum Vorwurf. Dabin ich so frei und nehme kein Blatt vor den Mund, weil soetwas ärgert mich. Und – das nur noch am Rande –: was Mo-zart für den Kontrabaß geschrieben hat – das können Sie ver-gessen; bis auf den letzten Akt von Don Giovanni vergessen;Fehlanzeige. Soviel zu Mozart. Und jetzt muß ich noch einenSchluck trinken …

Er steht auf, stolpert im Weggehen über den Kontrabaß undbrüllt.

… Ja Kruzifix paß doch auf! Immer im Weg um, der Depp!

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– Können Sie mir sagen, wieso ein Mann von Mitte Dreißig,nämlich ich, mit einem Instrument zusammenlebt, daß ihnpermanent nur behindert?! Menschlich, gesellschaftlich,verkehrstechnisch, sexuell und musikalisch nur behindert?!Ihm ein Kainsmal aufdrückt?! Können Sie mir das erklären!?–Entschuldigen Sie, daß ich schrei. Aber ich kann schreienhier, soviel ich will. Es hört keiner, wegen der Akustikplatten.Kein Mensch hört mich … Aber ich erschlag ihn noch, einesTages erschlage ich ihn …

Er geht davon, um sich ein neues Bier zu holen.

Mozart, Ouvertüre zu Figaro.

Ende der Musik. Er kommt wieder. Während er sich dasBier einschenkt.

… Ein Wort noch zur Erotik: Diese kleine Sängerin – wun-derbar. Sie ist ziemlich klein und hat ganz schwarze Augen.Vielleicht ist sie Jüdin. Mir wäre das Wurscht. Auf jeden Fallheißt sie Sarah. Das wäre eine Frau für mich. Wissen Sie, ichkönnte mich niemals in eine Cellistin verlieben, auch in eineBratsche nicht. Obwohl – jetzt vom Instrument her – sich derKontrabaß obertonmäßig mit der Bratsche hervorragend paart– Sinfonia concertante von Dittersdorf. Posaune geht auch.Oder Cello. Wir tun sowieso meistens mit dem Cellomitoktavieren. Aber menschlich geht das nicht. Nicht für mich.Ich brauche als Kontrabassist eine Frau, die das totale Gegen-teil von dem darstellt, was ich bin: Leichtigkeit, Musikalität,Schönheit, Glück, Ruhm, und einen Busen muß sie haben …

Ich war in der Musikbibliothek und habe nachgeschaut, ob’setwas gäbe für uns. Zwei ganze Arien für Sopran und obliga-ten Kontrabaß. Zwei Arien! Natürlich wieder von diesem völ-lig unbekannten Johann Sperger, 1812 gestorben. Dazu noch

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ein Nonett von Bach, Kantate 152, aber ein Nonett ist eh fastein Orchester. Also bleiben zwei Stücke, die wir allein mitein-ander hätten. Das ist natürlich keine Basis. Sie erlauben, daßich trinke.

Was braucht eine Sopranistin denn? Machen wir uns dochnichts vor! Eine Sopranistin braucht einen Korrepetitor. Einenanständigen Pianisten. Besser einen Dirigenten. Ein Regisseurtut’s auch noch. Sogar ein technischer Direktor ist wichtigerfür sie als ein Kontrabaß. – Ich glaube, sie hat was gehabt mitunserm technischen Direktor. Dabei ist dieser Mann ein reinerBürokrat. Ein völlig unmusikalischer Funktionärstyp. Ein fet-ter, geiler alter Bock. Außerdem schwul. – Vielleicht hat siedoch nichts gehabt mit ihm. Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht.Es wäre mir auch ausgesprochen Wurscht. Auf der anderenSeite tät’s mir leid. Weil mit einer Frau, die mit unserem tech-nischen Direktor schläft, könnte ich nicht ins Bett gehen. Ichkönnte ihr das nie verzeihen. Aber soweit sind wir ja noch garnicht. Soweit ist die Frage, ob wir überhaupt je kommen, weilsie kennt mich ja noch gar nicht. Ich glaub nicht, daß ich ihrschon einmal aufgefallen bin. Musikalisch bestimmt nicht, wiedenn! Höchstens in der Kantine. Ich seh nicht so schlecht aus,wie ich spiele. Aber sie ist selten in der Kantine. Sie wird ofteingeladen. Von älteren Sängern. Von Gaststars. In teure Fisch-lokale. Einmal hab ich das beobachtet. Die Seezunge kostetdort zweiundfünfzig Mark. Ich finde so etwas ekelhaft. Ichfinde es ekelhaft, wenn ein junges Mädchen mit einem fünf-zigjährigen Tenor, ich bin so frei – der Mann kriegtsechsundreißigtausend für zwei Abende! Wissen Sie, was ichverdiene? Ich verdiene einsacht netto. Wenn wir Platten-auf-nahmen haben, oder ich springe woanders ein, dann verdienich eventuell etwas dazu. Aber normal verdien ich einsachtnetto. Das verdient heute ein unterer Büroangestellter oder einStudent im Nebenverdienst. Und was haben die gelernt? Nichtshaben sie gelernt. Ich war vier Jahre lang auf der Musikhoch-

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schule; ich habe bei Professor Krautschnick Komposition ge-lernt und bei Professor Riederer Harmonie-lehre; ich hab vor-mittags drei Stunden Probe und abends vier Stunden Auffüh-rung, und wenn ich frei hab, dann hab ich Bereitschaft, undvor zwölf komm ich nicht ins Bett, und zwischendrein solltich noch üben, Kruzifix nocheinmal, wenn ich nicht so be-gabt wäre, daß ich alles vom Blatt runterreiß, ich müßt vier-zehn Stunden am Tag hart arbeiten! –

Aber ich könnte in ein Fischlokal gehen, wenn ich wollte!Und ich würde zweiundfünfzig Mark hinlegen für eine See-zunge, wenn es sein müßte. Und ich würde nicht mit der Wim-per zucken, da kennen Sie mich schlecht. Aber ich finde esekelhaft! Außerdem sind diese Herren durch die Bank verhei-ratet. – Bitte, wenn sie zu mir kommen würde – aber sie kenntmich ja nicht – und würde mich fragen: »Laß uns, Geliebter,eine Seezunge essen gehen!«, dann würde ich sagen: »Natür-lich, mein Herz, warum nicht; essen wir eine Seezunge, Lieb-ste, und wenn sie achtzig Mark kostet, das ist mir Wurscht.«Denn ich bin Kavalier zu der Dame, die ich liebe, vom Schei-tel bis zur Sohle. Aber es ist ekelhaft, wenn diese Dame mitanderen Herren ausgeht. Ich finde das ekelhaft! Die Dame,die ich liebe! Geht nicht mit andern Herren in ein Fischlokal!Nacht für Nacht! … Zwar, sie kennt mich nicht, aber … aberdas ist auch die einzige Entschuldigung, die sie hat! Wenn siemich kennt … wenn sie mich dann kennenlernt … es ist nichtwahrscheinlich, aber … wenn wir uns dann kennen, dann –kann sie was erleben, das kann ich Ihnen jetzt schon sagen,das gebe ich Ihnen schriftlich, weil … weil …

Er fängt plötzlich zu brüllen an.

… ich lasse es mir nicht gefallen, daß meine Frau, bloßweil sie Sopranistin ist und eines Tages Dorabella singt oderAida oder Butterfly, und ich bin bloß ein Kontrabassist! – daß

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sie … deswegen … in Fischlokale geht … das lasse ich nicht… verzeihen Sie … Entschuldigung … ich muß mich etwas… mäßigen … glaube ich … mäßigen … – glauben Sie, daßich … für eine Frau … überhaupt zumutbar bin …?

Er ist zum Plattenspieler gegangen und hat etwas aufge-legt.

… Arie der Dorabella … aus dem zweiten Akt … »Cosi fantutte« …

Während die Musik beginnt, fängt er leise zu schluchzen an.

Wissen Sie, wenn man sie singen hört, dann traut man ihrdas nicht zu. Zwar, sie bekommt bis jetzt nur kleinere Partien–zweites Blumenmädchen Parsifal, Aida Tempelsängerin, Baseaus der Butterfly und so – aber wenn sie singt, und wenn ichhöre, wie sie singt, ich sage Ihnen, ehrlich, da drückt es mirdas Herz ab, ich kann nicht anders sagen. Und dann geht dasMädchen mit irgend so einem dahergelaufenen Gaststar in einFischlokal! Meeresfrüchte essen oder Bouillabaisse! Währendder Mann, der sie liebt, in einem schallisolierten Raum stehtund bloß an sie denkt, mit nichts als diesem unförmigen In-strument in den Händen, auf dem er nicht einen, nicht eineneinzigen Ton spielen kann, den sie singt! …

Wissen Sie, was ich brauche? Ich brauche immer eine Frau,die ich nicht kriege. Aber so wenig wie ich sie kriege, braucheich auch wieder keine.

Einmal wollt ich es zwingen, bei der Probe zu Ariadne. Siehat Echo gesungen, das ist nicht viel, ein paar Takte bloß, undder Regisseur hat sie auch nur ein einziges Mal nach vorn andie Rampe geschickt. Von dort hätte sie mich sehen können,wenn sie geschaut hätte, wenn sie nicht den GMD fixiert hätte… Ich hab mir überlegt, wenn ich jetzt etwas tue, wenn ich

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ihre Aufmerksamkeit errege … daß ich den Baß umschmeißoder daß ich dem Cello vor mir mit dem Bogen reinrenn oderdaß ich einfach eklatant falsch spiele – bei ›Ariadne‹ hätteman es vielleicht gehört, da sind wir bloß zwei Bässe …

Aber dann hab ich es gelassen. Es sagt sich alles leichter, alses sich tut. Und Sie kennen unsern GMD nicht, der fühlt sichvon einem falschen Ton persönlich beleidigt. Und dann wäremir das auch zu kindisch gewesen, mit einem falschen Tonmeine Beziehungen zu ihr anzuknüpfen … und wissen Sie,wenn Sie im Orchester spielen, gemeinsam mit den Kollegen,dann plötzlich vorsätzlich, sozusagen in voller Absichtdanebenhaun … – also ich kann das nicht. Da bin ich danndoch ein zu ehrlicher Musiker irgendwo, und ich habe mirgedacht, wenn du falsch spielen mußt, damit sie dich über-haupt zur Kenntnis nimmt, dann ist es besser, sie nimmt dichnicht zur Kenntnis. Sehen Sie, so bin ich. Ich habe dann ver-sucht, eklatant schön zu spielen, soweit das möglich ist aufmeinem Instrument. Und ich habe mir gedacht, das soll mirjetzt ein Zeichen sein: Wenn ich ihr auffalle mit meinem schö-nen Spiel, und wenn sie herschaut, meinetwegen herschaut –dann soll sie die Frau fürs Leben sein, meine Sarah ewiglich.Wenn sie aber nicht herschaut – dann ist alles aus. Tjaja, soabergläubisch ist man in den Liebesdingen. – Sie hat dannnicht hergeschaut. Kaum habe ich angefangen, schön zu spie-len, ist sie regiemäßig aufgestanden und wieder nach hintengegangen. Es ist auch sonst niemand etwas aufgefallen. Nichtdem GMD und nicht dem Haffinger am ersten Baß direkt ne-ben mir; nicht einmal der hat gemerkt, wie eklatant schön ichgespielt habe …

Gehen Sie oft in die Oper? Stellen Sie sich vor, Sie gehen indie Oper, heute abend meinetwegen, Festspielpremiere ›Rhein-gold‹. Über zweitausend Leute in Abendkleidern und dunk-lem Anzug. Es riecht nach frischgewaschenen Frauenrücken,

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nach Parfüm und Deodorant. Die schwarze Smokingseideglänzt, die Nackenwülste glänzen, die Brillanten funkeln. Inder ersten Reihe der Ministerpräsident mit Familie, Kabinetts-mitglieder, internationale Prominenz. In der Intendantenlogeder Intendant mit seiner Frau und seiner Freundin und seinerFamilie und seinen Ehrengästen. In der GMD-Loge der GMDmit seiner Frau und Ehrengästen. Alles erwartet Carlo MariaGiulini, den Star des Abends. Die Türen werden leise geschlos-sen, der Kronleuchter hebt sich, die Lichter erlöschen, allesduftet und wartet. Giulini erscheint. Beifall. Er verbeugt sich.Seine frischgewaschenen Haare fliegen. Dann dreht er sichdem Orchester zu, letzter Huster, Stille. Er hebt die Arme, suchtBlickkontakt zur ersten Geige, Nicken, noch ein Blick, aller-letztes Husten … –

Und dann, in diesem erhabenen Moment, wo die Oper zumUniversum wird und der Moment zum Ursprungsmoment desUniversums, da hinein, wo alles in gespanntester Erwartungharrt, den Atem anhält, die drei Rheintöchter schon hintermgeschloßnen Vorhang wie angenagelt stehen – da hinein, ausder hintersten Reihe des Orchesters, von dort her, wo die Kon-trabässe stehen, der Schrei eines liebenden Herzens …

Er schreit.

… SARAH!!!

Eine kolossale Wirkung! – Am nächsten Tag steht’s in derZeitung, ich fliege aus dem Staatsorchester, gehe zu ihr miteinem Blumenstrauß, sie öffnet die Türe, sieht mich zum er-sten Mal, ich stehe da wie ein Held, ich sage: »Ich bin derMann, der Sie kompromittiert hat, denn ich liebe Sie«, wirfallen uns in die Arme, Vereinigung, Seligkeit, höchstes Glück,die Welt versinkt unter uns. Amen. –

Ich habe natürlich versucht, mir Sarah aus dem Kopf zu schla-

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gen. Wahrscheinlich ist sie menschlich völlig unzulänglich;charakterlich eine Null; geistig hoffnungslos unterbelichtet;einem Manne meines Formats überhaupt nicht gewachsen …

Aber dann höre ich bei jeder Probe ihre Stimme, diese Stim-me, dieses göttliche Organ. – Wissen Sie, eine schöne Stim-me ist an und für sich geistvoll, die Frau kann noch so blödsein, finde ich, das ist das Grauenvolle an der Musik.

Und dann ist da eben die Erotik. Ein Feld, dem sich keinMensch entziehen kann. Ich will es einmal so sagen: Wennsie singt, Sarah, das geht mir dermaßen unter die Haut, das istbeinahe sexuell – bitte das jetzt nicht falsch zu verstehen. Abermanchmal wache ich in der Nacht auf – brüllend. Ich brülle,weil ich sie im Traum singen höre, mein Gott! Gottseidankhabe ich die Akustikplatten. Ich bin schweißgebadet, und dannschlafe ich wieder ein – und wache wieder auf von meinemeigenen Brüllen. Und so geht das die ganze Nacht: sie singt,ich brülle, schlafe ein, sie singt, ich brülle, schlafe ein und soweiter … Das ist die Sexualität.

Aber manchmal – wo wir schon beim Thema sind – erscheintsie mir auch tags. Natürlich nur in der Vorstellung. Ich … esklingt jetzt komisch … ich denke mir dann, sie würde vor mirstehen, ganz dicht, so wie der Baß jetzt. Und ich könnte nichtan mich halten, ich müßt sie umarmen … so … und mit deranderen Hand so … wie mit dem Bogen gleichsam … überihren Hintern … oder andersherum, so, wie beim Kontrabaßvon hinten herum, und mit der linken Hand an ihren Brüsten,so wie in der dritten Lage auf der G-Saite … solistisch … einbißchen schwer zum Vorstellen jetzt – und mit rechts von au-ßen herum mit dem Bogen, so, unten, und dann so und so undso …

Er fuhrwerkt mit wirren Griffen auf dem Kontrabaß herum,läßt dann davon ab, setzt sich erschöpft in seinen Sessel undschenkt Bier nach.

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… Ich bin Handwerker. Innerlich bin ich Handwerker. Mu-siker bin ich nicht. Ich bin bestimmt nicht musikalischer alsSie. Ich mag Musik. Ich kann hören, wenn eine Saite falschgestimmt ist, und zwischen einem halben und einem ganzenTon kann ich unterscheiden. Aber ich kann nicht eine musika-lische Phrase spielen. Nicht einen einzigen Ton kann ich schönspielen … – und sie macht ihren Mund auf, und alles, washerauskommt, ist herrlich. Und wenn sie tausend Fehler macht,es ist herrlich! Und es liegt nicht am Instrument. Meinen Sie,Franz Schubert fängt seine 8. Sinfonie mit einem Instrumentan, auf dem man nicht schön spielen kann? Was denken Sieeigentlich von Schubert! – Aber ich kann es nicht. An mirliegt es.

Technisch spiel ich Ihnen alles. Technisch habe ich eine her-vorragende Ausbildung genossen. Technisch, wenn ich will,spiel ich Ihnen jede Suite von Bottesini, das ist der Paganinides Kontrabasses, da gibt es nicht viele, die mir das nachspie-len würden. Technisch, wenn ich einmal wirklich hinübenwürde, aber ich übe nicht, weil es bei mir keinen Sinn hat,weil es bei mir an der Substanz fehlt, weil, wenn es nicht in-nen weit fehlen würde, verstehen Sie, innen, im Musikalischen– und ich kann das beurteilen, denn so weit fehlt es noch nicht,so weit reicht es noch – und da unterscheide ich mich vonandern, positiv –, ich hab Kontrolle über mich, ich weiß noch,Gottseidank, was ich bin und was ich nicht bin, und wenn ichmit fünfunddreißig als Beamter auf Lebenszeit im Staats-orchester sitze, so blöd bin ich nicht, daß ich wie mancherandre denke, ich bin ein Genie! Ein beamtetes Genie! Ein ver-kanntes, zu Tode verbeamtetes Genie, das im StaatsorchesterKontrabaß spielt …

Ich hätt ja Geige lernen können, wenn es so weit her ist,

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oder Komposition, oder Dirigieren. Aber dazu reicht es nicht.Es reicht gerade so weit, daß ich auf einem Instrument, das ichnicht mag, so herumkratze, daß die andern nicht merken, wieschlecht ich bin. Warum ich das tue? –

Er fängt plötzlich zu schreien an.

… Warum nicht!? Warum soll es mir besser gehen als Ih-nen? Ja, Ihnen! Sie Buchhalter! Exportsachbearbeiter! Foto-laborantin! Sie Volljurist! …

In seiner Erregung ist er ans Fenster gegangen und hat esaufgerissen. Der Straßenlärm flutet herein.

… Oder gehören Sie wie ich zur privilegierten Klasse derer,die noch mit ihren Händen arbeiten dürfen? Vielleicht sindSie auch einer von denen dort draußen, die acht Stunden täg-lich mit Preßlufthämmern Betonfußböden zertrümmern. Odereiner von denen, die ständig die Mülltonnen gegen die Müll-wagen schmeißen, damit der Müll herausfliegt, acht Stundenlang. Entspricht das Ihren Talenten? Würde es Sie kränken,daß womöglich ein andrer die Mülltonne besser hinschmeißtals Sie? Sind Sie auch so erfüllt von Idealismus und selbstlo-ser Hingabe an Ihre Arbeit wie ich? Ich drücke auf vier Saitenmit den Fingern der linken Hand, bis mir das Blut heraus-kommt; und ich streiche mit einem Roßhaarbogen darauf her-um, bis mir der rechte Arm lahm wird; und ich produzieredadurch ein Geräusch, das benötigt wird, ein Geräusch. Daseinzige was mich von Ihnen unterscheidet ist, daß ich meineArbeit gelegentlich im Frack verrichte …

Er schließt das Fenster.

… Und der Frack, der wird gestellt. Nur für das Hemd, da

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muß ich selber sorgen. Ich muß mich jetzt dann umziehen.Entschuldigen Sie. Ich habe mich erregt. Ich wollte mich

nicht erregen. Ich wollte Sie nicht beleidigen. Ein jeder stehtan seinem Platz und tut sein Beste. Und nicht an uns ist es zufragen, wie er dort hingekommen ist, warum er dort bleibt undob … – Manchmal mach ich mir wirklich saumäßige Vorstel-lungen, entschuldigen Sie. Vorhin, wo ich mir Sarah vor michhingedacht habe wie einen Kontrabaß, sie, die Frau meinerTräume vor mich hingedacht als einen Kontrabaß. Sie, denEngel, der musikalisch so weit über mir steht … schwebt …hingedacht vor mich als Dreckskasten von Kontrabaß, den ichmit meinen verhornten Drecksfingern befingere und mit mei-nem verlausten Drecksbogen bestreiche … Pfui Teufel, dassind saumäßige Vorstellungen, es kommt über mich, rausch-haft, manchmal, wenn ich denke, triebhaft, unabweisbar. VonNatur aus bin ich kein triebhafter Mensch. Von Natur aus binich gezügelt. Nur wenn ich denke, werde ich triebhaft. Wennich denke, dann holt mich meine Phantasie ein wie ein geflü-geltes Pferd und galoppiert mich nieder.

»Das Denken«, sagt ein Freund von mir – er studiert seitzweiundzwanzig Jahren Philosophie und promoviert jetzt –,»Das Denken ist eine zu schwierige Sache, als daß jedermanndarin herumdilettieren dürfte.« Er – mein Freund – würde sichauch nicht hinsetzen und die Hammerklaviersonate herunter-spielen. Weil er das nicht kann. Aber jedermann glaubt, daß erdenken kann, und denkt zügellos drauflos, das ist der großeFehler heutzutage, sagt mein Freund, und darum passierendiese Katastrophen, an denen wir noch zugrunde gehen wer-den, alle miteinander. Und ich sage: Er hat recht. Mehr sageich nicht. Ich muß mich jetzt umziehen.

Er entfernt sich, holt seine Kleider, spricht, während ersich anzieht, weiter.

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Ich bin – entschuldigen Sie, daß ich jetzt etwas lauter wer-de, aber wenn ich Bier genossen habe, werde ich lauter –, ichbin als Mitglied des Staatsorchesters quasi Beamter und alssolcher unkündbar. Ich habe eine feste Wochenstundenzahl undfünf Wochen Urlaub. Versicherung im Krankheitsfall. Alle zweiJahre automatische Anhebung der Bezüge. Später Pension. Ichbin total abgesichert …

Wissen Sie – das macht mir manchmal eine solche Angst,ich … ich … ich trau mich manchmal nicht mehr aus demHaus, so sicher bin ich. Ich bleib in meiner Freizeit – ich habviel Freizeit –, ich bleib lieber zuhaus, aus Angst, wie jetzt,wie soll ich Ihnen das erklären? Es ist eine Beklemmung, einAlpdruck, ich habe eine wahnsinnige Angst vor dieser Sicher-heit, es ist wie eine Klaustrophobie, eine Festanstellungs-psychose – gerade beim Kontrabaß. Denn einen freien Baßgibt es ja nicht. Wo denn? Als Baß ist man lebenslänglich ver-beamtet. Selbst unser GMD hat nicht diese Sicherheit. UnserGMD hat einen Vertrag auf fünf Jahre. Und wenn sie ihm dennicht verlängern, dann fliegt er. Theoretisch wenigstens. Oderder Intendant. Der Intendant ist allmächtig – aber er kann flie-gen. Unser Intendant – Beispiel jetzt –, wenn er eine Oper vonHenze bringt, dann fliegt er. Nicht augenblicklich, aber todsi-cher. Weil Henze ist Kommunist, und dafür haben wir keinStaatsschauspiel. Oder es könnt eine politische Intrige geben…

Aber ich flieg nie. Ich kann spielen und lassen was ich will,ich flieg nicht. Gut, Sie können sagen, das ist halt mein Risi-ko; das ist immer so gewesen; ein Orchestermusiker war im-mer festangestellt; heut als Staatsbeamter, vor zweihundertJahren als Hofbeamter. Aber damals konnte wenigstens derFürst sterben, und dann konnte es sein, daß man die Hofkapelleauflöst, theoretisch. Das ist doch heute ganz unmöglich. Aus-geschlossen. Da kann passieren was will. Sogar im Krieg –ich weiß das doch von älteren Kollegen –, die Bomben sind

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gefallen, alles war hin, die Stadt, sie lag in Schutt und Asche,die Oper brannte lichterloh – aber im Keller saß das Staats-orchester, Probe morgen früh um neun. Es ist zum Verzwei-feln. Ja natürlich, ich kann kündigen. Freilich. Ich kann hin-gehen und kann sagen: Ich kündige. Es wäre ungewöhnlich.Es haben noch nicht viele gemacht. Aber ich könnte es ma-chen, es wäre legal. Dann war ich frei … Ja und dann!? Wasmach ich dann? Dann steh ich auf der Straße …

Es ist zum Verzweifeln. Man verelendet. So – oder so …

Pause. Er beruhigt sich. Das Folgende im Flüsterton.

… Außer, daß ich noch heute abend die Vorstellung schmeißeund Sarah schrei. Es wäre ein herostratischer Akt. Vor demMinisterpräsidenten. Zu ihrem Ruhm und meiner Entlassung.Es wäre nie dagewesen. Der Schrei des Kontrabasses. Viel-leicht bricht Panik aus. Oder der Leibwächter des Minister-präsidenten erschießt mich. Aus Versehen. Aus einerKurzschlußreaktion heraus. Oder er erschießt aus Versehenden Gastdirigenten. Auf jeden Fall wäre etwas los. Mein Le-ben würde sich entscheidend ändern. Es wäre ein Einschnittin meine Biographie. Und selbst wenn ich Sarah damit nichtbekomme, sie wird mich nie vergessen. Ich werde zu einerständigen Anekdote ihrer Laufbahn, ihres Lebens. Das wärediesen Schrei wert. Und ich würde fliegen … fliegen … wieein Intendant.

Er setzt sich hin und nimmt noch einmal einen tiefen SchluckBier.

Vielleicht tu ich es wirklich. Vielleicht geh ich jetzt hin, sowie ich bin, stelle mich hinein und tue diesen Schrei … MeineHerren! … – Die andere Möglichkeit ist die Kammermusik.Brav sein, fleißig sein, üben, viel Geduld, erster Bassist in

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einem B-Orchester, kleine Kammermusikvereinigung, Oktett,Schallplatte, zuverlässig sein, flexibel, sich einen kleinen Na-men machen, in aller Bescheidenheit, und heranreifen für dasForellenquintett. –

Als Schubert so alt war wie ich, da war er schon drei Jahretot.

Ich muß jetzt gehen. Um halb acht fängt’s an. Ich lege Ihnennoch eine Platte auf. Schubert, Quintett für Klavier, Violine,Bratsche, Cello und Kontrabaß in A-Dur, geschrieben 1819,im Alter von zweiundzwanzig Jahren, ein Auftragswerk füreinen Bergwerksdirektor in Steyr …

Er legt die Platte auf.

… Und ich gehe jetzt. Ich geh jetzt in die Oper und schrei.Wenn ich mich trau. Sie können es ja morgen in der Zeitunglesen. Auf Wiederschaun!

Seine Schritte entfernen sich. Er verläßt das Zimmer, dieHaustür fällt ins Schloß. In diesem Moment beginnt die Mu-sik: Schubert, Forellenquintett, 1. Satz.