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ANNETTE WERBERGER Paul Celan und Osip Mandel'stam oder ·,Pavel Tselan' und Joseph Mandelstamm' 1 Wiederbegegnung in der Begegnung L Wiederbegegnung mit Östlichem „die östlichen, heimatlichen" 2 Verse Als Paul Celan im Jahre 1957 Osip Mandel'stam entdeckt, beginnt für ihn eine Periode der Annäherung an den russischen Dichter. Er liest intensiv Gedichte, Prosa und Essays von Mandel'stam, sowie biographische und literaturkritische Berichte über ihn. Auch Celans weitere Lektüre russischer Dichtung wird mit durch Mandel'stam vorgezeichnet; dessen Vorlieben und Abneigungen leiten sein Interesse an russischer Literatur (z. B. an Petr Caadaev, Fedor Sologub, Andre] Belyj u. a.). Celans Mandel'stam-Übersetzungen, seine eigenen Gedichte (v.a. der Gedichtband Die Niemandsrose), sein Radioessay über Mandel'- stam und die Büchner-Preis-Rede zeigen anschaulich Prozeß und Bedeutung dieser Entdeckung. Die Figur der Wiederbegegnung kann vielleicht am besten Art und Weise der Annäherung Celans an Mandel'stam beschreiben. Die Auseinandersetzung mit Mandel'stam wird der paradigmatische Fall eines literarischen Dialogs bei Celan, der zugleich Züge seines eigenen Dichtens und seiner eigenen Poetik zutage zu fördern scheint. Die große Aufmerksamkeit, die der in den 50er Jahren weitgehend noch vergessene russische Dichter durch Celan erfährt, beruht trotz vieler zeitlicher, sprachlicher oder lebensweltlicher Unterschiede auf Interferen- zen im Leben und Schreiben beider Dichter, die eine Wiederbegegnung als Be- 1 In dieser Transkription seines Namens füllte MandePstam 1909 sein Anmeldeformular an der Universität Heidelberg aus. Vgl. P. Nerler: Osip Mandel'stam v Gejdelberge [Osip Mandel'stam 'in Heidelberg], Moskva 1994, S. 20. Russische Eigennamen werden soweit sie wie hier kein Zitat sind in der wissenschaftlichen Transkription wiedergegeben. Celans Texte werden zitiert nach der Ausgabe: P. Celan: Gesammelte Werke in fünf Banden, hrsg. von B. Allemann und S. Reichert unter Mitwirkung von R. Bücher, Frankfurt a. M. 1983 (Sigle GW mit Band und Seitenzahl). Die Niemandsrose wird nach der Tübinger Ausgabe zitiert: P. Celan: Die Niemandsrose, hrsg. von J. Wertheimer, bearbeitet von H. Schmull, Frankfurt 1996 (Sigle NR mit Seitenzahl). 2 P. Celan/N. Sachs: Briefwechsel, Frankfurt am Main 1993, S. 80. · arcadia Band 32 (1997) Heft l Brought to you by | University of Glasgow Library Authenticated | 130.209.6.50 Download Date | 9/22/13 3:27 AM

Paul Celan und Osip Mandel'štam oder ‚Pavel Tselan‘ und ‚Joseph Mandelstamm‘ — Wiederbegegnung in der Begegnung

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ANNETTE WERBERGER

Paul Celan und Osip Mandel'stamoder ·,Pavel Tselan' und Joseph Mandelstamm'1

— Wiederbegegnung in der Begegnung

L Wiederbegegnung mit Östlichem

„die östlichen, heimatlichen"2 Verse

Als Paul Celan im Jahre 1957 Osip Mandel'stam entdeckt, beginnt für ihn einePeriode der Annäherung an den russischen Dichter. Er liest intensiv Gedichte,Prosa und Essays von Mandel'stam, sowie biographische und literaturkritischeBerichte über ihn. Auch Celans weitere Lektüre russischer Dichtung wird mitdurch Mandel'stam vorgezeichnet; dessen Vorlieben und Abneigungen leitensein Interesse an russischer Literatur (z. B. an Petr Caadaev, Fedor Sologub,Andre] Belyj u. a.). Celans Mandel'stam-Übersetzungen, seine eigenen Gedichte(v.a. der Gedichtband Die Niemandsrose), sein Radioessay über Mandel'-stam und die Büchner-Preis-Rede zeigen anschaulich Prozeß und Bedeutungdieser Entdeckung.

Die Figur der Wiederbegegnung kann vielleicht am besten Art und Weiseder Annäherung Celans an Mandel'stam beschreiben. Die Auseinandersetzungmit Mandel'stam wird der paradigmatische Fall eines literarischen Dialogs beiCelan, der zugleich Züge seines eigenen Dichtens und seiner eigenen Poetikzutage zu fördern scheint. Die große Aufmerksamkeit, die der in den 50er Jahrenweitgehend noch vergessene russische Dichter durch Celan erfährt, beruht trotzvieler zeitlicher, sprachlicher oder lebensweltlicher Unterschiede auf Interferen-zen im Leben und Schreiben beider Dichter, die eine Wiederbegegnung als Be-

1 In dieser Transkription seines Namens füllte MandePstam 1909 sein Anmeldeformular an derUniversität Heidelberg aus. Vgl. P. Nerler: Osip Mandel'stam v Gejdelberge [Osip Mandel'stam 'inHeidelberg], Moskva 1994, S. 20. Russische Eigennamen werden — soweit sie wie hier kein Zitatsind — in der wissenschaftlichen Transkription wiedergegeben. Celans Texte werden zitiert nachder Ausgabe: P. Celan: Gesammelte Werke in fünf Banden, hrsg. von B. Allemann und S. Reichertunter Mitwirkung von R. Bücher, Frankfurt a. M. 1983 (Sigle GW mit Band und Seitenzahl).Die Niemandsrose wird nach der Tübinger Ausgabe zitiert: P. Celan: Die Niemandsrose, hrsg. vonJ. Wertheimer, bearbeitet von H. Schmull, Frankfurt 1996 (Sigle NR mit Seitenzahl).

2 P. Celan/N. Sachs: Briefwechsel, Frankfurt am Main 1993, S. 80. ·

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Paul Celan und Osip Mandel'stam 7

gegnung mit Vertrautem, als Wiedererinnerung möglich machen - in diesemFall als Anamnesis' an Östliches. In einem Brief an Nelly Sachs beschreibt Celandies in bezug auf Sergej Esenin:

„Vor vielen Jahren, zum erstenmal als Gymnasiast, später als Student in Czernowitz, hatteich viel Umgang mit diesen Versen; hier, im Westen, kamen sie mir dann wieder, dieöstlichen, heimatlichen."3

Celans MandePstam-Lektüre fällt in die Zeit einer Neuorientierung über daseigene Schreiben, wobei ein Ausgangspunkt bei der Suche nach einem Meridianim heimatlichen und gleichzeitig verlorenen Osten liegt. Celan und Mandel's tarnsind beide auf ihre Weise ein Teil des ursprünglich in Polen angesiedelten, osteu-ropäischen Judentums - des „Wander-Osten(s)" (NR, 121). Die Teilungen Po-lens hatten Galizien an Österreich-Ungarn, westliche Teile an Preußen und östli-che Teile zum Russischen Reich gebracht. Celan lebte im äußersten Westen,Mandel'stam im äußersten Osten eines auf der Landkarte imaginären, ansonstenaber äußerst präsenten Gebiets, das bis zur Shoah die weltweit größte jüdischeDiaspora umfaßte. Dieser topographische Raum ist in Celans Niemandsrosepräsent und bietet eine Art Raum der Begegnung: das polnische Krakau, dieUkraine („Schwarzerde'*), das weißrussische Witebsk und St. Petersburg („Petro-polis").

Celan zeigt ein außergewöhnlich großes Interesse an Berichten von Zeitge-nossen Mandel'stams. Seine Beschäftigung mit ihm ist ein bewußtes und genauesSich-Vertrautmachen mit dessen Daten und keineswegs nur mystische Anver-wandlung. Wie bei keinem anderen Dichter rückt die schicksalhafte Gestalt desSprechenden" in den Mittelpunkt und wird so zum inneren Zentrum beim auf-merksamen Lesen. Celan bekennt sich deswegen in einer frühen Widmung derNiemandsrose explizit zum Menschen und Dichter Mandel'stam:

„OSSIP MANDELSTAMMD[EM]em Dichter:Dem Menschen" (NR, 4)

«4„Und wir sangen die Warschowjanka'

Eine wichtige Schnittstelle zwischen der galizisch-habsburgischen Welt Celansund dem russischen Osten Mandel'stams ist das Interesse an sozialen Belangen.Das soziale Engagement der Intelligencija (oftmals in Verbindung mit einemMessianismus christlicher bzw. jüdischer Prägung) erlangt eine besondere Bedeu-tung in ganz Osteuropa. Vielmehr als in Westeuropa zeichnet sich der osteuro-päische Intellektuelle durch eine intensive Teilnahme am gesellschaftspolitischenDenken aus, einer Tatsache, derer sich Celan gerade in der Zeit seiner Beschäfti-gung mit Mandel'stam erneut in aller Konsequenz bewußt wird. In seiner auto-

3 Ebd., Hervorhebungen von mir, A. W.4 NR, 111.

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biographischen Prosa Das Rauschen der Zeit (IllyM BPCMCHH, 1925) reflek-tiert MandcFstam seine Erfahrungen in einer Zeit des sozialen Aufbruchs.Kautskijs E r f u r t e r Programm, so berichtet Mandel'stam darin, sei ihm mehrals das K a p i t a l von Marx zu einer „Quelle kosmischer Freude, zum Überbrin-ger eines starken und harmonischen Weltgefühls, zu einem denkenden Schilf-rohr und einer über den Abgrund geworfenen Decke" geworden (S II, 33). Ererzählt von Disputen mit seinem karäischen Schulkameraden Boris Sinani, derganz vom Geist der Volkstümler-Bewegung erfüllt gewesen sei. Mit viel Zunei-gung und Ironie schreibt er so über das eigentümliche Amalgam von ,Kapital·und ,Thorac innerhalb der jüdischen Intelligencija: Einen Freund der Familiebezeichnet er als „Gleb Uspenskij der Talmud-Thora", der beim Teetrinkeneinem „jüdischen Apostel Petrus beim Abendmahl" gleiche, und Sinani charak-terisiert er als einen „Abraham des Positivismus", der ohne Nachdenken diesemseinen eigenen Sohn geopfert hätte.5

Auch Celan wird Jahre später in der Büchner-Preis-Rede von seinem Auf-wachsen mit den anarchistischen Schriften Petr Kropotkins (ebenfalls ein Reprä-sentant des Narodnicestvo, der Volkstümler-Bewegung) und Gustav Landauersberichten. Nicht allein das Jüdische also, sondern auch eine sehr religiös ausge-richtete sozialistische Tradition prägt beide Dichter — ihre Gedichte schreibensich auch von dort her. Eine Stelle in Hinausgekrönt vermag dies vielleichtgenauer zu beleuchten:

„(Und wir sangen die Warschowjanka.Mit verschilften Lippen, Petrarca.In Tundra-Ohren, Petrarca.)" (NR, 111)

Die Nennung des Lieds „Warschowjanka" im Gedicht steht in Zusammenhangmit Mandel'stams von Il'ja Erenburg übermittelter Petrarca-Rezitation im Lagervon Vladivostok, kurz vor seinem Tod. Paul Celan, der nachweislich ein großesRepertoire an Revolutionärs- und Landsknechtsliedern besaß und sich an derenaufrüherisch-elementarer, unmittelbarer Ausdruckskraft begeisterte, läßt hier ein„wir" im Gedicht ein spezifisch osteuropäisches Revolutionslied singen. Die„Warschowjanka" wird zunächst als patriotisches Lied beim polnischen Aufstandvon 1830/31 gesungen und avanciert schließlich zu einem der bekanntestenpolnischen und russischen Arbeiterlieder schlechthin. Auch Aleksandr Blökkannte dieses Lied und variiert es im 10. und 11. Teil seines RevolutionspoemsDie Zwölf (flBenaOTaTL·, 1918), welches Celan wahrscheinlich als ersten russi-schen Text überhaupt übersetzt.6 Celans Übersetzungsarbeit aus dem Russischenbeginnt also bezeichnenderweise mit dieser geradezu kosmischen Feier des Re-

5 O. Mandel'stam: Sohmmja v dvuch tomach [Werke in zwei Bänden], Moskva 1991, S. 33 (Sigle Smit Band und Seitenzahl). Soweit nicht anders angegeben, sind alle Übersetzungen von derVerfasserin.

6 Vgl. „Kyrillisches, Freunde, auch das...". Die russische Bibliothek Paul Celans im Deutschen Litera-turarchiv Marbach. Aufgezeichnet, beschrieben und kommentiert von Christine Ivanovic, Mar-bach 1996, S. 34.

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Paul Celan und Osip Mandel'stam 9

volutionsgeschehens. Nach dem Zeugnis Georgij Ivanovs ist dieses Arbeiterliedtats chlich auch f r Mandel'stam bedeutsam gewesen:

Majio KOMy meecTHO, HTO, napaay c «AaHo MHC TCJIO ...» H .apyrnMH HyaecHHMH cTHxaMH, ΠΟΛΒΗ-BiiiHMHCH B «AnoJuiOHe» 1911 rofla H τακ Hac Bcex nopasHBiiiHMH, MaHAejibiiiTEM coHHHajiMHOKCCTBO «nOJIHTHHCCKHX CTHXOB», F1OXCOKHX Ha -fllCy OBHHa-MeJIblllHHa. «CHHH6 ΠΗΚΗ OOHH-

MyTCH c BHjiaMM. H oGarpflTca B κροΒΗ», - cjia ocjiOBHJi OH rpjmyuiyio peBOjuouHio. «Bapiii-3BHHKy» OH CHHTaJI Η6Πρ€Β30ΗΑ€ΗΗΜΜ o6pa3UOM rpa)iCaaHCKOH ΠΟ33ΗΗ.7

Celan kannte diese Aufzeichnungen von Mandel'stams akmeistischem Dichter-kollegen vielleicht. Ein Hinweis darauf k nnte scHon die russische Umschriftdieses urspr nglich polnischen Liedes sein: Warsch(o)wjanka statt Warszowianka. Das Singen der „Warschowjanka" im Gedicht ist Ausdruck eines trotzdes absehbaren Todes noch bestehenden Beharrens auf Ver nderung und Wi-derstand, und damit ist dieses Singen auch Allusion auf einen anderen ,ροίηί-schen Aufstand4: den Aufstand des Warschauer Ghettos. Die Evokation einesgemeinsamen, widerst ndigen Singens im Angesicht des Todes — der ja mitdem Petrarca-Verweis ausgesprochen wird — bedeutet auch ein Gedenken derosteurop ischen Juden, deren Hoffnungen gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufrechtliche Gleichstellung und politische Selbstbestimmung zielten und dann inTod und Vernichtung endeten. Renaissance-Humanismus und Sozialismus, Pe-trarca und die „Warschowjanka" sind letzte Zeichen eines verdunkelten Lichtsder Utopie, in deren Horizont sich sowohl Mandel'stam, als auch Celan bewu tstellen. In seiner letzten Ver ffentlichung, der Reise nach Armenien (Πγ-TeiuecTBue B ApMenHio, 1933), verschreibt sich Mandel'stam ganz einem Imperati-vischen Sprechen im Horizont des Sollenden: „Ich m chte im imperativen Parti-zip der Zukunft, in der passiven Handlungsart leben — im «sollenden Sein»(AOjDKCHCTByiomHH 6biTb) So kann ich atmen. So gef llt es mir. [...] Deswegengef llt mir auch das gepriesene lateinische «Gerundivum» so sehr." (S II, 128).Jahre sp ter liest Celan aufmerksam und in eigener Wortakzentuierung dieseStelle und stellt sie an den Schlu seines Radioessays ber Mandel'stam: „DasGerundiv — das ist das Mittelwort der Leideform der Zukunft."8 Das „Lichtder U-topie" Celans und das Imperativische Gerundiv Mandel'stams sind beidesBekenntnise zu einer unver u erlichen Grundbedingung des Menschseins undsomit auch des Schreibens (GW III, 199).

7 „Wenigen ist bekannt, da Mandel'stam, neben «Man gab mir einen Korper» und anderenwunderbaren Gedichten, eine Vielzahl «politischer Gedichte» schuf, die 1911 im «Apollon»erschienen, alle in Erstaunen setzten und denen Jakubovic-MeFsins hnelten. «Blaue Lanzenwerden mit Heugabeln ergriffen. Und r ten sich in Blut», so r hmte er die kommende Revolu-tion. «Die Varsavjanka» hielt er f r das un bertroffene Vorbild staatsb rgerlicher Dichtung"G. Ivanov: Osip MandeFstam, in: Novyj fyrnal, 43 (1955), S. 276. Die .staatsb rgerliche Dichtung*bezieht sich auf eine Tradition engagierten Dichtens in Ru land, f r die besonders der NameN. A. Nekrasov steht.

8 P. Celan: Die Dichtung Ossip Mandelstamms, in: Ossip Mandelstam: Im Luftgrab. Ein Lesebuch,Z rich 1988, S. 69-81, hier S. 81.

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Unter dem Einfluß der Lektüre Mandel'stams und weiterer russischer Auto-ren vollzieht sich bei Celan auch eine erneute Bewußtwerdung der eschatologi-schen Seiten der sozialen Bewegung im europäischen Osten. Celan konstatiertin seinem Radioessay einen religiösen Sozialismus Mandel'stams:

„Sein Sozialismus ist ein Sozialismus ethisch-religiöser Prägung; er schreibt sich von Herzen,von Michailowskij, von Kropotkin her; und nicht von ungefähr hat sich der Dichter inden Jahren vor der Revolution mit den Schriften Tschaadajews, Leontjews, Rosanows und.Gerschensons befaßt. Politisch steht er der Partei der Linken Sozialrevolutionäre nahe."9

Utopie scheint gerade aus russischer Sicht immer auch einen Sprung ins Kosmi-sche zu bedeuten. Celans Gewährsmann in Sachen Anarchismus und Sozialis-mus, Gustav Landauer, spricht in einem Aufsatz über Kropotkin einmal sogarverallgemeinernd von der „russischen Form des Hineinragens des Absoluten inunser irdisches Leben".10 Das Visionäre, Inspirierte und gleichzeitig so bedin-gungslos Erdverbundene einer im Osten beheimateten Sageweise fasziniert Ce-lan besonders an Esenin, an Blök und an MandePstam. Das Unendliche beruhtauf der Annahme der eigenen Endlichkeit, Sterblichkeit und Begrenztheit, dienur so im Gedicht ,unendlichgesprochenc werden kann. Die entstehende Polari-tät verweist ins Offene und Leere. Auch in MandePstams RevolutionsgedichtDie Freiheit, die da dämmert (CyMepicn CBo6o;u>i, 1918) tritt „Herzschlag"und „Aon" zusammen (GW V, 623).n Die Revolution wird zu einer Erfahrungdes „Anbruch(s) des Anderen", zu einer „Umwälzung von geradezu kosmi-schem Ausmaß".12 Die physikalischen Gesetze sind aufgehoben, die „Erdeschwimmt", die Sonne verschwindet bedrohlich, ein Aufstand der Elementevollzieht sich, aber die Verbundenheit mit der Erde und dem Einzelschicksalmuß bestehen bleiben, um nicht ins Joch der Macht* zu geraten :

»[···]Die Sonne - unsichtbar. Die Elemente, alle:lebendig, vogelstimmig, unterwegs.[...]Die Erde schwimmt. Ihr Männer, Mut, aufs neue!Wir pflügen Meere, brechen Meere um.Und denken, Lethe, noch wenn uns dein Frost durchfährt:Der Himmel zehn war uns die Erde wert. (GW V, 103)

„Etwas war da hineingeraten"13

Celan unterstreicht in seinem Radioessay immer wieder das Befremdliche derPerson und Dichtung MandePstams: Seine Impulsivität, sein Lachen, seine mit

9 P. Celan: Die Dichtung Ossip Mandelstamms, op. cit, S. 75.10 G. Landauer: Zwang und Befreiung, Köln 1968, S. 154.11 Vgl. hierzu B. Böschenstein: Celan und Mandelstamm. Beobachtungen zu ihrem Verhältnis, in:

Celan-Jahrbuch 2 (1988), S. 159.12 P. Celan: Die Dichtung Ossip Mandelstamms, op. cit., S. 75.13 Ebd., S. 69. · - .

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einer außerordentlichen Unbotmäßigkeit und Kompromißlosigkeit gepaarteFurchtsamkeit erwecken sein besonderes Interesse. Viele dieser Charakterisie-rungen findet Celan in biographischen Aufzeichnungen. Er verarbeitet BerichteGeorgij Ivanovs, Zinaida Gippius' und Irina Odoevcevas, die sein Bild von Man-del'stam als einer exzentrischen Person, die Befremden auslöst, ständig gegenOrdnungen verstößt und zur Unberechenbarkeit neigt, geprägt haben: Die früh-symbolistische Dichterin Gippius etwa erwähnt 1924 rückblickend den seltsa-men Eindruck, den MandePstams Dichtung machte: „In die Verse des Jungenwar «etwas hineingeraten»"; mit Bezug auf sein häufiges Lachen schreibtOdoevceva, daß die grausame und „irrationale Komik" der Welt in ihm denbeständigen Reiz zum Lachen hervorgerufen habe; Ivanov bezeugt wiederumdas Befremden, welches dieses Lachen in der Umgebung auslöste.14 In einerabsurden Welt bringt allein sein befremdendes Dichten und Lachen die Wahrheitzurück. Seine Dichtung hat sich auf das Fremdeste hin ausgerichtet, und vondaher rührt das Gefühl eines Fremdkörpers im Gedicht. Die zeitgenössischenBerichte sind der Beleg dafür, daß Mandel'stam seinen widerständigen Gedich-ten, seinem Imperativ ^achlebt' — wie es Celan selbst in seinem Radioessayausdrückt. Im Terror der 30er Jahre wird Mandel's tarn zum Gegenbild des ange-paßten Schriftstellers und sein Wort versteht sich als Gegenrede. Trotz seinergroßen Furcht vor Denunziation und Verhaftung liest er sein Stalinepigrammeinem großen Bekanntenkreis vor und ruft durch dieses Beharren auf der Wahr-heit seine Mörder geradewegs herbei. Selbst sein letzter Versuch zur Selbstret-tung, seine Ode an Stalin (O&a Grammy, 1937) ist keineswegs Unterwerfung.Die Ode gelingt allein als Preisode im Konditional, als „Körper einer Ode", derunbewohnt bleibt.15 Sein Tod 1938 wird schon von Zeitgenossen als ,schlüssi-ges* Ende seines Lebens und Schreibens in solcher Zeit gelesen. Mandel'stamselbst hat diese Lesart verstärkt, wenn er schreibt: „mir scheint, man darf denTod eines Künstlers nicht von der Kette seiner schöpferischen Errungenschaf-ten ausschließen" (S II, 157). Eben diese den Untergang miteinrechnende Wider-ständigkeit erweckt in Celan das Gefühl, mit Mandel'stam einen Weg „aux cotesde PIrrefutable et du Vrai" zu gehen.16 Luciles Gegenwort und Tod ist auchdas Schicksal Mandel'stams. Die Spur einer befremdlichen aber /wahren* Schrift,schreibt sich ins Leben weiter. Das Gegenwort der Dichtung ist ein Schritthinaus — ein ,Akt der Freiheit* gewiß, aber mit unausweichlicher Konsequenz.

14 Z. Gippius: „B CTHXH 3Toro IOHUH «HTO-TO nonajio»". Vgl.V. Krejd/ E. Neceporuk (Hg.): Ostp Man-dentam i ego vremja [Osip Mandel'stam und seine Zeit], Moskva 1995, S. 69. Die Berichte G. Iva-novs und I. Odoevcevas finden sich auf S. 72 und S. 146.

15 VgL Michael Ignatieff, Geflüster aus dem Abgrund. Künstler unter Stalin - Stimmen aus Ge-heimarchiven, in: Lettre 35 (1996), S. 30. Ignatieff referiert v.a. die Meinung des südafrikanischenSchriftstellers J. M. Coetzee!

16 Brief an G. Struve vom 29. Februar 1960, in: W. Hamacher/ W Menninghaus (Hg.): Paul Celan,Frankfurt am Main 1988, S. 13.

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„Mit Namen, getränkt/von jedem Exil"17

MandcPstam scnsibilisiert sich schon außergewöhnlich früh für den Verlust desIndividuellen durch den Ausschluß des Anderen. Diesem drohenden Verlustbegegnet er gerade in den 30er Jahren in seiner Reise nach Armenien miteiner außerordendichen Suche nach dem Unbekannten und Nicht-mehr-Be-kannten. Aber auch schon 1922, kurz nach Revolution und Bürgerkrieg, schreibter prophetisch, das Jahrhundert stehe „im Zeichen herrischer Intoleranz, Ten-denz zu Ausschluß und bewußtem Nicht- Verstehen anderer Welten".18 Manfindet kaum einen zweiten Dichter in Rußland mit einer solchen Aufmerksam-keit für die Ausschließlichkeitsansprüche einer Gesellschaft gegenüber anderenKulturen und fremden Lebensformen. Celan vertraut sich nicht zufällig geradediesem Dichter in der Niemandsrose an und steht ihm auf vielfältige Weisein seiner mehrfachen Außenseiterposition als Jude und kritischer Dichter bei.

Mandel'stam selbst wird sein Andersseins von Anfang an äußerst direkt be-wußt gemacht. Allein sein Name ist Zeichen seiner im Rußland des spätenZarenreiches nicht einfach zu lebenden jüdischen Herkunft. Pogrome, staatlichverordnete Diskriminierung und die immer noch nicht vollzogene rechtlicheGleichstellung der Juden in Rußland prägt die Zeit vor der Revolution. SeinJudentum zwingt Mandel'stam zum Studium im Ausland und löst in ihm dar-über hinaus Zweifel aus, ob er seinen Platz in einer Rechtgläubigen^ russischenLiteraturtradition finden könne und wolle.19 Ein Gedicht MandePstams aus demJahre 1935 ist auf erstaunliche Weise Teilen von Celans Gauner- und Gano-venweise verwandt. Dem antisemitischen Bild der krummen Nase bei Celanentspricht der krumme Klang des ,unrussischenc Familiennamens Mandel'stam:

3

KaK ee HHKpHBO 3ByHHT, a He npflMO.

17

18 (S II, 200). Hier zitiert nach: O. Mandelstam: Ober den Gesprächspartner. Gesammelte Essays1913-1924. Zürich 1991, S. 171.

19 Mandel'stam muß wegen der ,Zulassungsbeschränkung* jüdischer Studenten in St. Petersburgauf 3% zunächst in Westeuropa (Paris und Heidelberg) studieren. Nur weil sein Vater Kaufmannerster Gilde ist, kann seine Familie überhaupt im Kernland Rußlands leben und ist nicht aufden für die jüdische Bevölkerung an sich verbindlichen „Ansiedlungsrayon" verwiesen. lt>l lläßt er sich dann wahrscheinlich allein zu Studienzwecken methodistisch taufen. Erst die Okto-berrevolution bringt den russischen Juden die rechtliche Gleichstellung.

Zum Problem der russischen Literaturtradition vgl. eine Stelle in Das Rauschen der Zeit „Dawo bei glücklichen Generationen das Epos in Hexametern und als Chronik spricht, dort stehtbei mir das Zeichen des Abgrunds. [...] Was wollte meine Familie sagen? Ich weiß es nicht. Siestammelte von Geburt an" (S II, 41). Seine dichterische Genesis bezeichnet Mandel'stam alseine rein literarische. Sein jBücherregaP wird zum Zeichen dieser literarischen Identität.

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Paul Celan und Osip Mandel'stam 13

Mano B HCM öbijio JIKHCHHOFO,Hpaea OH He 6wji jiHJiefiHoro,M noroMy 3ia yjmuaHJIH, BepncH, 3ja «MaTaK H 30BercH no HMCHH3roro MaaaejibiirraMa ...20

Obwohl Celan dieses Gedicht zur Zeit der Niederschrift derNiemandsrosenicht bekannt ist, kennt er sehr wohl die Wirklichkeit des Gedichts. Mandel'stamhat als einen Ursprung seines Fremdseins seinen ^chiefen', Dummen' Namenausgemacht, der ihn mit dem „jüdischen Chaos" seiner Familie verbindet.21

Mandel'stams Name ist noch mit den Spuren eines früheren deutschen Exilortes„getränkt".22 Paul Celan geht nun in einer frühen Titel- Variante der Gauner-und Ganovenweise mit seinem Namen den umgekehrten Weg: Er gibt sich,dem deutschsprachigen Dichter, einen russischen Namen und erweist sich sosolidarisch mit dem deutschen Namen des russischen Dichters:

„Eine Gauner- und Ganovenweise,im Jahre 1961 gesungen vonPawel Lwowitsch TselanRusskij poet in partibusnemetsldch infidelium" (NR, 42)

Mit diesem russischen Namen grenzt er sich im deutschen Sprachraum gegendie „Stummvölker-Zone", also gegen die Deutschsprechenden ab — das russi-sche Wort für deutsch, nemeckij, ist mit dem russischen Wort für stumm, nemoj,etymologisch verwandt. (NR, 141).

Gerade die Kunst des Sprechensverzerrt unser Gesicht, sprengt

seine Ruhe, zerstört seine MaskeO.Mandel'stam (811,216)

II. Wiederbegegnung in der Poetik

Die „tausendröhrige Schalmei" und die „tausend Finsternissetodbringender Rede"

Mandel'stam versucht Sprache in seiner Dichtung in ihrem geschichtlichen Ge-wachsensein, in ihren Schichtungen transparent zu machen und klingen zu las-

20 Was ist das für eine Straße? / Die Mandel'stam-Straße./ Was zum Teufel ist das für ein Familien-name -/ Wie man ihn auch hindreht,/ Er klingt krumm, nicht gerade.// Wenig ist an ihm linear/Sein Wesen nicht lilienweiß/ und deswegen ist diese Straße,/ oder genauer diese Grube,/ nachdem Namen benannt/ dieses Mandel'stams,,. (S I, 213, Hervorhebung von mir, A. W).

21 Vgl. Das Rauschen der Zeit, S H, 19.22 NR, 111« Zum Thema der nach Polen ausgewanderten Juden aus Mitteleuropa (v.a. Deutsch-

land). Vgl, Heiko Haumann: Geschichte der Ostjuden, München 1990, S. 11 -19.

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sen. Etymologien, unerwartete Paronomasien, fremde Lehnworte (für ihn Ein-sprengsel im Wort-Gestein) erwirken Klangfülle: Das Wort läßt andere Wortemitklingen. Dichten ist vielstimmiges Sprechen. Sprache wird für Mandel'stamvon ihren Sprechern in der Zeit geformt, denn allein die „Zeit gibt Form".23

Sein Verständnis von Sprache ist vor allem am dichterischen Sprechen orientiert.Wenn Dante spricht, sprechen für ihn auch Averroes und Vergil mit, und sprichtPuskin, ist gleichzeitig der Atem Derzavins und Horaz' zu spüren. MandePstambedenkt mit seinem Diktum von der unausweichlichen Dialogizität von Dich-tung („Es gibt keine Lyrik ohne Dialog"24) die Fülle des dichterischen Bewußt-seins und versucht gleichzeitig die Einteilung in nationale Literaturen zu unter-laufen und aufzubrechen. In den 30er Jahren ist es dann auch zunehmend einAnkämpfen gegen die staatlich verordneten Monologizität, gegen Geschichtslo-sigkeit und Vergessen. Unter Anspielung auf ein Gedicht von Aleksandr Puskinspricht er in seinem Essay Das Wort und die Kultur (Cnoßo H KyjiKrypa,1921) vom Wort als einer „tausendröhrigen Schalmei, die plötzlich vom Atemaller Jahrhunderte belebt wird".25

Mandel'stams „tausendröhriges", tönendes Wort steht in spannungsvollemBezug zum Celanschen Wort. Für Celan ist die Sprache in ihrer Vielstimmigkeitversehrt: Die Sprache war und ist Täter, und alles Sprechen, alle Stimmen wer-den in dieser Perspektive gebrochen und mit schwierigster Fracht „angereichert"(GW III, 186). Das Gedicht ist auch für Celan „seinem Wesen nach dialogisch"— MandeFstams Essay Über den Gesprächspartner (O co6eceOTHKe, 1913)war ein Anstoß für Celans eigene Reflexionen über die Dialogizität vonDichtung — , aber die Sprache ist durch „tausend Finsternisse todbringenderRede" hindurchgegangen und kann so keine Feste der Kultur mehr feiern, son-dern muß unabdingbar Zeugnis ablegen (GW III, 186). MandePstam ist eingegen das Vergessen kämpfender Archäologe der Sprache. Celan spürt über dasVergessen und das Offenlegen hinaus mit der Sprache der Wirklichkeit nach.Sein Noch-Sprechen ist dabei ein schmerzvoller Prozeß, wohingegen für Man-dePstam die ,Furche', die der ,versus* des Sprechenden hinterläßt, eine positiveAtembewegung ist, der er in seiner Poesie nachspürt, die er feiert und ihm inschwieriger Zeit das Dichten ermöglicht.

>Kn3Hb JBbiKa OTKpbira BCCM, KaxAbiH , ynacTByeT B ABIDKCHHH asbiKa, H icaxtaoeCJIOBO ocraBJiHCT na HCM CBeacyio 6opO3j5y

033 - IlJiyr, B3pbIBaK>lUHH BpCMÄ TaK, HTO FJiyGHHHbie CJIOH BpCMeHH, 6 HCpHOSCM, OKa3bI-

cßepxy.26

23 Celans Übersetzung von „TOHHT epeMfl" in der Griffel-Ode. Wörtlich übersetzt: „die Zeit schleiftab", d. h. macht den Stein im Wasser zum Kiesel. Vgl. GW V, 138 f.

24 S II, 149: „HeT jmpHKa 6e3 flHajiora".25 S II, 172. Das Gedicht Puskins ist Myaa (Muza, 1821).26 „Das Leben der Sprache steht allen offen, jeder spricht, nimmt an der Bewegung der Sprache

teil, und jedes gesagte Wort hinterläßt auf ihr'eine frische Furche." (S II, 262) „Die Poesie ist

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Paul Celan und Osip MandeFstam 1 5

Bei Celan legt der die Zeit aufreißende Pflug der Poesie nicht mehr nur diekulturellen Zeugnisse der ,Schwarzerde' früherer Zeiten, sondern auch Schrek-ken und Wunden frei:

„Schwarzerde, schwarzeErde du, Stunden-mutterVerzweiflung" (NR, 62)

Mandel'stams Grundvertrauen und Celans grundsätzliche Mißtrauen gegenüberder Sprache unterscheidet beide. Indem Mandel'stam über die Sprache den Wegkulturellen Eingedenkens gehen kann, findet er noch Stimme zum Sprechen.Die Sprache ist der letzte Ort, in dem er noch Asyl finden kann. Celan sieht inder Sprache letztes Exil und Gefängnis zugleich, und er spürt auch stärker denUnterschied zwischen Sprache und Sprecher. Er geht einen Weg zwischen demVertrauen auf Sprache zur Selbst- und Wirklichkeitssuche und dem Eingeständ-nis, dieser Sprache schmerzhaft und wund, ausgesetzt zu sein. So gehen beidemit ihrem „Dasein zur Sprache", aber das Sprachverständnis Celans ist nach derShoah radikaler und illusionsloser (GW III, 186).

Kunstferne und Menschennähe

Ein Unbehagen gegenüber der Kunst, wie sie Celan in seiner Büchner-Preis-Rede zum Ausdruck bringt, steht auch bei MandePstam vor dem Beginn dich-tungsthepretischer Reflexion. Die Zeit der Jsmen* in der russischen Literaturläßt in ihm Skepsis gegenüber Poetiken und ideologischen Vereinnahmungenentstehen:

OFpOHOM 3MOUHOHaJIbHOM BOJIHeHHH, CBH3aHHOM C 3 6 6 HCKyCCTBa,

HTOÖM pasroBopw 06 HCKyccTBe OTJiHHajiHCb BejiHHafimeH

Eloquenz und Beredsamkeit werden auch von Mandel'stam als konträr zur Poe-sie verstanden, was er sehr eindrücklich durch ein Zitat aus Paul Verlaines Artpoetique im Essay Das Wort und die Kultur verdeutlicht: „Prends -quence et tords-lui le cou!" (S II, 171). Poetologische Fragen entstehen beiManderstam überwiegend in kritischer Auseinandersetzung mit einigenAspekten der symbolistischen Poetik, und eine solche Diskussion über die Gren-zen einer großen poetischen Tradition erlangt auch für Celan Bedeutung, wiesein appellativer Hinweis auf die Unmöglichkeit von Mallarmes „absolutem Ge-dicht" in der Büchner-Preis-Rede zeigt. Mandel'stams Polemik beruht auf denEntstehungsbedingungen des Akmeismus selbst, der aus dem Symbolismus her-

ein Pflug, der die Zeit so aufreißt, daß ihre Tiefenschichten, ihre Schwarzerde zutage tritt." (SII, 169)

27 „Angesichts der gewaltigen Unruhe, die in Kunstwerken gebunden ist, wäre es wünschenswert,daß sich Gespräche über Kunst durch eine äußerste Beherrschtheit auszeichneten." (S II, 141)

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vorgeht, und sich von ihm in wichtigen Fragen zu distanzieren sucht. AuchCelan besitzt eine außerordentliche Vertrautheit mit der symbolistischen Lyrik.Dem „unerhörtem Anspruch" eines Gedichts stellt sich auch Celan, aber er gehteinen anderen Weg als den zur poesie pure, schreibt Paul Hoffmann.28 Celanskritischer Distanznahme zu Mallarme in der Büchner-Preis-Rede könnte manMandel'stams ironisch-entzaubernden Ausspruch an die Seite stellen, Mallarmesei ein Scherzbold (LUVTHHK) gewesen.29 Celan kann in Mandel'stams Werk eineganze Reihe von Korrekturen und Neuorientierungen der symbolistischen Poe-tik wiederfinden, die durch Stichworte wie Verdinglichung, Dialogisie-rung, Vermenschlichung, Verzeitlichung oder den Impuls gegeneine bebilderte Sprache angedeutet werden können und die für seine eigenePoetik bedeutend sind.

Verdinglichung betont die neue Sichtweise auf das Wesen des Wortes unddes Gedichts. Widersprochen wird der Vorstellung, das Wort als ein referenzlo-ses Zeichen gebrauchen zu können. Eine isolierte Zeichensprache und der reinbeliebige Verweischarakter des Wortes wird als Basis einer Poetik abgelehnt —was aber nicht die Anerkennung einer Kluft zwischen Zeichen und Bezeichne-tem bzw. der Gefahr eines Abdriftens in Zeichenzonen ausschließt. Aber einegegen die vermeintlich reine Zeichenhaftigkeit der Sprache arbeitende Dichtungwie die Celans und MandePstams will vor allem eine erneute Annäherung andie Wirklichkeit erreichen, möchte eine neue Konkretheit und Referentialität,aber auch sinnliche Evidenz schaffen, die dem Artifiziellen und der Beliebigkeitentgegenarbeitet. Sie will sich nicht von der Wirklichkeit lossagen, sondern sieimmer wieder neu einfangen. Der Dingcharakter, d. h. die Steinhaftigkeit desWortes ist in diesem Sinne unhintergehbar.

Das ,Dingfestmachenc der Dichtung ist auch eine Kritik an den symbolisti-schen „Korrespondenzen" und am „Wald der Symbole" Baudelaires, dem Man-dePstam polemisch seine Identitätslehre entgegensetzt: „A=A: was für ein groß-artiges poetisches Thema", schreibt er 1913 in seinem akmeistischen ManifestDer Morgen des Akmeismus ( AKMCH3Ma, 1913, S II, 144). Er wendetsich damit gleichzeitig gegen das von Vjaceslav Ivanov aufgestellte Ideal desrussischen religiösen Symbolismus von einer realeren Realität im Gedicht (,arealibus ad realiora*) und steht für einen Realismus ein, der auf der Authentizitätder Bewußtseinserfahrung des Wahrnehmenden beruht.30 Eine vergleichbare

28 GW III, 199. Vgl. P. Hoffmann: Vom Dichterischen. Erfahrungen und Erkenntnisse, in: OemDichter des Lesens. Gedichte für Paul Hoffmann. Herausgegeben von H. Delbrück, Tübingen 1997,S. 222: „Der «unerhörte Anspruch», den jedes wahre Gedicht (und sei es auch das schlichteste!)erhebt, ist der seines Sprechens, dessen Art sich von sonstiger sprachlicher Kommunikationunterscheidet und erhöhte Aufmerksamkeit verlangt."

29 Vgl. R. Dutli: Ossip Mandelstam. ffA/s riefe man mich bei meinem Namen'\ Frankfurt am Main 1990,S. 103 und N. Mandel'stam: Vospominanija [Erinnerungen], Moskva 1989, S. 231.

30 Vgl. S II, 173.

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Bedeutung hat Celans Bekenntnis zu einem ,Seelenrealismus*, den er in einemBrief vom 24.4.1962 an seinen Freund Einhorn beschreibt: „Ich habe nie eineZeile geschrieben, die nicht mit meiner Existenz zu tun gehabt hätte - ich bin,Du siehst es, Realist auf meine Weise."31 Celan ist die akmeistische Wende inder russischen Poesie äußerst bedeutsam, da sie seine eigene Sichtweise vorweg-nimmt. So nennt er Mandel'stam in einem Brief an Gleb Struve vom 29. Januar1959 den Dichter, „der dem symbolistischen Ungefähr [...] gegenüber der Ding-lichkeit das Wort redet". Ein Jahr später betont er in seinem Radioessay, daßMandePstams Gedichte „keine das Wirkliche sinnbildlich überhöhende «zweite»Wirklichkeit" seien, sondern „phänomenalen Charakter" hätten.32 Die Spra-che seiner Gedichte sei „weder «Entsprechung» noch Sprache schlechthin". Ce-lan erkennt also Mandel'stams Position außerhalb des Symbolismus (BaudelairesGedicht Correspondance) und Futurismus (das futuristische Manifest vonder angeblichen Existenz eines ,Worts als solches*). Celan geht zusammen mitMandePstam einen anderen Weg. Sie suchen eine neue realistische Dichtung, diesowohl einer Gewaltanwendung („Wortschöpfung, Wortzertrümmerung"), alsauch einem symbolistischen ausweichenden Nennen („Stimmungspoesie") wi-dersteht, ein Realismus, der auf der Haltung des aufmerksam das GegenüberWahrnehmenden fiißt, der — und dies betont Celan noch mehr und expliziterals MandePstam — seine eigene Existenz immer mitbedenkt.33

Celans Gedichtband Die Niemandsrose, den er Osip MandePstam wid-met, ist Ausdruck dieser erstrebten Konkretheit und Dinglichkeit in der Schreib-weise. Ein Hinweis darauf ist schon das Zitat aus Dantes Commedia, dasCelan in einem Entwurf als Epigraph vor den Gedichtband stellen wollte: „siehe dal fatto il dir non sia diverso" (daß von der Sache die Rede sich nichtunterscheide, Inf. XXXII, 12). Mit MandePstam und Dante als Gewährsleutengeht Celan den Weg zu einer authentischeren, konkreteren Sageweise mittels desNamens, der Daten und des Zitats — auch wenn diese für die Endfassung oftgetilgt werden. Ein dichtes Netz verschiedenster Stimmen — vor allem jüdischerbzw. östlicher — bewirkt einen höchsten Grad an zeitlich-räumlicher Verortungund Dialogisierung. MandePstam, dessen Texte Grundlage der sowjetischenIntertextualitätstheorie wurden, und Dantes Commedia (nach MandePstameine „Reise mit Gesprächen") haben sich nicht zufällig gerade in diesen Gedicht-band eingeschrieben.34 Die gestaltwerdenden Stimmen, die zur Stimme Celanshinzutreten, scheinen ein in dieser Dichte neues Element zu sein. Die poten-zierte Wirklichkeitsdichte beruht aber auch auf einer sinnlicheren und anschau-

31 Vgl. Die Zeit vom 27.10.95.32 Paul Celan: Die Dichtung Ossip Mandelstamms^ op. cit., S. 70.33 Ebd., eine Ausnahme unter den Futuristen stellt für beide allerdings Velimir Chlebnikov dar.34 O. Mandel'stam, Slow / kuFtura. O poe^ii, Ra^govor o Dante, Sta?i> Recen^ii [Das Wort und die

Kultur. Über die Poesie, Gespräch über Dante, Artikel, Rezensionen], Moskva 1987, S. 160.

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lieberen Sprache. Der menschliche Körper (Finger, Hand, Arm), Gesten undGebärden, Ortsbezeichungen, Richtungs- oder Zeitangaben schaffen eine grö-ßere Bestimmtheit und Plastizität.

Das Zentrum des neuen Realismus ist der Mensch selbst; diese Poetik redeteiner Vermenschl ichung das Wort. Das bei beiden Autoren vielgebrauchteWortfeld des Atems und das Ideal des vom Atem durchwirkten Gedichts zeugenfür das Zurückbringen der Dichtung zum Menschen und zu anthropologischenKonstanten wie Atem, Rhythmus und Körper: Der menschliche Schritt ist dasMaß für den Versfuß, die Pause orientiert sich am Atemholen etc. Eine Poetik,welche nicht zeichenhaftes Sprechen sein möchte, sondern im Gedicht die Phy-sis, die ,Gestalt' des Sprechenden sichtbar machen will wie bei Celan, hat denMenschen zum Zentrum. Dieser Gedanke wird auch schon bei MandePstamkonkret ausgesprochen:

cHJia aKMCH3Ma B CMHCJIC ßCHTejibHOH JHOOBH jiHTeparype, ee THÄCCTHM, ee rpysy,HCOÖblHaHHO BCJIHKa, H ptlHarOM 3TOH ACflTeJltHOH JIIOÖBH H ÖbIJI [...] MyHCeCTBeHHafl BOJIH K 033

H 3 6, B UCHTpC KOTOpOH CTOHT HCJ1OBCK, HC CnJlfOlUeHHtlH B JieHClIIKy JKKeCHMBOJIHHeCKHMH

, a Kaie XOSHHH y ceöa AOMa [...]. (S, , 186)35

Der Mensch wird wieder ins Recht gesetzt, die Worte und Bilder bekommenwieder ihren Bezug zur Wirklichkeitserfahrung der sprechenden Stimme undGedichte werden nicht zu bloßen Zeichen des Erlebten, sondern zu einem ein-maligen Ereignis. Der Dichter, sagt Mandel'stam, sei kein „Homunkulus", derDichtung aus sich selbst zeugen könne, sondern er brauche eine Wirklichkeitals Bezugspunkt, denn „einzig eine Realität [könne] eine Realität zum Lebenerwecken" - Dichtung ist nur so „verdichtete Realität" (S II, 142, 150). Hierbei MandePstam ist also die Figur des die Dinge ,,ansprechende(n) und nennen-de^) Ich" der Büchner-Preis-Rede Celans vorgezeichnet: Der Mensch, der ausseiner Individuation heraus spricht, ist dem Erscheinenden — dem Gesprächs-partner, dem Ereignis, dem Anderen — zugewandt, geht mit diesem zur Spracheund kann allein so dem Gedicht Wirklichkeit mitgeben (GW III, 198).

Beide Dichter haben auf diese Weise ein prozeßhaftes Wirklichkeitsverständ-nis: Celan sagt, er habe Gedichte geschrieben, um sich „zu orientieren", um sich„Wirklichkeit zu entwerfen" (GW III, 186). Mandel'stam ist die materielle Welt,die Wirklichkeit nicht etwas Gegebenes, sondern etwas, das mit dem Menschengeboren wird; damit eine Gegebenheit Wirklichkeit werde, müsse man sie imbuchstäblichen Sinne „wiedererwecken".36 Die Aufmerksamkeit „wird zur

35 „Die Auftriebskraft des Akmeismus im Sinne einer tätigen Liebe zur Literatur, zu ihrer Schwereund zu ihrer Fracht, ist ungewöhnlich groß, und der Hebel dieser tätigen Liebe war [...] dermutige Wille zu einer Poesie und Poetik, in deren Zentrum der Mensch steht - nicht flachgedrücktvon pseudosymbolistischen Entsetzlichkeiten, sondern als Hausherr bei sich zu Hause [...]." (SII, 186, Hervorhebung von mir, A. W.).

36 Brief Mandel'stams an Marietta Saginjan vom 5.4.1933.

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Paul Celan und Osip Mandel'stam 19

Grundvoraussetzung einer solchen Wiedererweckung, denn nur durch sie kanndas Gedicht Ereignis werden:

Τακ, pa3MaxHBaa pyicaMH, opMona, njiereTca no33na, nouiaTMBaacb, rojiOBOKpyaca, 6jia>KeHHo ony-H Bce-TaKH e^HHCTBeHHa« rpeaBaa, e^HHCTBeHHaH npocHyBiuaacH H3 ecero, HTO ecTb B MHpe

(S II, 210)37

Zwischen torkelnder, trottender Trunkenheit und allern chternstem Wachseinbewegt sich f r Mandel'stam das Gesch pf Poesie und Celan schreibt: „DieAufmerksamkeit, die das Gedicht allem ihm Begegnenden zu widmen versucht"ist „eine all unserer Daten eingedenk bleibende Konzentration". Zur Aufmerk-samkeit gegen ber dem Anderen und Unbekannten als „eigentlich k hner Tatdes lyrischen Dichters" bei Mandel'stam, tritt bei Celan noch deutlicher dasunabdingbare Eingedenken der eigenen Kreat rlichkeit hinzu, das Bewu tseinf r die eigenen Daten.38 Im Bild vom „Achsenton der Welt", den es zu verneh-men gilt, kondensiert sich das Bild vom konzentriert wahrnehmenden und spre-chenden Menschen. Celan begegnet seinem „Achsenton" in dem sp ten GedichtMandeFstams, Mit der ger steten Sehkraft schmaler Wespen (Bo-opyaceHHbi 3pem>eM y3KHx oc, 1937), wieder.39 Das Ende des Gedichts bersetztCelan in einer Randnotiz ins Deutsche und Franz sische:

L' entendre, Taxe terrestre, Taxe terrestre...YcjibiuiaTb ocb SCMHYIO, OCL· aeMHyioDer Erde Achse h ren, sie, der Erde Achse...40

Als letztes Beispiel einer Korrektur der symbolistischen Poetik kann MandeP-stams Impuls gegen eine bebilderte Sprache angef hrt werden. Celanseigene Vorbehalte gegen eine vom Visuellen herkommende, ornamentale, aufge-setzte Bildlichkeit werden in der B chner-Preis-Rede ausgef hrt. „Schreibe bil-derlose Verse, wenn du kannst", fordert Mandel'stam und spricht damit derBildsprache sein Mi trauen aus (S II, 171). Erl uternde, also „ u erliche" poeti-sche Bilder seien Teil einer starren und unbeweglichen Zeichens'prache und so-mit das Gegenteil von Poesie. Mandel'stam schafft den Begriff des „innerenBildes":

CruxoTBOpcHHe HBO ΒκντρβΗΗΗΜ o pasoM, TCM ssynaiUHM CJICIIKOM φορΜΜ, κοτορκοnanHcaHHoe crnxoTBOpenHe. HH ΟΛΗΟΓΟ cjioea eme HCT, a cxHxoTBopeHHe y»ce SBVHHT. 3το 3ByHHTBHyrpeHHHH oGpas, 3TO ero ocjnaej cjiyx

37 „Die Arme schwenkend, murmelnd, schleppt sich die Poesie daher, schwankend, mit schwindeli-gem Kopf, selig von Sinnen und trotzdem als einzige n chtern, als einzige erwachend ausalldem, was es auf der Welt gibt." (S II, 210)

38 GW III, 198 und S II, 377.*39 GW i9 276.40 Vgl. „Kyrillisches, Freunde, auch das...", op. cit., S. 124.41 Ebenda: „Das Gedicht ist lebendig durch das innere Bild, jenen klingenden Abgu der Form,

, der dem niedergeschriebenen Gedicht vorausgeht. Es gibt noch kein einziges Wort, doch dasGedicht klingt bereits. Es klingt das innere Bild, das vom Geh r des Dichters erf hlt wird." (SII, 171)

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Damit wird das Bild an das innerlich Geschaute und Gehörte des Sprechendenzurückgcbundcn. Bevor das Gedicht als Körper entsteht, wurde es schon geistiggesehen und ertastet. Für Celan ist der Ort des Gedichts nicht der geeigneteOrt für Metaphern oder Tropen. Ein solches Verständnis von Bildsprache täu-sche falsche Klarheit und ein vermeintlich eindeutiges und einfaches Verstehenvor:

.,., sielogen unser Gewieherum in eine

bebildertenihrer verständlichen Sprachen. (NR, 12)

Das Bild kann nur eine einmalige Kraft in der Gegenwärtigkeit des Gedichtshaben - auch wenn es andere Bilder miterinnert. Die Bildsprache darf keineVeranschaulichung, Repräsentation oder Übertragung sein, sondern sie mußWirklichkeit neu und einmalig einfangen, indem die Kluft von Referenz undZeichenkörper eines Wortes — das Spannungsgefüge zwischen Identität undDifferenz — ausgenutzt wird. Ein Bild kann nicht unverbindlich und künstlichgebildet werden, denn es ist das Resultat des allein hier Wahrgenommenen.Sowohl Celan als auch MandeFstam (der sich durch eine überaus metaphern-reiche Sprache auszeichnet!) sprechen sich nur gegen eine isolierte und for-cierte Bildsprache aus. Beide beleben die Bildlichkeit des einzelnen Wortesund seiner etymologischen, semantischen oder lautlichen Ausdruckskraft wie-der, also die dem Wort innewohnende Differenzfähigkeit. Mandel'stamschreibt, daß es für ihn prinzipiell keinen Unterschied zwischen Wort undBild gebe, denn das Wort sei bereits „versiegeltes Bild", welches nicht entäußertwerden dürfe. Erneut sind es für ihn die Symbolisten, die ein Umdenken undNeubedenken der poetischen Bildsprache hervorgerufenen haben. Sie stopftendie Bilder mit „fremden Inhalten" aus (S II, 182). Resultat sei eine vernichteteWahrnehmung:

Hunero HacroHiuero, . CrpauiHMH KOHTpjjaHC « COOTBCTCTHH », KHBaK>mnx flpyr naapyra. BenHoe noaMHrnBaHHe. HH HCHOFO cjioßa, TOJIBKO naMCKH, He^oroBapHBaHna. PoaaKHBaex na ßeByuiicy, aesymica na poay. HHKTO HC xoner GLITB caMHM co6oH.42

Die ,Entsprechung* Baudelaires hat keine positive Konnotation mehr, sondernimpliziert Maskierung und Falschheit. Dichtung muß gegen dies betäubendeDröhnen der Metaphern und Vergleiche antreten. Drei Verse aus MandePstamsHufeisen finder (HaineAiuHH noflKosy, 1923) finden ihr Echo in einem Gedicht

42 „Es gibt nichts mehr Wirkliches und Echtes. Ein schrecklicher Kontertanz von «Entsprechun-gen», die einander zunicken. Ewiges Zuzwinkern. Nicht ein klares Wort, nur Andeutungen,Nicht-zu-Ende-Sprechen. Die Rose nickt dem Mädchen, das Mädchen der Rose. Niemand willsich selbst sein." (S II, 182£)

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Paul Celan und Osip Mandel'stam 21

aus Celans Atemwende, in dem die Differenz von Wahrheit und Bildspracheins Wort gesetzt wird:

Die Luft erzittert vor Vergleichen.Kein Wort ist besser als das andre,Die Erde dröhnt von Metaphern,...(GW V, 133)EIN DRÖHNEN: es istdie Wahrheit selbstunter die Menschengetreten,mitten ins Metapherngestöber.(GW II, 89)

Die Rose Celans, die Niemandsrose, .nickt' niemandem und gleichzeitig jedemzu, der sie aufsucht. Die Allegorie von der Dichtung ,Rose* findet so ihre radi-kale Neubestimmung. Die Bildlichkeit wird wie das Gedicht selbst zu einemphänomenalen Ereignis. Die Bilder wollen weder Übertragung („Metapher'*)noch Sinnbild („Emblem'*) sein, sondern sich den Sinnen zeigende, aufglühendeBilder.43 Eine von Bernhard Böschenstein zitierte Notiz Celans unterstreichtdies: „Das Bild ist hier nicht Metapher; diese Dichtung ist keine Emblematik;das Bild hat phänomenalen Charakter — es erscheint."44 MandeFstams Vorstel-lung vom ,inneren Bild' und Celans phänomenales Bild' entspringen beide demWillen nach einer Metaphorik, die die Polysemie des Worts im Kontext desGedichts mitbedenkt ohne Referenzen völlig preiszugeben und die in die Vor-stellung von Bildlichkeit auch den Wortakzent und die Lautlichkeit einbindet.Das Wort im Gedicht ist unterwegs, dies macht seine Assoziationskraft aus.Mandel'stam hat dieses Unterwegssein in seinem erstmals 1966 publiziertenGespräch über,Dante (Pasroßop o /Janre, 1933) beschrieben:

JllOÖOe CJIOBO HBJIfleTCH nyHKOM, H CMblCJl TOpMHT H3 6 B pa3HbIC CTOpOHBI, a HC yCTpCMJliieTCÄ B

, cxfrHimajibHyK) .45

Eine übertragene, abstrakte (offizielle) Bildlichkeit würde somit das Verstehenselbst stören, denn das Uneinheitliche, das überraschend Andere und das Zu-sammentreffen des Konträren wären verloren, wenn nicht der ganze Weg mitdem Wort zurückgelegt wird.

Schon das Beispiel des in Celans Gedicht Mandorla genannten Wortes„Mandel" kann diese phänomenale' Bildlichkeit in ihrer ganzen Konsequenzzeigen: Mit der Mandel geht der Leser im Gedicht einen W e g: zu Mandel-stamm, der vom Geschlecht der Mandel abstammt, vielleicht zum blühenden

43 P. Celan: Die Dichtung Ossip Mandelstamms^ op. cit., S. 70.44 Bernhard Böschenstein: Celan und Mandelstamm. Beobachtungen zu ihrem Verhältnis, in: Ce/ati-

JatriwcA 2 (19SB), S. 159. *45 ^jedes beliebige Wort ist ein Strahlenbündel, und der Sinn bricht aus ihm in verschiedene Rich-

tungen hervor und zielt nicht auf einen offiziellen Punkt zu." (S II, 223)

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Mandelbaumzweig Aarons (Num 17n), eventuell auch zur Festlichkeit von Mar-zipan und Mandelgcbäck, zum bittersüßen Geschmack der Frucht selbst undschließlich gelangt er unweigerlich zur Blausäureverbindung in den Mandeln,Vorbild für das Zyklon-B der Gaskammern in den Vernichtungslagern, das dieHaarlocke des Juden nicht grau, sondern „blau" werden läßt (NR, 66).

Die Verzeitl ichung des Gedichts ist ein weiterer Aspekt, der für diepoetologischen Überlegungen Mandel'stams und Celans Bedeutung erlangt.46

Mandel'stams Zeitverständnis steht unter dem unmittelbaren Einfluß HenriBergsons, dessen Vorlesungen er 1907/8 am College de France in Paris hört.Bergsons Hauptidee ist nach Emmanuel Levinas, „la theorie de la duree. Ladestruction de la primaute du temps des horologes".47 In der duree, der reinenZeit, sind die Phänomene nicht nacheinander geordnet, sondern innerlich alsEinheit organisiert. Das Vergangene bildet ein ständig neues Amalgam mit derGegenwart und neigt sich der Zukunft zu. Die Sprache trägt für Mandel'stamdieses Element der Kontinuität in sich. Ein in der Lyrik festgehaltener Augen-blick der Vergangenheit kann deshalb seine Gegenwärtigkeit immer neu zumAusdruck bringen:

HacTcmmee MPHOBCHHC MO^CCT Bbi,aep>KaTL· nanop crojieTHH H coxpaHHTb CBOIO UCJIOCTL·, ocraTLcaTCM ace «ceHHac». Hyacno TOJIBKO yMCTb BbipßaTb ero H3 BPCMCHH, ne noepcAHB ero Kopneii— Hnane OHO äaBÄHey. BHJIJIOH yMeji 3 AeJiaib. KOJIOKOJI CopooHHbi, npepBaBuinii ero paöoxy«Petit Testament» sßyHHT AO CHX nop.48

Die Lyrik ist nicht den Gesetzen einer linearen Zeit unterworfen, denn der„Klang klingt fort, obgleich das, was ihn auslöste, dahin ist" (GW V, 135). Umes in einem Paradoxon auszudrücken: Das Gedicht ist voller Stimme in seinerStimmlosigkeit.

Hinsichtlich der Zeit ist für Celan besonders das Faktum der Spannung einerfremden und eigenen Zeit im Präsens des Gedichts wichtig: Das Ich spricht dasAndere an und bringt dessen Zeit mit ins Gedicht ein. Betont MandePstam (beiallem Spannungsreichtum) aber die Synchronisation von Zeiten, legt Celan denSchwerpunkt auf die Asynchronie und Diskontinuität.

„Noch im Hier und Jetzt des Gedichts — das Gedicht selbst hat ja immer nur diese eine,einmalige, punktuelle Gegenwart — , noch in dieser Unmittelbarkeit und Nähe läßt es dasihm, dem Anderen, Eigenste mitsprechen: dessen Zeit." (GW III, 1 98 f.)

Der Gedanke vom Spannungsverhältnis der Zeiten findet sich bei Celan 2uerstim Radioessay, es ist also ein unmittelbar mit MandePstam zusammenhängender

46 VgL zu diesem Thema besonders B. Böschenstein: Celan und Mandelstamm^ op. cit.47 VgL E. Levinas: Etbique et Infini, Paris 1982, S. 17.48 „Der heutige Augenblick kann den Ansturm der Jahrhunderte aushaken, seine Unversehrtheit

bewahren und das gleiche «jetzt» bleiben. Man muß es nur verstehen, ihn aus dem Boden derZeit herauszureißen, ohne seine Wurzeln zu beschädigen — sonst wird er verwelken. Villonvermochte dies. Die Glocke der Sorbonne, die seine Arbeit am «Petit Testament» unterbrach,erklingt bis heute." (S II, 140)

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Gedanke. Das Spannungsverhältnis verleihe dem Gedicht MandePstams sein„schmerzUch-stoimmes Vibrato".49 Dabei denkt Celan nicht allein an die Über-blendungen oder Synchronisationen von Orten und Zeiten (antikes Tauris undKrim; Petersburg MandePstams und Puskins) sondern auch an das Vibrato inder Grammatik (bei den infiniten Verben), im Versmaß und in den „Intervallenzwischen den Worten und den Strophen, in den «Höfen», in denen die Reimeund Assonanzen stehen, in der Interpunktion".50 Die Zeit hat also ihren vorran-gigen Platz in der Zäsur — Strophe, Satzzeichen, Verweis, Demonstrativprono-men, Rhythmus oder Assonanzen können sie anzeigen. Auch Joseph Brodskybeschreibt in seinem Essay Ein Kind der Zivilisation den verzeitlichtenVers MandePstams: „Es ist besser, nicht vom Thema der Zeit in MandelstamsLyrik zu sprechen, sondern von der Gegenwärtigkeit der Zeit selbst, als Entitätwie als Thema, und sei es nur, weil die Zeit ihren Sitz ohnehin im Gedicht hat,und zwar als Zäsur. [...] Es ist [...] wichtig, sich klarzumachen, daß Mandel-stamm fast jedesmal, wenn er dieses Zeitthema aufnimmt, einen stark zäsurier-ten Vers verwendet, der in Hebungen und Inhalt den Hexameter anklingen läßt.Gewöhnlich ist es ein jambischer Pentameter, der in einen Alexandriner entglei-tet f...]."51 In der Übersetzung von MandePstams Gedicht Schlaflosigkeit.Homer (BeccoHHua. ToMep, 1915) läßt sich zeigen, wie Celan diesen zäsuriertenVers im Deutschen wiedergibt:

Schlaflosigkeit. Homer. Die Segel, die sich strecken.Ich las im Schiffsverzeichnis, ich las, ich kam nicht weit:Der Strich der Kraniche, der Zug der jungen Heckehoch über Hellas, einst, vor Zeit und Aberzeit.

Wie jener Kranichkeü, in Fremdestes getrieben —Die Köpfe, kaiserlich, der Gottesschaum drauf, feucht —Ihr schwebt, ihr schwimmt — wohin? War Helena nicht drüben,Achäer, solch ein Troja, ich frag, was galt es euch?

Homer, die Meere, beides: die Liebe, die bewegt es.Wem lausch ich und wen hör ich? Sieh da, er schweigt, Homer.das Meer, das schwarz beredte, an dieses Ufer schlägt es,zu Häupten hör ichs tosen, es fand den Weg hierher. (GW V, 91)

Das Versmaß ist im Russischen ein mit vielen Pyrrhichien durchsetzter Alexan-driner. Statt diesem durchbrochenen Alexandriner, durch den Mandel'stam dieZeit Homers evoziert, verwendet Celan ein dichtes Netz aus gezielt gesetztenPausen und Wiederholungen („Ich las [...], ich las, ich kam nicht weitci). Inter-valle lassen die Zeit partizipieren, indem sie den Sprechfluß unterbrechen und

, Leerraum schaffen. Die Zeit, derer sich das Ich erinnert, hat gerade in derMittelstellung einer Pause vor und nach ,einst', Raum zum Aufscheinen. Das

49 R Celan: Die Dichtung Ossip Mandelstamms, op. cit., S. 72.50 Ebd.51 Vgl. J. Brodsky: Flucht aus By^an^ Frankfurt am Main 1991, S. 100 f.

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„Fremdeste" kann auf diese Weise sprechend gemacht werden. Zur semanti-schcn Evokation des „einst, vor Zeit und Aberzeit" kommt so die Evokation inder Form. Auch die im Deutschen eingehaltenen Pausen in den einleitendenWorten („Schlaflosigkeit. Homer. Die Segel, die sich strecken") vollziehengleichsam schrittweise das stockende Hinzutreten der anderen Zeit zur Zeit desSprechers. Das beibehaltene Präsens nach dem Doppelpunkt zeigt an, daß derErinnerung an die Lektüre die Vergegenwärtigung der homerischen Wirk-lichkeit folgt. Die ,punktuelle Gegenwart', der das Gedicht verpflichtet ist, wirdam Schluß ihr Tribut gebracht: Das Meer schlägt an das Bettende des Lesenden,was Celan — präziser in bezug auf Zeit und Raum — mit „hierher" übersetzt

III. Wiederbegegnung im Poetischen

Osip MandeFstam schreibt in den Anmerkungen zur Poesie (SaMCTKH o033 , 1923), daß die poetische Sprache eine „umherirrende, vielsinnige Wur-

zel" belebe (S II, 208). Celan spricht in seiner Antwort auf die Umfrage derLibrairie Flinker 1958 davon, daß es der Lyrik bei „aller unabdingbaren Vielstel-ligkeit des Ausdrucks" um „Präzision" gehe (GW II, 167), er unterstreicht mehrals Mandel'stam die schwierige Gratwanderung zwischen Genauigkeit undMehrdeutigkeit. Die Verfahrensweisen beim Umgang mit der Polysemie desWortes ähneln sich aber in vielerlei Hinsicht. Sie entstehen beidesmal in derAbsicht, semantische Überschneidungen zu erreichen, die den Text zugleich„hermetisch und offen" machen, eine Vielstelligkeit also, die nicht jpoetisiert*,sondern nennt und setzt und dabei anderes mitsprechen läßt.52 Die Verfahrens-weisen sind keine handwerklichen npHCMti (Handgriffe, Verfahren), sondern siesind Teil eines menschlichen Sprechens, das nur so von seinem Dasein sprechenkann. Nur zu diesem Zweck werden alle Möglichkeiten etymologischer, phoneti-scher, grammatikalischer oder verstechnischer Art ausgeschöpft.

Beide Autoren besitzen ein außerordentliches Bewußtsein für den Wortkör-per selbst, der in all seinen Qualitäten aktiviert wird, so daß etwas mitklingenkann. MandePstam verwendet von daher außerordentlich gerne eine Art vonPseudo-Paronomasie (figura etymologica), die ein unerwartetes Verstehensmo-ment erzeugt. Ein bekanntes Beispiel ist MandePstams Begriff der Tociea (Sehn-sucht, Schwermut, Langeweile), den er mit der Landschaft der Toscana verbin-det. Heöo (nebo, Himmel) und ne6o (nebo, Gaumen) unterscheiden sich nurdurch einen Vokal in ihrer phonetischen Realisierung. Im Vers ,,̂ ne6o crajioHCÖOM" (daß der Gaumen Himmel werde) wird nun der Mund des verbanntenDichters mit seinem Wunsch nach Weite, persönlicher Freiheit und Redefreiheit

52 So beschreibt Celan in einem Brief an Gleb Struve die Gedichte Mandel'stams. Vgl. W. Hama-cher/ W. Menninghaus (Hg.): Paul Celan, S. 11. · ·

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verbunden (S I, 181). In Worten spricht Unerwartetes manchmal auch schicksal-haft mit. Seinem Exilort Voronez verleiht MandeFstam eine eigentümliche, dieSituation aber treffend beschreibende Etymologie: BopoHe>K'(Vbronez) wird zuBopOH (voron, Rabe) und HO>K (noz, Messer). Celan greift diesen letzten Vers ausdem Gedicht Laß mich frei, gib mich frei, Voronez (Dye™ MCHH, ,MCHH, , 1935) auf und variiert diese Ableitung zu Voronez - sop (vor,Dieb) — H03K (noz, Messer), was er dann sogar als Motto zur Gauner- undGanovenweise in Erwägung zieht.53 Auf ähnliche Weise kann auch bei Celanin der Getrenntschreibung von Dis-parat plötzlich noch das Paradies hervor-schimmern. Unerwartete Bezüge können aber auch ,verschattet' werden54, in-dem z. B. im Gedicht Eis, Eden Augen im Reim auf Laugen trifft.

Auch Metonymie, Metathese oder Anagramm verwendet MandeFstam sehrhäufig. Seinen eigenen Vornamen Osip schreibt er anagrammatisch dem obenschon erwähnten Gedicht Die gerüstete Sehkraft schmaler Wespen ein:ocb (os', Achse), oc (os, Wespe) und OCJL (Osja, Kurzform von Ossip) werdenso in spannungsreichen Bezug zueinander gesetzt. Hinzutreten noch npniiiJiocb(prislos*, genötigt sein), B03,ayx (vozduch, Luft) und nepHoronocwö (cernogolosyj,schwarzstimmig) (S I, 239 f.). So wird Verschiedenstes und Widersprüchlichstesgleichzeitig aufgerufen: der andere ,ossetische Joseph*, nämlich Stalin; MaksimGorkis bekannter Aphorismus, der Mensch sei die Achse der Welt; oder dieSchärfe des Wespensehsinns als Vorbild dichterischer Wahrnehmung. Paul An-tschel-Celans Umschreibungen von MandeFstams Name in der Gauner- undGanovenweise haben hier eine Parallele. Auch die Gedichttitel können ande-res mitsprechen lassen: Omry Ronen, ein amerikanischer Literaturwissenschaft-ler, glaubt, daß MandeFstam das griechische Wort ,akmec, das Schlüsselwort desAkmeismus, in seinen ersten Gedichtbandtitel Kamen' (Der Stein) eingeschrie-ben hat. Celans Gedichttitel Niemandsrose könnte man so ebenfalls als eineArt Anagramm ansehen, findet sich immerhin Osip.E.Mandelstam darin. NichtSprachspielerei, sondern der Versuch, über die schon vorhandene Semantik desWortes hinaus einen Bedeutungsreichtum, eine Bedeutungsüberlappung zu er-wirken, die in ihrem Schillern noch deutlicher zu sprechen vermag, ist der Anlaßfür ein solches Schreiben. Trotz des schnell ausgesprochenen und oberflächli-chen Urteils von der weitaus traditionelleren Dichtung MandeFstams im Ver-gleich zu Celan (Fallbeispiel ist oft der freie Vers, den MandeFstam nur einmalim Hufeisen finder gebraucht), ist hier auf der Ebene der Bedeutungsinterfe-renzen eine große Nähe Celans zu MandeFstam zu spüren.

Die Gedichte MandeFstams weisen oftmals eine geradezu kristallin durch-'scheinende Struktur auf. Das Gedicht Ich singe, wenn der Kehlkopffeucht ist ( >, Koraa ropraHb cbipa, 1937) ist beispielsweise mit den Lautver-

53 S I, 212. Vgl. auch die Motti zur Gauner und Ganovenweise, NR, 43.54 Vgl. Hugo Huppert: Sinnen und Trachten. Anmerkungen %ur Poetologie^ Wien 1973.

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Bindungen ,chi', ,cha', ,ech* oder ,ych* durchsetzt. Damit werden verschiedeneKonnotadoncn des Bereichs Atem, Sprechen, Taubheit aufgerufen. Horizontalund Vertikal spannen sich noch andere Lexemwiederholungen, die sich zu einemdichten Netz verknüpfen und dem Gedicht weniger lineare Kausalität verleihen,als ein Durchscheinen von Bezügen, ein vertikales und horizontales „Sprachgit-ter". Das Gedicht, das für manchen als eine seltsame Anhäufung lose zusam-menhängender Worte erscheinen mag, gibt erst bei einem genauen Lesen feineSinhzusammenhänge frei, ohne dabei eine prinzipielle Offenheit und Dunkelheitaufzugeben. Celans Gedichte sind aufgrund einer größeren Isoliertheit und Her-ausgehobenheit des einzelnen Wortes weniger dicht phonetisch vernetzt, zumin-dest sind sie keine ^Flüsterpoesie* (ein häufig gebrauchtes Wort für das Mandel' -stamsche Gedicht), sondern ein härter gefügter und strengerer Ton — ebendas Resultat der ,grauerenf Sprache. Aber auch bei Celan durchdringt z. B. inFlimmerbaum die bilabiale Verbindung ,mmc das ganze Gedicht, von Flim-merbaum zu Nimmer und Schwimmen, so daß die Worte sich gegenseitig über-lagern und das kategorische Nimmer auch in den anderen Worten nicht anPräsenz verliert.

Die Präzision im Netz des Beziehungsgefüges wird für Mandel' s tarn nichtzuletzt durch die Diskontinuität der Zeichen, besonders der ausgelassenen Zei-chen garantiert:

B OTJIHHHC or rpaMOTbi MystiKajibHOH, OT iracbMa, nanpHMep, no3TH4ecKoe HHCBMOCTcneHH npe^cTaBjiÄCT GoJibiiioH npoGeji, 3HflK>mee OTcyxcTBHe MHoacecTBa snaieoB, yicaaa-

, nozjpaayMeBaeMbix, CAHHCTBCHHO «aenaiomHx TCKCT H saKOHOMepHbiM. Ho ece 3XH3 3 6 MCHCe TOHHbl, HCiKeJIH HOTHbie 3HaKH HJIH TaHUa; nO3THHCCKH rpaMOTHblH

CTaBHT HX OT ceöfl, KaK 6bi H3BJieKaa HX H3 caivioro TeKcra.55

Auch Celan ist das Ausgelassene, das Weiß im Wortblock voller Bedeutung. Vondem, was ausgelassen wird, kann etwas erschlossen werden. Die dem Russischeneigene Verkürzung und Verknappung im Ausdruck (z. B. die Auslassung derKopula ,sein£ im Präsens), die bei MandeFstam und besonders bei Marina Cve-taeva noch gesteigert wird, eignet sich dabei besonders zur Erfahrung einerelliptischen Sprechweise.

Celan und Mandel' s tarn verzichten weitgehend auf Neologismen. Celan ver-wendet Gefundenes aus Fachwörterbüchern, MandePstam glaubt, im phoneti-schen Erz der kaukasischen Sprachen neue Anregung und Belebungen für dasRussische finden zu können.56 Celan widersetzt sich dem „Herumexperimentie-

55 „Im Unterschied zur musikalischen Schriftsprache, zur Notenschrift beispielsweise, zeichnet sichdie poetische Schrift in bedeutendem Maße durch die klaffende Leere einer Vielzahl von Zei-chen, Merkmalen und Hinweisen aus, die man sich hinzudenken muß, um den Text verständlichund regelkorrekt zu machen. Doch diese ausgelassenen Zeichen sind nicht weniger präzis alsdie Notenzeichen oder die Hieroglyphen des Tanzes. Ein Leser, der Poesie zu lesen versteht,setzt sie von sich aus, als ob er sie dem Text selber entlocken würde." (S II, 212 f.)

56 Vgl. S II, 116.

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ren mit dem sogenannten Wortmaterial" als scheinbare Kunstfertigkeit (GW III,177). MandeFstams Befürchtungen gehen dahin, daß Neologismen nur wie „bil-lige Stimulanzen" für den schnellen Konsum wirkten und eigentlich von„Sprachlosigkeit" zeugten (S II, 213). Beide schöpfen hingegen die grammatika-lischen Möglichkeiten des Deutschen bzw. Russischen aus, z. B. die große An-zahl von Verbpräfixen. Allein in Die Silbe Schmerz findet sich ,ent- undgemischt'; ,blühte ab, zuhauf, zutag'; ,rück- und fortverwandelt*. Zusammenge-setzte Worte mit dem gleichen Wortstamm („und Wider- und Gegen- und Aber-und Zwillings- und Tausendknoten", NR, 127) sind ein ähnliches Phänomen.Auch im Gedicht ausgeführte Verbkonjugationen finden sich sowohl bei Celan(„Ich grabe, du gräbst, und es gräbt", NR, 9), als auch bei MandeFstam („yanaji, OH ysHaji, TU yanaji" — ich erfuhr, er erfuhr, du erfuhrst, S I, 235).

Celan weiß, daß das Gedicht sich „am Rande seiner selbst" behauptet, zwi-schen silentium und argumentum. Ein solchermaßen illusionsloses Dichten istsich den eigenen Bedingungen und Grenzen bewußt. Celan kann besondersbeim mittleren und späten MandeFstam ein ebenso die (Un-)möglichkeit vonDichtung mitbedenkendes Sprechen wiederfinden. MandeFstams Atem scheintauszugehen, in teilweise geradezu beschwörendem Ton versucht er sich demVerstummen zu entziehen. Ein verzweifeltes Sprechen ist in seinem Spätwerküberall ins Wort gesetzt.

„Fy6 meßejiHmHXCH OTHHTB BW HC MOFJIH"„ £ 3 6 5KHTL·, AWIHE H

„abixanbe, flbixanbe H[...i„CaM coGoio paaroBOp"57

Das, was bei MandeFstam immer häufiger als poetologische und zugleich exi-stentielle Reflexion im Akt des Sprechens selbst zu finden ist, steht bei Celanvor dem Beginn dichterischen Sprechens. Die letzten Gedichte MandeFstamskennzeichnen damit schon den Ort des Celanschen Gedichts.

57 „Die sich bewegenden Lippen könnt ihr mir nicht nehmen" (S I, 216); „Ich muß leben, atmendund bolschewisierend [.größernd*]" (S I, 217); „Atmen, Atmen und Gesang /[...] Bewegung,Bewegung, Bewegung, ..." (S I, 219); „Gespräch mit sich selbst" (S I, 226).

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