25
Paul Veyne Die griechisch-römische Religion

Paul Veyne Die griechisch-römische Religion - Buch.de · PDF filePaul Veyne Die griechisch-römische Religion Kult, Frömmigkeit und Moral Aus dem Französischen übersetzt von Ursula

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Paul Veyne Die griechisch-römische Religion - Buch.de · PDF filePaul Veyne Die griechisch-römische Religion Kult, Frömmigkeit und Moral Aus dem Französischen übersetzt von Ursula

Paul VeyneDie griechisch-römische Religion

Page 2: Paul Veyne Die griechisch-römische Religion - Buch.de · PDF filePaul Veyne Die griechisch-römische Religion Kult, Frömmigkeit und Moral Aus dem Französischen übersetzt von Ursula
Page 3: Paul Veyne Die griechisch-römische Religion - Buch.de · PDF filePaul Veyne Die griechisch-römische Religion Kult, Frömmigkeit und Moral Aus dem Französischen übersetzt von Ursula

Paul Veyne

Die griechisch-römische ReligionKult, Frömmigkeit und Moral

Aus dem Französischen übersetztvon Ursula Blank-Sangmeister

unter Mitarbeit von Anna Raupach

Mit einem Geleitwortvon Christian Meier

Reclam

Page 4: Paul Veyne Die griechisch-römische Religion - Buch.de · PDF filePaul Veyne Die griechisch-römische Religion Kult, Frömmigkeit und Moral Aus dem Französischen übersetzt von Ursula

Titel der französischen Originalausgabe:

Paul Veyne: Culte, piété et morale dans le paganisme gréco-romain.In: P. V.: L’Empire gréco-romain. Paris: Éditions du Seuil, 2005. S. 419–543.

Ouvrage publié avec l’aide du Ministère Français chargé de la Culture.Centre National du Livre.

Der vorliegende Band erscheint mit freundlicher Unterstützung desfranzösischen Kulturministeriums – Centre National du Livre.

Für Francesca Mareschal

RECLAM TASCHENBUCH Nr. 20393Alle Rechte vorbehalten

© für die deutschsprachige Ausgabe2008, 2015 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

Die Übersetzung erscheint mit Genehmigung der Éditions du Seuil, Paris© 2005 Éditions du Seuil

Umschlaggestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich ForssmanUmschlagabbildung: Apollo und Diana bekränzen einen Kultpfeiler

(bemalte Terrakottaplatte, Rom, Palatin, Antiquarium)Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen. Printed in Germany 2015

RECLAM ist eine eingetragene Markeder Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-020393-4

www.reclam.de

Page 5: Paul Veyne Die griechisch-römische Religion - Buch.de · PDF filePaul Veyne Die griechisch-römische Religion Kult, Frömmigkeit und Moral Aus dem Französischen übersetzt von Ursula

Inhalt

Geleitwort von Christian Meier . . . . . . . . . . . . . . . 7

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13Die antike Vorstellung von den Göttern . . . . . . . . . . 14Die Beziehungen zwischen Göttern und Menschen . . . . 18Die Qualität des Heiligen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23Die Liebe zu den Göttern . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24Die Mythen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26Die Schwächen der Götter . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28Die Götter und die Hoffnung . . . . . . . . . . . . . . . . 31Ritualismus und Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33Die Götter und der Eid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37Korrektes Auftreten in den heiligen Stätten . . . . . . . . 41Frömmigkeit und Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . 45Die Götter, der Gott, Zeus und die Gerechtigkeit . . . . . 51Spötter und Konformisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57Götter ohne Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60Die Christen – ein Rätsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66Euripides, Antigone: Die Wege der Götter sind

unergründlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71Gleichgültigkeit, Machiavellismus, blinder Glaube . . . . 76Exkurs: Die Religion – ein Konglomerat unterschiedlicher

Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80Sokrates und die Sophisten: Aufklärung oder ein neues

Bild von den Göttern? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86Die Frömmigkeit – eine Tugend des Individuums . . . . . 92Vom Nutzen der Riten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98Ungläubige, Abergläubische, Konformisten, Zweifler,

Beunruhigte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102Frömmigkeit und Keuschheit: die Priester und ihre

Porträts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108

Page 6: Paul Veyne Die griechisch-römische Religion - Buch.de · PDF filePaul Veyne Die griechisch-römische Religion Kult, Frömmigkeit und Moral Aus dem Französischen übersetzt von Ursula

6 Inhalt

Die Frömmigkeit des Volkes . . . . . . . . . . . . . . . . . 118Der späte Paganismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121Exkurs: Die Religiosität (das religiöse Empfinden) –

eine »virtuelle Partei« der Mehrheit . . . . . . . . . . . 124Gab es eine Religiosität der Stoa? . . . . . . . . . . . . . . 128Jenseitsvorstellungen und moods . . . . . . . . . . . . . . 132Glaubte man wirklich, daß man die Verstorbenen in ihren

Gräbern mit Nahrung versorgen konnte? . . . . . . . . 136Die Angst vor der Unterwelt und der »gute«

(oder fromme) Tod der Heiden . . . . . . . . . . . . . . 140Schluß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146Zum Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198

Page 7: Paul Veyne Die griechisch-römische Religion - Buch.de · PDF filePaul Veyne Die griechisch-römische Religion Kult, Frömmigkeit und Moral Aus dem Französischen übersetzt von Ursula

Geleitwort

von Christian Meier

Was hatte es mit den antiken Göttern auf sich? Diesen merk-würdigen Wesen, zu denen man betete, denen man Opfer dar-brachte und denen Homer und andere dann auch wieder allesmögliche nachsagten, was der Verehrung eher abträglich zu seinscheint: Betrug, Ehebruch, Eigen- und Eifersucht und ein gerüt-telt Maß an gnadenloser Willkür. Freilich konnte gerade dies zu-gleich ein Grund sein, sich mit ihnen gutzustellen.

Konnten sie den Einzelnen, konnten sie einer Stadt in Notund Bedrängnis beistehen? Und wenn ja, warum? Manches deu-tet darauf, daß es nicht viel mehr als eine Laune war, wenn siesich einem Menschen, einem Helden besonders zuwandten. Ge-wiß, gelegentlich mochten sie sich besorgt zeigen. Wie Menschenauch konnten sie, was immer sie als einzelne anstellten, gemein-sam empört sein, wenn etwas ganz aus dem Ruder zu laufendrohte. Aber letztlich hatten sie nur sich selbst im Kopf, wieder-um wie Menschen auch. Nur waren sie eben unsterblich, so daßalles, was sie taten, für sie selbst so gut wie folgenlos blieb. BeimAusbruch des Vesuvs glaubten die Bewohner Pompejis, dasEnde der Welt sei gekommen; sie verfielen dem Tod, die Götteraber, meinten sie, hätten die Erde schon verlassen. Die Existenzder Götter für möglich zu halten, fiel den meisten leicht; ob siesich um die Menschen kümmerten, war eine andere Frage.

Kein Gedanke an die Liebe (eines) Gottes. Aber dann könnensich die verzweifelten Hoffnungen Notleidender aufbäumen,können dem obersten Gott Zeus inbrünstig ansinnen, daß er fürGerechtigkeit sorge. Und was immer einzelne Götter meinenund zu tun geneigt sind, die Götter insgesamt scheinen für einerechte Ordnung zu stehen. Eine Ordnung, die jeder zu respek-tieren hat.

Page 8: Paul Veyne Die griechisch-römische Religion - Buch.de · PDF filePaul Veyne Die griechisch-römische Religion Kult, Frömmigkeit und Moral Aus dem Französischen übersetzt von Ursula

8 Geleitwort

Das hinwiederum läuft, so jedenfalls für den Gemeinverstand,darauf hinaus, daß die Guten, die Gerechten belohnt, die Unge-rechten bestraft werden müssen. Vieles kann man so interpretie-ren, doch der Rest, der bleibt, ist unter Umständen gewaltiggroß. Und das führt dazu, daß einige anspruchsvolle Geistermeinen, entweder seien sie gerecht oder es gebe sie nicht. Wennes schlimm kommt, kann man aber auch aus Wut über ihr Regi-ment Tempel zerstören. Andererseits kommt ihnen stets dieewige Angst zugute, die sich in der Redewendung »man kannnie wissen« niederschlägt. Und man verehrt sie trotz allem; oderauch deswegen.

Wie also hatten’s Griechen und Römer mit den Göttern? Undwie hatten die, die sie als Gottheiten glaubten, es mit ihnen?Fragen dieser Art (und andere, die sich daran anschließen) sindes, die Paul Veyne in seinem Essay Die griechisch-römische Reli-gion. Kult, Frömmigkeit und Moral aufwirft. Unendlich vieles,was uns in Religionsgeschichten begegnet, läßt er beiseite. Ein-zelheiten von Riten und Opfern, von Fest und Kalender, Vor-zeichen und Mysterienglauben sowie die vielerlei Vorstellungen,die sich mit den einzelnen Göttern verbinden. So auch die Prie-sterschaften und die unterschiedlichen Formen, in denen derZugang zu den Göttern etwa bei den Römern politisch im Sinnevon Herrschaft in Anspruch genommen wurde, während beiden Griechen keiner dazu willens und in der Lage war.

Aber eben dadurch wird der Essay so beweglich. So zielstre-big. Und so faszinierend. Es geht um die ganze Vielfalt des Sich-Verhaltens gegenüber den Göttern; glaubend oder nur Ritenvollziehend; um ein Leben mit den Göttern, wo jede Volksver-sammlung mit Gebeten beginnt, wo man vor jeder Kriegshand-lung die Götter befragt, wo jedes Schlachten ein Opfern ist undsportlicher Wettkampf sowie Chorgesang und Tragödien zu Eh-ren der Götter auf religiösen Festen veranstaltet werden. Undwo sich dann die Philosophen und Gebildeten von den simplenund so selten aufgehenden Rechnungen mit göttlichem Lohn

Page 9: Paul Veyne Die griechisch-römische Religion - Buch.de · PDF filePaul Veyne Die griechisch-römische Religion Kult, Frömmigkeit und Moral Aus dem Französischen übersetzt von Ursula

Geleitwort 9

und göttlicher Strafe lossagen und ein neues Bild der Gottheiterdenken. Es läuft auf einen, wie Veyne sagt, latenten Mono-theismus hinaus, einen, der seines Namens würdig sei; die mo-notheistischen Religionen läßt er dahinter zurücktreten.

* * *

Paul Veyne, 1976 zum Professor am Collège de France beru-fen, ist ein bedeutender Gelehrter. Nicht nur die Wissenschaftvon der Alten Geschichte, die des Altertums insgesamt verdanktihm sehr viele wichtige Einsichten, vielmehr haben seine Arbei-ten weit darüber hinaus das Denken angeregt und befruchtet;Soziologie, Politikwissenschaft, Anthropologie, ja die Geistes-wissenschaften insgesamt und ein breites Publikum darüber hin-aus.

Er kennt die Überlieferung des Altertums wie wenige sonst.Aber er stammt, wie er in seiner berühmten Antrittsvorlesungam Collège gleich zu Anfang beteuert, aus dem Seminar für hi-storische Soziologie. War Schüler des großen Soziologen Rai-mond Aron. Und über alle Gelehrsamkeit hinaus ist er einKünstler; der lebhaften, plastischen Darstellung, der Gedanken-fügung, des Reichtums der Perspektiven. Und er hat sich nichtnur auf viele Weisen mit Dichtung und bildender Kunst der An-tike beschäftigt, sondern auch mit der Dichtung seiner Zeit, alsFreund und Interpret René Chars etwa, auch als Herausgebervon dessen nachgelassenen Schriften. Und eine große Rolle hatfür ihn die Freundschaft und enge Zusammenarbeit mit MichelFoucault gespielt.

1930 ist er geboren, nach dem Krieg kam er auf die Universi-tät. Was man gerade erlebt hatte, kam nicht so leicht zur Ruhe.Es galt, die Konsequenzen daraus zu ziehen. Vieles war zer-stört, gerade auch an selbstverständlichen Voraussetzungen derWissenschaft. In Frankreich wurde das schneller bewußt als indem zunächst einmal so betäubten, in Krankenvorsicht befan-genen Deutschland. In den neu aufgerissenen Horizonten voller

Page 10: Paul Veyne Die griechisch-römische Religion - Buch.de · PDF filePaul Veyne Die griechisch-römische Religion Kult, Frömmigkeit und Moral Aus dem Französischen übersetzt von Ursula

10 Geleitwort

Möglichkeiten hatten sich gleichsam große Leerräume aufgetan.Unendlich vieles in den Wissenschaften verlor seinen festenPlatz und Zusammenhang und geriet ins Schwimmen. Überalldrängten sich Zweifel in den Vordergrund. Wenn man es ernstnahm.

In dieser Lage hat Paul Veyne seine Wissenschaft gründlichund umfassend studiert. Aber er hat sich zugleich veranlaßt ge-sehen, nach den Grundlagen seiner Wissenschaft zu fragen undFolgerungen daraus zu ziehen.

Was ist Geschichte? Gibt es sie überhaupt? Wie kann man sieschreiben? Es ist ihm klar, daß die Römer – wie die Griechen –uns sehr fern, sehr fremd sind. Wie ein Ethnologe muß man sichihnen nähern. Unsere Worte, unsere Vorstellungen von denDingen taugen nicht dazu, für die Vergangenheit Wesentlichesauch nur auszudrücken. Herkömmliche Annahmen, die weithinnoch gehegt werden, ja die Hegungen überhaupt, in denen dieeigene Wissenschaft weithin noch befangen ist, aber auch dieIdeologien, insbesondere der Marxismus, sind nicht geeignet,um die fernen Zeiten zu erschließen. Mag sein, daß dabei gele-gentlich das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird. Aber aufdem so bereiteten Boden läßt sich eine erstaunliche Offenheitfür viele neue, verblüffende, irritierende Einsichten gewinnen.

Auf das erste Buch, Comment on écrit l’histoire, 1971(deutsch: Geschichtsschreibung. Und was sie nicht ist, Frankfurta. M. 1990) folgt 1976 die große These: Brot und Spiele (deutsch:Frankfurt a. M. / New York / Paris 1988). Eine umfassende (undwie stets bei Veyne theoretisch umsichtig begründete, immerwieder auch über die Ränder des Themas hinausgreifende) Dar-stellung und Untersuchung jenes eigentümlichen ›Euergetis-mus‹, des Wohltätertums, das den Wohlhabenden teils abver-langt, teils zur Gewohnheit wurde. Warum stifteten sie Bautenaller Art und unterhielten die Bürger ihrer Städte mit Spielen,Gladiatorenkämpfen und öffentlichen Festgelagen? Alle nahelie-genden Erwägungen führen in die Irre. Veyne grenzt das Phäno-

Page 11: Paul Veyne Die griechisch-römische Religion - Buch.de · PDF filePaul Veyne Die griechisch-römische Religion Kult, Frömmigkeit und Moral Aus dem Französischen übersetzt von Ursula

Geleitwort 11

men der Schenkungen an die Allgemeinheit ab gegen christlicheBarmherzigkeit und moderne Wirtschafts- und Sozialpolitik:Universelle Motive des Schenkens, des Mäzenatentums nahmenunter den besonderen damaligen Umständen eigenartige For-men und Richtungen an.

Lange Reihen weiterer Studien schließen sich an. Zu immerneuen Themen türmen sich die Notizen aus Quellen und wis-senschaftlicher Literatur. Zu immer neuen Expeditionen in un-bekannte oder zwar bekannte, aber, wie sich zeigt, bis dato dochnicht recht wahrgenommene Gefilde bricht er auf. Aufs bestegerüstet, aber mit zum Teil offenen Flanken. Kannten die Grie-chen die Demokratie? (deutsch unter diesem Titel, zusammenmit Chr. Meier, Berlin 1988). Glaubten die Griechen an ihreMythen? (Frankfurt a. M. 1987). Warum weigerte sich Sokrates,sich der Hinrichtung durch Flucht zu entziehen? (in neuer Fas-sung 2005 erschienen, noch nicht auf deutsch).

Vor allem aber sind es die Römer, die ihn beschäftigen. Be-rühmt ist die Skizze über Trimalchio, den Helden aus Petronssatirischer Dichtung, einen Freigelassenen, der dank höchst er-folgreicher Geschäfte zu unendlichem Reichtum gelangt; Gutfügt sich an Gut, so daß er über Hunderte von Meilen reisenkann, ohne seinen Fuß je auf Boden zu setzen, der ihm nicht ge-hört. Und doch ist er nur ein Freigelassener mit allen gewichti-gen Einschränkungen, die das mit sich bringt (deutsch in: P. V.,Die Originalität des Unbekannten, Frankfurt a. M. 1988). Veyneschreibt die Geschichte des privaten Lebens im heidnischenRom, eine klassische Darstellung wesentlicher Aspekte der da-maligen Gesellschaft (deutsch: Frankfurt a. M. 1989).

Was er dort ausbreitet, ist teilweise vorbereitet, teilweise wirdes weitergetrieben in Studien etwa über Liebe und Familie oderüber die Eigenart sozialer Kontrollen; über das ständige Krittelnalso – aber auch die für uns so erstaunliche Tatsache, daß Ver-storbene auf ihrem Grabstein die Passanten wissen ließen, ihrArzt habe sie getötet. Oder daß man einen Kaiser öffentlich da-

Page 12: Paul Veyne Die griechisch-römische Religion - Buch.de · PDF filePaul Veyne Die griechisch-römische Religion Kult, Frömmigkeit und Moral Aus dem Französischen übersetzt von Ursula

12 Geleitwort

für lobt, daß er sich nicht wie sein Vorgänger den Gästen rülp-send und mit vollem Bauch gezeigt habe (in: P. V., Die römischeGesellschaft, München 1995).

Weisheit und Altruismus ist die Einführung in die PhilosophieSenecas überschrieben (deutsch: Frankfurt a. M. 1993). Dochkönnte man auch auf Veynes Aufsatz über Machiavelli (»Zyni-ker, Techniker oder Literat«) verweisen oder auf »Ideologienach Marx und Ideologie nach Nietzsche« (beide in P. V., Ausder Geschichte, Berlin 1986). Und sehr vieles andere mehr. Es istjedenfalls ein imponierendes Werk, das er uns vorgelegt hat –und ohne das man das Altertum nicht mehr angemessen zu stu-dieren vermag; auch wenn man manches anders sieht.

Die Übersetzungen sind meist längst vergriffen. Um so dank-barer begrüßt man es, daß der Reclam Verlag hier ein neuesStück aus der Werkstatt dieses großen französischen Gelehrten,dieses unruhigen Geistes, dieses Außenseiters, der mitten in sei-ner Wissenschaft steht, nach Deutschland bringt.

Europa ist ungeheuer reich, gerade auch durch die Vielfalt sei-ner Wissenschaftskulturen. Gewiß, die Wissenschaft ist diesseitsund jenseits des Rheins dieselbe. Aber die Fragen, die Zugängezu ihr sind sehr unterschiedlich. Gerade Paul Veynes Werkmacht dies ganz deutlich. Man muß es allerdings zur Kenntnisnehmen.

Page 13: Paul Veyne Die griechisch-römische Religion - Buch.de · PDF filePaul Veyne Die griechisch-römische Religion Kult, Frömmigkeit und Moral Aus dem Französischen übersetzt von Ursula

Einleitung1

»Alle Religion«, schreibt Kant »[…] besteht [darin], daß wirGott für alle unsere Pflichten als den allgemein zu verehrendenGesetzgeber ansehen«. Das ist für ihn »die Religion in denGrenzen der bloßen Vernunft«. Gibt es also eine enge Verbin-dung zwischen Religion und Moral? Ja, aber diese Verbindunggilt nur für eine Heilsreligion wie das Christentum, die einzigeForm der Religion, an die Kant dachte. Seit zwei Jahrhundertensind wir mit Georg Simmel der Auffassung, daß die Beziehungzwischen Religion und Moral nicht geklärt werden kann, wennman die Frage prinzipiell statt historisch behandelt. Es gibt keineEssenz der Religionen außerhalb ihrer Geschichte. Zwar ist dieWelt von anbetungswürdigen und mächtigen personalen Wesenbevölkert, von denen man Gutes und Böses erwarten kann – wasfür einen Status als Gott hinreicht –, doch sie sind nicht notwen-digerweise ohne Fehl und Tadel. »Die Moral und die Religio-nen«, schreibt Bergson,2 haben »sich unabhängig voneinanderentwickelt und […] die Menschen [haben] ihre Götter immer ausder Überlieferung empfangen […], ohne von ihnen zu verlangen,daß sie ein Sittenzeugnis vorlegten.« Im Falle des Heidentumsist, laut Nilsson, für uns »das Fehlen einer echten Beziehungzwischen den griechischen Göttern und der Gerechtigkeit eingroßes Problem«. Zwar ist Zeus seit Homer und Hesiod derSchirmherr der Gerechtigkeit, aber »die Gerechtigkeit gehört,anders als bei Jahwe, nicht zu seinem ureigensten Wesen.«3

Die heidnische Religion kümmerte sich nur sporadisch undauch nur indirekt um moralische Fragen. Religion und Moralwaren teilweise miteinander verbunden, insofern als man vonden Göttern erwartete, daß sie die Guten begünstigten und dieBösen bestraften und dies auch tatsächlich hin und wieder taten.Außerdem waren sich Götter und Menschen in der Beurteilungder Guten und der Bösen durchaus einig, da sie dieselben Mo-ralvorstellungen teilten und in ein und derselben Welt zu Hause

Page 14: Paul Veyne Die griechisch-römische Religion - Buch.de · PDF filePaul Veyne Die griechisch-römische Religion Kult, Frömmigkeit und Moral Aus dem Französischen übersetzt von Ursula

14 Die antike Vorstellung von den Göttern

waren. Die Götter hatten die Kontrolle über jedes Ereignis, des-sen Ausgang nicht ausschließlich vom Tun des Menschen ab-hängig war. Später wird man mit Hilfe der Philosophie, der Kul-tur, der paideıa, die Gottheit zum Fundament des Guten ma-chen, und dieser Glaube an eine Transzendenz wird grosso modobis ins 18. oder 19. Jahrhundert fortbestehen.

Dies ist also unsere Ausgangsbasis für einen Überblick überden griechisch-römischen Paganismus, der sich von der ethno-zentrischen Vorstellung, die man sich nach dem Vorbild desChristentums zuweilen von den Religionen macht, deutlich un-terscheidet. Dabei werden wir uns mit den zwischen Griechen-land und Rom bestehenden Gemeinsamkeiten befassen und dieOriginalität Roms, das schon sehr früh hellenisiert wurde, nichtbesonders hervorheben.4 Manche dieser Übereinstimmungenhaben einen Zeitraum von mehr als 1000 Jahren überdauert: Siebilden das volkstümliche Sediment des Heidentums; andere ha-ben durch die paideía in den gebildeten Schichten eine Meta-morphose erfahren.

Die antike Vorstellung von den Göttern

Um uns ein klareres Bild machen zu können, müssen wir zu-nächst der Frage nachgehen, was einen heidnischen Gott aus-zeichnete. Dieser hatte mit dem gigantischen, die Welt überra-genden Wesen, dem Gott des Christentums, nur den Namen ge-meinsam. Die antiken Götter leben in derselben Welt wie wir,sie sind wie wir Geschöpfe der Natur, körperliche Lebewesen5

und bilden eine der drei die Natur bevölkernden geschlechtli-chen Spezies (jede Gottheit ist entweder männlich oder weib-lich, sive deus, sive dea): Nach antiker Auffassung gibt es dieTiere – sie sind weder unsterblich noch vernunftbegabt –, dieMenschen – sie sind vernunftbegabt und sterblich – und die so-

Page 15: Paul Veyne Die griechisch-römische Religion - Buch.de · PDF filePaul Veyne Die griechisch-römische Religion Kult, Frömmigkeit und Moral Aus dem Französischen übersetzt von Ursula

Die antike Vorstellung von den Göttern 15

wohl vernunftbegabten wie auch unsterblichen Götter.6 Inner-halb der Welt, der alle diese Geschöpfe gleichberechtigt angehö-ren, führen die Götter und die Menschen, obwohl sie verschie-den sind, ein ganz ähnliches Dasein. In vielen Religionen sinddie Götter nicht besser, sondern nur mächtiger als die Men-schen. Als die Götter dann im Zuge der Reformbestrebungen ei-niger Philosophen zu metaphysischen Wesen und damit zu Mo-dellen der Tugend wurden, kam dies einer Revolution in der Re-ligion der griechischen Eliten gleich.

Die Götter bilden ebenso wie die Menschen eine lebendigeSpezies, eine Rasse, ein genus. Sie sind eine Art außerirdischerLebewesen, mächtige Fremdlinge mit einem eigenen und aufsich selbst konzentrierten Leben, unabhängig von den Men-schen, die ihrerseits ein eigenständiges Dasein führen. Dennochnehmen sie an der Menschheit mehr oder weniger Anteil, kön-nen auf gewisse Aspekte ihres Schicksals Einfluß nehmen, habenjedoch zu ihr (oder einem erwählten Volk) nicht diese essentielleund leidenschaftliche Beziehung, die den jüdischen oder christli-chen Gott auszeichnet. Sie interessieren sich für die Menschennur in dem Maße und aus den gleichen sehr unterschiedlichenGründen und Anlässen, aus denen die Menschen sich für ihres-gleichen interessieren. In erster Linie sind sie an sich selbst in-teressiert und ihre Hauptsorge kreist nicht um das Wohl derMenschheit.7 Käme es zu einer kosmischen Katastrophe, wärensie nur darauf bedacht, die Flucht zu ergreifen und sich in Si-cherheit zu bringen. Beim Vesuvausbruch im Jahre 79 glaubtendie Bewohner Pompejis, daß das Ende der Welt gekommen seiund die Götter die Erde bereits verlassen hätten.8 Um so weni-ger selbstverständlich erscheint es da, daß die Götter auf denGedanken kommen sollten, der Gerechtigkeit zum Sieg zu ver-helfen oder die Tugend zu lehren.

Diese anthropomorphen Götter sind keine das Absolute oderdas Unendliche verkörpernde Wesen, sondern, wie gesagt, eineRasse, eine lebendige Spezies. Man glaubt, daß sie wie wir der

Page 16: Paul Veyne Die griechisch-römische Religion - Buch.de · PDF filePaul Veyne Die griechisch-römische Religion Kult, Frömmigkeit und Moral Aus dem Französischen übersetzt von Ursula

16 Die antike Vorstellung von den Göttern

konkreten Welt angehören, einer Welt, in der es ein Mehr undein Weniger gibt, und an dieser Überzeugung wird man bis insJahrhundert des Sokrates und der Sophisten festhalten. Die Göt-ter sind, wie man angefangen bei den Tragikern bis hin zu Liba-nios hier und da lesen kann, »die Wesen, die den Menschenüberlegen sind«, hoi ton anthropon kreíttous. Der Schritt vonden Menschen zu den Göttern ist ein quantitativer, führt abernicht zum Unendlichen. Deshalb konnten die hellenistischenKönige und römischen Kaiser auch fiktiv vergöttlicht werden.Das war eine hyperbolische, aber keine absurde Ausdruckswei-se: Wenn man von den Menschen zu den Göttern aufstieg, über-schritt man keine kategorielle Grenze. Eine gewisse förmlicheVertrautheit mit den Göttern war durchaus vorstellbar. In denTheoxenien der griechischen Poleis und in den Lectisternien derrömischen Städte wurden diese edlen Fremden diplomatischempfangen und zum Gastmahl geladen. Doch vermutlich konn-ten auch einfache Leute die Götter bewirten.9

Die Götter sind, wie gesagt, mächtig und üben ihre Macht aufder Erde der Menschen aus, aber sehen wir uns vor: In demEntwicklungsstadium des religiösen Denkens, mit dem wir unsgerade befassen, sind sie nicht allmächtig und lenken auch nichtden Kosmos; sie haben diesen weder geschaffen noch ihm seineOrdnung gegeben. Sie sind im Prinzip die Herren der Welt, aberin der Praxis betreffen ihre Verfügungen nur die Spanne, diezwischen den menschlichen Akten oder zufälligen Ereignissenund ihrem guten oder schlechten Ausgang liegt: Eine Schlachtwird gewonnen oder verloren, ein Kranker wird genesen odersterben, die Ernten sind gut oder schlecht; wenn ein Kriegeroder Jäger einen Pfeil abschießt, spricht er vorsichtshalber einGebet, weil er niemals sicher sein kann, sein Ziel auch zu tref-fen. Die göttlichen Interventionen beziehen sich auf diesen klei-nen Bereich des Unvorhersehbaren, der dem entspricht, was wirgemeinhin als »Glück« bezeichnen. Mit etwas Glück werdenwir, wenn die Götter es wollen, syn theoís, cum dis volentibus,

Page 17: Paul Veyne Die griechisch-römische Religion - Buch.de · PDF filePaul Veyne Die griechisch-römische Religion Kult, Frömmigkeit und Moral Aus dem Französischen übersetzt von Ursula

Die antike Vorstellung von den Göttern 17

bei unseren Unternehmungen Erfolg haben. Die »primitiven«Menschen sind genauso realistisch wie wir. Wenn sie sehen, daßsich die Gräser im Wind wiegen, eine Welle Kieselsteine heran-rollt oder der menschliche Fuß Staub aufwirbelt, denken sie nuran eine mechanische Kausalität.10 Die Götter kommen erst dannins Spiel, wenn etwas auf einen Zufall zurückzuführen ist, dersich auf das menschliche Leben auswirkt, oder wenn sich etwasnicht ausschließlich mit der Natur oder der Technik erklärenläßt, sondern wenn eine gewisse Unsicherheit verbleibt: Wirddie richtige Seite die bevorstehende Schlacht gewinnen? Wird je-ner Verbrecher eines Tages für seine Missetaten büßen?

Die Rolle, die die Göttlichkeit bei Ereignissen mit ungewis-sem Ausgang spielt, erklärt die Existenz personifizierter und di-vinisierter Abstraktionen als Gottheiten. Der Zufall, das Glück(Agathe Tyche), der gute Erfolg (Bonus Eventus) sind Götter.Nach der endgültigen Beilegung eines Konfliktes zwischen denPatriziern und Plebejern wurde für die Eintracht in Rom einTempel errichtet, und nach dem Krieg gegen Sparta erhielt 371in Athen der Frieden einen Altar. Das Fieber und die Seuchehatten fast überall in Italien Heiligtümer und Exvotos. Da es in-tellektuell schwierig ist, das Unkörperliche vom Körperlichenzu unterscheiden, verschmilzt ein Ereignis namens Seuche miteinem Wesen, der Seuche, das die Epidemie verursacht hat undfolglich eine Gottheit ist.

Im übrigen fragt man sich nicht, wie es die Götter oder die ver-göttlichten Abstraktionen konkret anstellen, um eine Seuche zuverbreiten, oder ob sie den Soldaten den Arm führen, um ihnenin einer Schlacht zum Sieg zu verhelfen; man beschränkt sich dar-auf, die Auswirkungen dessen festzustellen, was die christlichenTheologen als »besondere Vorsehung« bezeichnen werden, ohnedie sekundären Ursachen, die von ihr beschrittenen Wege, zuhinterfragen. Der Raum des Ungewissen läßt dennoch erkennen,ob diese Vorsehung existiert, ob die Götter, die wie wir ein mo-ralisches Empfinden haben, sich genügend für die Menschheit in-

Page 18: Paul Veyne Die griechisch-römische Religion - Buch.de · PDF filePaul Veyne Die griechisch-römische Religion Kult, Frömmigkeit und Moral Aus dem Französischen übersetzt von Ursula

18 Die Beziehungen zwischen Göttern und Menschen

teressieren, um einer immanenten Gerechtigkeit zum Sieg zu ver-helfen, anstatt sich nur für sich selbst und die ihnen geschuldetekultische Verehrung zu interessieren. Hier ergibt sich ein mögli-cher Anknüpfungspunkt zwischen Religion und Moral.

Da die Götter anthropomorph sind und den Menschen äh-neln, haben sie wie diese ein moralisches Empfinden, auch wennihr Betragen nicht immer einwandfrei ist; die Moral prägt mehroder weniger das Miteinander der homerischen Götter, die dieseMoral, ebenso wie die Menschen, respektieren, selbst wenn sie,wie die Menschen auch, bisweilen gegen sie verstoßen. Götterund Menschen teilen als Bewohner derselben Welt dieselbe Mo-ral; sie ist selbstverständlich und existiert so wie die Erde oderdas Licht per se; die Menschen und die Götter nehmen sie sozu-sagen mit der Atemluft in sich auf. Was ist die Gerechtigkeit? Sieist die Schwester der Jahreszeiten;11 die Moral ist eigenständig,sie ist ebenso natürlich wie die Abfolge der Jahreszeiten. In demhistorischen bzw. vielmehr logischen Stadium, in dem wir unsgerade befinden, war die Gottheit noch nicht die Begründerinder Gerechtigkeit, ja, sie legte sie den Sterblichen nicht einmal alsständige Verpflichtung auf. Hinsichtlich der Moral befanden sichGötter und Menschen auf derselben Stufe. Aischylos konnteeine Szene erfinden, in der einige Götter, die sich nicht einigenkonnten, welches Schicksal sie dem Muttermörder Orest zuwei-sen sollten, ihre Sache vor ein menschliches Gericht, den Areo-pag in Athen, brachten und dort verhandelten.

Die Beziehungen zwischen Göttern und Menschen

Die Beziehungen zwischen den Menschen und den Göttern sinddie zwischen zwei unabhängigen, aber ungleichen Spezies (dierömischen Priester sprachen von der gens deorum), und dieFrömmigkeit besteht darin, die Überlegenheit der Götter in

Page 19: Paul Veyne Die griechisch-römische Religion - Buch.de · PDF filePaul Veyne Die griechisch-römische Religion Kult, Frömmigkeit und Moral Aus dem Französischen übersetzt von Ursula

Die Beziehungen zwischen Göttern und Menschen 19

Wort und Tat anzuerkennen.12 Diese wechselseitigen Beziehun-gen sind diskontinuierlich und abhängig von den Umständen; al-lerdings erwarten die Götter, daß die Menschen ihnen aufgrundihrer Überlegenheit und Macht Ehren (tımaí, honores) erweisen,und es wäre unklug, diese Ehrenerweisung jemals auszusetzen,da die Götter früher oder später die Gottlosen bestrafen und sichauf diese Weise Gerechtigkeit widerfahren lassen. Die Römersind stolz darauf, die kultischen Vorschriften peinlich genau ein-zuhalten, leben deswegen im Frieden mit den Göttern und sindsich ihres Wohlwollens gewiß (pax et venia deum).13

Die Griechen begegnen den Göttern mit demütiger und vonLiebe getragener Frömmigkeit, legen aber Wert darauf, eine ge-wisse Würde zu wahren und einen diplomatischen Abstand zuden fremden Wesen, von denen sie nicht geschaffen wurden, ein-zuhalten. Ihr Verhältnis zu den Göttern ist weder von einemkindlichen und naiven Vertrauen geprägt noch von untertänigerUnterwerfung. Sie wissen, daß die Götter die Stärkeren sind, sierespektieren und verehren sie, so wie es sich geziemt, aber damithat es dann sein Bewenden. Der Stolz verbietet es ihnen, sich alsSklaven eines Gottes zu bezeichnen, wie es in den Religionen Sy-riens und Arabiens üblich ist. Nach ihrer Überzeugung muß manden Göttern gegenüber immer die Unabhängigkeit, Selbstsicher-heit und Ungezwungenheit beweisen, die ein freier Mensch ge-genüber seinen Vorgesetzten an den Tag legt. Andernfalls würdeman, wenn man vor einem Gott zitterte, »die Götter fürchten«,was gleichbedeutend wäre mit deisidaimonía – ›Aberglaube‹ isthierfür übrigens nur eine unzureichende Übersetzung.

In der menschlichen Gesellschaft sind die Großen und Mäch-tigen allesamt Respektspersonen und verdienen Verehrung, aberjeder einzelne sucht sich unter ihnen auf Dauer oder für be-stimmte Gelegenheiten einen Schutzherrn. Auch die Götter er-warten, daß man sie verehrt und ihnen einen Kult widmet. Inder Praxis jedoch wählt sich jede Privatperson und jede Gruppe,abgesehen von ihren Hausgöttern, noch eine spezifische Gott-

Page 20: Paul Veyne Die griechisch-römische Religion - Buch.de · PDF filePaul Veyne Die griechisch-römische Religion Kult, Frömmigkeit und Moral Aus dem Französischen übersetzt von Ursula

20 Die Beziehungen zwischen Göttern und Menschen

heit, die ihre Stadt schützen oder sie von einer Krankheit heilensoll. Die Götter führen, wie schon gesagt, ihr eigenes Dasein, sieverlangen zwar Respekt, drängen sich aber den Menschen nichtauf. Jede Gemeinde, jede Familie, jeder einzelne pflegte somiteine individuelle Form der Frömmigkeit. Mit den Worten vonJohn Scheid: »Ein wesentliches Prinzip der antiken Religionenist ihre Bindung an eine bestimmte Örtlichkeit.«14 So bildetendie verschiedenen Jupiter- oder Merkur-Tempel auch keine ei-nem Papst unterstehende Jupiter- oder Merkur-Kirche. Jederkonnte für die Gottheit seiner Wahl ein privates Heiligtum er-öffnen und wie ein Ladeninhaber auf Kunden warten.15

Die Götter haben ein offenes Ohr für die Anliegen der Men-schen, und beim Ausbruch einer Seuche wird an ihr Mitleid ap-pelliert.16 Jedermann kann, wann immer er möchte, mit ihneneine dauerhafte oder gelegentliche Verbindung herstellen, einGebet an sie richten und sie – gegen das Versprechen eines Ge-schenks – um Hilfe bitten. Man opfert den Göttern, schreibtTheophrast, um sie zu ehren, um ihnen für eine Gunst zu dan-ken oder aber um sie um einen Gefallen zu bitten. Eine solcheBitte wird in Griechenland ebenso wie in Rom als »Gelübde«(euche, votum) bezeichnet, das, wenn man erhört wurde, einge-löst werden muß (zwar wird derjenige, der dieser Pflicht nichtnachkommt, von keinem menschlichen Gericht verurteilt, kannaber von den Göttern bestraft werden17). Der Mann, dessen Frauvor der Entbindung steht, der Reisende, der einen Schiffbruchbefürchtet,18 der Bauer, der sein Ochsengespann verloren hat, derSklave, der auf eine spätere Freilassung hofft19 – sie alle richtenihr Gebet oder ihr Vertragsangebot an die Gottheit ihrer Wahl.Wenn diese das Gebet erhört und die Gunst gewährt, erhält sieeine Opfergabe mit einem erklärenden Exvoto. Der Fromme,der durch die Gottheit von einer Krankheit geheilt wurde, danktihr dafür, »daß er ihr vertrauen konnte und daß er wieder gesundgeworden ist«.20 Die Beziehung zur Gottheit ist die eines Käu-fers zu einem mehr oder weniger verläßlichen Lieferanten. Doch

Page 21: Paul Veyne Die griechisch-römische Religion - Buch.de · PDF filePaul Veyne Die griechisch-römische Religion Kult, Frömmigkeit und Moral Aus dem Französischen übersetzt von Ursula

Die Beziehungen zwischen Göttern und Menschen 21

es handelt sich zugleich auch um einen frommen und dankbarenAustausch, denn, wie wir noch sehen werden, entbehrt der Kon-takt mit einer Gottheit durchaus nicht der Herzlichkeit.

Dennoch leben die Griechen und Römer nicht in Abhängig-keit von ihren Göttern und nehmen nicht alles, sei es gut oderschlecht, von ihnen entgegen. Sie danken ihnen für jede einzelneihrer etwaigen Wohltaten: »Jemand ist zum Volkstribunen ge-wählt worden, er steigt hinauf zum Kapitol und bringt dort einOpfer dar.«21 Wie Ramsay MacCullen schreibt, erwartete manvom Himmel manch unterschiedlichen Gefallen: Auskunft überdie Zukunft, Rettung aus Gefahr, gute Ernten oder die Erhaltungder Gesundheit. Aber man zog daraus nicht den Schluß, daß mandeswegen jederzeit die persönliche Verpflichtung hatte, sich derGottheit unterzuordnen. Daß der Kult eigennützigen Zweckendiente, bereitete ebenfalls nicht das geringste Unbehagen.22

Allerdings müssen sich die Götter in dieser ungleichen, aberfreien und auf den eigenen Vorteil bedachten Beziehung loyalverhalten und »den Menschen die gebührende Achtung erwei-sen«,23 was sie jedoch nicht immer tun. Allzuoft hat man Grund,ihnen Undankbarkeit vorzuwerfen: Obwohl er ihnen manchesOpfer dargebracht hat,24 überlassen sie einen frommen Mannseinem Unglück, der daraufhin aus seiner Enttäuschung auchniemandem gegenüber einen Hehl macht. Wenn sich der Gottals ungerecht erweist, zögert man nicht mit Kritik und weigertsich, ihn weiterhin zu verehren.25 Beim Tod des Germanicus,eines sehr beliebten Prinzen, bewarf das römische Volk die Tem-pel mit Steinen – so wie die Demonstranten bei uns eine auslän-dische Botschaft – und stürzte die Altäre um.26 In der ausge-henden Antike weigerte sich der dem traditionellen Heidentumverpflichtete Kaiser Julian, empört über einen militärischenMißerfolg, dem Gott Mars zu opfern.27

»Die Götter haben mich nicht verschont, aber auch ich werdesie nicht verschonen«,28 kann man in einem Privatbrief lesen. DieGötter sind launenhaft, wankelmütig,29 nachtragend,30 taub oder

Page 22: Paul Veyne Die griechisch-römische Religion - Buch.de · PDF filePaul Veyne Die griechisch-römische Religion Kult, Frömmigkeit und Moral Aus dem Französischen übersetzt von Ursula

22 Die Beziehungen zwischen Göttern und Menschen

ungerecht,31 sie übertreiben,32 ihre Pläne sind unverständlich undinkohärent.33 »Ich nehme es den Göttern übel« war eine gängigeFormulierung.34 Als der Aristokrat Theognis sieht, daß Männeraus kleinen Verhältnissen die Macht übernehmen, wendet er sichmit der gehörigen Festigkeit an den obersten Gott: »Zeus, ichverstehe dich nicht!«35 Die Götter haben ihre Lieblinge, betrei-ben sogar Günstlingswirtschaft, divina suffragatio, und sie habendurchaus nicht immer recht. Manchmal erröten sie sogar über ihreigenes Verhalten: Schließlich schämen sie sich dafür, daß sieHannibal erlaubten, Rom, das sich niemals von ihnen abgewen-det hatte, so lange in Angst und Schrecken zu versetzen.36

Eine Fabel Aesops, eine Theodizee eigener Art,37 gibt vielsa-gend Auskunft darüber, was man von den Göttern hielt. EinMann bezeichnete die Götter als ungerecht und erzählte, daßsie, um einen einzigen Gottlosen zu vernichten, bei einemSchiffsunglück unschuldige Menschen haben umkommen lassen(nach einem verbreiteten Aberglauben drohte ein Schiffbruch,wenn ein Gottloser mit an Bord war).38 Derselbe Mann nun zer-störte einen ganzen Ameisenhaufen, weil er von einer einzigenAmeise gebissen worden war. Nicht anders, so lautet das Fazitdes Fabeldichters, tun es die Götter, wenn sie von einem Gottlo-sen beleidigt werden: Sie verhalten sich genau wie wir und be-seitigen, was ihnen lästig ist.

Da die Götter weder uneigennützig sind noch es peinlich ge-nau nehmen, schließt der Respekt diesen mächtigen Wesen ge-genüber etwas nicht aus, was auf den ersten Blick überraschenmag: den humorvollen Umgang mit dem Heiligen.39 Aristopha-nes so wie vor ihm bereits Homer scherzen über die Götter,schreiben ihnen burleske Verhaltensweisen zu und setzen sie derLächerlichkeit aus. Das hat nichts mit Ungläubigkeit zu tun. Eshandelt sich vielmehr um eine süffisante Revanche an diesenMächtigen, die so wenig zum Vorbild taugen. Der Spott, den dasPublikum am meisten schätzte, war die Darstellung der Götterals Vielfraße, die nach den Opfern der Sterblichen gieren. Eben-

Page 23: Paul Veyne Die griechisch-römische Religion - Buch.de · PDF filePaul Veyne Die griechisch-römische Religion Kult, Frömmigkeit und Moral Aus dem Französischen übersetzt von Ursula

Die Qualität des Heiligen 23

sowenig schloß der Respekt Mauscheleien zwischen den Göt-tern als Gläubigern und den Menschen als Schuldnern aus. Soweihte man einem Gott z. B. ein Schmuckstück, trug es aberweiterhin selbst, statt es im Tempel niederzulegen (eine Inschriftauf dem Objekt bezeugte, daß es dem Gott gehörte).40

Die Qualität des Heiligen

Ganz offenkundig hat der Theologe und Historiker Adolf vonHarnack mit seiner Feststellung, das Wort »Gott« habe für dieHeiden eine andere Bedeutung als für die Christen, vollkommenrecht. Die andere Hälfte der Wahrheit ist, daß ein Gott, gleichgül-tig, ob heidnisch oder christlich, ein und derselben Intentionalitätentstammt, die nur ihm zu eigen ist. Er weckt Gefühle, die ledig-lich er hervorrufen kann, und er hat mit dem Göttlichen oderAnbetungswürdigen41 eine »Qualität«, die allein er besitzt unddie im Französischen nur unvollkommen mit dem Wort »sacré«bezeichnet wird.42 Eine »Qualität« liegt dann vor, wenn der Ge-sprächspartner, dem man sich verständlich machen will, bereitsKenntnis von der Sache, die man bezeichnet, besitzt. Die Qualitätläßt sich nicht durch Vorkenntnisse erklären, da es sich um eineerste Erkenntnis handelt. Man ist auf Tautologien oder Paraphra-sen angewiesen, wie dann, wenn man zu einem Blinden von derFarbe spricht.43 Das Göttliche, für das die Menschen in sehr un-terschiedlichem Maße empfänglich sind44 (die Ursache zahlrei-cher Streitigkeiten), ist, wie Simmel sagt, dennoch »eine primäreQualität, die sich von nichts anderem ableiten läßt«. Es ist durchseine historischen Wandlungen hindurch genauso irreduzibel wiebeispielsweise die Empfindung des Schönen. Trotzdem behaupteich nicht, daß es sich um die Intuition einer Realität handelt.45

Man stellte sich die Götter als überwältigende, anbetungswür-dige, den Menschen überlegene Wesen vor, die, von einem über-

Page 24: Paul Veyne Die griechisch-römische Religion - Buch.de · PDF filePaul Veyne Die griechisch-römische Religion Kult, Frömmigkeit und Moral Aus dem Französischen übersetzt von Ursula

24 Die Liebe zu den Göttern

natürlichen Nimbus umgeben, liebende Bewunderung, Schre-cken und Schauder hervorriefen. Wenn man überrascht wirdund plötzlich diese von Natur aus unsichtbaren Wesen naheglaubt, gerät man in thámbos, ein tiefes Gefühl von Angst, Fas-zination und Staunen. In seinem Hymnus an Apoll vermitteltKallimachos, ein Virtuose des Mimetismus, etwas von dem Ge-fühl der Heiligkeit: Als der Gott unsichtbar erscheint und sichden Verehrern vor seinem Tempel nähert, verbreitet er eine Wel-le, die alles in Erschütterung versetzt. Die Heiligkeit der Göttermacht die Religion zu etwas sehr Erhabenem, selbst in den Au-gen vieler Menschen, die für sie wenig empfänglich sind. Wiesollte es möglich sein, daß so heilige Wesen wie die Götter ge-genüber der ebenso erhabenen Moral gleichgültig sind?

Aufgrund ihrer Heiligkeit unterschieden sich die antiken Göt-ter von anderen imaginären Wesen, die diese Eigenschaft nichthatten. In der Kaiserzeit von Plutarch bis Origines, Porphyriosund Augustinus ist die unsichtbare Welt, abgesehen von den Göt-tern, von einer Vielzahl guter oder böser »Dämonen« bevölkert,die auf zahlreichen Gebieten (bei Orakeln, Krampfanfällen vonSäuglingen, Rebellionen …) ihr heimliches Wesen treiben. ImUnterschied zu den Göttern haben die Dämonen jedoch keineAura des Heiligen, und wenn man von ihnen spricht, vibriert we-der die Seele noch die Stimme. Sie werden nicht kultisch verehrtund erhalten auch keine Votivgaben. Sie gehören in den Bereichdes »Aberglaubens« und nicht in den der Religion.

Die Liebe zu den Göttern

Für die Mehrzahl der Menschen, die für das Religiöse empfäng-lich waren, rief also die Vorstellung von den Göttern starke Ge-fühlsregungen hervor. Man empfand eine kindliche Liebe zu die-sen Schutzmächten, die von einer besonderen Aura umgeben

Page 25: Paul Veyne Die griechisch-römische Religion - Buch.de · PDF filePaul Veyne Die griechisch-römische Religion Kult, Frömmigkeit und Moral Aus dem Französischen übersetzt von Ursula

Die Liebe zu den Göttern 25

waren. Wenn man an Heiligtümern oder Götterbildern vorbei-kam, versäumte man es nie, ihnen mit den Fingerspitzen einenKuß zuzuwerfen.46 Diese Inbrunst ist auch in den HomerischenHymnen spürbar: dankbare Anerkennung und Mitgefühl fürDemeter, die Spenderin des Getreides, die überall nach ihrer ver-mißten Tochter sucht, Bewunderung für Apoll, der die Schlangetötet, sogar hymnischer Jubel für den Trickster Hermes. Mankann nicht an die Götter glauben, ohne sie zu lieben. Aristote-les47 erwähnt mit wenigen Worten diese Liebe (philía), die er mitder der Kinder zu ihren Eltern vergleicht. Er ist fast der einzigeantike Autor, der von der Liebe zu den Göttern schreibt, da mankein Gefühl erwähnt, das so normal und selbstverständlich istund das nicht – wie im Christentum oder der indischen bhakti –um seiner selbst willen gepflegt wurde. Der bhakta ist Vishnu soergeben »wie eine verliebte Frau ihrem Geliebten«.

Dennoch empfanden Menschen, die religiöser waren als ande-re, im Umgang mit den Göttern vermutlich eine Erweiterungihrer Seele, das Gefühl einer inneren Geborgenheit, die mit derharten Realität nichts zu tun hatte,48 und sie erlebten, woraufmich Lucien Jerphagnon hingewiesen hat, eine Transzendenz,die die alltäglichsten Geschehnisse mit einem Heiligenscheinversehen konnte – etwa, wenn der Wunsch, ein verlorenes odergestohlenes Objekt wiederzubekommen, in Erfüllung ging. Manhatte gewiß ein Gefühl der inneren Erweiterung, wenn man anden Gott eine Bitte richtete (ein »Gebet« im antiken Wortsinn),wenn man ein Opfer darbrachte, ein Heiligtum betrat, ein Göt-terbild anbetete oder die Statuette seiner Lieblingsgottheit beisich trug. Nicht alle aber erlebten diese Erweiterung der Seele.Für manche war ein Opfer nichts weiter als die Vertragserneue-rung einer landwirtschaftlichen Versicherung, und eine Statuettewar lediglich ein Amulett, das seinen Träger auf magische Weiseschützte. Die Menschen sprechen nicht von ihrer Liebe zu denGöttern, und so werden in den antiken Texten diese Gefühle,außer bei Euripides, auch nicht erwähnt. Wie soll man dieses