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Peter Scholl-Latour Der Fluch des neuen Jahrtausends

Peter Scholl-Latour Der Fluch des neuen Jahrtausends · PDF filePeter Scholl-Latour Der Fluch des neuen Jahrtausends Eine Bilanz C. Bertelsmann

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Peter Scholl-LatourDer Fluch des neuen Jahrtausends

Peter Scholl-Latour

Der Fluch des neuenJahrtausends

Eine Bilanz

C. Bertelsmann

Redaktion: Cornelia Laqua

Umwelthinweis:Dieses Buch und der Schutzumschlag wurden auf

chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. Die Einschrumpffolie (zum Schutz vor Verschmutzung)

ist aus umweltschonender und recyclingfähiger PE-Folie.

1. Auflage© 2002 by C. Bertelsmann Verlag, München,

einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Design Team MünchenSatz: Uhl + Massopust, Aalen

Druck und Bindung: GGP Media, PößneckPrinted in GermanyISBN 3-570-00537-2

www.bertelsmann-verlag.de

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Erfahrungen im Krieg 27. Juni 1999 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13Bosnien: Die Schaffung von »Absurdistan« 24. Mai 2000 . . . . 18Kosovo: Die Nato in der Balkan-Falle 25. Mai 2000 . . . . . . . . 32Ein neuer Tyrann für Zaire 5. Mai 1997 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46Iranischer Frühling 2. Juni 1997 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48Massenmörder 30. Juni 1997 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50Keine Hoffnung im Orient 25. August 1997 . . . . . . . . . . . . . . . 52Gespensterwahl 22. September 1997 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54Waffenstillstand, aber kein Friede 20. Oktober 1997 . . . . . . . . . 56Signale aus dem »Reich des Bösen« 15. Dezember 1997 . . . . . . 58Die Türkei in der EU 12. Januar 1998 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60Operation »Wüstensturm« 9. Februar 1998 . . . . . . . . . . . . . . . . 62Schwerkranker Zar 6. April 1998 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64Die Zukunft Indonesiens 1. Juni 1998 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66Amerika und China 29. Juni 1998 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68Schamlose Heuchelei 27. Juli 1998 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70Erschütterte amerikanische Allmacht 24. August 1998 . . . . . . 72Die Gier nach Erdöl 21. September 1998 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74Droht nach einem Hauch von Frühling

eine neue Eiszeit im Iran? 18. Oktober 1998 . . . . . . . . . . . . . 76Amerika bläst zum Halali 16. November 1998 . . . . . . . . . . . . . 79Wer spricht offen mit den Türken? 14. Dezember 1998 . . . . . . 81Im Land der Skipetaren 10. Januar 1999 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83Intrigen am Hof des kranken Königs 31. Januar 1999 . . . . . . . . 87Scharnier zwischen Israel und Irak . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90»Heilige Kuh« Indien 8. Februar 1999 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93Eindrücke aus Kurdistan 21. Februar 1999 . . . . . . . . . . . . . . . . . 95Was wollte Khatami wirklich vom Papst? 14. März 1999 . . . . . 98Wie sieht Europa am Tag danach aus? 21. März 1999 . . . . . . . 101Der Kosovo-Krieg kann zum

Flächenbrand werden 28. März 1999 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105Was bleibt von der Nato nach dem Krieg? 25. April 1999 . . . . 108Ein moderner Indianerkrieg 3. Mai 1999 . . . . . . . . . . . . . . . . . 111Die Russen sind wieder im Spiel 9. Mai 1999 . . . . . . . . . . . . . 113Jelzin kämpft wie Boris Godunow 16. Mai 1999 . . . . . . . . . . . 116

Das türkische Volk will den Tod Öcalans 30. Mai 1999 . . . . . 119Mit List und Härte für mehr Frieden 31. Mai 1999 . . . . . . . . . 121Hat die Nato den Krieg wirklich gewonnen? 6. Juni 1999 . . . . 123Werden aus Befreiern bald Besatzer? 28. Juni 1999 . . . . . . . . . 126Irans Regime läßt sich nicht so leicht

aus den Angeln heben 18. Juli 1999 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128Charismatischer Despot und

politischer Jongleur 25. Juli 1999 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131Der chinesische Drache zeigt Taiwan

seine Krallen 25. Juli 1999 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132Ehud Barak, der Wunderknabe 26. Juli 1999 . . . . . . . . . . . . . . . 134Reise durch das Kosovo (I) 8. August 1999 . . . . . . . . . . . . . . . . 136Reise durch das Kosovo (II) 15. August 1999 . . . . . . . . . . . . . . 143Wird Dagestan zum neuen Afghanistan? 23. August 1999 . . . 151Der dreckige Diamanten-Krieg 29. August 1999 . . . . . . . . . . . 153Gaddhafis Show im Wüstensand 12. September 1999 . . . . . . . 155Unabhängigkeit Ost-Timors wird

legitimiert 20. September 1999 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157Zerbricht Indonesien nach der Abspaltung

Ost-Timors? 26. September 1999 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159Was im Kaukasus für Jelzin auf dem

Spiel steht 3. Oktober 1999 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162Pakistan jubelt, die Welt bangt 17. Oktober 1999 . . . . . . . . . . 164Kann ein Blinder Indonesien führen? 24. Oktober 1999 . . . . . 166Ist die Türkei nicht reif für einen Panzer? 31. Oktober 1999 . 168Der Kreml zeigt dem Westen,

wie mächtig Rußland noch ist 21. November 1999 . . . . . . . 171Pekings Drohung aus dem All 28. November 1999 . . . . . . . . . 174Malaysias zäher Patriarch 5. Dezember 1999 . . . . . . . . . . . . . . 176Israel und Syrien wollen sich die Hand

reichen 12. Dezember 1999 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178Feindbild Islam 19. Dezember 1999 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180Schafft Assad Frieden mit Israel? 9. Januar 2000 . . . . . . . . . . . 190Putin wie einst Peter der Große 10. Januar 2000 . . . . . . . . . . . 192Reise nach Absurdistan 6. Februar 2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194Alte Blutfehden 21. Februar 2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202Der neue Streit mit Taiwan ist keine

Peking-Oper 12. März 2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204Israels »Vietnam« 13. März 2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206Die Stunde der Partisanen 19. März 2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . 208Die USA nähern sich dem Iran an 2. April 2000 . . . . . . . . . . . 213Am Pulverfaß Kosovo glimmt die Lunte 9. April 2000 . . . . . . 215Globalisierung – ohne Afrika 10. April 2000 . . . . . . . . . . . . . . 221Rückblick: Die letzten Tage von Saigon 23. April 2000 . . . . . . 223Piratenstück und Heiliger Krieg 8. Mai 2000 . . . . . . . . . . . . . . 230

Die Tragödie des Schwarzen Kontinents 14. Mai 2000 . . . . . . 232Strohfeuer oder neue Intifada? 21. Mai 2000 . . . . . . . . . . . . . . 234Wofür werden deutsche Soldaten in Zukunft

gebraucht? 28. Mai 2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236In Simbabwe haben Europäer keine Zukunft 4. Juni 2000 . . . 239Stets Neues aus Afrika 4. Juni 2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241Koreas feindliche Brüder suchen den Weg

zum Frieden 11. Juni 2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243Clintons »Maginot-Linie« 12. Juni 2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245Die diplomatische »Leichtigkeit des Seins« 3. Juli 2000 . . . . . 247Worum es beim Gipfel in Camp David

wirklich geht 23. Juli 2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249Wladimir Putins Parallelen zu

Peter dem Großen 30. Juli 2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252Der verlorene Sieg 6. August 2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255Putin kann die Fessel Tschetschenien nicht

abstreifen 20. August 2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258Merkwürdige Zufälle in Putins Rußland 20. August 2000 . . . 261Putin lebt im Kalten Krieg 27. August 2000 . . . . . . . . . . . . . . . 264Ein Rücktritt aus Furcht vor dem

Zerfall Frankreichs 3. September 2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . 269Eine Riesen-Zirkusnummer namens

Millenniums-Gipfel 10. September 2000 . . . . . . . . . . . . . . . 272Die totale Abhängigkeit des Homo sapiens 25. September 2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275Der Königsmacher von Belgrad 8. Oktober 2000 . . . . . . . . . . . 277»Jerusalem will ich zum Laststein machen

für alle Völker« 15. Oktober 2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279Arafat in Nahost isoliert 22. Oktober 2000 . . . . . . . . . . . . . . . 282An der Grenze zum Heiligen Krieg 29. Oktober 2000 . . . . . . . 284Eine amerikanische Posse 20. November 2000 . . . . . . . . . . . . 291Hoher Blutzoll am Horn von Afrika 10. Dezember 2000 . . . . 293Clintons Nahost-Plan hat kaum

Chancen 31. Dezember 2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297Das Ende der Ära Clinton 15. Januar 2001 . . . . . . . . . . . . . . . . 299Kongos Ausverkauf nach Kabilas Tod 21. Januar 2001 . . . . . . 301Mit Sharon ist nicht gut Kirschen essen 12. Februar 2001 . . . 304Die Gefahren für die deutsche

Kosovo-Truppe 11. März 2001 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306Der Schwarze Kontinent brennt 12. März 2001 . . . . . . . . . . . . 308Bushs weltpolitischer Lernprozeß 9. April 2001 . . . . . . . . . . . 310Ratlosigkeit im Heiligen Land 7. Mai 2001 . . . . . . . . . . . . . . . 312In Mazedonien haben Nato und EU versagt 4. Juni 2001 . . . . 314Aids in Afrika: Massensterben ohne Grenzen 2. Juli 2001 . . . 316Der Zweifel des Westens an sich selbst 30. Juli 2001 . . . . . . . 318

Über Krieg und Frieden richten in Mazedonien UCK-Kämpfer 12. August 2001 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320

»Ein einziger Krieger zu Fuß…« 16. September 2001 . . . . . . . 322Ungewisser »Kreuzzug« gegen das

»Böse« 24. September 2001 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325Mit der Nordallianz über die Taliban siegen

30. September 2001 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327Frankreichs diskreter Beitrag zum Kampf 7. Oktober 2001 . . 329Die Rache der Hydra 21. Oktober 2001 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331Die Demokratie schlägt in Afghanistan

keine Wurzeln 18. November 2001 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333Nach Afghanistan nimmt Bush den Irak und Somalia ins

Visier 2. Dezember 2001 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335»Ein krasser Niedergang«. Ein epd-Interview mit

Peter Scholl-Latour 24. Oktober 2001 . . . . . . . . . . . . . . . . . 337

Vorwort

»Wir haben das dritte Jahrtausend durch ein Feuertor betreten«; derSatz stammt von Kofi Annan, dem Generalsekretär der Vereinten Na-tionen anläßlich der Verleihung des Friedens-Nobelpreises. Es hättedieses Bezugs auf die New Yorker Tragödie vom 11. September garnicht bedurft, um die psychische Wandlung anzudeuten, die sich un-serer Gesellschaft zu bemächtigen scheint. Vergänglichkeit der mei-sten politischen Projekte und so vieler wirtschaftlicher Heilserwar-tungen – das ist der Eindruck, der sich dem Autor aufdrängt, wenn erauf die Sammlung seiner Tagesnotizen seit 1997 zurückblickt. Wel-che Hoffnungen sind doch zerbrochen, seit die Menschheit sich fest-lich gestimmt versammelte, um den Beginn des neuen Jahrtausendszu begehen! Es läßt sich sogar der Vergleich anstellen zwischen derprallen Zuversicht des 1. Januar 2000 und der Euphorie des 1. Januar1900. »Wir gehen herrlichen Zeiten entgegen«, hatte es vor hundertJahren im Wilhelminischen Reich geheißen. An das bevorstehendeMassensterben in den Schützengräben von Flandern oder vor Verdunhätte damals niemand gedacht.

Lassen wir uns vielleicht durch die Aktualität in die Irre führen?Wie oft ist beteuert worden, die Vernichtung des World Trade Centerstelle einen historischen Wendepunkt dar. In Wirklichkeit ist dort le-diglich der westlichen, vor allem der amerikanischen Öffentlichkeitauf spektakuläre Weise vor Augen geführt worden, daß dem Wunsch-denken Grenzen gesetzt sind, daß die Welt nicht gut und die Mensch-heit nicht lieb ist. Ob die Zahl der Opfer fünftausend oder dreitausendbeträgt, soll gar nicht diskutiert werden. Das Ereignis war grauenhaftgenug. Aber das Massenmorden hat ja viel früher begonnen. In denvergangenen Jahren sind in Zentral-Afrika mindestens zwei Millio-nen Menschen eines gewaltsamen Todes gestorben. Doch niemandhat diesen Völkermord zur Kenntnis genommen. In dieser Hinsichthat sich die Botschaft der Globalisierung mitsamt ihrer aufkläreri-schen Behauptung, alle Menschen seien gleich, als faustdicke Lügeerwiesen. Es ist eben nicht das Gleiche – auch für jeden einzelnen vonuns –, ob die Opfer eines Massakers US-Amerikaner oder Kongolesensind.

Die wütende Entrüstung des Präsidenten George W. Bush undseine Forderungen nach Vergeltung sind nur allzu verständlich. Aberman erzähle uns nicht, der weltweite Terrorismus habe erst mit den

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arabischen Selbstmord-Attentätern von New York und Washingtonseine Fratze enthüllt. Der Terrorismus existiert seit Kain und Abelund hat seitdem nicht aufgehört, in dieser oder jener Form – religiös,ideologisch, nationalistisch oder ganz einfach verbrecherisch moti-viert – seine blutige Beute anzufordern. Der Blick richtet sich da-bei auf Nord-Irland, das Basken-Land, Algerien, Schwarz-Afrika,Kaschmir, die Philippinen etc., etc. und heftet sich schließlich auf das»Heilige Land«. Selbst die USA wurden ja vor ein paar Jahren durchdie mörderische Explosion von Oklahoma erschüttert. Nur war die-ser Terrorismus – wie auch die Ermordnung diverser Präsidenten –»home made«, wie man auf Neu-Deutsch zu sagen pflegt.

In diesem Buch handelt es sich um ein Kaleidoskop von Kommen-taren, Fernseh-Dokumentations-Texten, Reportagen und Interviews.Sie sind in chronologischer Reihenfolge und ohne jede nachträglicheBerichtigung abgedruckt. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung ist diehedonistische Grundstimmung, in der sich die westliche Industrie-gesellschaft sonnte, düsteren Vorahnungen eines langsamen, aber un-aufhaltsamen Verfalls gewichen. Unter dem Schlagwort »Globalisie-rung« triumphierte bisland die Überzeugung, dass die Prädominanzvon Wirtschaft und High-Technology den Primat der Politik abgelösthabe. Das Denken in strategischen Kategorien – so hörte man – seivollends zum Anachronismus geworden. Waren wir nicht am »Endeder Geschichte« angelangt, wie Francis Fukuyama seinen Jüngernverkündete?

Es ist ja gar nicht so lange her, da wurde die Profit-Explosion der»new economy« als Verheißung unermesslichen Wohlstandes gefei-ert. Die überlieferten Normen des ständigen Pendelns zwischen Auf-stieg und Abstieg schienen außer Kraft, der Kurve der Börsengewinnekeine Grenze nach oben gesetzt. Die Finanz-Spekulation wurde zumLebenselement einer ganzen Generation. Der Begriff des »share hol-ders« drohte die staatsbürgerliche Idee des »Citoyen« zu verdrängen,auf die wir uns seit der Französischen Revolution so viel eingebildethatten. Allen Ernstes wurde in Deutschland die Vorstellung erwogen,man könne den Rentnern und Pensionären von morgen, deren Bezügedurch die schrumpfende Demographie nicht mehr zu decken wären,über die Not des Alters hinweghelfen, indem man sie rechtzeitig zumKauf von Aktien anhielt. An ein Schrumpfen der Dividende wolltedoch niemand mehr glauben. Das Wort Rezession war aus dem öko-nomischen Vokabular verbannt.

»Regieren macht Spaß«, hatte es beim Amtsantritt der KoalitionSchröder–Fischer geheißen, und somit erhielt die »Spaßgesellschaft«ihre regierungsamtliche Konsekration. Jedermann sprach von jenerGlobalisierung, die ja auf dem Feld der rasanten Kommunikations-und Informationstechnik tatsächlich alle Erwartungen übertraf. Wernahm zur Kenntnis, daß im »Herzen der Finsternis«, in den verwü-

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steten Städten Afrikas, zwar gewaltiger Werbe-Aufwand für Mobil-Telefon, E-Mail und Internet betrieben wurde, daß sich jedoch zwan-zig Kilometer davon entfernt im Dschungel der Rückfall in die Stein-zeit und ihre düsteren Zauber-Riten vollzog. Nie wirkte Europaprovinzieller als in dieser euphorischen Zwischenphase des Tanzesum das Goldene Kalb. Der kommerzialisierte Exhibitionismus der»Love Parade« zum Beispiel sollte Fröhlichkeit vortäuschen, und wer ahnte schon am Rande des Berliner Tiergartens, daß die permis-sive Überflussgesellschaft, die dort zelebriert wurde, sich auf einerschrumpfenden Insel materiell Begünstigter austobte, daß die weit-aus größte Fläche des Globus weiterhin von Elend und Gewalt be-herrscht blieb.

Schon die Balkan-Konflikte passten nicht mehr in dieses Bildkrampfhafter Harmlosigkeit. Vor allem die Deutschen wurden imKosovo daran erinnert, dass man nicht »in Unschuld regieren kann«,wie die Franzosen sagen, dass man der Tragik der »conditio humana«nicht entrinnt. Gleichzeitig gab sich die neue Plutokratie in denLändern der sogenannten »Dritten Welt« – stimuliert durch die Pro-fitneurose der großen multinationalen Konzerne – als »Raubtier-Kapitalismus«, zu erkennen, wie Helmut Schmidt feststellte. DieAmüsier-Industrie, die durch die Omnipräsenz des Fernsehens einenso ungeheuerlichen Auftrieb erhielt, gefiel sich immer mehr in»Hanswurstiaden«. Wer es nicht verstand, »happy and beautiful« zuerscheinen, war auf der falschen Seite gelandet, galt als »Loser«. Nurnoch finstere Kulturpessimisten mochten an Nietzsche und seinZarathustra-Wort erinnern: »Wir haben das Glück erfunden, sagendie letzten Menschen und blinzeln.« Selbst die Jugend Israels stand jaim Begriff, das mythische Staatskonzept der zionistischen Gründer-väter in eine Art befestigten Club Méditerrannée umzufunktionie-ren. Erst durch die Selbstmordattentäter der El-Aqsa-Intifada wurdensie sich wieder bewußt, daß der Judenstaat dazu verurteilt ist, wieDaniel in der Löwengrube zu leben.

Wird die Verwüstung von »Ground Zero« sich dauerhaft in das kol-lektive Gedächtnis eingraben? Mit dem Abstand von wenigen Mona-ten können wir folgende grundlegende Veränderungen festhalten, diedurch den Schock des World Trade Center bewirkt wurden. Amerikalegt in der Abwehr des Terrorismus eine grimmige, quasi religiöseForm der patriotischen Entschlossenheit an den Tag. Die USA schei-nen gewillt, ihre Rolle als imperiale Hegemonie voll auszuspielen.Das frühere Prinzip amerikanischer Kriegführung unter Bill Clinton:»no dead – keine eigenen Toten« gilt heute nicht mehr. PräsidentGeorge W. Bush fühlt sich offenbar in der Rolle des Welt-Sheriffs undhat einen gnadenlosen Kampf gegen das »Böse« angesagt, der sicheventuell über Jahre und weite Regionen des Erdballs erstrecken soll.Nach der Katastrophe von New York sei sein Land – in einer Reak-

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tion der Selbsterhaltung – »less innocent – weniger unschuldig« ge-worden, verkündete er.

Alle Spekulationen, die verschwörerischen Kräfte des militantenIslamismus zwischen Nord-Afrika und Indonesien könnten der ge-ballten Macht der US-Streitkräfte die Stirn bieten, haben sich zu-nächst als Anmaßung und Illusion erwiesen. Es gibt keine islamischeGroßmacht, sondern nur Gruppierungen religiöser Extremisten, diezwar zum Äußersten, zur Selbstaufopferung bereit sind, aber in offe-ner Feldschlacht keine Chance haben, wie das Beispiel Afghanistanlehrt. In Washington weiß man, daß diese Konfrontation längst nichtgewonnen ist. Auch die Vernichtung Osama bin Ladens und seinerOrganisation El Qaida böte keine Gewähr dafür, daß aus der Massevon 1,3 Milliarden Muslimen nicht immer neue Scharen von Ge-walttätern und »Märtyrern« hervorgehen werden. Schon kommtFurcht auf, künftige Anschläge gegen die verhaßten Industrie-Natio-nen des Westens könnten auf Massenvernichtungswaffen zurück-greifen.

Am Rande des schicksalhaften Konfliktes zwischen dem globalenZivilisationsanspruch Amerikas und dem konspirativen Aufbäumeneiner unberechenbaren islamischen Revolution kündigen sich seitdem 11. September schicksalhafte Kräfteverschiebungen an. Bei allerRivalität zwischen Moskau und Washington in Zentral-Asien zeich-net sich dennoch das Zusammenrücken dieser ehemaligen Gegnerdes Kalten Krieges ab, ja eine überraschende Interessengemeinschaftgegenüber dem subversiven Islamismus. In der Volksrepublik Chinaist unterdessen alles im Fluß. Peking könnte sich am Ende als wah-rer Nutznießer eines unabsehbaren militärischen Engagements, einerKräfteverzettelung der USA im Kampf gegen den Halbmond heraus-stellen. Schon entdecken die beiden »weißen« Mächte – Russlandund Amerika – eine heimliche Solidarität angesichts der neuen »gel-ben Gefahr«, angesichts des unaufhaltsamen Aufschwungs im Reichder Mitte. Was nun die Europäer betrifft, so bieten ihre kleinlichenRivalitäten, ihre widersprüchlichen Solidaritätsbeteuerungen gegen-über Washington ein klägliches Bild der Schwäche und Abhängigkeit.Die NATO ist ihrer ursprünglichen Sinngebung beraubt und suchtverzweifelt nach neuen Perspektiven. Auf die Europäische Unionwirft der 11. September 2001 düstere Schatten der Dekadenz. Die Eu-ropäer, so scheint es, begnügen sich bereits mit der Rolle der »Grae-culi« der Antike in ihrer Beziehung zum transatlantischen Rom un-serer Tage.

Paris, im Dezember 2001Peter Scholl-Latour

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Erfahrungen im Krieg

27. Juni 1999

Der französische Indochina-Krieg, der bei den Linksparteien im Mut-terland als »sale guerre« – als schmutziger Krieg – verschrien war,steckte für das Häuflein Korrespondenten, die damals von Hanoi aus-schwärmten, voller Tücken. Aber irgendwie nahmen wir diese Ge-fahren nicht so recht wahr. Viele französische Reporter hatten vorherselbst in der Fernost-Armee gedient und setzten sich den gleichen Ri-siken aus wie die kämpfende Truppe. Man fuhr im Jeep über unsägli-che Schlammpisten in die Gefechtszone bei Vinh Yen und schob sichzum Schutz gegen Minenexplosionen einen Sandsack unter den Hin-tern. Im Fall von Verwundungen im Dschungel stand damals keineinziger Hubschrauber zum Abtransport zur Verfügung. Ich war nichteinmal in irgendeiner Form versichert.

Ab 1951 kamen auch amerikanische Kollegen hinzu, und wir wuß-ten ohnehin, daß der Krieg, der sich noch bis 1954 hinschleppen sollte,verloren war. Die Volksbefreiungs-Armee Mao Tse-tungs hatte näm-lich die Nordgrenze von Französisch-Indochina erreicht. Mir war es da-mals vergönnt, den äußersten verbliebenen Außenposten unter der Tri-kolore am Rande von Yünan an Bord einer Ju 52 zu erreichen und vondort aus in Begleitung eines französischen Oberst und eines TruppsThai-Partisanen nach Norden zu reiten. »Wenn Sie wollen, können Sieein Stück nach China vordringen«, hatte der Colonel gesagt; »dortdrüben gibt es noch ein paar Kuomintang-Partisanen, die wir unter-stützen.« In Wirklichkeit waren sie mehr Banditen als Freiheitskämp-fer, und ich war froh, als ich mit meinem Thai-Dolmetscher im Ga-lopp wieder den Grenzfluß Nam Kum erreichte. Das war das einzigejournalistische Unternehmen, bei dem ich eine Waffe getragen habe.

Die Nacht des französischen Waffenstillstandes habe ich im Reis-feld etwa 100 Kilometer südlich von Hanoi verbracht. Die Soldatendes dortigen Regiments der Kolonial-Infanterie hatten zu meinemSchutz eine rechteckige Grube ausgehoben, wo ich auf einem Feld-bett wie in einem Grab schlief, soweit das die Artillerie des Vietminherlaubte. Die Partisanen Ho Tschi Minhs schossen aus allen Rich-tungen, feierten ihren Sieg in Erwartung der nahen Feuereinstellung.Am nächsten Morgen verabschiedete mich der französische Kom-mandant mit den Worten: »In Nord-Afrika sehen wir uns demnächstwieder.« Auf der Rückfahrt nach Hanoi passierten wir mehrere bren-nende Lastwagen, die auf Minen gefahren waren.

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Der Algerien-Feldzug der Franzosen war ein wenig rühmlichesKapitel der auslaufenden Kolonial-Epoche. Das Land war weitgehend»pazifiziert«, und man konnte sich über weite Strecken ohne Ge-leitschutz bewegen. Der Terror beschränkte sich im wesentlichen auf Bombenanschläge in den Städten oder auf blutige Gemetzel in der Kabylei und im Aures-Gebirge, wo die Algerier der Befreiungsfrontund die auf französischer Seite kämpfenden »Harki« sich wie beimSchlachten von Hammeln die Gurgeln aufschnitten zum sogenann-ten »sourire berbère«, zum »Lächeln der Berber«, wie man damalsetwas zynisch sagte. Mit zwei Zügen Fallschirmjägern und Fremden-legionären habe ich im Akfadu-Wald, im Herzen der Kabylei, aus demHubschrauber springend, die Vernichtung einer algerischen »Katiba«aus unmittelbarer Nähe miterlebt, und ich entzifferte auf der grünenUniformjacke des getöteten Unterführers der »Befreiungsfront« je-nen Koran-Spruch, der für mich fortan zum Leitmotiv wurde: »Allahist mit den Standhaften.« Der wirkliche Totentanz für die Europäervon Algier begann erst, als die Generäle gegen de Gaulle putschtenund die Terror-Organisation OAS neben dem wahllosen Mord ver-mutlicher Gegner auch zur Geiselnahme von Journalisten überging.

Dem außer Rand und Band geratenen Kongo der frühen 60er Jahreblieb es vorbehalten, den Romantitel Joseph Conrads, »Das Herz derFinsternis«, mit aktuellem Inhalt auszufüllen. Den StammeskriegenAfrikas war die multinationale »Ordnungsmacht« der BlauhelmeDag Hammarskjölds in keiner Weise gewachsen. Italienische Pilotender Uno, die für verhaßte belgische Kolonialisten gehalten wurden,fielen in Kindu, der Heimat der »Leopardenmenschen«, dem Kanni-balismus zum Opfer. Persönlich habe ich am Ufer des Tanganjika-Sees – bei einem Abstecher zu den »Simbas«, den Löwen, wie sie sichselbst nannten – das größte Entsetzen meiner Karriere empfunden.Ich sah mich plötzlich wie auf der »Zeitmaschine« H. G. Wells’ ineine andere Phase der Menschheit, in den Horror der Steinzeit zu-rückversetzt, und mitsamt dem Kamera-Team waren wir einer Hordevon Speerträgern ausgeliefert, die Tierfelle trugen und sich durch denWassersegen ihrer Zauberer gegen Kugeln gefeit wähnten.

Der amerikanische Vietnam-Feldzug zwischen 1965 und 1975 mitseinem enormen Material-Aufwand hatte mit dem französischen Indochina-Krieg sehr wenig gemeinsam. Die akkreditierten Journa-listen genossen während dieser Kampagne alle nur denkbaren Privi-legien. Es genügte, einen Flecken auf der Landkarte anzugeben – auchwenn es sich um den bedrängtesten Stützpunkt der U.S. Army han-delte –, und man wurde per Hubschrauber dorthin transportiert. Be-denklich waren vor allem die Explosiv-Fallen und die »Booby-Traps«des Vietcong. Zahlreiche Verluste entstanden auch durch sogenann-tes »friendly fire«. Zu Füßen der Höhe 875, die später in einem Filmals »Hamburger Hill« glorifiziert wurde, war ich im laotischen

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Grenzgebiet bei Dak-To Augenzeuge, wie die Bomben der U.S. AirForce in den eigenen Stellungen einschlugen und schwere Verlusteverursachten. Zur Entschuldigung der Piloten muß gesagt werden,daß die Nord-Vietnamesen ihre Sappen und Tunnel so nahe an dieAmerikaner herangetrieben hatten, daß eine Unterscheidung kaumnoch möglich war. In Erinnerung bleibt mir auch die kuriose Praxisdes »Body-Counts«, der »Leichen-Zählung« beim Presse-Briefing inSaigon. Jeden Tag wurden horrende Zahlen von getöteten Vietconggemeldet, denen zufolge längst kein Partisane Ho Tschi Minhs mehrhätte leben dürfen. Wie diese Ziffern zustande kamen, habe ich beieiner Patrouille in Zentral-Annam entdecken können. Ich hatte micheiner Kompanie der First Cav, einer Traditions-Division der Indianer-Kriege, angeschlossen. Von Zeit zu Zeit ließ der Captain Granatwer-ferfeuer auf die umliegenden Dschungelhöhen eröffnen und meldeteper Sprechfunk jedesmal eine willkürliche Zahl getöteter Vietcong.Die Angaben waren frei erfunden, aber der Offizier hielt eine plau-sible Erwiderung parat. »Wenn ich keine Erfolge melde, stehe ichgegenüber den anderen Einheiten, die ähnlich wie ich operieren, jadann steht die First Cav gegenüber der Nachbar-Division, die vor kei-ner Übertreibung zurückschreckt, ziemlich dumm da, und wir wer-den von unseren Vorgesetzten gerügt.« Meine Gefangennahme durchden Vietcong, die 1973 nur 60 Kilometer nördlich von Saigon erfolgte,hat mich in meiner Erfahrung bestätigt, daß die Vietnamesen sehrdisziplinierte und ideologisch motivierte Gegner waren, durchauskeine Wilden. Wäre ich den »Roten Khmer« in Kambodscha hinge-gen in die Hände gefallen, wäre ich auf der Stelle gefoltert und zuTode geprügelt worden.

Der erste Golfkrieg, der zwischen Iran und Irak, zwischen demAyatollah Khomeini und dem Diktator Saddam Hussein acht Jahrelang andauerte und der etwa eine Million Tote gefordert hat, war vieldramatischer als die nachfolgende amerikanische Operation »Wü-stensturm«, von der die Presse weitgehend ausgeschlossen blieb unddie beim TV-Publikum als Computerspiel ankam. Meine persönlicheBeziehung zu Khomeini öffnete mir hier viele Wege, und das Ufer des Schatt-el-Arab nach der Zurückeroberung des Hafen Khorram-shahr durch die iranischen Revolutionswächter und das Halbwüch-sigen-Aufgebot der »Bassidji« – mit Hunderten von in der Sonne verwesenden Leichen toter Iraker – bot ein Bild des Grauens. In jenerStunde wäre ein siegreicher Vorstoß der Iraner auf Basra möglich ge-wesen. Der scheiterte am Einspruch der Mullahs. Der grausigsten Gefahr, die den Kriegsschauplatz in den Sümpfen Mesopotamiensheimsuchte, dem systematischen Gas-Krieg gegen die todesmuti-gen, aber völlig ungeschützten Angriffswellen der Iraner, bin ichdurch ein glückliches Geschick nicht ausgesetzt gewesen. Der völ-kerrechtswidrige Einsatz hochentwickelter toxischer Stoffe durch

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Saddam Hussein, das sollte dennoch festgehalten werden, ist von derwestlichen Berichterstattung verschwiegen worden. Er war ja durchdie USA, durch die Sowjetunion und mehrere europäische Staatenunter flagranter Verletzung aller Menschenrechtskonventionen abge-segnet und beliefert worden.

Der endlose Bürgerkrieg im Libanon ist mir als Vabanque-Spiel, alseine Art russisches Roulette in Erinnerung. Wenn wir als Reporter die feindlichen Linien am Museum von Beirut und an der Karantinapassierten, dann hieß es, an den offenen Schneisen Vollgas zu geben,um den Scharfschützen beider Seiten zu entgehen. Im April 1986 fandmeine Ankunft in Beirut in Begleitung eines Geo-Fotografen per pu-rem Zufall präzis an einem Tag statt, als die U.S. Air Force versuchte,den libyschen Staatschef Gaddhafi mit ihren Bomben auszulöschen.Mit meinen Kollegen verbrachten wir als einzige Gäste eine beklem-mende Nacht im Hotel »Commodore«, nachdem wir erfahren hat-ten, daß der britische Journalist MacCarthy bei seinem verzweifel-ten Fluchtversuch in Richtung Flugplatz als Geisel verhaftet wurde.Er sollte mehrere Jahre in qualvollen Kellerverliesen verbringen. Amnächsten Morgen erreichten wir auf Schleichwegen das sichere Dru-sen-Gebirge, wo unsere Gastgeber uns mit konsternierten Mienendie Leichen von drei eben ermordeten angelsächsischen Geiseln vorführten, die sie am Straßenrand entdeckt hatten. Im Hotel »Sum-merland«, von schwerbewaffneten Drusen geschützt, fühlten wir unsin Sicherheit und konnten nicht ahnen, daß genau an dieser Stellewenige Wochen später zwei deutsche Ingenieure von Siemens vonTerroristen verschleppt würden, die sich dem Hotel über das Meergenähert hatten. Ich bezweifle, ob mir bei einer Entführung durch dieschiitische Hisbollah mein Vorzeige-Foto mit dem Ayatollah Kho-meini viel genutzt hätte.

Hingegen kam mir bei meinem Ausflug ins afghanische Kampf-gebiet der Umstand zugute, daß ich in angemessener Situation eineReihe von Koran-Versen zitieren konnte. Bei den Mudschahedin der »Hezb-e-Islami«, die den Ruf von Fanatikern genossen, fühlte ich mich in voller Sicherheit, und mein mongolischer Leibwächterschützte mich, als ruhe der Segen des Propheten auf mir. Unsere ge-meinsame Furcht galt den sowjetischen Kampfhubschraubern vomTyp MI-24, denen die Afghanen damals noch wehrlos ausgeliefertwaren. Erst die Lieferung von Boden-Luft-Raketen vom Modell Stin-ger sollte den Mudschahedin Entlastung verschaffen und am Endeden Abzug der Sowjet-Armee erzwingen. Ich habe bei dieser Expe-dition nie gezögert, in den ständig wiederholten Kampfruf »Allahuakbar« einzustimmen, denn warum sollte ich nicht die Größe Gottespreisen?

Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Aber kommen wir zumKonflikt im ehemaligen Jugoslawien, der mir – weil er sich auf altem

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europäischen Kulturboden abspielt – besonders skandalös und ab-scheulich erscheint. Ich habe dort sämtliche Bürgerkriegsparteien inziemlich schlimmer Erinnerung: die »Tschetniks« des serbischenVerbrechers Arkan, die am Wochenende von Belgrad heranreisten,sich mit Slibowitz vollaufen ließen und von den Höhen südlich Sarajevos wahllos Passanten abknallten, wie auch jene kroatischenMilizionäre, die beim Passieren ihrer Kontrollposten in der Herze-gowina unser mit »D« gekennzeichnetes Auto mit »Heil Hitler« be-grüßten. Den muslimischen Partisanen, die im zerschossenen »Holi-day Inn« in Begleitung von leichten Mädchen und riesigen Doggenihre Gelage feierten, bevor sie mit unglaublicher Kühnheit ihre fastunhaltbaren Stellungen gegen die Serben bezogen, hätte man eben-sowenig im Bösen begegnen mögen. Den Sadismus, die bestialischeGrausamkeit, die sich auf dem Balkan auch heute noch austoben,habe ich weder am Libanon noch in Tschetschenien registriert. Siebleiben eine Schande für unseren angeblich zivilisierten Kontinent.

Den Kosovo habe ich zur Zeit der serbischen Besetzung – zwischenPec und Pristina, zwischen Prizren und Novipazar – gründlich inspi-ziert. Ich werde demnächst in diese Gegend zurückkehren – nicht umden Helden oder den Abenteurer zu spielen, was meinem Alter auchgar nicht mehr anstände, sondern weil mich eine lange Erfahrung gelehrt hat, daß die eigene Anschauung vor Ort durch nichts zu er-setzen ist. Bei ihrem Balkan-Engagement sollten sich die deutschenPolitiker, denen die Fürsorgepflicht für die Bundeswehr-Soldaten amAmselfeld obliegt, folgendes einprägen: Das vielgerühmte G-8-Ab-kommen, das die fiktive Erhaltung einer jugoslawischen Föderationvorsah, ist heute nur noch ein Papierfetzen, und die Entwaffnungbzw. die »Demilitarisierung« der ominösen UCK – eine unerträglicheWortklauberei – ist bestenfalls punktuell zu erreichen. Die Nato-Truppe droht dort in einen heimtückischen Partisanenkrieg mitwechselnden Fronten und Gegnern verstrickt zu werden. Die Gue-rilla und deren Bekämpfung gehen stets mit besonderer Brutalitäteinher. Die französischen Paras, die während der Schlacht von Algierden Bombenlegern der Algerischen Befreiungsfront nachstellten, sindbei den Verhören von Verdächtigen auch vor Folterungen nichtzurückgeschreckt, genausowenig wie die Amerikaner bei der Ope-ration »Phoenix« in Vietnam. Nachträglich hat General Massu, eindurchaus ehrenwerter Offizier, der diese Aktion befehligte, seine bittere Erfahrung in drastischer Form resümiert: »In Algier sind wirhineingeschlittert in Blut und in Scheiße – dans le sang et dans lamerde.«

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Bosnien: Die Schaffung von »Absurdistan«

ZDF-Film am 24. Mai 2000

Trügerischer Triumph. Berlin, 9. November 1999. Am BrandenburgerTor wurde der zehnte Jahrestag des Falls der Mauer gefeiert und weitmehr. Hier wurde das Signal zum Ende des kalten Krieges gegebenund zur Beseitigung der Teilung Europas. Drei Männer ließen sichhier zujubeln, aber auf jedem von ihnen lastete bereits die Tragödiedes Niedergangs. Da stand Michail Gorbatschow, Liebling der Deut-schen, denen er die nationale Einheit ermöglicht hatte. Aber in seinereigenen Heimat ist Gorbatschow als Zerstörer des sowjetischen Im-periums und als gescheiterter Reformer verpönt, ja verhaßt. Währenddie Deutschen »Gorbi, Gorbi« riefen, brachen die ersten Kämpfe imKaukasus aus. Wladimir Putin, damals noch Regierungschef, holtezum Gegenschlag aus. Er trat in Tschetschenien in die Fußstapfen derZaren und der Sowjetmacht.

Als Ehrengast kam dem ehemaligen US-Präsidenten George Bushbesondere Huldigung zu. Im Gegensatz zu den europäischen Verbün-deten hatte Amerika die deutsche Wiedervereinigung rückhaltlos un-terstützt. Bush hatte seine große Stunde im Golfkrieg genossen. Aberes war ein Pyrrhussieg geblieben. Der verhaßte Todfeind SaddamHussein behauptet sich stärker denn je als neuer Herrscher von Ba-bylon. Die Luftwaffe der Amerikaner und Engländer setzt dort einenunsinnigen Krieg an Euphrat und Tigris fort.

Die zentrale Figur dieses Abends war natürlich Helmut Kohl. Zwarwar er ein Jahr zuvor abgewählt worden, aber zum Zeitpunkt derMauerfeier lastete seine massive Figur noch wie der steinerne Gastauf der verunsicherten Regierungsmannschaft um Schröder und Fi-scher. Niemand ahnte an jenem Tag, daß dieser neue »eiserne Kanz-ler« demnächst im Strudel einer obskuren Spendenaffäre unwieder-bringlichen Schaden nehmen würde. Am 9. November 1999 blickteKohl wohl fasziniert auf die erste kriegerische Entfaltung der Bun-deswehr am Balkan. Daß dieser Kampfeinsatz ausgerechnet von einerrot-grünen Koalition früherer Pazifisten durchgeführt wurde, mochteihm als nachträgliche Bestätigung erscheinen.

Beim Triumphfest des Mauerfalls war für Europa Frieden undFreundschaft angesagt. Doch über dem Amselfeld, im deutschen Sek-tor von Prizren, loderten bereits die Flammen neuer Konflikte undkontinentaler Feindschaften hoch.

In der Geschichte des Balkans und auch heute noch besitzen die

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Brücken eine hohe symbolische Bedeutung. Wer hat nicht von derBrücke über die Drina gehört, die der Nobelpreisträger Ivo Andric be-sungen hat? Sie wurde in Bosnien als Symbol ethnischer und konfes-sioneller Versöhnung dargestellt. Aber die Drina wirkte stets wie einedüstere, gefährliche Trennungslinie. In ferner Vorzeit, vor 1500 Jah-ren, hatte sich hier die Spaltung des römischen Reiches in Ost undWest vollzogen. Diese imperiale Aufteilung dauert bis in die Gegen-wart an, verewigt sich im Gegensatz zwischen der katholischen undder orthodoxen Kirche. Die Ortschaft Visegrad ist im Bosnien-Kriegethnisch gesäubert worden. Nur noch Serben leben hier. Die Mus-lime wurden vertrieben, ihre Moscheen gesprengt. Angst und Miß-trauen herrschen im Umkreis der Drina.

Blicken wir auf Mostar. Hier, am Fluß Neretva, zerbrach in wü-tenden Schlachten die Hoffnung auf ein friedliches Zusammenlebenzwischen den »Muslimani« und den kroatischen Katholiken von Bos-nien-Herzegowina. Die Sprengung der herrlichen Bogenbrücke ausder osmanischen Epoche wurde von den Kroaten als nachträglicherAkt der Befreiung vom früheren muslimischen Joch vollzogen. Wiesoll in dieser Trümmerlandschaft wieder Normalität einkehren?

Eine dritte Brücke: In Sarajevo wiederum war es das Flüßchen Mili-jacka, das während der Einkreisung der bosnischen Hauptstadt zurFrontlinie geworden war. Heute sind die serbischen Scharfschützen,die aus den Hochhäusern südlich der Brücke ihre Ziele suchten, mit-samt der dortigen serbischen Bevölkerung vertrieben worden. DieWunde bleibt offen.

Und dann die Brücke übe die Save, die Kroatisch-Slawonien mitdem Norden Bosniens verbindet. Südlich davon, in der OrtschaftBrcko, in dem engen Korridor zwischen den beiden Gebietsfetzen der»Republika Srpska«, verwirren sich alle Gegensätze der artifiziellenbosnischen Staatskonstruktion zu einem gordischen Knoten.

Kosovo-Krieg 1999: Den Nato-Strategen ist nichts Besseres einge-fallen, als in Serbien und vor allem bei Novi Sad die Donaubrückenzu bombardieren. Seitdem ist dieser wichtige Wasserweg Europas für den balkanischen Handel und Güteraustausch gesperrt. Militäri-scher Nutzen war mit der willkürlichen Zerstörung nicht verbunden.

Im äußersten Norden des Kosovo wiederum ist die Brücke über denIbar, im Herzen der Stadt Mitrovica, zum Schauplatz rabiater Aus-einandersetzungen zwischen Kosovo-Albanern und Kosovo-Serbengeworden. Hier klafft eine unversöhnliche Feindschaft, die sich stän-dig neu anheizt. Noch verhindern die dort stationierten Franzosender Kfor-Truppe und ihre Verbündeten einen neuen Bürgerkrieg.

Schließlich ein Blick auf den Vardar, den breiten Strom Maze-doniens. Die Brücke über den Vardar teilt die Hauptstadt Skopje inzwei ethnisch und konfessionell unterschiedliche Sektoren. Zwarherrscht hier bislang kein Krieg zwischen den christlichen Südsla-

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wen auf dem linken und den muslimischen Albanern auf dem rech-ten Ufer. Aber wie schnell eine zerbrechliche Koexistenz auf dem Bal-kan in Blutvergießen und Vertreibung umschlägt, haben die grausa-men Präzedenzfälle von Bosnien und Kosovo hinreichend bewiesen.Am Vardar, so behaupten nicht nur Pessimisten, zeichnet sich dienächste Balkankatastrophe ab.

Aus den Schlagzeilen ist Bosnien weitgehend verschwunden. Heuteschlägt die Stunde der Globalisierung, man redet von Jolo auf den Phi-lippinen, von Simbabwe, von Sierra Leone – aber Bosnien liegt in un-serer Nachbarschaft, ist Teil unseres Schicksals. Ich will zunächst aufein paar Landkarten verweisen, denn diese Landkarten sind oft wahr-haftiger als die Schönfärberei der Politiker. Da haben wir als erstesdas Gebilde des ehemaligen Jugoslawien, und es wird sichtbar, daß esin eine Vielfalt von Ministaaten, von absurden Territorien zerfallenist, die nur eines gemeinsam haben: Sie sind nicht lebensfähig.

Und etwas sehr viel Bedenklicheres kommt hinzu: Die USA, dieNato, die Europäer haben dort Protektorate geschaffen, Schutzge-biete, fast Kolonien, wie wir sie früher aus der Dritten Welt kannten.Das betrifft insbesondere Bosnien-Herzegowina, die Republik Bos-nien. Das betrifft in noch stärkerem Maße das Kosovo, aber das giltauch für Montenegro, das gilt ebenso für diese chaotische albanischeRepublik von Tirana und das gilt gleichfalls für die artifizielle Repu-blik Mazedonien, die vielleicht den nächsten Krisenherd darstellensollte. Aus alledem spricht eine große Ohnmacht der Gestaltung vonseiten der Europäer, aber auch im Hinblick auf diese Quasi-Kolonieneine gewaltige Anmaßung.

Aber gehen wir zur nächsten Karte über. Sie stammt aus dem Be-ginn des Bürgerkrieges, als Milosevic noch glaubte, seinen großserbi-schen Traum verwirklichen zu können. Er hatte bereits weitgehendeTerritorien in Bosnien an sich gerissen, sogar das serbische Gebiet aufKroatien ausgedehnt, auf die sogenannte »Serbische Republik Kra-jina«. Und mit dieser Krajina hat es eine besondere historische Be-deutung. Vor mehr als 300 Jahren waren zahlreiche Serben, vor allemaus dem Kosovo, unter Führung ihres Patriarchen nach Norden ab-gewandert, um dem osmanischen Joch zu entgehen. Sie hatten dort,mit Zustimmung der Österreicher, eine Art Militärgrenze, die »Kra-jina«, gebildet. Sie schützten dort Habsburgerreich, aber auch dasHeilige Römische Reich Deutscher Nation. 200 Jahre lang haben siediese Position gehalten, heute sind sie von dort durch den Krieg ver-trieben worden. Ihre Standhaftigkeit wurde schlecht gelohnt.

Schließlich zur dritten Karte, der Aufteilung Bosniens, die im Ver-trag von Dayton, vor etwa fünf Jahren, vorgenommen wurde, und hierwird die wirkliche Natur von Absurdistan ersichtlich. Denn auf dereinen Seite gibt es dort die »Republika Srpska«, die serbische Repu-

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blik, zwei Fetzen, die voneinander getrennt sind. Sie waren einst ver-eint durch den schmalen Schlauch von Brcko, fünf Kilometer breit,aber der »High Representative« Petritsch hat dort eine multi-ethni-sche Zone gebildet. Jetzt hängt der serbische Teil von Banja Luka, mi-litärisch gesehen wenigstens, völlig in der Luft.

Da ist auf der anderen Seite die Föderation von Muslimen und Kroaten, die untereinander noch verfeindet sind. Das sieht aus wieein Leopardenfell, stellt keine Einheit dar. Und da ist beispielsweisedie muslimische Stadt Gorazde – und auf der Karte tut man so, alssei Gorazde mit der Föderation verbunden. In Wirklichkeit existierthier gar keine Straße, man muß über serbisches Territorium gehen.Das Ganze wirkt sehr irreal, sehr verworren, unklar, unlogisch. Aberwer zu dieser Ansicht gelangt, hat wahrscheinlich die Realität desheutigen Balkans begriffen.

Für flüchtige Besucher – die europäischen Politiker gehören dazu– mag in Sarajevo friedliche Normalität eingekehrt sein. Längs derfrüheren Kampflinie am Milijacka-Fluß kann man wieder ohne Ge-fahr jenes Rathaus besichtigen, in dessen Nähe im Juni 1914 derösterreichische Thronfolger Franz Ferdinand den Kugeln eines serbi-schen Attentäters erlag. Kein Mahnmal erinnert mehr an diesen Auf-takt zum Ersten Weltkrieg. Die weltfremde Vorstellung vom multi-ethnischen Staat ist allen anderslautenden Beteuerungen zum Trotzjedoch in der früheren Vielvölkerstadt Sarajevo zerstoben. Zu 90 Pro-zent ist die Hauptstadt jetzt von »Muslimani« oder, wie es offiziellund unpräzis heißt, von Bosniaken bewohnt. Zwar sind die Kirchender beiden christlichen Konfessionen noch im österreichisch gepräg-ten Stadtkern präsent. Doch das Herz Sarajevos, so scheint es, schlägtim Umkreis der Moscheen und des osmanischen Marktes, die längstaufgehört haben, eine folkloristische Attraktion zu sein.

Niemand hat in Sarajevo die Tage des Terrors und der Verzweiflungvergessen, als die Belagerung der Serben sich immer enger zusammen-schnürte, als auf die muslimischen Zivilisten wie bei einer Treibjagdgeknallt wurde. Die Organisation der Vereinten Nationen, deren weißgestrichene Panzerspähwagen wie Ambulanzen wirkten, bot höchstunzureichenden Schutz vor der Willkür eines mörderischen Feindes.Die Uno, das muß heute festgehalten werden, hat in der ersten end-losen Phase des Bosnien-Krieges auf erbärmliche Weise versagt.

Der ganze Horror der damaligen Situation kulminierte in demüberwiegend muslimisch besiedelten Städtchen Srebrenica, unweitder Drina. Dort hatte der serbische General Mladic eine isolierte En-klave verhaßter Korangläubiger ein für allemal auslöschen wollen.Frauen und Kinder wurden in Busse verfrachtet und in die Wälder ge-trieben. Die holländischen Unprofor-Soldaten regten keine Hand, umdiese hilflosen Zivilisten zu schützen, und waren am Ende froh, mitdem eigenen Leben davonzukommen. Viele wehrfähige muslimische

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Männer von Srebrenica wurden in Reichweite der Blauhelme er-schossen.

Nur auf den Friedhöfen, beim koranischen Ritual der Totenbestat-tung, sei der Islam der Bosniaken noch zu erkennen, so meinten dieSkeptiker. Für die Ideologen der Aufklärung, die in der Uno, in denNato-Stäben, in den Kommissionen der EU den Ton angeben, läßtsich diese muslimisch religiös determinierte Nationalität in keineihrer Schablonen pressen. Zwar füllen sich heute wieder allmählichdie Moscheen in den überwiegend von Muslimen bevölkerten Regio-nen der kroatisch-bosnischen Föderation. Aber den meisten Koran-gläubigen ist jede präzise Kenntnis der Botschaft des Propheten Mo-hammed abhanden gekommen.

Die »Muslimani« Bosniens sind entgegen der geläufigen Berichter-stattung keine gesonderte Völkerschaft, keine Ethnie, sondern reineSüd-Slawen. Im Mittelalter waren sie als bogumilische Ketzer vonden christlichen Kirchen verfolgt worden. Bei Ankunft der erobern-den Türken bekehrten sie sich massiv zum Islam. Ihre Marmorgräbermit den kunstvollen Turbanen bekunden, daß sie unter dem Sultanund Kalifen herrschende Positionen bekleideten, daß sie den christ-lichen Serben oder Kroaten, der sogenannten »Herde des Sultans«, oftals Feudalherren vorstanden.

Im Straßenbild von Sarajevo, von Tuzla, von Zenica, sind wenigverschleierte Frauen zu entdecken. Und dennoch: Wenn der musli-mische Präsident Alja Izetbegovic seine anfangs noch bunt ge-scheckte Truppe besuchte, behauptete sich trotz der weitgehendenEntfremdung gegenüber jeder religiösen Praxis das profunde Iden-titätsbewußtsein dieser slawischen Muslime. Izetbegovic war als ei-fernder Muslim von Tito verfolgt worden. Dennoch verdankten seineGlaubensbrüder es dem verstorbenen Marschall, dem Kommunistenund Atheisten Tito, daß ihrer muslimischen Konfessionsgruppe derStatus einer gesonderten Nationalität innerhalb der jugoslawischenFöderation eingeräumt wurde. Während des Bürgerkrieges hatten dieSerben und Kroaten daraus die grausame Konsequenz gezogen. Umals Mohammedaner identifiziert und eventuell ermordet zu werden,war es nicht notwendig, daß der Betreffende jemals eine Moschee be-treten hatte. Sein Name allein wies den Muslim als Erben jener be-vorzugten Oberschicht der endlosen osmanischen Herrschaft aus.

Im katholischen, im kroatischen Stadtteil von Mostar, westlichder Neretva, zelebrieren die Franziskaner ein feierliches Hochamt inihrer Kathedrale, die einer Trutzburg ähnelt. Auch hier vermengensich Religion und Geschichte. Bis zum Bürgerkrieg sprach man inBosnien nie von »kroatischen«, sondern stets von »katholischen«Dörfern. Der Franziskaner-Orden blickt am Balkan auf ein altes Pri-vileg zurück. Der türkische Eroberer von Konstantinopel, Mehmet II.Fatih, der auch Bosnien dem Halbmond unterwarf, übertrug dem

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Peter Scholl-Latour

Der Fluch des neuen JahrtausendsEine Bilanz

ORIGINALAUSGABE

Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 352 Seiten, 13,5 x 21,5 cmISBN: 978-3-570-00537-8

C. Bertelsmann

Erscheinungstermin: Februar 2002

Als Peter Scholl-Latour in einer Kolumne den "Steinzeit-Islam" der Taliban anklagte und dieCIA beschuldigte, diesen menschenverachtenden "Horden" die Herrschaft über Afghanistanzugesprochen zu haben, schrieb man den 4. Juli 2000. Aus heutiger Sicht liest sich nicht nurdieser Artikel des weltbekannten Journalisten geradezu visionär. Scholl-Latour, der nach demAnschlag am 11. September 2001 wieder einmal zu einem der begehrtesten Gesprächspartnernicht nur der deutschen Medien avancierte, warnt aus seiner intimen Kenntnis des Islambereits seit vielen Jahren davor, dass die "Angst vor der moslemischen Kultur übertriebenund gefährlich" und dass auch der Westen vor Gewaltexzessen nicht gefeit sei. Im Gegenteil,speziell die USA würden mit ihrer kurzsichtigen Politik im Stile eines Wildwest-Kapitalismus"bluttriefenden Heilslehren" Vorschub leisten. Die Themen seiner hier versammelten Beiträgereichen von der Globalisierung des Terrors, von den Krisenherden in Asien und Afrika über den"modernen Indianerkrieg" im Kosovo bis zu "Putin dem Großen". Dabei schreibt Scholl-Latournie aus der Abgeschiedenheit der Redaktionsstube, er berichtet vor Ort aus den zerstörtenKriegsstädten des Balkans und aus den Bergen Afghanistans. Wohlfeile Politikerreden entlarvter als schamlose Heuchelei, die von einer Globalisierung politischer Kultur weit entfernt ist. Seinimmenses Wissen verbindet er mit exakter Recherche und einem geradezu prophetischen Urteil.