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 Jedem, der euch bittet, dem gebt Klemens Niermann (1928-2007) im Gespräch

Pfarrer Klemens Niermann (1928-2007) im Gespräch

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Das Interview mit Klemens Niermann entstand am Mittwoch, dem 24. Januar 1996 zur Vorbereitung eines einseitigen Artikels im „St.-Ludwig-Blättchen“ mit der Überschrift „Wer ist eigentlich … Klemens Niermann“ (siehe Anhang).Die Fragen stellte Martin Weber (kursiv), damals Pfarrer in St. Ludwig (jetzt Heilig Kreuz). Das Gespräch durfte auf Tonband aufgezeichnet werden und füllt zwei Kassetten zu je 45 Minuten.

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5/13/2018 Pfarrer Klemens Niermann (1928-2007) im Gespräch - slidepdf.com

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Jedem, der euch bittet, dem gebt

Klemens Niermann (1928-2007)im Gespräch

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Interview mit Klemens Niermann am 24. Januar 1996 - Seite 2

Gebetszettel von Klemens Niermann. Das Bild ist von Alfred Manessier (*1911): AUFERSTEHUNG

Verantwortlich für den Inhalt:Dechant Martin Weber, Groner Allee 54, 49477 Ibbenbüren, Tel: 05451-5930-0, Fax: 05451-5930-30E-Mail: [email protected]; weitere Informationen unter: www.heiligkreuz.info

Eine Arbeitsgruppe ist dabei, Erinnerungen an Klemens Niermann zu sammeln. Wenn Sie dazu einen Text oder ein Bildzur Verfügung stellen können, nutzen Sie bitte diese angegebenen Kontaktmöglichkeiten.

Das folgende Interview mit Klemens Niermann entstand am Mittwoch, dem 24. Januar 1996 zur Vorbereitung einen einsei-tigen Artikels im „St.-Ludwig-Blättchen“ mit der Überschrift „Wer ist eigentlich … Klemens Niermann“ (siehe Anhang).Die Fragen stellte Martin Weber (kursiv), damals Pfarrer in St. Ludwig (jetzt Heilig Kreuz). Das Gespräch durfte auf Ton-band aufgezeichnet werden und füllt zwei Kassetten zu je 45 Minuten.

Bärbel Schürkamp, Pfarrsekretärin in St. Ludwig, hat das umfangreiche Gespräch in Schrifttext umgesetzt.

Michael Dudek, Religions- und Deutschlehrer am Kepler-Gymnasium, hat den Text redigiert und in eine lesbare Form

gebracht. Auch die Zwischenüberschriften stammen von ihm. An einigen Stellen wurde der Text leicht gekürzt.

Die Anmerkungen und Einordnungen hat Martin Weber recherchiert. Von ihm stammt auch der aus diesem Text abgeleite-te und ergänzte Lebenslauf von Klemens Niermann im Anhang. Wichtige und programmatische Äußerungen sind in Fettgesetzt. Die Endredaktion fand im Februar 2007 statt. Stand dieser Fassung: 30.01.2012 02:05

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Interview mit Klemens Niermann am 24. Januar 1996 - Seite 3

Interview mit Krankenhauspfarrer Klemens Niermann24. Januar 1996

Kindheit und Jugend

Sag mal zuerst, wann und wo dugeboren bist.

Ich bin am 30. März 1928 in Scher-mbeck1 geboren. In Schermbeck(lacht)! Schermbeck ist ein Dorf imGrenzbereich zwischen Westfalen,Rheinland und Ruhrgebiet. Wirhaben zu Hause plattdeutsch gespro-chen, unser Plattdeutsch ist so eineMischung aus westfälischem Platt,Niederrhein-Platt und Ruhrgebiet-

Slang. Wir waren 14 Kinder.

Und du?

Ich bin das fünfte von 14 Kindernund, das kann man so sagen, wirwaren arme Leute. Wir gehörten zuden kleinen Leuten. Als ich Primizhatte, da sagte der Nachbar – das warein dicker Bauer: „He is man vankleine Lüe, aber he wird doch Pas-tor“. Verstehst du das? „Er ist nurvon kleinen Leuten, aber ist trotzdem

Priester“.

Was hast du denn noch in Erinne-rung von Schermbeck, hat dich dasirgendwie geprägt? Ich meine dieses„Kleine Leute“ ist irgendwie klar,aber die Atmosphäre in Schermbeck muss doch eigentlich eng gewesensein?

Schermbeck ist ein Dorf, das bis zurGebietsreform halb Westfalen, halbRheinland war. Die Grenze ging

mitten durchs Dorf und das war aucheine Konfessionsgrenze zwischenkatholisch und evangelisch. Derwestfälische Teil war katholisch undder rheinische Teil war ursprünglichganz evangelisch, ist aber inzwi-schen ein bisschen gemischt. Unddies Verhältnis zur evangelischenKirche war damals eigentlich mehrTrennung als Gemeinsamkeit. Heuteist das ganz anders, heute machen

1 Die Gemeinde Schermbeck liegt unge-fähr 8 km von Dorsten und 18 km vonWesel bzw. 17 km von Dinslaken entfernt.Das gesamte Gemeindegebiet ist Teil desNaturparks Hohe Mark. Die Stadt hatte2006 13.658 Einwohner.

die sehr viel zusammen, viel mehr

noch als in Ibbenbüren.

 Ist das eine katholische Ecke?

Alt-Schermbeck ist eine katholischeEcke, Schermbeck ist evangelisch,aber trotz der Trennung zwischenden beiden Konfessionen waren wirin Schermbeck, seitdem Adolf Hitlerdie katholischen Schulen aufgehobenhatte, eigentlich immer in einer Ge-meinschaftsschule. Dadurch verbes-serte sich das Verhältnis zwischen

den beiden Kirchen enorm.

 Hast du denn damals schon was inder Jugendarbeit gemacht?

Ja. In der katholischen Jugendarbeitwaren unsere Familie, meine Ge-schwister und ich immer sehr aktiv –das muss ich wohl sagen. Wir habendas Vereinsleben der katholischenJugend sehr geprägt. Mein Brudergründete die Pfadfinder, ein andererBruder war einige Jahre Kolpingprä-

ses, ein anderer wurde auch nochKolpingpräses, später dann Seniordes Kolpingvereins. Wir waren alsoin der Gemeinde immer aktiv; dieBrüder sind im Kirchenvorstand undPfarrgemeinderat gewesen; auchheute noch ist ein Bruder im Kir-chenvorstand.

 Hatte Familie bei euch einen sehr großen Stellenwert?

Ja, einen sehr großen. Wir waren –

was soll ich sagen – (lacht) einebrutal katholische Familie! VomReligiösen her der Prägende warunser Vater. Das Morgen- undAbendgebet geschah selbstverständ-lich mit der ganzen Familie, undVater betete immer vor. Auch beiTisch betete er, wenn er da war,immer vor und sonst Mutter. Auchals ich schon Diakon war, durfte ichnoch nicht vorbeten, wenn ich dawar.

Was sind deine anderen Geschwister geworden?

Der älteste Bruder ist Missionar

geworden. Er war 30 Jahre als Stey-ler Bruder bei den Papuas in Neu-guinea2. Er hat in Australien dasLehrerseminar besucht und ist soLehrer geworden. Das war für seinegroße Missionsstation auch sehrwichtig. Er war dort ein sehr leben-diger Missionar und ein sehr fort-schrittlicher. Der Bischof von Neu-guinea, der fliegende Bischof Ark-feld3, hat uns einmal besucht. Ernannte unseren Bruder Aloys einenpersönlichen Freund. Eine Schwester

ist noch Nonne geworden, eine ande-re Schwester Pastoralreferentin4.

 Also sind doch viele religiös ge- prägt?!

Ja, ganz sicher. Paul, der ein Jahr jünger als ich ist und der jetzt schontot ist, der war lange stellvertretenderVorsitzender des Kirchenvorstandesin Wesel zu den Heiligen Engeln –wo er wohnte – und rechte Hand desPastors. Ja, religiös geprägt waren

wir sehr.

 Zur Schule gegangen bist du wo?

2 Papua-Neuguinea ist nach Indonesienund Madagaskar der drittgrößte Inselstaatder Welt. Er liegt im Pazifik, wird zumaustralischen Kontinent gerechnet undumfasst den Osten der Insel Neuguinea(der westliche Teil, West-Papua, gehört

zu Indonesien) sowie mehrere vorgelager-te Inseln und Inselgruppen. Der Ostteilder Insel war zwischen 1928 und 1949Kolonie wechselnder Länder – auch desDeutschen Reiches. Papua-Neuguineaerhielt erst 1975 die volle Souveränität.3 Der amerikanische Steyler-MissionarLeo Arkfeld (1912-1999) war von 1966 bis1975 Bischof von Wewak und von 1975bis 1987 Erzbischof von Madang in Pa-pua-Neuguinea. Nach seinem Tod 1999wurde er mit einem Staatsbegräbnisgeehrt. Als „fliegender Bischof“ war Ark-feld eine Legende, um den sich vieleabenteuerliche Geschichten als Buschpi-lot rankten. Mit seinen Flugeinsätzen hat

er viele Menschenleben gerettet undeinen wichtigen Beitrag zur Entwicklungder unerschlossenen Region des Tieflan-des geleistet.4 Agnes Niermann (geb. 1926) war Pasto-ralreferentin im Bistum Hildesheim.

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Interview mit Klemens Niermann am 24. Januar 1996 - Seite 4

Auf das Gymnasium5 in Dorsten. Ichwar aber auch noch Luftwaffenhel-fer.

Wie alt warst du da?

Als ich eingezogen wurde, war ichnoch keine 16. Ja, ich war noch 14Monate dabei, und als ich entlassenwurde, da war ich 16 Jahre alt.

 Das Abitur hast du nach dem Krieggemacht, oder?

Ja, das Abitur kam nach dem Krieg.Das Gymnasium in Dorsten warzerstört und der Unterricht begannerst viel später. Wir hatten zuerstkeine Fahrgelegenheit von Scherm-

beck nach Dorsten. Nach Dorstenwaren es 10 Kilometer. Ich bin zeit-weilig morgens zum Gymnasium zuFuß gegangen.

Wie lange brauchtest du?

Gut zwei Stunden.

Der Krieg

Welche Erinnerungen hast du nochan den Krieg?

Na ja, ich war in der Flakstellung.Fast unsere gesamte Klasse wareingezogen worden. Der Unterrichtfiel von Januar 1944 bis 1947 aus,glaube ich.

Und wart ihr auch als Klasse zu-sammen?

Zwei Drittel davon schon. Die Klas-se war wehrtauglich, wie man dasdamals nannte.

Und wo wart ihr eingesetzt?

Wir waren in der Nähe von Bottropeingesetzt und zum Schluss in derNähe von Haltern. Wir waren die

5 Das Gymnasium Petrinum in Dorstenwurde 1642 von Franziskanern gegrün-det. Ein Mit-Abiturient von Klemens Nier-mann, Dr. Hermann Bösken (Bruder des

Pfarrers in St. Peter Rheinhausen, derersten Kaplansstelle von Klemens Nier-mann) wies darauf hin, dass KlemensNiermann schließlich sein Abitur 1951 aufdem Gymnasium in Geldern gemacht hat.Er hat auch dort gewohnt.

Schutzbatterie für die Bunawerke6 inHüls. Für mich als Jugendlicher wardas eigentlich eine unmögliche Zeit.Was Adolf Hitler da an uns verbro-chen hat!

Wie hast du die Zeit in Schermbeck und in der Familie denn mitgekriegt?

Meine beiden ältesten Brüder warenauch schon zum Militär eingezogen.Der Vater war freigestellt; er wurdeabkommandiert, in Schermbeck auf dem Stellwerk zu arbeiten. Er warbei der Bundesbahn. Schermbeckwar ein Bahnhof, über den damalsviele Militärzüge gingen. Ach, wieich das damals mitgekriegt habe?Der Krieg! Unser Dorf wurde total

zerstört. Das ganze Innendorf vonSchermbeck hatte viele Luftangriffe.

 Ich hab das ja überhaupt nicht mit-bekommen, auch im Grunde genom-men von meinen Eltern nicht. Als ichsoweit war, Interesse zu haben auchnachzufragen, so bewusst, da war mein Vater schon tot. In diesemdurchaus gemischt geprägten evan-gelisch-katholischen Gebiet, da wer-den doch nicht alle gegen Hitler gewesen sein?

In Schermbeck gab es Jungvolk, aberkeine Hitlerjugend. Doch, es gabwohl eine Zeitlang Hitlerjugend,aber mein Vater zum Beispiel hatuns verboten, dort hinzugehen. Wirdurften keine Uniform tragen. MeinVater war ein schwerer Nazigegner;ich weiß noch, wie er sich sehr erregthat, als in Schermbeck die jüdischeGemeinde vertrieben und die Syna-goge verbrannt wurde. Ich kannmich daran noch erinnern, obwohl

ich ja erst zehn, elf Jahre alt war,dass er sich sehr darüber aufgeregthat.

Auf dem Weg zum Priester

Wann war für dich klar, dass duPriester werden wolltest?

(Lacht) Priester werden wollte?

 Deine Schwester, die ältere, hat esdir ja schon vorgemacht.

6 Buna ist synthetischer Kautschuk imLichtbogenverfahren

Nein, meine Schwester ging nachmir ins Kloster.

Und der Bruder?

Der war schon auf dem Weg, Pries-

ter zu werden. Wir mussten, das wardamals so, ein halbes Jahr vor demAbitur einen Antrag stellen, zumAbitur zugelassen zu werden unddabei Berufswünsche angeben. Dahab ich angegeben: Priester.

 Haben die Eltern das gefördert oder toleriert oder waren sie dagegen,dass jetzt alle in den kirchlichen

 Dienst gehen?

Na, alle ja nicht! Nein, ich weiß

noch, dass mich Vater und Mutter,bevor ich ins Borromaeum7 nachMünster ging, in ein Nebenzimmernahmen und mich sehr ernsthaftfragen, ob ich mir das gut überlegthätte, und – das war für mich er-staunlich – ob ich mich von ihnenbedrängt fühlte. Und ich hab nachhervon meinem ältesten Bruder gehört,dass sie dasselbe mit ihm gemachthaben. Sie wollten sicher sein, dassdiese Entscheidung ganz freiwilliggetroffen wurde. Ich weiß nur, dass

mein Vater sagte: „Bezahlen kannich dir das nicht!“ Ich bin dann auchin allen Ferien entweder in Scherm-beck zum Arbeiten in die Ziegeleigegangen oder nach Bottrop zurZeche untertage und hab so meinStudiengeld verdient.

Würdest du sagen, dass deine Elternin diesem Sinne tolerant gewesensind?

Ja, eigentlich wohl. Sie waren sehr

katholisch, aber es wurde nie jemandbedrängt, zur Kirche zu gehen.

 Darüber wurde früher nicht sonachgedacht.

Es wurde nicht darüber nachgedacht,es war eine Selbstverständlichkeit.Und dem Kaplan, dem sind wir dieBude eingerannt, meine Geschwisterund ich. Wir waren dauernd imPfarrhaus, im Jugendheim oder un-terwegs zu den Gruppen. Meine

7 Das Collegium Borromaeum ist dieAusbildungsstätte für Priester im BistumMünster. Hier wohnt man während desTheologiestudiums.

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Interview mit Klemens Niermann am 24. Januar 1996 - Seite 5

Geschwister hatten fast alle eineJugendgruppe.

Waren das Messdiener oder was war das?

Nein, Pfadfinder und Pfarrju-gend. Meine Schwester gründetezusammen mit ihrem Verlobtennachher die Landjugend.

 Hast du eine positive Erinnerung anKirche?

Ja, eine sehr positive Erinnerung,obwohl die Gottesdienste uns allendamals nicht passten. Wir wollten –wie es damals hieß, die Gemein-schaftsmesse – und der Pastor wollte

die lateinische Messe. Mein ältesterBruder und auch meine Geschwisterwaren immer zum Vorbeten einge-setzt oder anders am Gottesdienstbeteiligt.

Wie ging es dann nach dem Gymna-sium weiter?

Nach dem Gymnasium fing ich 1951im Borromaeum in Münster mit demTheologiestudium an, dazwischenwar ich zwei Jahre im Außensemes-

ter8 in Fribourg9 in der Schweiz.

 Bei den Dominikanern.

Ja, an der Hochschule der Domini-kaner, wo die Theologie nur in La-tein doziert wurde. Es war eine sehrkonservative Universität, aber ichhabe fast alle Vorlesungen ge-schwänzt, weil ich in der Schweizdauernd unterwegs war. Ich warmehr in den Bergen (lacht) als in denVorlesungen.

8 Nach dem ersten Studienabschnitt (demPhilosophikum im vierten Semester) sindzwei Semester Studium an einer anderentheologischen Fakultät außerhalb vonMünster Pflicht.9 Freiburg (frz. Fribourg) ist der Hauptortdes Schweizer Kantons Freiburg und desDistrict de la Sarine (deutsch Saanebe-zirk). Im internationalen deutschenSprachgebrauch wird meist der ZusatzFreiburg im Üechtland verwendet, umVerwechslungen mit Freiburg im Breisgauvorzubeugen. Freiburg, beidseits der

Saane im Schweizer Mittelland gelegen,ist ein wichtiges Wirtschafts-, Verwal-tungs- und Bildungszentrum mit zwei-sprachiger Universität an der Kulturgrenzezwischen deutscher und welscherSchweiz.

Ein Studienkollege von mir, der ist da auch gewesen und später bei den

 Dominikanern eingetreten. Da habeich ihn mal besucht. Es war eine sehr schöne Lage so mit Blick auf dieStadt, die Umgebung sowieso, die

 französische Schweiz!

Ich bin jetzt in den letzten Feriennoch einmal drei Wochen in Fri-bourg in einer Berghütte gewesen,die ein Bekannter von damals, derheute in Fribourg Architekt ist, ge-mietet hat. Da war ich ganz allein,ganz einsam. Es war sehr schön. 

 Hast du noch Kontakte zu den Leutenvon damals?

Ja, ja.

 Musste man damals im Borromaeumauch was bezahlen oder konnteman...

Ja natürlich, man bekam nichts ge-schenkt. Ich bekam zinslose Darle-hen auf Antrag, aber die habe ich alleauf Heller und Pfennig zurückbe-zahlt.

Erzähl mal was von der Borromae-

um-Zeit, von der Studienzeit!

Ich habe mich im Borromaeum ei-gentlich wohl gefühlt. Es schimpftenalle über den „Kasten“, fast alle.Aber ich habe es gar nicht so alsbedrückend empfunden. Zwar warder Direktor Delbeck10 damals derMeinung, ich müsse mir überlegen,ob ich zum Priestertum geeignet sei,da ich mich nicht um die Hausord-nung kümmern würde. Er ließ michzweimal zu sich kommen. Er hatte

sich genau notiert - er konnte dasvon seinem Fenster aus sehen - wannich zu spät kam oder abends zu langeLicht hatte. Das wusste er alles ganzgenau. Und er meinte, wer so unge-horsam sei, sei eigentlich nicht ge-eignet. (Lacht) Aber ich fand michtrotzdem geeignet.

 Bist du immer schon so gewesen vondeinem Gefühl her oder gab es Wen-depunkte? Manchmal ist es ja so,dass Leute Wendepunkte gehabt haben und heute anders als früher sind. Wenn du jetzt erzählst, dann

10 Wilhelm Delbeck (1898-1958)

hört sich das an wie: Klemens Nier-mann ist immer so gewesen wie er 

 jetzt ist.

Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht.Aber was kirchliche Vorschriften

betrifft, da gibt es gute Gründe, sichmal darüber hinwegzusetzen. Grund-sätzliche Vorschriften der Moralmeine ich aber nicht. Ich weiß noch,ich war mal im Jahr 1952 allein alsAnhalter durch Belgien und Frank-reich gefahren, drei Wochen lang. Inder Nacht bin ich von Tarbes nachLourdes11 zu Fuß gegangen, so etwavier oder fünf Stunden. Und als ichmorgens in Lourdes ankam, wollteich natürlich zur Messe und zurKommunion gehen, aber ich hatte

aus Versehen einen Apfel gegessen.Man durfte nicht zur Kommuniongehen, wenn man etwas gegessenhatte. Damals war das streng undunter schwerster Sünde verboten.Und ich fand das so unsinnig, dassich am Höhepunkt meiner Wallfahrtnicht zur Kommunion gehen durfte,dass ich noch einen zweiten Apfeldazu gegessen habe und zur Kom-munion gegangen bin. Und seit derZeit fühlte ich mich frei von demZwang dieser Vorschriften. Das ist

so ein Beispiel gewesen.

Die Reise nach Jerusalem

 Ja, Ja! Hast du sehr viel allein für dich gemacht, machen müssen? Ist das eine Sache des Naturells oder ist das eine Sache, dass es damals auchnicht so viel Solidarität gab?

11 Lourdes ist einer der weltweit am meis-

ten besuchten katholischen Wallfahrtsor-te. Die Stadt liegt im Département Hau-tes-Pyrénées in Südwestfrankreich in derNähe der spanischen Grenze und zählte2003 ca. 15.000 Einwohner. 1856 sollBernadette Soubirous, nahe der GrotteMassabielle (massevieille = „alter Fels“),mehrfach Erscheinungen in Form einerweiß gekleideten Frau gehabt haben.Später offenbarte sie sich als die "unbe-fleckte Empfängnis", was der Pfarrer alsDogma von der Unbefleckten Empfängniserkannte. Die Quelle in der Grotte sollwährend einer dieser Erscheinungenentsprungen sein. Die Erscheinung beauf-tragte Bernadette Soubrious damit, eine

Kirche auf der Grotte zu errichten. DerQuelle werden Heilkräfte zugeschrieben.Es ist von vielen Wunderheilungen berich-tet. Bernadette Soubrious wurde 1934heilig gesprochen. Tarbes liegt etwa 20Kilometer nördlich von Lourdes.

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Interview mit Klemens Niermann am 24. Januar 1996 - Seite 6

Doch, doch. Ich habe einen gutenFreund vom ersten Semester an,Alfons Niemöller12, mit dem ichnoch heute jede Woche telefoniere.Er wohnt in Schwäbisch-Gmünd beiStuttgart, deshalb können wir uns

nicht oft besuchen. Mit dem habe ichviel zusammen gemacht. Ich hatteauch mit ihm 1955 nach dem Introi-tus-Examen eine gemeinsame Reisenach Jerusalem geplant, aber erkonnte nicht, weil jemand aus derFamilie starb. Dann bin ich allein perAnhalter nach Jerusalem gefahren13.Das war – wenn ich zurückdenke –die erlebnisreichste Reise, die ich jegemacht habe, voller Abenteuer. Ichhatte nicht genügend Geld, um hin-und zurückzukommen, und so muss-

te ich umsonst bis Jerusalem gelan-gen. Das ging zunächst per Anhalterüber die Schweiz nach Italien, dannließ ich mich nach Griechenlandübersetzen, dann weiter durch diePeloponnes per Anhalter, dann vonPiräus zur Insel Chios, dann mit demBötchen ans Festland nach Izmir,dann per Anhalter bis Ankara, dannhinunter nach Aleppo in Syrien, vondort nach Damaskus und dann mitdem Bus durch die syrische Wüstebis nach Amman und schließlich mit

dem Bus bis nach Jericho und dannzu Fuß nach Jerusalem.

 Hast du mal später darüber nachge-dacht, was dich angetrieben hat, so

 zu reisen?

Ich wollte unbedingt in das Land,in dem Jesus gelebt hat. Unbe-dingt!

 Aber das wäre doch damals auchanders möglich gewesen.

Nein. Wohl kaum. Denn keinMensch konnte damals nach Israelfahren. Israel war zu für Deutsche.Deutsche durften nur nach Jordanien,nicht nach Israel. Auch vom Bor-romaeum oder vom Seminar warniemand in Israel gewesen. Aber ich

12 Alfons Niemöller (geb. 1930 in Ober-hausen-Sterkrade) wurde mit KlemensNiermann zusammen 1957 in Münsterzum Priester geweiht. Mit der Gründung

des Bistums Essen wechselte er 1958dahin. Er hat 1970 sein Priesteramt auf-gegeben, geheiratet und war als Studien-direktor tätig.13 Das müssen etwa 5500 Kilometer (einWeg) gewesen sein.

wollte unbedingt dahin und bin auchdahin gekommen. Und in Jerusalem,im Osten, damals Jordanien, da gabes eine strenge Mauer zwischen Ost-und Westjerusalem. Dort traf icheinen Benediktinerpater, Pater Paul

Mehl14

, der heute 85 Jahre ist. Er lebtnoch. Den traf ich, und der hat mireine Einreise nach Israel ermöglicht,weil er Kontakt zu dem damaligenReligionsminister Dr. Kolb15 hatte.Der war ein deutscher Jude, ichkannte ihn nicht. Der hat mir dasermöglicht; aber das war eine Aus-nahme. Er hat behauptet, ich sei derdritte Deutsche, dem damals eineEinreise ermöglicht wurde. So kamich, ich weiß noch, Ostermontag1955 über die Mandelbaumtorgren-

ze16 nach Jerusalem und war dannGast bei den Benediktinern auf demSion. Pater Paul Mehl empfing michund der damalige Abt Rudloff 17 

14 Pater Paul Mehl lebte von 1911 bis1998. Er hatte verschiedene Aufgabender Benediktiner-Abtei „Dormitio“ (HagiaMaria Sion) auf dem Zionsberg in Jerusa-lem innegehabt, zuletzt war er im Kloster-laden und dadurch auch vielen heutenoch bekannt. Er war auch Cellerar (Öko-nom) und Pförtner. Der Kloster war 1910eröffnet worden. 1948 war das Klosterevakuiert worden. Erst im Februar 1951durften die Benediktiner in die Abtei zu-rückkehren, die durch die Kriegsereignis-se schwer beschädigt worden war. DerZion war nach dem Waffenstillstand israe-lische Militärzone am Rand des Nie-mandslandes geworden.15 Nach Recherchen in Jerusalem undBerlin kann dieser Name nicht bestätigtwerden. Der Franziskanerpater RobertJauch vom Convento San Salvatore inJerusalem schreibt dazu: „Selbst bei einerÜbersicht über alle Größen der modernenGeschichte Israels ist kein Dr. Kolb zufinden. Ich vermute, es handelt sich beidem Gesuchten um Teddy Kollek, der

kürzlich hochbetagt gestorben ist. Er hatin der fraglichen Zeit eng mit Ben Gurionzusammengearbeitet. Kolb - Kollek...: dieHörungenauigkeit könnte ich mir gutvorstellen. Kollek war ein toller Mann, undwas da in dem Interview erwähnt wurde,passt zu der offenen Art von ihm.“ TeddyKollek (1911-2007) war von 1965 bis1993 Bürgermeister von Jerusalem. Von1952 bis 1965 arbeitete er in den Regie-rungen von David Ben Gurion (ersterPremierminister des Staates Israel).16 Das Mandelbaumtor, das am heutigenKidar Piqqud Hamerkaz (Central Com-mand Square ) nordöstlich der Altstadtliegt, war zwischen 1949 und 1967 die

einzige Verbindung im Niemandslandzwischen West- und Ostjerusalem.17 Der Benediktinerpater Leo von Rudloff(1902-1982), der 1922 seine Ewige Pro-fess abgelegt hatte, wurde 1951 zunächstAdministrator, dann 1952 Abt in der Dor-

empfing mich – das weiß ich noch –mit Brot und Salz.

 Du hast immer so risikoreiche Sa-chen gemacht.

Ja! Ich fuhr dann nach Haifa, weilich unbedingt am 1. Mai im Priester-seminar sein musste. In Haifa lagzum ersten Mal ein deutsches Schiff vor Anker und brachte Reparations-leistungen – Krupp’sche Motorenoder Maschinen. Alle deutschenSchiffe mussten vor der Hafenein-fahrt ankern, da wurde dann umgela-den und ich weiß noch, wie ich hin-übergerufen habe: „Könnt ihr michnach Deutschland mitnehmen?“ Ichwurde von der Polizei sofort wegge-

trieben. Es war auch alles abgesperrtund die Matrosen durften nicht anLand. Und dann hab ich doch eineHeuer bekommen, eine Überfahrt bisPiräus/Athen. Und in Piräus hab ichvon der letzten Drachme oder demletzten Dollar – ich weiß nicht mehr,was ich hatte – eine Fahrkarte bisKlagenfurt gekauft18. Und dann hatteich noch ein paar Drachmen, vondenen hab ich mir – das weiß ichwohl noch – Apfelsinen gekauft unddann hatte ich keinen Pfennig Geld

mehr.

 Hattest du nie Angst bei solchenUnternehmungen?

Doch, aber das Abenteuer, das reizteimmer sehr. (lacht)

Die ersten Priesterjahre

Wie ging es nach dem Studium wei-ter?

Ja, nach dem Studium war die Pries-terweihe 1957, danach war ich sechsJahre Kaplan in Duisburg-Rheinhausen19, einer Stadt mitSchwerindustrie.

Konntest du das aussuchen oder wurdest du dahin geschickt?

Nein, nein! Eines Morgens öffneteich den Brief und darin stand, dassich zum Kaplan von Rheinhausen

mitio-Abtei auf dem Berg Zion in Jerusa-lem.18 Die Bahnfahrt dauert heute 35 Stunden.19 Duisburg-Rheinhausen-HochemmerichSt. Peter

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Interview mit Klemens Niermann am 24. Januar 1996 - Seite 7

ernannt worden bin. Das wusste ichvorher nicht. Das war damals so. AmSamstag vor Palmsonntag musste ichantreten. Ich komme in die Kirche,da sehe ich von der Tür bis zummeinem Beichtstuhl vorne rechts

zwei Schlangen Beichtende. Das wardas erste, was ich in Rheinhausenmachte: Beichte hören - links undrechts – links und rechts, bis abendsspät. Danach war ich total erschöpft.Und ich habe links und rechts beiallen Jugendlichen gesagt: „Das istkeine schwere Sünde, du kannstruhig zur Kommunion gehen.“ Esging um Selbstbefriedigung. Ichhatte vom Seminar mitgekriegt,dass das alles eine schwere Sündewar. Aber für mich war das völlig

unmöglich, völlig unmöglich, dassdas eine schwere Sünde ist. Eskönnen nicht alle meine Jugendli-chen in schwerer Sünde sein. Ichhabe denen gesagt, sie könntenruhig zur Kommunion gehen. Ichbekam dann ordentlich Schwierig-keiten mit dem Pastor20, der balddahinterkam.

War das damals eher eine Funktion:ich bin jetzt Kaplan? Oder gab esschon damals, wie wir es heute ja

gewohnt sind, dass über Beziehun-gen nachgedacht wird?

Wir waren schlecht vorbereitet auf den Dienst als Kaplan, die Predigt-vorbereitung war sehr schlecht. DieVorbereitung auf den Beichtstuhlwar miserabel, dass kann ich wohlsagen. Nach Jone21, kannst du dir dasvorstellen?

Wir haben den manchmal eher als Belustigung angesehen!

Aber bei uns waren das die Unterla-gen, nach denen der Regens22 vor-ging, nach Jone ging er mit uns vor.Das war miserabel und ich habe dasDing verflucht. Ja! Auf das Predigenwar ich nicht vorbereitet. Aber auf die Jugendarbeit war ich vorbereitetdurch meine eigene Tätigkeit in der

20 Jakob Brötsch (1902-1979) war von1952 bis 1972 Pfarrer in Rheinhausen St.

Peter.21 Heribert Jone (1885-1967) war Kirchen-rechtler und Moraltheologe und schriebunter anderem einen berüchtigten Kom-mentar zum kirchlichen Gesetzbuch.22 Leiter des Priesterseminars

Jugend. Wir waren drei Kapläne inder Gemeinde. Ich war der jüngste.

 Noch mal die Frage nach der Solida-rität, im Kurs oder jetzt bei den dreiKaplänen. Wart ihr euch einig in der 

 Beurteilung, die du gemacht hast,oder war es eher eine Minderheit.

Nein. Ich fühlte mich ziemlich allein.Es war noch ein anderer Kaplan ausmeinem Kurs in der Nachbarge-meinde, mit dem verstand ich michganz gut. Ich fuhr öfter mit meinemFahrrad - ein Auto hatte man ja da-mals noch nicht - über den Rhein indie nächste Gemeinde nach Duis-burg. Dort war mein Freund AlfonsNiemöller Kaplan und wir waren uns

auch beide einig und wir haben unsoft besucht und uns gegenseitig wasvorgeheult, das ist wirklich wahr.

Gab’s denn damals schon Zusam-menarbeit in dem Sinne – ich spre-che noch einmal die Beziehungsar-beit an – oder war das Aufgabe,Funktion? 

Gruppenarbeit war in der Jugendar-beit selbstverständlich. Ich hattebestimmt 20 Jugendgruppen in der

Gemeinde, es war ja auch eine Ge-meinde mit 14.000 Mitgliedern. Sogroß! Dazu kamen die vielen Ju-gendlager im Sommer. Ich hatte auchUnterricht in der Schule, in der Son-derschule und in der Hauptschule,nein, das hieß damals Volksschule.

Und von Rheinhausen ging’s dannnach Ibbenbüren?

Ja

Die ersten Jahre in Ibbenbüren

Wie lange warst du Kaplan in Rheinhausen?

6 Jahre, von 1957 bis 1963 war ichin Rheinhausen. Im Januar 1963,also jetzt vor 33 Jahren, kam ich vonRheinhausen nach St. Mauritius.

Kam auch so ein Brief?

Ich kam mittags todmüde von derSchule nach Hause, fand einen Brief im Briefkasten: Sie sind mit soforti-ger Wirkung zum Kreisvikar in Ib-benbüren ernannt.

Wurde man gar nicht gefragt?

Nein, nein. Man wurde nicht gefragt.Dann hab ich mich hier mit meinemPastor bei Dechant Heufers23 vorge-

stellt. Mit dem hab ich eigentlich nuram Schreibtisch gesprochen; derhatte immer einen Schreibtisch zwi-schen sich und dem Besucher. Daserste, was er mir sagte, war: „Sodürfen sie hier in Ibbenbüren natür-lich nicht herumlaufen.“ Ich kamnämlich in Zivil. 1963! Aber ich habmich nicht daran gehalten (lacht).

 Du hast auch im Pfarrhaus ge-wohnt?

Nein. Ich hatte eine eigene Kaplans-wohnung, zuerst ein halbes Jahr ander Roggenkampstraße, wo JohannesLammers24 jetzt einzieht. Das Haushatte ich für mich alleine, es war dieKreisvikarie. Dann hab ich in derGroßen Straße 40 gewohnt. Nacheinem halben Jahr hat Dechant He-ufers mich gebeten umzuziehen, weilStudienrat Gierlich25 die Wohnunggerne hätte.

Was heißt Kreisvikar damals?

Ja, das ist ein uralter Titel für denersten Kaplan der Mauritiusgemein-de. Früher, im vorigen Jahrhundert,hatte er den ganzen Kreis Tecklen-burg als Kaplan zu betreuen. Unddiese Stelle ist als dotierte Stelle bisvor einigen Jahren erhalten geblie-ben. Es gab dafür auch ein Gehalt; sowie die Pfarrer über die Diözese vomStaat bezahlt wurden, so auch derKreisvikar. Deshalb musste der Titelerhalten bleiben.

 Aber rein faktisch hast du nur in St. Mauritius gearbeitet.

Ich war nur Kaplan.

23 Bernhard Heufers (1893-1983) war von1946 bis 1968 Pfarrer und Dechant in St.Mauritius Ibbenbüren.24 Johannes Lammers (geb. 1930) warvon 1968 bis 1996 Pfarrer in St. MauritiusIbbenbüren und ist zusammen mit Kle-mens Niermann 1957 zum Priester ge-

weiht worden – also Kurskollege.25 Josef Gierlich (1919-1991) war Priester,Oberstudienrat und Religionslehrer amGoethe-Gymnasium in Ibbenbüren. Zu-letzt war er Vicarius Cooperator in Ro-sendahl-Osterwick.

5/13/2018 Pfarrer Klemens Niermann (1928-2007) im Gespräch - slidepdf.com

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Interview mit Klemens Niermann am 24. Januar 1996 - Seite 8

Was war denn anders zwischen Rheinhausen und Ibbenbüren? Ober war das im Prinzip dasselbe?

Von einem Ende der Diözese zumanderen Ende, also von der Indust-

riestadt Rheinhausen in diese damalsländliche Stadt Ibbenbüren mit derZeche, das war ein ganz, ganz großerUnterschied! Wir hatten damals inRheinhausen nur etwa 30 % Kir-chenbesucher. Das war für die Diö-zese absoluter Tiefstand. In Ibbenbü-ren St Mauritius waren es damals100 %! Einige gingen zweimal amTag in die Kirche, deshalb kam manauf 100 %! Die Kirche war immerbrechend voll – die große Mauritius-kirche. Ich hab mich als Kaplan nicht

so wohl gefühlt. Ich habe dann auf Anregung des Bischofs Höffner26 damals das Theologische Seminarhier in Ibbenbüren ins Leben geru-fen. Das lief gut zwei Jahre und wirhatten keinen Abend weniger als 200Teilnehmer.

 Da hatte aber das Konzil begonnen?

Ja, das war 1963/1964, das Konzilhatte gerade begonnen. Es war ei-gentlich das erste Mal, dass man in

Ibbenbüren moderne Theologie ver-breitete – und das war auch ziemlichumstritten. Ich weiß noch, wie ich imTheologischen Seminar einen Abendüber die Himmelfahrt Christi hieltund dort sagte: „Jetzt stellen Sie sichvor, Petrus hat ein Fernrohr gehabt,Johannes nicht. Hat Petrus den Jesuslänger sehen können bei der Him-melfahrt oder nicht?“ (lacht) Natür-lich nicht, denn die HimmelfahrtJesu war ja kein optischer Vorgang,den man mit diesen Augen sehen

konnte! Um solche Probleme ging esdamals auch im Theologischen Se-minar. Und wir hatten an jedemAbend vier Referenten da, einer, derreferierte, und drei weitere, die fürGruppenarbeit zur Verfügung stan-den. Dieses Aufteilen in Gruppenwar damals etwa ganz Außerge-wöhnliches.

26 Kardinal Joseph Höffner (1906-1987)war seit 1951 Professor für ChristlicheSozialwissenschaften an der UniversitätMünster, von 1962 bis 1968 Bischof vonMünster und von 1968 bis 1987 Erzbi-schof von Köln.

Wie bist du darauf gekommen? Gabes da irgendwie eine Sensibilität beiden anderen, oder wie ging dieser 

 Methodenwechsel vor sich?

Das kam einfach dadurch, dass man

in den Katechetischen Blättern27

 etwas Neues gelesen hatte. Es gabkeinerlei Anweisung von Seiten derDiözese. Aber was heißt Gruppenar-beit! Die Gruppen bestanden aus 30Leuten, die waren ja viel zu groß!

Berufsschulpfarrer

War das dann auch die Zeit, wo dudie Idee bekamst, in die Berufsschule

 zu gehen?

Nein. Ich hab mich nach einem Jahrbei der bischöflichen Behörde ge-meldet. Ich wollte versetzt werden,weil ich meinte, ich sei in Ibbenbü-ren nicht an der richtigen Stelle.Aber dann hat mich Bischof Höffnerzusammen mit seinem Kaplan, dem

 jetzigen Bischof Lettmann28, be-sucht. Er war auch einen ganzenAbend im Theologischen Seminar.Er wollte sogar anonym bleiben undwar es zuerst auch. Er saß damalsmitten zwischen den Leuten, nicht

vorne, nicht hinten, sondern mittendazwischen und ließ sich nur zumSchluss von mir begrüßen. Er hatnichts gesagt! Und dann bat er mich,so lange in Ibbenbüren zu bleiben,bis das Theologische Seminar zuEnde sei. Dann sollte ich mich wie-der melden. Nach einem oder einein-halb Jahren war das TheologischeSeminar zu Ende und dann wurde dieStelle an der Berufsschule frei. Höff-ner bat mich, doch diese Stelle an derBerufsschule zu übernehmen undauch das Theologisch Seminar zuEnde zu bringen. Da habe ich etwaswiderstrebend die Stelle angenom-men. Das war Ostern 1965. Aber ichmuss sagen, an der Berufsschule

27 Zeitschrift für Religionsunterricht, Ge-meindekatechese und kirchliche Jugend-arbeit. Die Katechetischen Blätter gibt esseit 1875. Sie werden herausgegebenvom Deutschen Katecheten-Verein undder Arbeitsstelle für Jugendseelsorge derDeutschen Bischofskonferenz.28 Reinhard Lettmann (geb. 1933) wurde1959 zum Priester geweiht. Er war von1963 bis 1967 Bischöflicher Sekretär vonBischof Joseph Höffner, wurde 1967Generalvikar und 1973 Weihbischof. Seit1980 ist er Bischof von Münster.

habe ich nachher doch gedacht, ichsei an der richtigen Stelle. In derBerufsschule war ich in einer Son-derfunktion der Seelsorge tätig, ichhatte viel mit Jugendlichen zu tun,die religiös total ungebunden waren.

Dadurch kam ich mit Leuten in Kon-takt, die nicht gerade zum inner-kirchlichen Bereich gehören: nichtkirchlich Verheiratete oder Leute,die aus der Kirche ausgetreten wa-ren. Da gab es so einen Fall: EinPaar war nicht kirchlich verheiratetund der zuständige Pfarrer hatte dieTaufe abgelehnt; sie müssten erstkirchlich heiraten. Kirchlich heiratenkonnten sie aber nicht, das war nichtmöglich. Dann habe ich das Kindgetauft.

 Das hört sich für mich heute etwasungewöhnlich an, das ist heute in der 

 Regel nicht mehr so, dass sich ein Bischof so um einen Kaplan küm-mert!

Doch, Höffner tat das! Na ja, ichhatte ihm geschrieben, ich möchteum Versetzung bitten; wenn es mög-lich sei, würde ich mich für die Mis-sion melden (lacht).

Wo wärst du denn dann hingegan-gen, gerne? Hast du einen Traumgehabt? Mit deinem Bruder nachPapua-Neuguinea?

Es gab damals eine Gruppe vonKaplänen aus unserem Kurs. Wirhatten schon damals den Bischof Michael29 gebeten, wir wären wohldaran interessiert, ein Missionsgebietin Südafrika zu übernehmen, undzwar als Dependance der DiözeseMünster. Bischof Michael flog auch

nach Südafrika. Als er zurückkam,sagte er, diese Idee von der Depen-dance der Diözese Münster sei nichtrichtig, denn wir dürfen die Afrika-ner in ihrer Kirche nicht mehr durchWeiße bevormunden. Das fand icherstaunlich! Wir wollten ja helfen,aber er sagte: Ihr würdet sofort eineführende Stelle übernehmen, und dasgeht nicht mehr! Ihr müsst die Afri-kaner an die führende Stelle lassen.Das fand ich erstaunlich, dass Bi-schof Michael uns das so verklicker-te, und er hat Recht gehabt.

29 Michael Keller (1896-1961) war von1947 bis 1961 Bischof von Münster.

5/13/2018 Pfarrer Klemens Niermann (1928-2007) im Gespräch - slidepdf.com

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Interview mit Klemens Niermann am 24. Januar 1996 - Seite 9

 Als du dann die Schule gingst, warst du da von einem Tag auf den ande-ren Lehrer oder muss man dannnoch eine Zusatzqualifikation ha-ben?

Man brauchte keine Zusatzqualifika-tion. Man war Lehrer. Aber ich habetrotzdem eine Zusatzqualifikationerworben. Ich habe nämlich ein Qua-si-Referendariat, das angeboten wur-de, mitgemacht, zwei Jahren lang,und hätte somit die Berechtigunggehabt, Studienrat zu werden. Ichwollte aber nicht.

 Ich stelle mir das schwierig vor.Oder war Berufsschule damals noch

nicht so schwierig wie es vielleicht heute ist?

Es war nicht so schwierig wie heute,glaube ich. Aber schwierig war estrotzdem. Voll in den Unterrichteinzusteigen und dann nur Religi-onsunterricht zu geben! Ja, aber wirReligionslehrer hier in Ibbenbüren,ich merke das bei Wolfgang Pohle30 und bei anderen, wir hatten immereine Sonderstellung. Zum Beispielwar ich jahrelang – bis Frau Janke31 

kam – Vertrauenslehrer, dazu wur-den hauptsächlich die Religionsleh-rer gewählt.

Was hast du außerhalb der Berufs-schule noch gemacht?

Ich war Subsidiar32 in Mauritius,aber fast ausschließlich in Michael33 eingesetzt, weil die Michael-Gemeinde keinen Kaplan hatte.

Warst du seit Berufsschulzeiten dann

eher prädestiniert für den Bereich Jugend?

Ich habe viele Kurse für Jugendlichegegeben, zum Beispiel Schulendta-

 30 Wolfgang Pohle war Berufsschullehreran der Fachschule für Sozialpädagogik,ist Gemeindemitglied von St. Ludwig (jetztHeilig Kreuz) und dort Mitglied im Pfarr-gemeinderat.31 Elfriede Janke (auch bekannt unterihrem Spitznamen „Fritz“) war Religions-lehrerin und Vertrauenslehrerin an den

Kaufmännischen Schulen.32 Als Subsidiar übernimmt man unter derLeitung eines Pfarrers zusätzliche Aufga-ben in einer Pfarrgemeinde.33 Kirchengemeinde St. Michael, jetzt St.Franziskus Ibbenbüren.

ge34 für Klassen auch außerhalb derDiözese. Ich habe 1972 den erstenMeditationskurs mitgemacht undmich als Meditationsleiter ausbildenlassen. Und seit dieser Zeit habe ichauch eine Meditationsgruppe gehabt.

Ja, damals wurde ich viel angefor-dert. In den 70er Jahren bis Anfangder 80er Jahre war ich oft mit Vor-trägen im Rahmen des Theologi-schen Seminars unterwegs.

Wahrscheinlich hattest du außerhalbdes Stundenplanes dann auch ent-sprechende Freiheiten? Mehr als

 früher als Kaplan, oder?

Ich hatte mehr Freiheiten, obwohlich in der Michaelgemeinde viel

gefragt war, denn Peperhove35 war...– ich habe wenigstens drei Viertelaller Predigten gehalten.

 Da fällt mir gerade ein: hast dueigentlich ein Hobby?

(Niermann überlegt)

 Du machst so viel?

Mein Hobby war eine Zeitlang dasBlumenstecken, ich habe Ikebana-

Kurse36 mitgemacht. Das hab ich fürmich privat ziemlich viel gemacht,ich habe sogar Kurse in Bildungs-stätten darüber gegeben. Meine Me-ditationskurse waren mit solchenDingen verbunden.

Ost-Kontakte 

 Deshalb gestaltest du heute nochgerne den Kirchenraum?

Ja, das mach ich noch gerne. ImSommer 1955 mussten wir, zumersten Mal war das übrigens, einPraktikum von vier Wochen in derSeelsorge machen. Und da habe ichmich für eine Pfarrei in der DDRgemeldet. Das war Eisenberg37 inThüringen. Dadurch bekam ich auchKontakt mit der Gemeinde Meera-

 34 „Tage religiöser Orientierung“ am Endeder Schulzeit.35 Hermann Peperhove (1916-1985) war

Pfarrer von St. Michael Ibbenbüren.36 Japanische Kunst des Blumensteckens.37 Eisenberg ist die Kreisstadt des Saale-Holzland-Kreises in Thüringen und liegtauf halbem Weg zwischen Jena undGera.

ne38 in Sachsen und seit der Zeit warich für diese Gemeinde so eine ArtKontaktperson. Die hatten dort eineprimitive Kirche – es war eine alteTurnhalle, die zusammenbrach undwieder aufgebaut werden musste –

und dafür habe ich das Geld besorgt.Dort hängen auch die Glocken derMichaelkirche39.

Wie hast du denn die Glocken dahingekriegt?

Geschmuggelt! Soll ich dir das er-zählen? Das kannst du gar nichtglauben!

 Ja, erzähl mal!

Also, zunächst habe ich eine Ein-fuhrgenehmigung beantragt. Diewurde abgelehnt. Dann habe ich dieStahlglocken – eine war 65 cm hoch,die andere 55 cm hoch – hinten inmeinen Renault 4 gepackt. Der hingganz tief durch, aber es ging noch soeben! Und gleichzeitig hab ich zweiGlöckchen mitgenommen. Eine war(zeigt) so, die andere so! Die habeich mir besorgt. Und dann habe ichdie Glocken an die Grenze gefahren.Ich hatte mir vorher von einer Ge-

meinde in Berlin, die ich kannte, eineBescheinigung ausschreiben lassen,dass ich diese Glocken nach Ibben-büren transportiere. Das ist kompli-ziert, nicht?

 Nach Ibbenbüren?

Ja, von einer Gemeinde in Berlin –Westberlin - nach Ibbenbüren. Diehol ich nur ab. Und da ich schon malin Berlin bin, will ich die Hauptstadtder DDR mal gerne sehen. Deswe-

gen möchte ich so für 2 – 3 Stundennach Ostberlin. An der Grenze habendie sich angeguckt, aber sie habendas akzeptiert. Und so wurde in einerZollinhaltsbescheinigung eingetra-gen: Glocken.

Wie waren die denn nach Berlingekommen, mit dem Flugzeug?

38 Die sächsische Kleinstadt Meerane imNordosten des Landkreises Chemnitzerliegt an der Grenze zu Thüringen 17 km

südlich von Altenburg und ca. 20 kmnördlich von Zwickau.39 Die Katholische Kirche St. Marienwurde in den Jahren 1966 bis 1969 er-baut. Die Weihe fand am 18. Oktober1969 statt.

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Interview mit Klemens Niermann am 24. Januar 1996 - Seite 10

Nein, ich hatte die ja im Auto vonIbbenbüren nach Berlin transportiert.

 Das ging?

Ja sicher, ohne Probleme. In dieInhaltserklärung wurde also einge-tragen: zwei Glocken, Höhe 65 cm,Höhe 55 Zentimeter. Die musste ich

 ja nach dem kurzen Ostberlin-Besuch wieder ausführen. Danachhabe ich die Glocken zu den Jesuitennach Ostberlin gebracht, abgeladenund bin wieder zurückgefahren. Undan der Grenze wurde gefragt: „Wosind die Glocken?“ - „Ja, hier sindsie ja!“ - Da hatte ich dann zweiGlöckchen, eine war 6,5 cm, die

andere 5,5 cm hoch. Ich hatte einfachin die Zollinhaltserklärung jeweilsein Komma gesetzt.

(Beide lachen)

Ich mache keine Witze, das warwirklich so. Und so hat das geklappt.So hab ich auch noch die Madonnanach Meerane gebracht, dazu Türbe-schläge und einen Tabernakel. EinenTabernakel aus Bronze, den einKünstler umsonst hergestellt hatte,

ein ganz schweres Ding! Den hab ichim Auto nach Berlin transportiertund dann in der Zollinhaltserklärungeingetragen: Tresor. Und dann habendie gesagt: „Das ist doch kein Tre-sor, das ist ein Tabernakel!“ Einerwusste das genau. Deshalb bin ichdamit von der Bornholmer Straße40 zum anderen Eingang nach Ostberlingefahren, hab wieder gesagt „Tre-sor“ und die haben „Tresor“ einge-tragen. Dann ging es wieder nachOstberlin zu den Jesuiten. Ich habe

den Tabernakel dagelassen und ge-sagt: „Jetzt müsst ihr mir einen Tre-sor besorgen, ganz egal wie!“ Unddie haben einen alten Fronleich-namstabernakel besorgt, weiß gestri-chen, den habe ich dann wieder alsTresor ausgeführt. Den habe ichheute noch in meinem Zimmer ste-hen. Das war ein Abenteuer! Es wareinfach schön. - Ich bekam dannhauptsächlich Beziehungen zurTschechoslowakei. Das hing damit

40 Der Grenzübergang Bornholmer Straßebefand sich an der Berliner Mauer von1961 bis 1990 und verband die StadtteilePrenzlauer Berg und Wedding im NordenBerlins über die Böse-Brücke.

zusammen, dass ich mal bei einerTrauung meiner Nichte einen Küsterkennen lernte, der aus der Tschecho-slowakei geflüchtet war. Und für ihnbin ich zu seiner Heimatgemeindegefahren, um Papiere zu holen. Der

Pfarrer dort konnte kein Deutsch undhat den Nachbarpfarrer geholt, derDeutsch konnte, und mit diesemPfarrer, habe ich bis heute gutenKontakt. Ich hab ihm auch zwei-,dreimal einen Wagen besorgt. Ein-mal auch geschmuggelt...

Wie geschmuggelt?

Ja, das war so: Unser Gymnasiumfuhr immer mit Strier41 nach Prag.Der Pfarrer in der Tschechoslowakei

hatte einen alten Renault 12. Unddann hab ich dem Strier grüne Farbefürs Auto mitgegeben und der Pfar-rer hat seinen Wagen, ein total altesDing, wunderbar grün gespritzt, sodass der wie neu aussah. Damit fuhrder so zwei, drei Monate herum.Dann hab ich in dieser Farbe einenneuen Renault 12 in die Tschecho-slowakei hinübergefahren, übrigenszusammen mit Cesare42. Vorher habich Motornummer und Fahrgestell-nummer ändern lassen. Den alten

Wagen habe ich zurückgebracht. Sofuhr der Pfarrer mit seinen altenPapieren einen funkelnagelneuenWagen.

Sag mal, wie hast du das vom Kopf her gemacht? Hast du dir gesagt,das ist jetzt ausgleichende Gerech-tigkeit oder wie?

Die Priester brauchten Hilfe, diebrauchten einfach Hilfe. Der Pfar-rer in der Tschechoslowakei hatte

damals ein Gebiet, das war halb sogroß wie der Kreis Tecklenburgoder, sagen wir mal, so groß wieganz Ibbenbüren. Ich hatte ein Autound er hatte ein ganz schlechtesAuto und brauchte unbedingteinen Wagen. Also musste ich ihmhelfen. Das war die Überlegung. Dabei habe ich über ihn mit demBischof von Tschernosek43 Kontakt

41 Reisebüro Strier in Ibbenbüren.42 Prof. Dr. Cesare Marcheselli-Casale,

Professor für Neues Testament in Pom-peji/Italien und Vicarius Cooperator in Ss.Mauritius-Maria-Magdalena Ibbenbüren(siehe weiter unten).43 Zernosek, Zernoseky, nordwestlich vonPrag, jetzt Tschechische Republik

bekommen. Dieser Bischof war nurein paar Wochen im Amt gewesen,dann war er inhaftiert worden undzehn Jahre im Gefängnis in seinerHeimatstadt Hradec Králové44, alsoKönigsgräz, im Gefängnis. In Zu-

kunft bin ich dann häufiger, immerwenn ich zu dem Pfarrer fuhr, auchzu dem Bischof gefahren. Und zwarimmer auch mit Geldern der DiözeseMünster. Böggering45, der jetzt ge-storben ist, war die Kontaktpersonund gab mir immer die Geldmittel.Ich hab dieses Geld hier bei denBanken schwarz getauscht, 1 : 12,und habe das Schwarzgeld hinüber-gefahren. Das war natürlich strengverboten, aber ich hatte immer guteVerstecke im Auto. Die haben zwar

immer untersucht, aber nie was ge-funden.

Wie kamst du dann nach Polen und später dann nach Weißrussland?

Stanis, den Pfarrer von Stettin46,habe ich über die Familie Baba inLaggenbeck kennen gelernt. Das warso etwa vor 25 Jahren gewesen. Undseit dieser Zeit hat Stanis auch fürden Aufbau seiner Kirche in Stettindas Notwendigste hier aus Ibbenbü-

ren bekommen, auch über mich.Autos und viel Geld und Material hater bekommen. Alle Bänke zum Bei-spiel, die in der Kirche sind, habe ichihm rübertransportiert. Die Orgel, dieer hat, hat er von mir gekriegt, dieLampen und die Lautsprecheranlagesind von Mauritius.

Und wie hast du Cesare kennengelernt?

Cesare war vor gut 20 Jahren Vertre-

ter des Kaplans in Laggenbeck47. Erhatte sich bei der Diözese Münstergemeldet, weil er gerne Deutsch

44 Alte königliche Festungsstadt im Nord-osten der jetzigen Tschechischen Repub-lik (Ostböhmen).45 Laurenz Böggering (1904-1996) warvon 1967 bis zu seinem Tod Weihbischofin Münster.46 Domkapitular Stanislaw Skibinski (geb.1939) ist Pfarrer der Pfarrei „Mutter Got-tes von Jasna Góra (Tschenstochau“ aufdem „Hetmanhügel“ in Stettin (Szcze-

cin/Polen). Die Kirche wurde in einemalten Wasserturm von 1865 gebaut und1985 geweiht. Die Kontakte nach Ibben-büren bestehen seit Mitte der 70er Jahre.47 Kirchengemeinde St. Maria Magdalena(jetzt Ss. Mauritius Maria Magdalena)

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Interview mit Klemens Niermann am 24. Januar 1996 - Seite 11

lernen wollte. Damals studierte erExegese und doktorierte bei demBibelinstitut in Rom. Er sagte sich,ohne Deutschkenntnisse könne manheute kein Exeget mehr sein, denndie wichtigsten Veröffentlichungen

in der Exegese gibt es in Deutsch-land, damals was das vor allem dieevangelische Exegese.So kam er nach Laggenbeck. Ichweiß noch: Die Haushälterin in Lag-genbeck rief mich an und sagte: „Wirhaben hier einen Priester aus Italien,der kann aber kein Deutsch.“ Dannhab ich dem Cesare eine Predigtgeschrieben und hab mit ihm dasLesen auf Deutsch geübt; er konntees kaum. Aber er hat sie dann vorge-lesen, obwohl er nichts davon ver-

stand.

Und seit der Zeit ist der Kontakt auch geblieben?

Ja, seit dieser Zeit ist Cesare nichtnur, aber fast ausschließlich nachIbbenbüren und Umgebung gekom-men.

Wie fing es mit Weißrussland, mit  Minsk an?

Das ging über Stefan Ottmann48, derGeschäftsführer beim SkF49 war. Derhatte einen Hilfstransport mit einemrussischen Flugzeug, mit einemSportflugzeug, für ein Kinderkran-kenhaus in Minsk organisiert. Als erdann zum zweiten Mal da hinflog,stellte er fest, dass das wohl nicht sorichtig lief. Sie haben jemandengesucht, der als Vertrauenspersonfungieren konnte, denn die Hilfsgü-ter landeten zum Teil auf demSchwarzen Markt. Und die Vertrau-

ensperson war dann der damaligePfarrer, der neu nach Minsk gekom-men war, Pfarrer Zawalniuk50. Derhatte noch keine Kirche, sondernmusste draußen die Gottesdienstefeiern. So kam das; seit der Zeit istdie Verbindung mit Zawalniuk ge-blieben, weil Stefan Ottmann michfragte: Kannst du den Zawalniuknach Ibbenbüren einladen?

48 Stefan Ottmann ist jetzt Geschäftsführerder Jugendstiftung des Landkreises Osn-

abrück.49 Sozialdienst katholischer Frauen50 Wladyslaw Zavalniuk ist Pfarrer der„Roten Kirche“ im Stadtzentrum der weiß-russischen Hauptstadt Minsk; dort unter-hält er auch eine Armenküche.

 Du hattest Kontakt zur DDR, zur Tschechoslowakei, zu Weißrussland und zu Polen. Einmal hast du indiesem Zusammenhang gesagt: DenPolen geht es jetzt wieder besser, die

 Not verlagert sich in den Osten.

Ja, das stimmt!

 Du unterstützt ja viele Leute. Musses da eine Entscheidung geben, das,was ich tue, was ich kann, aucheffektiv einzusetzen?

Ich fühle mich bedrängt, meinGeld für arme Leute auszugeben.

 Ja gut, aber arme Leute gibt es ja

überall!

Ja, aber nicht so viele wie in Russ-land. Es gibt hier in Ibbenbürenauch arme Leute, aber hier ist beivielen Leuten die seelische Notsehr groß. Die materielle Not istbei uns nicht so groß wie in Russ-land.

Fluchthilfe

Über ein Thema möchte ich noch

gern sprechen, aber da musst duentscheiden, ob du darüber etwassagen willst oder nicht, nämlich wiedu in den Knast gekommen bist.

Ja sicher! Vorige Tage gab es imFernsehen im Kulturmagazin desNDR eine Sendung mit EinarSchleef 51. Einar Schleef ist Regisseur

51 Einar Schleef (1944-2001) war Schrift-steller und Regisseur. Die österreichischeSchriftstellerin Elfriede Jelinek urteilte in

einem Nachruf: „Es hat in Deutschlandnur zwei Genies gegeben: Im WestenFassbinder, im Osten Schleef.“ Er arbeite-te beim Schauspiel Frankfurt und warlange Zeit am Berliner Ensemble, auch inDüsseldorf und Wien. Es gibt zahlreicheStücke, Hörspiele und Aufführungen vonihm, die mit zahlreichen Preisen ausge-zeichnet wurden. Klemens Niermann hatihn 2001 in seiner Heimatstadt Sanger-hausen beerdigt.Zum Tod von Einar Schleef (BerlinerZeitung vom 17.08.2001):Abschied von Einar Schleef - In seinerHeimatstadt Sangerhausen ist er stillbeerdigt worden

17.08.2001 Feuilleton - Seite 09 DetlefFriedrichDer Regisseur und Schriftsteller EinarSchleef ist am Mittwochnachmittag aufdem Friedhof seiner Heimatstadt Sanger-hausen still beigesetzt worden. Schleefs

am Berliner Ensemble52, das ist dasTheater von Bert Brecht. Und HeinerMüller53 ist sozusagen sein Ziehvatergewesen. Diesem Einar Schleef habich zur Flucht in den Westen verhol-fen, das war 1977. Er hat auch bei

mir gut zwei Monate gewohnt, inmeiner Wohnung, er hat in meinemBett geschlafen. Und als ich dannseine Braut holte, seine Verlobte, binich dabei aufgefallen.

Lebensfrage sei gewesen "Wer bin icheigentlich", sagte der katholische Geistli-che Klemens Niermann aus Ibbenbüren,ein Schleef seit 1965 väterlich verbunde-ner Freund, am offenen Grab stehend.Einar Schleef habe ihm einmal anvertraut,dass er als Theaterregisseur sich denalttestamentlichen Propheten sehr nahefühlte, deshalb las Niermann aus Jeremia1,4 ff: "Der Herr aber sprach zu mir: Sagenicht: ich bin zu jung. Sondern du sollstgehen, wohin ich dich sende, und allesreden, was ich dir gebiete. Fürchte dichnicht vor den Menschen, denn ich bin beidir und werde dich erretten." Niermannwollte Schleef weder für die katholischenoch für die evangelische Kirche in An-spruch nehmen, sprach aber auf Wunschder Hinterbliebenen ein Vaterunser,nachdem die Trauernden Schleefs Lieb-lingslied "O Haupt voll Blut und Wunden"gesungen hatten. Schleef wurde nebendem Grab seiner Mutter beigesetzt. Unterden Trauernden waren ihm zugewandteSchauspieler wie Jutta Hoffmann undMartin Wuttke, sein Frankfurter IntendantGünther Rühle und viele junge Darstellerder Chöre aus "Verratenes Land" und"Puntila".Im Dezember erscheint im Verlag von"Theater der Zeit" ein Schleef-Arbeitsbuch, das seine LebensgefährtinGabriele Gericke und die Lektoren HaraldMüller und Hans-Ulrich Müller-Schwefeherausgeben. Das Septemberheft von"TdZ" druckt Schleefs unaufgeführtesStück "Lange Nacht". Im Nachlass befin-den sich ein frühes Stück, dazu das Stück

"Totentrompeter 4" und das Tagebuch,ein Konvolut von mehreren tausend Sei-ten. (df.)52 Das „Theater am Schiffbauerdamm“,von Heinrich Seeling im neubarocken Stilerbaut, wird am 19. November 1892 als"Neues Theater" eröffnet. Seit 1954Spielstätte des 1949 von Helene Weigelund Bertolt Brecht gegründeten „BerlinerEnsembles“. Im Zentrum steht das Thea-ter der Gegenwart mit wichtigen Urauffüh-rungen deutschsprachiger Autoren wieElfriede Jelinek, Franz Xaver Kroetz,Christoph Ransmayr, Botho Strauß, PeterTurrini.53 Heiner Müller (1929 - 1995) ist einer der

wichtigsten deutschsprachigen Dramati-ker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun-derts. Bedeutung erlangte er außerdemals Lyriker, Prosa-Autor und Verfassertheoretischer Texte wie auch als Regis-seur und Intendant.

5/13/2018 Pfarrer Klemens Niermann (1928-2007) im Gespräch - slidepdf.com

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Interview mit Klemens Niermann am 24. Januar 1996 - Seite 12

 Heißt das, dass du sie irgendwie imWagen versteckt hast?

Einar Schleef hatte ich über dieTschechoslowakei und über Wienherausgeholt. Das war sehr kompli-

ziert und das kann ich jetzt hier nichtalles erklären. Auf jeden Fall habeich das auch finanziert. Und dannwollte er unbedingt, dass seine Ver-lobte auch kam. Dummerweise habeich gesagt: „Das mach ich.“ Ich fand,das war kein großes Problem. Dum-merweise hat er dann von meinemTelefon aus bei dieser Verlobten inOstberlin, genauer bei den Eltern derVerlobten, wo er auch gewohnt hat-te, angerufen und mitgeteilt, dass ichkäme und sie sollte sich schon vorbe-

reiten. Dieses Telefongespräch ist inOstberlin abgehört worden.

Und dann waren sie schon auf dich fixiert?

Ja, dann waren sie auf mich fixiert!Ich hatte die Frau im Auto. Am 25.März 1977 abends haben sie michdann festgenommen und verhört, dieganze Nacht durch. Die hatten aberoffensichtlich schon recherchiertund wussten schon sehr viel über

mich. Zum Beispiel wussten diegenau, wie oft ich in der Tschecho-slowakei gewesen war. Ich selbstwusste das gar nicht mehr, aber diewussten das. Die wussten auch, woich übernachtet hatte und alles Mög-liche. Das Spitzelsystem drüben warenorm. Wenn ich in die Tschecho-slowakei fuhr, musste ich ja immerirgendwo in einem Hotel absteigen,damit ich polizeilich gemeldet war.Aber ich bin in den Hotelzimmernnur gemeldet gewesen und oft gar

nicht da gewesen, sondern habe beiden Pastoren übernachtet. Das wuss-ten die alles. Nur den jeweiligenNamen des Pastors kannten die nicht.Dann legten sie mir beim Verhöreine Liste mit Namen aus der Tsche-choslowakei vor und ich sollte an-streichen, wen ich da kenne. Oh, dawaren welche drauf, die kannte ichganz gut! Aber ich habe gelogen,was das Zeug hielt.

Gab es ein Gerichtsverfahren?

Ja, nach sechs Wochen Einzelhaft,strengster Einzelhaft.

 In Berlin?

Nein, in Neustrelitz54 bei Neubran-denburg. Da gab es ein Stasi-Untersuchungsgefängnis55. Ich wur-de dann am 5. Mai 1977 vom Gericht

wegen erwiesener Fluchthilfe zu 3 ½Jahren Gefängnis verurteilt. Die ersteFluchthilfe konnten sie mir nichtnachweisen, darüber hatten sie nurVermutungen. Verurteilt wurde ichauch wegen Geldschmuggel. Ichhatte viel Geld geschmuggelt, abernur in einem einzigen Fall - es gingum eine evangelische Bildungsstättein der Märkischen Schweiz - wusstensie das; alles andere war denen nichtbekannt.Diese Bildungsstätte wurde von

einem evangelischen Pfarrerehepaargeleitet; die Frau war in Ibbenbürenzum Gymnasium gegangen.

 Hattest du denn in der Zeit Angst?

Die Zeit im Gefängnis war schonziemlich happig (lacht). DDR-Gefängnisse waren keine West-Gefängnisse!

 Musstest du denn damit rechnen, die3 ½ Jahre im Gefängnis zu bleiben

oder konntest du darauf hoffen, dassdu – wie viele Leute damals - freige-kauft wurdest?

Es wurden viele freigekauft, aberandere saßen jahrelang. Ich wurdenach der Verurteilung nach Ostberlinin das Rummelsburger Gefängnis56 

54 Neustrelitz ist die Kreisstadt des Land-kreises Mecklenburg-Strelitz in Mecklen-burg-Vorpommern (Deutschland).55 Die Stasi war schon 1987 mit ihremGefängnis nach Neubrandenburg gezo-gen. Heute ist die frühere Untersu-chungshaftanstalt der Stasi-Bezirksverwaltung Neubrandenburg eineJustizvollzugseinrichtung des LandesMecklenburg-Vorpommern. Anders als imGefängnis Alt Strelitz, das zu DDR-Zeitender Verwaltung Strafvollzug des DDR-Innenministeriums unterstand, handelt essich hier um ein weit kleineres, wegenseiner Lage und der üblichen Stasi-Geheimhaltung von außen kaum erkenn-bares Gefängnis für ausschließlich politi-sche Häftlinge.56 Das Gefängnis Rummelsburg wurde

1877 bis 1879 als „Städtisches Arbeits-haus“ errichtet. Es bot damals 1000 Män-nern Platz. Zur Nazizeit gab es dort Son-derabteilungen für Homosexuelle und„psychisch Abwegige“. Die DDR-Volkspolizei baute das von Zerstörung

gebracht und da saßen einige ausdem Westen schon jahrelang. Diewurden nicht alle freigekauft! Ichaber schon. Eines Morgens mussteich nicht zur Arbeit und es hießdann: „1789“ - das war meine Ge-

fängnisnummer, Französische Revo-lution57 übrigens (lacht) - „1789bleibt hier!“ Und dann musste ichmeine Sachen packen und in einerDecke zusammenbinden und wurdein die Stasizentrale verlegt. Dortwurde ich noch einmal einen Tagverhört, oh, das war sehr hart! Dann,eines Morgens, warfen sie mir meineZivilklamotten in die Zelle und sag-ten: „Sie werden heute entlassen.“Ich wusste gar nichts davon.

 Hattest du überhaupt keinen Kontakt in den Westen zu der Zeit, zum Bei-spiel über Anwälte?

Nein. Nur einmal im Gefängnis inBerlin kam Besuch von der Deut-schen Vertretung, ein Herr Hoff-mann aus Münster war das übrigens.Der kam und besuchte mich in Ge-genwart eines Stasioffiziers undsprach mit mir so 10 Minuten oder¼ Stunde lang. Er brachte mir einpaar Apfelsinen und ein paar Nato-

lüllen, wie man im Gefängnis sagte,also West-Zigaretten und Zahnpasta.

 Irgendwann hattest du erwähnt, dassihr im Gefängnis sogar Gottesdienst gefeiert habt.

Ja. Es war Pfingsten. Wir hatten eingroßes Gefängnis. Da waren 30 Leu-te in einer großen Zelle. An beidenSeiten der Zelle war jeweils – durchMauern abgetrennt - ein Kulturraum,darin standen Toiletten, Schränke

und so etwas. Und was sollen wirabends immer machen? „Wenn ihrwollt, könnt ihr abends kommen; wirmachen Meditation, Entspannungsü-bungen, oder wenn ihr wollt, les ichMärchen vor.“ Und das hab ich auchgemacht. (Lacht) ich war erstaunt,wie starke Männer auf Märchenabgefahren sind! Ich war wirklicherstaunt.

verschonte Arbeitshaus 1951 zur Haftan-stalt um. 1990 wurde sie geschlossen.57 Im Zeitraum vom 14. Juli 1789 (Sturmauf die Bastille) bis zum 9. November1799 (Beginn der Herrschaft Napoléons)vollzog sich der Übergang Frankreichsvon der absoluten Monarchie zur Repub-lik.

5/13/2018 Pfarrer Klemens Niermann (1928-2007) im Gespräch - slidepdf.com

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Interview mit Klemens Niermann am 24. Januar 1996 - Seite 13

Waren das alle Westler?

Nein, nicht alle, nein. In diesemKulturraum habe ich dann abendsMeditation zur Entspannung angebo-

ten (lacht). Und an Pfingsten, dasweiß ich noch, sagten sie dann: „AchPastor“ – Pastor sagten die immer –„Pastor, kriegen wir nicht heuteAbend `ne Predigt?“ Ich sage: „Jaa!Könnt ihr kriegen, kommt nur heuteAbend in den Kulturraum, dannkriegt ihr `ne Predigt. Ihr müsst `neDecke mitbringen, wie ihr das kennt,am besten zwei Decken, eine zumAusbreiten, eine zum Sitzen.“ Unddann haben wir da gesessen, in derMitte stand so ein Schemel. Ich hatte

leider keinen Wein, sondern nurBrot. Aber ich hab für mich gedacht,dass in dem Psalm steht: „Mit mei-nem Gott kann ich über die Mau-ern springen“58, dann kann ich auchüber die Mauern kirchlicher Vor-schriften springen und dann ist aucheine Messe ohne Wein gültig (lacht);so hab ich gedacht, ja! Und dannhabe ich mit denen Meditations-übungen gemacht und danach ge-fragt: „Können wir gemeinsam dasVaterunser beten?“, aber das konnten

sie nicht – die meisten jedenfalls.Das hab ich dann vorgebetet unddann ein Gebet über das Brot ge-sprochen. Dann haben wir ausgeteiltund, das weiß ich noch, gebrochen,gebrochen und ausgeteilt. Es warganz still; ich war ganz erstaunt, diestarken Männer! Es waren übrigens13 Leute: Katholische, Evangelische,Ausgetretene, Homosexuelle, alleMöglichen waren das noch. Die inder Zelle, das waren mit die bestenLeute, das kann ich dir sagen; die

waren ganz prima. Die haben mirspäter für die Messe auch Wein be-sorgt. Wie, das ist ein Kapitel fürsich. Auf jeden Fall hab ich danngesagt: „Hat irgendjemand ein West-paket bekommen? Dann holt dochdie Sachen!“ Und dann haben wirnoch einmal den ganzen Schemeldamit voll gehabt. Apfelsinen ... undalles Mögliche. Das war das eigentli-che Abendmahl, diese Dinge zuverteilen. Das, was wir aus demWesten bekommen hatten, unterei-nander zu teilen, das war das Eigent-

 58 Psalm 18, Vers 30: Mit dir erstürme ichWälle, mit meinem Gott überspringe ichMauern.

liche. Ach, mein Gott, das hab ichsehr intensiv erlebt!Am nächsten Morgen wurde ich auf Strafe gesetzt, ich kriegte nichts zuessen. Da wusste das schon der Offi-zier, der uns bewachte.

Was, da gab’s auch Spitzel?

Ja, natürlich durftest du da nichtssagen. Ich weiß noch, dann habenmir zwei Leute Wein besorgt - daswaren diese Schwulen, junge Leute,Ende zwanzig. Wir konnten von den72 Mark, die wir im Monat erarbeite-ten, etwas kaufen. Die haben mirbulgarische Weintrauben gekauft,eingezuckert, in einem Glas einge-legt; davon haben die Wein gemacht.

Wie? Ganz einfach. Die haben Brotdrin gesteckt! Nach einigen Tagenfing die Gärung an. Das war so etwaswie Federweißer59. Und dann habenwir noch mal Gottesdienst gemacht.

Wie lange bist du da ungefähr gewe-sen?

Drei Monate, ungefähr drei Monate,nicht mehr.

Weißt du denn, wer dich raus geholt 

hat? War das damals das Bistumoder war das die Bundesrepublik?

Also, wenn ich zur Diözese komme,dann sagt der Finanzchef schon mal,du bist der teuerste Priester der Diö-zese Münster.

 Also haben die damals bezahlt?

Dann sag ich, stimmt überhauptnicht. Ihr habt das Geld von derRegierung zurückbekommen60.

Stimmt auch. Aber ich bin der teu-erste Priester der Diözese Münster,das hängt mir natürlich noch nach.(lacht).

59 Der Federweiße ist die meistgetrunkeneVariante des Neuen Weins. Es handeltsich um aus weißen Rebsorten gepress-ten Traubenmost, der gerade begonnenhat zu gären. Er enthält Hefezellen alsSchwebstoffe, die ihm wegen ihrer feder-weißen Farbe den Namen verliehen

haben.60 In der Zeit zwischen 1964 und 1989wurden insgesamt 33.755 Häftlinge frei-gekauft. Der Preis pro Häftling betruganfangs durchschnittlich ca. 40.000 DMund stieg später auf knapp 100.000 DM.

Krankenhausseelsorger

Sag mir noch etwas zum Wechsel Berufsschule - Krankenhaus.

1987 bekam ich eine Herzoperation,

vier Bypässe61. Damals war es eineSelbstverständlichkeit, dass man,wenn man eine Bypassoperationbekam, außer Dienst ging. Heute istdas nicht mehr so, heute ist die By-passoperation eine normale Operati-on. Der Weihbischof 62 hatte ja aucheine Bypassoperation bekommenund besuchte mich vorher. Es warfür ihn klar, dass ich dann Rentnerbin. Mich besuchte auch DechantDiekmann63 und bat mich, nach derOperation als Springer für das Deka-

nat zur Verfügung zu stellen. Ichsagte. „Na hör mal, denkst du daran,das ich außer Dienst gehe?“ „Jaklar!“ So habe ich, als ich sechzigwurde, in der Schule den Dienstaufgegeben, weil ich auch schoneinige Jahre im Krankenhaus neben-bei tätig war. Was heißt nebenbei?Neben der Berufsschule, dem vollenDienst in der Berufsschule, machteich die Krankenhausseelsorge. Ersteineinhalb Jahre allein; aber dannkam Schwester Michaela64 dazu, die

zunächst noch eine zweijährige Zu-satzausbildung machte.

Wann kam Schwester Michaela?

Wann ist das gewesen? Ich glaube so1984/85.

Wo hast du denn zu der damaligen Zeit gewohnt?

61 Bei einer Bypass-Operation werdenverengte oder verstopfte Herzkranzgefä-

ße durch eine Umleitung überbrückt -daher auch das Wort Bypass, engl. fürUmleitung. So wird sichergestellt, dassdas Herz auch hinter den verstopftenStellen wieder ausreichend mit Blut undNährstoffen versorgt wird. Als Überbrü-ckung dienen kleine Venenstücke ausdem Unter- bzw. Oberschenkel.62 Weihbischof Alfons Demming (geb.1928), von 1976 bis 1998 Regionalbischoffür die Region Borken/Steinfurt.63 Georg Diekmann (geb. 1925) war von1981 bis 1991 Pfarrer in Tecklenburg St.Michael und von 1978 bis 1990 Dechantim Dekanat Ibbenbüren.64 Schwester M. Michaela Blochowicz

(geb. 1941) ist seit 1983 Krankenhaus-Pastoralreferentin im Klinikum Ibbenbü-ren. Sie gehört der Schwestern-Kongregation Unserer Frau von der Liebedes Guten Hirten (Schwestern vom GutenHirten) an.

5/13/2018 Pfarrer Klemens Niermann (1928-2007) im Gespräch - slidepdf.com

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Interview mit Klemens Niermann am 24. Januar 1996 - Seite 14

Oststraße 4. Neben der Sternapothe-ke. Im 4. Stock. Ich hab die Hälfteder Zeit nicht in meinem Bett ge-schlafen65, das kann ich wohl sagen.

Wie bist du denn an das Kranken-haus gekommen? Hattest du Interes-se in dieser Richtung?

Nein, in der Seelsorgekonferenz66 wurde klar, dass der Krankenhaus-seelsorger versetzt werden sollte; erwurde Pfarrer und es gab keinenNachfolger. Wir mussten das ir-gendwie regeln. Und dann hat dieSeelsorgekonferenz gemeint:„Kannst du das nicht nebenbei ma-chen?“ Nebenbei hieß für die, die

Messen übernehmen und vielleichtdie Sterbeseelsorge, letzte Ölung67,wie man das so nannte damals. Wirhelfen dir dabei. Einer muss haltverantwortlich sein. Ja gut, dann habich das gemacht und ahnte nicht, wasauf mich zukam. Denn ich merktebald, dass die Krankenhausseelsorgemit ein bisschen Gottesdienst und sonicht getan war. Und so hab ich dasGanze neu auf mich abgestellt.

Und wann bist du dann endgültig

 pensioniert worden?

Mit sechzig Jahren. 1988 ging ichvon der Berufsschule weg und wurdeRentner, Pensionär, Vicarius Coope-rator in der Pfarrei St. Mauritius. Sostand ich für die Krankenhausseel-sorge zur Verfügung. Ich bin nichtKrankenhauspfarrer; ich gehe nurSchwester Michaela sozusagen zurHand für die Sakramente. So ist dasgedacht.

Was bedeutet diese Aufgabe für dich? Gibt es da auch eine inhaltlich

 Begründung?

Ja. Ich hab mich nie als Priester soan der richtigen Stelle gefühlt wieaugenblicklich. Das muss ich wohlsagen. Die Begleitung der Schwer-kranken und Sterbenden ist eine ganzwichtige Aufgabe für mich gewor-den.

65 Klemens Niermann hatte oft Obdachlo-se in seine Wohnung aufgenommen.66 In der Seelsorgekonferenz kommen alleSeelsorger(innen) aus der Stadt zusam-men.67 Eigentlich: Krankensalbung

 Aber auch eine sehr einseitige Auf-gabe!

Ja, ja. Aber es ist für mich so ausfül-lend. Ich mach schließlich auch noch

anderes. Die ganze Türkengeschich-te...!

Kontakt zu den Muslimen 

Erzähl doch mal, wie hat das dennangefangen. Das war in den siebzi-ger Jahren?

Es fing damit an, dass ich auf demWartebänkchen im Sozialamt Ibben-büren saß - ich dräng mich ja nichtvor, ich warte wie die anderen - so

eine halbe Stunde. Neben mir saß einTürke, der mir in gebrochenemDeutsch sein Leid klagte: Er habekeine Möbel, keine richtige Woh-nung und so weiter; und da hab ichihm gesagt, für arme Leute hätte ichin meiner Garage immer Möbel. Ichhab eine Garage, aber mein Autostand nie darin. Da stehen immergebraucht Möbel drin, die ich be-kommen hatte. Und so habe ich dendamals mit Möbeln versorgt. Mitihm habe ich Kontakt behalten unddadurch kamen immer mehr Türken,so wie er, die auch eine Wohnungund Möbel brauchten. Ich habe vielvermittelt, ich habe da auch bei Ge-richt einmal vermittelt. Auf jedenFall kam es dazu, dass sie sagten, sieseien hier in Ibbenbüren so isoliert,so vereinzelt, sie brauchten eigent-lich einen engeren Zusammenhalt.Dann habe ich mit angeregt, dass sieihren Verein gründeten: Türkisch-Islamische-Union68, mit einer Sat-zung, die von der Zentrale in Köln

68 Die Türkisch-Islamische Union derAnstalt für Religion e. V. DITIB (Abkür-zung nach dem türkischen Titel) wurde1984 in Köln für die Koordinierung derreligiösen, sozialen und kulturellen Tätig-keiten der angeschlossenen Vereine alsbundesweiter Dachverband gegründet. ImGründungsjahr waren 230 Vereine ange-schlossen, mittlerweile sind es 870. Dieangeschlossenen Ortsgemeinden sindrechtlich und wirtschaftlich selbstständigeeingetragene Vereine, die die gleichen

Prinzipien und satzungsgemäßen Zweckeder DITIB verfolgen und die DITIB alsDachverband anerkennen. DITIB ist heutedie mitgliederstärkste Migrantenorganisa-tion in der Bundesrepublik Deutschland.Sie wird vom türkischen Staat gefördert.

herkam, da brauchte ich nichts zutun.

Wann war das?

So etwa vor 20 Jahren, das weiß ich

nicht mehr so genau69

. Damals ginges darum: Wo finden wir ein Zent-rum, wo wir zusammen beten kön-nen? Dann haben wir monatelang inIbbenbüren gesucht und alle mögli-chen Häuser in den Blick genom-men, aber nirgendwo wollten sieTürken haben! Bis dann Herr Deu-per70 vom Schulamt mir beistand undsagte, es würden an der Albert-Schweitzer-Schule Räume frei, undzwar die Küchenräume. Damalswurde der Küchenunterricht an der

Grundschule aufgegeben. DieseRäume haben wir bekommen - miet-frei. Die Stadt zahlte auch Heizungund Licht. Und die Türken habendiese Räume ein wenig umgebaut,tapeziert und so etwas gemacht. Sohaben sie ihre Moschee bekommen.Damals habe ich noch einen Antragbei der Bischöflichen Behörde ge-stellt und um Zuschuss für dieseMoschee gebeten. Die haben das andie Bischöfliche Kasse weitergeleitetund die haben damals auch 2000

Mark zur Verfügung gestellt und soguten Willen gezeigt.

 Dass die Stadt das mit der Albert-Schweitzer-Grundschule gemacht hat, war das ein Entgegenkommengegenüber dir, weil sie dich kannten,oder war das eher inhaltlich moti-viert, dass da schon Leute waren, dieerkannten, es ist wichtig, dass wir das tun?

Nein, nein. Der damalige Stadtdirek-

tor und der 1. Beigeordnete, HerrMüer71, waren sehr dafür, dass dasklappte. Sie waren sehr daran inte-ressiert, dass die Türken hier aucheinen Verein und ein Zentrum beka-men und dass man mit ihnen gutenKontakt hielt. Denn damals fragteman schon: Was geschieht mit denTürken in Deutschland? Die Grauen

69 Das Gründungsjahr war 1979.70 Horst Deuper war damals Leiter desSchulverwaltungsamtes.71 Klemens Müer war bis 1992 1. Beige-ordneter der Stadt Ibbenbüren, seitdemarbeitet er als Rechtsanwalt in Ibbenbü-ren.

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Interview mit Klemens Niermann am 24. Januar 1996 - Seite 15

Wölfe72 machten sich sehr breit,gerade in Greven, die hatten da soein kleines Zentrum. Man wollte dieTürken auch Ernst nehmen. Und dawar ich genau der richtige Mann fürdie.

Und seit der Zeit bist du auch immer wieder von den Türken angespro-chen worden.

Ja, seit der Zeit bin ich mit denengut Freund. Ich war auch jetzt amFreitagabend, bei der Eröffnung desRamadan73, zum Gebet eingeladen.Und ich bin auch hingegangen. Ja,ich hab viel für die gemacht, selbstihre Steuererklärung.

 An der neuen Moschee, da warst du ja auch nicht so ganz unbeteiligt?

Das stimmt. Ich habe auch Geldbesorgt. Damals, schon bei der erstenMoschee, hat die katholische Ge-meinde die Teppiche bezahlt.

Sag noch etwas zum Inhaltlichen. Die äußere Schiene - wir müssenhelfen - ist die eine Seite. Die inne-re, die theologische, gibt es auch: Dasteckt das Stichwort „multikulturelle

Gesellschaft“ dahinter, wovor viele Leute ja auch Angst haben.

Ich hab mir einfach überlegt: Wirhaben ja noch in hundert Jahren denIslam in Ibbenbüren. Wir müssen janoch hundert Jahre gut mit ihnenauskommen. Ich hab mich erinnert,was das Konzil über die Moslemsund den Islam sagt, dass wir dieWerte der anderen Religionen entde-cken und fördern müssen; so steht es

72 Graue Wölfe (türkisch: Bozkurtlar) istdie Bezeichnung für Mitglieder der rechts-extremen türkischen Partei der Nationalis-tischen Bewegung („Milliyetçi HareketPartisi“, MHP), 1961 gegründet. Sie wer-den auch Ülkücüler (Türkisch: die Idealis-ten) genannt. Der Name der dazugehöri-gen Organisation in Deutschland ist „Tür-kische Föderation“. Ziel der Grauen Wölfeist eine sich vom Balkan über Zentrala-sien bis in die Volksrepublik China erstre-ckende Nation, die alle Turkvölker vereint(Panturkismus). Zentrum der von ihr

beanspruchten Gemeinschaft aller Tur-kvölker ist eine starke, unabhängige undvor allem selbstbewusste Türkei.73 Der Ramadan „Sommerhitze“ ist derneunte Monat des islamischen Mondka-lenders und der islamische Fastenmonat.

im Konzildokument74. Wenn dasKonzil das so schreibt, sind wir ver-pflichtet, es auch so vor Ort zu tun.Ich hab mich damit beschäftigt,auch mit dem Islam, und vielegute, religiöse Werte in ihm ent-

deckt. Und hab erlebt, wie frommund gottergeben viele türkischeMänner in der Moschee beten. Undich habe erkannt, dass es keineswegseine militante Gruppe ist, die dieChristen vernichten will. Ich hab dieganz positiv erlebt. Gerade Yilmaz75 ist so ein frommer Mann. Ich war beiihm zu Hause und wir haben ge-meinsam gebetet. Er im Gebet mitseiner Frau und ich daneben.

Sag noch etwas zum Programmati-

schen. Es gibt positive Begriffe:Toleranz, multikulturelle Gesell-schaft, multireligiöse Gesellschaft.

 Aber manche sagen auch, der Kle-mens Niermann, der wirft alles zusehr in einen Topf und das ist danneine negative Sache.

74 Nostra Aetate (lat. für In unserer Zeit)ist der Titel der Erklärung des ZweitenVatikanischen Konzils über die nicht-christlichen Religionen. Es wurde am 28.Oktober 1965 verabschiedet und öffent-lich verkündet. Es heißt dort unter ande-rem: „3. Mit Hochachtung betrachtet dieKirche auch die Muslim, die den alleinigenGott anbeten, den lebendigen und in sichseienden, barmherzigen und allmächti-gen, den Schöpfer Himmels und der Erde,der zu den Menschen gesprochen hat.Sie mühen sich, auch seinen verborgenenRatschlüssen sich mit ganzer Seele zuunterwerfen, so wie Abraham sich Gottunterworfen hat, auf den der islamischeGlaube sich gerne beruft. Jesus, den sieallerdings nicht als Gott anerkennen,verehren sie doch als Propheten, und sie

ehren seine jungfräuliche Mutter Maria,die sie bisweilen auch in Frömmigkeitanrufen. Überdies erwarten sie den Tagdes Gerichtes, an dem Gott alle Men-schen auferweckt und ihnen vergilt. Des-halb legen sie Wert auf sittliche Lebens-haltung und verehren Gott besondersdurch Gebet, Almosen und Fasten. Da es

 jedoch im Lauf der Jahrhunderte zu man-chen Zwistigkeiten und Feindschaftenzwischen Christen und Muslim kam,ermahnt die Heilige Synode alle, dasVergangene beiseite zu lassen, sichaufrichtig um gegenseitiges Verstehen zubemühen und gemeinsam einzutreten fürSchutz und Förderung der sozialen Ge-

rechtigkeit, der sittlichen Güter und nichtzuletzt des Friedens und der Freiheit füralle Menschen.“75 Veysel Yilmaz war Vorsitzender derTürkisch-Islamischen Union in Ibbenbü-ren.

Ja, ich bekomme ja auch anonymeBriefe „An den Moslem-PfarrerKlemens Niermann“ und Briefe, indenen ich verschmäht werde, klar.Aber ich hab mir oft überlegt: Wiewürde Jesus jetzt hier an meiner

Stelle in Ibbenbüren handeln? Unddeshalb muss ich das tun. Ich den-ke, er wird keinen Menschen ver-urteilen, schon gar nicht einenfrommen Moslem. Ich hab michimmer als jemand gefühlt, derdurch die Straßen geht, in dieSchule geht, durch das Kranken-haus geht und der etwas von derPerson Jesu zu vermitteln hat.Nicht aufdringlich, schon gar nichtbeherrschend, eher dienend, dennwir sind nicht berufen, die Welt zu

beherrschen.

Die Beziehung zur Katholi-schen Kirche

 Ist es eher Zufall oder Tradition,dass du „noch“ katholisch bist?

Nein, ich bin brutal katholisch undmeine Eltern auch. Wirklich, ich binim innersten meines Herzens derPerson Jesu verpflichtet.

 Aber das könnte ein evangelischer Pfarrer auch sagen.

Ich meine, dass zurzeit die katholi-sche Kirche die bessere Ausprägungdes Christlichen ist.

Könntest du das an Beispielen klar machen?

Es ist einfach so, dass ich mich inder katholischen Kirche so viel geär-gert habe, weil ich sie liebe.

 Ja gut, aber das ist natürlich eher ein Traditionsargument . Wenn ichevangelisch aufgewachsen wäre,könnte ich jetzt vielleicht genausoengagiert in einer evangelischenKirche arbeiten, oder?

Ich weiß es nicht. Ich meine, ich habzu den Evangelischen ja guten Kon-takt; mit denen einen gemeinsamenGottesdienst feiern, das finde ich

selbstverständlich. Und deren Werteanerkennen, pflegen und fördernmüssen, das ist auch selbstverständ-lich für mich. Aber ich meine doch,ich würde katholisch werden.

5/13/2018 Pfarrer Klemens Niermann (1928-2007) im Gespräch - slidepdf.com

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Interview mit Klemens Niermann am 24. Januar 1996 - Seite 16

Gibt es Äußeres, gibt es Symbole?

Ja, zum Beispiel unser Gottesdienst.Ich halte ihn für sehr reformbedürf-tig. Wir haben eine Liturgiereform76 

hinter uns, und doch meine ich, wirhaben sie noch vor uns. Das ist dochkeine richtige Reform gewesen! Einbisschen Gebet und ein bisschenRitus ändern reicht nicht. Es mussnoch eine grundsätzliche Änderungkommen. Ich meine, der evangeli-sche Gottesdienst ist für mich eherein verkopfter Gottesdienst; das passtfür mich, auch für meinen psychi-schen Zustand, überhaupt nicht. Ichbin viel zu sehr auch von meinemGefühl, von meiner Fantasie her

bestimmt.

Was ist denn dann der Ansporn, dassdu, wie kaum ein anderer in Ibben-büren, im Krankenhaus ökumeni-schen Gottesdienst forciert hast? Ist das ein Rückschritt?

Nein, gar nicht. Ich meine, dass wirzu Unrecht die evangelische Kircheeinfach abgeschrieben haben. DerPapst sitzt auf seinem schönen gol-denen Stuhl und sagt, das sei gültig

im Gottesdienst, bei den Protestantensei es wieder ungültig, bei den Or-thodoxen gültig; das sei gültigesPriestertum, das ungültiges. Mitwelchem Recht sind wir so überheb-lich und sagen das so: das ist gültig,das ist nicht gültig? Ich finde dasüberheblich, das geht nicht. Ich mei-ne, Jesus würde das so nicht tun.

76 Am 4. Dezember 1963 konnte die

Liturgiekonstitution Sacrosanctum Con-cilium (SC) als erstes Dokument desZweiten Vatikanischen Konzils veröffent-licht werden. Ab 1964 wurde das Consili-um zur Durchführung der Liturgiekonstitu-tion (sozusagen die Liturgiekommission)tätig, um die liturgischen Bücher nach denGrundsätzen des Konzils zu erneuern.Aus dem Consilium und der früherenRitenkongregation ging 1969 die Kongre-gation für den Gottesdienst hervor. ImRahmen der vom 2. Vatikanum gewollten„allgemeinen Erneuerung der Liturgie“wurde auch die Ordnung der Messe, der„Ordo Missae“, wie vom Konzil angeord-net (SC 50), gründlich überarbeitet und

erneuert. Mit der Apostolischen Konstitu-tion „Missale Romanum“ vom 3. April1969 setzte Papst Paul VI. die erneuerteMessordnung in Kraft und erklärte sie inden Kirchen des Römischen Ritus fürverbindlich.

Gab es Situationen in der Vergan-genheit, wo die Obrigkeit, ein Bi-schof oder so, dich gemaßregelt haben?

Ja, ich bin gemaßregelt worden, aber

das war immer brüderlich. Es warnie verletzend, das muss ich sagen.

Wird es Situationen geben, wo dusagen würdest, wenn ich heute nocheinmal herausgefordert würde, dannwürde ich dafür auch kämpfen?

Kämpfen? Eins wäre klar heute:Wenn ich heute vor der Wahlstände, wirst du Priester oderwirst du nicht Priester, ich würdePriester werden. Ich kann mir für

mich keinen anderen Beruf vor-stellen. 

 Heute gibt es viele jüngere Priester,die sagen, ich will nicht in die Ge-meinde gehen, sondern ich gehe indie Spartenseelsorge, ich studiereweiter, ich gehe meinetwegen in dieSchule. Würdest du heute noch malin die Gemeinde gehen?

Ich bin eigentlich Priester geworden,weil ich als Berufsziel Gemeinde-

pfarrer hatte, das wollte ich eigent-lich werden, das habe ich im Bor-romaeum immer gedacht.

So wie ich dich kennen gelernt habe,könnte ich mir dich als Gemeinde-

 pfarrer fast gar nicht mehr vorstel-len.

Ja, ich wollte es eigentlich wohlwerden, nun ja, ich bin es dann nichtgeworden. Trotzdem war ich immeran der richtigen Stelle. Ich gibt so

einige Dinge, die dagegen stehen,dass ich Gemeindepfarrer heute odervor 20 Jahren hätte werden können.Ich weiß, dass unser Bischof 77 beimir auf dem Sofa saß, noch in derOststraße, und sagte: „Du bist ja jetztschon an der Berufsschule und wennmöglich bleib da, aber wenn du Ge-meindepfarrer werden willst, dannkannst du es machen.“ Dann hab ichgesagt: „Gut, werde ich wohl. Aberich stelle mehrere Bedingungen: 1.Ich brauche eine Seelsorgekonferenzals Rückhalt, wie wir sie hier inIbbenbüren haben.“ Darauf sagte

77 Bischof Reinhard Lettmann

Bischof Lettmann, die gebe es in derDiözese nicht. „Als Zweites würdeich die Kinder nicht vor der Kom-munion zur Erstbeichte führen und 3.würde ich die praktizierte Form derFirmung ablehnen, denn ihr glaubt ja

selbst nicht an das Wirken des Heili-gen Geistes.“ Ich weiß noch, wie ichihm gesagt habe: „Glaubt ihr denndaran, dass der Heilige Geist überIbbenbüren schon tausend Jahrewirksam ist und sich trotzdem nichtsändert?“ „Ja“, sagte er, „dann kannstdu nicht Gemeindepfarrer werden.“(Beide lachen) Und dann hat er nocherzählt, es gebe so eine Stelle inDorsten-Wulfen. Da gebe es einneues Siedlungsgebiet. „Ja, da brau-chen wir eigentlich einen Pfarrer wie

dich“, hat er so gemeint. „Ja, gut, inOrdnung, aber ich möchte dann, dassin diesem riesigen Haus zwei Etagengemietet werden als Kirche und dasskeine große repräsentative Kircheirgendwo gebaut wird.“ „Nein“,sagte der Bischof, „das geht nicht,ich habe das Grundstück schon ge-kauft.“ Das ist 20 Jahre her.

Das Zweite Vatikanische Konzil

 Ich habe jetzt eigentlich nur noch

 zwei Fragen. Das eine interessiert mich einfach nur noch als Geschich-te der Pfarrgemeinde, die ja jetzt einStückchen auch meine Geschichtegeworden ist. Dieser Wechsel in St.

 Ludwig von Pastor Wessels78 zuPastor Honsel79 und damit ja auchdie Zeit des Konzils80 , des Um-bruchs: Wie hast du diese Zeit er-lebt? Und die letzte Frage ist dieVision der Zukunft.

Als ich Kaplan war - ich war ersteinige Wochen in Mauritius - kameines Tages der Dr. Osterhoff 81 zu

78 Antonius Wessels (1912-1967) war von1952 bis 1967 erster Pfarrer von St.Ludwig Ibbenbüren. Von 1964 bis zuseinem Tod 1967 war er zudem Dechantfür das Dekanat Ibbenbüren.79 Bernhard Honsel (geb. 1925) kam 1967als zweiter Pfarrer von St. Ludwig (bis1990) nach Ibbenbüren. Er ist jetzt Subsi-diar in St. Ludwig.80 Das Zweite Vatikanische Konzil war von1962 bis 1965.81 Dr. Richard Osterhoff war von etwa1954 bis 1980 niedergelassener Gynäko-loge und Belegarzt im Krankenhaus. Erstarb Mitte der 90er Jahre im Sauerland.Es gab damals allerdings noch weitereGynäkologen, so z. B. Dr. Kraft.

5/13/2018 Pfarrer Klemens Niermann (1928-2007) im Gespräch - slidepdf.com

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Interview mit Klemens Niermann am 24. Januar 1996 - Seite 17

mir, der einzige Gynäkologe in Ib-benbüren, und sagte, er braucheunbedingt einen Priester, zu dem erseine Frauen schicken könne. Esging um Empfängnisverhütung. Daswar ja schwere Sünde. Da hab ich

ihm gesagt, die soll er mal schicken.Dann hat er das auch getan und ichwar dann der Mann, der den Frauensagte, sie dürften das ruhig tun, dassei keine Sünde. Damals war Wes-sels Pfarrer hier. Mit dem hab ich dieSache besprochen, denn ich habmich mit dem gut verstanden. Dersagte. „Mach das nur, mach das nur.“Ich sagte: „Antonius, sagst du garnichts dazu?“ Er sagte: „Das kannich nicht, das kann ich nicht, daskann ich nicht!“ Sonst war das ein

prima Mann. Die Augen glänzenheute noch, wenn die Leute denNamen Antonius Wessels hören.

 Manche sagen, er habe das Konzilnicht so rübergebracht wie Honsel,aber er habe es durch seine Art sozusagen vorbereitet.

Doch, doch. Das kann man wohlsagen.

 Noch mal zu dieser Zeit. Wie hast du

das persönlich empfunden, das Kon- zil damals und was danach dannkam?

Ich weiß noch, wie damals der Auf-trag von der Diözese kam, wir soll-ten beim Gottesdienst den Altar sostellen, dass wir nicht mehr mit demRücken zum Volk zelebrieren. Ichwar Kaplan in Mauritius und kameines Morgens in die Kirche; da warder Altar umgestellt. Ich wusstenichts davon! Es wurde mit mir als

Kaplan nicht besprochen. Das mach-te Dechant Heufers einfach so. Ichwar dafür nicht zuständig. Und wiees dann hieß, wir sollten Lektoren imGottesdienst einsetzen, da sagteDechant Heufers, das sei nicht not-wendig, das brauchen wir nicht, wirmachen das wie bisher. Ich meinteaber, wir könnten das doch tun. Erbehauptete, das würde doch niemandmachen. Ich erwiderte: „Und wennich jemanden besorge? Zwei, dreiLeute besorge?“ - „Tu das nur, aberes wird sich niemand melden.“ Sohat er mich stehen lassen. Und amSonntag in der Frühmesse stand dererste Lektor da. Heufers machte

große Augen und hat den nicht raus-geschmissen. Das war übrigensErnst Thalmann82 aus der Mauritius-gemeinde, der vor Kurzem gestorbenist. So hab ich das gemacht, aber ichfühlte mich ganz allein hier.

Wie hast du damals über das Konzilgedacht? War das eher so eine Auf-bruchstimmung: jetzt wird es endlich

 Zeit, toll, dass das weitergeht, oder war es das Gefühl: es reicht nicht.

Ich habe immer gedacht, es reichtnicht. Ist ganz schön, aber es reichtnicht. Denn was hat sich denn seitdem Konzil wirklich Wesentlichesverändert? Johannes XXIII83 starb;auf den hatten wir große Hoffnungen

gesetzt. Paul VI84 war für die Welt-kirche ein ganz wichtiger Papst, vorallem für die Missionsgebiete. Ichhabe bei meinem Bruder gemerkt,wie wichtig der war. Aber inner-kirchlich kam die Pillenenzyklika85;das war ein Rückschritt. Ich war sehrenttäuscht. Ich dachte, es kommt einriesiger Aufbruch, eine weltoffeneKirche! Es wurde nichts. Es wurdenichts.So hab ich damals gedacht. Es gabetwas Veränderung im Gottesdienst,

denn es wurde dann die deutscheSprache eingeführt. In Mauritus wardas schon sehr wichtig. Ich hatteeinmal einen ordentlichen Anpfiff bekommen, weil ich statt der lateini-schen Lesung eine deutsche vorgele-sen hatte.

82 Ernst Thalmann war engagiert in derSt.-Mauritiusgemeinde und auch alsKommunionhelfer im Krankenhaus. SeinSohn Martin leitet eine freikirchliche Ge-meinde in Ibbenbüren.83 Johannes XXIII. (1881-1963) war Papst

vom 28. Oktober 1958 bis zu seinem Todam 3. Juni 1963. Er wird auch der "Kon-zilspapst" oder im Volksmund "il Papabuono" ("der gute Papst") genannt.84 Papst Paul VI. (1897-1978) war von1963 bis 1978 Papst. Wegen seinerprägenden Rolle für den Verlauf desZweiten Vatikanischen Konzils, seineBeschlussfassung und die Umsetzung derEntscheidungen gilt er manchen alseigentlicher „Konzilspapst“.85 Humanae Vitae (HV) ist die siebte undletzte Enzyklika des Papstes Paul VI. undwurde am 25. Juli 1968 veröffentlicht, sieträgt den Untertitel „Über die rechte Ord-nung der Weitergabe des menschlichen

Lebens“. In ihr wird die künstliche Gebur-tenkontrolle abgelehnt. Diese vom Papstverkündete Haltung wurde von der Um-welt sehr kritisch aufgenommen undführte dazu, dass diese Enzyklika auchden Beinamen „Pillen-Enzyklika“ erhielt.

Wann war das?

So 1963. Dann kam Bernhard Honselnach Ibbenbüren. Mit ihm kam na-türlich für Gesamt-Ibbenbüren ein

neuer Ansatz. Ich – für mich war dasso wichtig – hatte auch einen Ge-sprächspartner, was neue Dingebetraf. Er war der Einzige, mit demman so was bereden konnte. Dannkam ein Pfarrer nach Don Bosco86,der auch sehr aufgeschlossen war,Hermann Wiesener87. Aber sonst?

Zukunfts-Visionen

 Jetzt sind 30 Jahre vergangen. Hast du eine Vision oder geht es eher um

die Verwaltung des Jetzt-Zustands?

Jetzt bereite ich mich – nach meineminnersten Empfinden - auf meineletzten Lebensjahre vor. Ich denke,ich muss mich auf meinen Tod vor-bereiten. Mit Recht. Das heißt nicht,dass ich resigniere und nichts mehrtue, aber dass ich damit rechne, dassich es nicht mehr sehr lange machenkann.

Einen Grabstein hast du schon?

Meinen Grabstein habe ich schon,den habe ich schon lange, mit einerInschrift und einem Kreuz für dasTodesjahr. Der Mann, der den Grab-stein gehauen hat, ist vor zwei Mo-naten gestorben.Im Bewusstsein des Todes lebenheißt für mich: Ich muss alles los-lassen: Geld, Wohnung, Bücher,Freunde - alles muss ich irgendwieloslassen. Und ich habe das Ge-fühl, ich muss das kräftiger tun alsbisher. Ich habe sowieso, schonvom ersten Semester im Borroma-eum an, das Gefühl, verbundenmit einem schlechten Gewissen, zureich zu sein. Das ist immer meinProblem gewesen. Ich habe immermit meinem Freund Alfons darüberdiskutiert, dass das Zölibat zwar gutist, aber schon damals kein überzeu-gendes Glaubenszeugnis mehr gewe-sen ist, nichts, was eigentlich den

86 Die Kirchengemeinde St. JohannesBosco gehört jetzt zu Heilig Kreuz (unteranderem auch mit St. Ludwig).87 Hermann Wiesener (1921-1995) warvon 1964 bis 1970 erster Pfarrer von St.Johannes Bosco Ibbenbüren.

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Interview mit Klemens Niermann am 24. Januar 1996 - Seite 18

Glauben und unsere Stellung alsPriester überzeugend in die Öffent-lichkeit bringt. Die Leute glaubenuns das sowieso nicht. Wir habendamals immer diskutiert, dass eigent-lich die Armut in unserer kommen-

den Wohlstandsgesellschaft vielwichtiger ist. 1957 wurden wir Pries-ter – da gab es einen kräftigen wirt-schaftlichen Aufschwung, und inden sechziger Jahren habe ichimmer das Gefühl gehabt, wennwir ein glaubwürdiges Zeugnisgeben wollen, müssen wir entgegendem Trend der Zeit leben, und dasheißt arm. Ich habe als Priesterfast immer Schulden gehabt, weilimmer jemand da war, der meinGeld notwendiger brauchte als ich.

Jetzt im Moment nicht, nein. Aberich hab immer genug gehabt.

Was fürchtest oder hoffst du für die Zukunft der Kirche, der katholischenKirche?

Die katholische Kirche wird nochmehr schrumpfen. Jesus hatte dieVision vom Reich Gottes, und wirsind ja berufen, das Reich Gottes zuerrichten nicht eine Kirche zu errich-ten; die Kirche ist ja nur ein Instru-

ment für das Reich Gottes. Die Visi-onen Jesu vom Reich Gottes schei-nen sich auch nicht zu erfüllen. Unddie Vision von Kirche, die wir auchalle hatten, die hat sich auch nichterfüllt. Aber ich denke, nach bibli-schem Befund ist es nicht schlimm,wenn wir eine kleine Herde werden,wenn in Ibbenbüren in Mauritius inzehn Jahren der Chorraum für einenSonntagsgottesdienst88genügt.

 Ist das ein pessimistisches Bild vom

 Menschen?

Es ist ein pessimistisches Bild unse-rer deutschen Gesellschaft. Denn dergeistige Tod eines Volkes liegt inseinen Geldschränken89.

 Das ist jetzt aber ein Schlagwort...

88 Diese pessimistische Vision von Kle-mens Niermann ist nicht eingetreten. ImJahr 2005 kamen noch durchschnittlich776 Kirchenbesucher am Wochenende zu

den Gottesdiensten in St. Mauritius.89 Zitat von Leonhard Frank (1882-1961),ein deutscher Schriftsteller und einer derbedeutendsten sozialkritischen und pazi-fistischen Erzähler zu Beginn des 20.Jahrhunderts.

...das haben wir bei uns im Bürohängen.

 Ja, aber auf der anderen Seite wi-derspricht sich das etwas mit dem,

was du eben gesagt hast, dass du janun wie kein Zweiter hier in Ibben-büren, wenn du Geld für irgendwel-che Zwecke brauchst, du das auchkriegst und in der Regel auch von

 Leuten, die reich sind. Das heißt, soganz pauschal könnte man das nicht sagen.

Nein, nein. Ich meine, man kann jetzt nicht hingehen und sagen: IhrGeschäftsleute, ihr müsst alle euerGeld weggeben. Wenn die Firma ihr

ganzes Geld weggibt, dann macht dieFirma pleite. Das geht nicht. DasZiel unserer Politik aber darf nichtsein, wie wir immer reicher werden.Ich hör das immer im Fernsehen:Wachstum für uns, für uns! Da sollsich doch mal eine Partei gründen,die sagt: Es geht nicht mehr um uns,sondern es geht um die Überwindungdes Elends in der Welt! Aber keinechristliche Partei darf sich so etwasauf die Fahnen schreiben, dannkriegt sie ja keine Stimmen, nicht?

Insofern bin ich pessimistisch, wennich auf die deutsche Gesellschaftschaue. Wir haben keine Partei, diewirklich die Überwindung desElends in der Welt zum Ziel hat.Entwicklungshilfe! Entwicklungshil-fe dient nur dazu, unsere Wirtschaftanzukurbeln! Na guck, und solcheVisionen, die muss ich leider begra-ben, die hab ich nicht mehr.

 Auf der anderen Seite habe ich in Ibbenbüren im Zusammenhang mit 

den Muslimen gelernt: Ich kann jatatsächlich nur das verantworten und dann auch leisten, was ich selbst irgendwie anpacken kann, und dannkann ich vielleicht sporadisch etwasin Brasilien machen, aber ich kannnicht die Verantwortung für dieganze Welt tragen.

Ja, so ist es. Es ist das Gefühl derOhnmacht. Für die ganze Weltge-schichte habe ich im Moment dasGefühl der Ohnmacht.

Obwohl du ja im Kleinen viele Er- folgserlebnisse hast. Wieder mal ein

Projekt, wieder mal Geld; das sind Kleinigkeiten...

Das sind Kleinigkeiten. In meinemersten Semester im Borromaeum, dasaß der erste Kurs vorne in der da-

mals neu eingerichteten Kapelle.Morgens gab es eine ½ Stunde fürBetrachtung, so hieß das damals, undabends vorher hatten wir Punkta90 bekommen von Pater Bart91. Ich saßdann immer da und konnte eigentlichnichts damit anfangen. Meine Ge-danken gingen immer anderswospazieren, aber die anderen saßen daso fromm und haben gesungen. Dasist nichts mit Beten, da ist nichts, daist nichts. Dann hab ich einfach dieBibel genommen und hab Kapitel für

Kapitel gelesen. Das weiß ich noch,wie ich im Matthäus-Evangelium dieBergpredigt92 las, in der der Satzsteht: Jedem, der bittet, dem gebt undfordert nichts von dem, der euerEigentum wegnimmt93. Einer derSprüche Jesu! Das hat mich bis heutenicht losgelassen, wenn ich ehrlichbin, und ich habe damit immer zu tungehabt; das ist ein Ergebnis der da-maligen Meditation. Jedem, dereuch bittet, dem gebt! Das ist natür-lich auch nicht immer wörtlich zu

nehmen. Mich bitten die Leute sooft! Vorgestern noch kamen die vomZirkus aus Recke und baten, ich solledenen eine Beerdigung bezahlen. Ichhabe denen keinen Pfennig gegeben,weil ich wusste, dass das das Sozial-amt macht. Wörtlich nehmen mussich das also nicht, aber trotzdem istes ein bedrängendes Wort für michgeworden; ein völlig nebensächli-ches Wort aus den Sprüchen derBergpredigt ist für mich ganz wich-tig geworden. Ich konnte darüber

nicht mehr weggehen. So hab ich mirnoch vor der Priesterweihe vorge-nommen, dass ich das beherzigen

90 Geistliche Vorträge91 „Pater Bart“ war wegen seines langenBartes der Spitzname für den Kapuziner-pater Dr. Bernhardin Goebel (1881-1973),der von 1930 bis 1955 Spiritual (Geistli-cher Lehrer) am Collegium Borromaeumin Münster war.92 Die Bergpredigt ist einer der bekanntes-ten Texte des Neuen Testaments derBibel. Von manchen wird sie als der Kern

des christlichen Glaubens bezeichnet. Siesteht im Matthäusevangelium, Kapitel 5bis 7.93 Lukas 6,30: „Gib jedem, der dich bittet;und wenn dir jemand etwas wegnimmt,verlang es nicht zurück.“

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Interview mit Klemens Niermann am 24. Januar 1996 - Seite 19

will. Ja, Martin, jeder hat so etwas,was ihn oben im Kopf oder imGewissen oder im Herzen quält.Und das quälte mich.

 Du sagst, meine letzte Lebensphase!

 Ich bin jetzt 38 Jahre, ich richte michnoch auf 30 Jahre ein.

Natürlich.

Viel mehr wird es nicht werden, dashab ich so im Gefühlt. Ihr Älterenseid in einer ganz anderen Phase alsich, der ich mich auf die nächsten

 Jahrzehnte ja noch einrichten mussund deshalb brauche ich ja auch zur 

 Motivation eine positive Sichtweiseoder muss mir einen positiven Weg

auch bereiten.

Der positive Weg! Eins ist sicher, istfür mich ganz sicher, dass die PersonJesu, der Auferstandene, unter unslebt und unter uns wirkt und auchdurch uns, nur sehr verborgen. Ichärgere mich darüber, dass er das soverborgen macht, aber es ist für micheine Selbstverständlichkeit, dass erin unseren Gemeinden, auch in derevangelischen Gemeinde, lebendigist. Das glaube ich ganz bestimmt.

Und deswegen kann die Kirche ruhigklein werden oder es können so vieleaustreten, letztlich ist das nicht dasEntscheidende. Das Entscheidendeist: Wir haben ihn in unserer Mitte,wie in dem Ruf im Sturm auf demMeer: „Herr, hilf, wir gehen zuGrunde!“94. Da sagt er: „Ihr brauchtdoch keine Angst zu haben, ich bindoch da.“ Davon bin ich fest über-zeugt. Wir wissen nicht, wie dieZukunft aussehen wird, aber ich binfest davon überzeugt, dass es gut

geht.

94 Matthäus 8,25; Markus 4,38; Lukas8,24

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Interview mit Klemens Niermann am 24. Januar 1996 - Seite 20

Lebenslauf von Klemens Niermann

Klemens Niermann wurde am 30. März 1928 als fünftes von 14 Kindern in Schermbeck (im katholischen Altschermbeck)geboren und wuchs in einer stark religiös geprägten Familie auf („Wir waren eine brutal katholische Familie“). Er undseine Geschwister haben damals die katholische Jugend in Altschermbeck geprägt. Der älteste Bruder war Steyler Missio-nar in Papua-Neuguinea, eine Schwester wurde Ordensschwester, eine weitere Pastoralreferentin.

Mit 15 Jahren und zwei Dritteln seiner Schulklasse wurde er gegen Endes des Zweiten Weltkrieges als Luftwaffenhelfer inFlakstellungen in der Nähe von Bottrop und Haltern eingesetzt.

Nach dem Krieg geht er zunächst im benachbarten Dorsten auf das Gymnasium, macht dann aber 1951 sein Abitur auf demGymnasium in Geldern. Das Theologie-Studium in Münster (beginnend 1951) und Fribourg (Schweiz) musste er sich inden Semesterferien mit Arbeiten in der Ziegelei Schermbeck oder unter Tage auf der Zeche in Bottrop finanzieren.

Schon in jungen Jahren war er gerne allein unterwegs. 1952 fuhr er allein per Anhalter durch Belgien und Frankreich, unteranderem nach Lourdes. 1955 pilgerte er allein per Anhalter nach Jerusalem (über Schweiz, Italien, Griechenland, Syrienund Jordanien) und war der dritte Deutsche, dem die Einreise nach West-Jerusalem erlaubt wurde (vermutlich mit Hilfe des

späteren Bürgermeisters Teddy Kollek, der kürzlich verstorben ist).

Im Sommer 1955 hatte Klemens Niermann zum ersten Mal während eines Gemeindepraktikums Kontakt mit Gemeinden inder damaligen DDR, in Eisenberg/Thüringen und Meerane/Sachsen – wo später die Glocken der St.-Michael-Kirche hinge-schmuggelt wurden.

Am 16. März 1957 erhielt er in Münster die Priesterweihe - unter anderem zusammen mit Bernhard Brefeld (später Pfarrerin Hörstel), Werner Heukamp (pensionierter Pfarrer in Recke), Hubert Kreft (später Pfarrer in Recke), Johannes Lammers(pensionierter Pfarrer in Ibbenbüren), August Schepers (später Pfarrer in Hopsten, pensionierter Pfarrer in Hörstel).

Seine erste Stelle erhielt er Palmsonntag 1957 als Kaplan in Duisburg (Rheinhausen-Hochemmerich) St. Peter. In der Ge-meinde mit 14 000 Mitgliedern war er zusammen mit zwei weiteren Kaplänen schwerpunktmäßig für Jugendarbeit zustän-dig und unterrichtete in der Sonderschule und in der Volksschule.

Im Januar 1963 wurde er unter dem damaligen Dechant Bernhard Heufers (1893-1983) Kreisvikar (Kaplan) in IbbenbürenSt. Mauritius. Er wohnte zunächst an der Roggenkampstraße, dann an der Großen Straße, später an der Oststraße und zu-letzt im Krankenhaus.

1963/64 hat er auf Anregung des damaligen Bischofs Joseph Höffner das „Theologische Seminar“ ins Leben gerufen, dasdamals jeden Abend über 200 Mitglieder interessierte und moderne Theologie nach Ibbenbüren brachte. Auch Bischof Höffner mischte sich einen Abend zunächst unerkannt unter die Teilnehmer.

Zunächst etwas widerstrebend (er wollte eigentlich in die Mission nach Südafrika) übernahm er Ostern 1965 eine frei wer-dende Stelle als Religionslehrer an den Berufsschulen des Kreises Tecklenburg. Gleichzeitig wurde er Subsidiar an St.Michael. Im selben Jahr wurde er auch Bezirksbeauftragter für den Religionsunterricht an den Berufsbildenden Schulen desKreises Tecklenburg. 1968 wurde er zum Berufsschulpfarrer ernannt. Viele Jahre war er Vertrauenslehrer. 1970 wurde er

zwar Subsidiar in St. Mauritius, blieb aber weitgehend in St. Michael tätig, weil die Gemeinde dort keinen Kaplan hatteund er dem damaligen Pfarrer Hermann Peperhove helfen wollte. Er gab viele Kurse für Jugendliche, organisierte Schu-lendtage und hielt Vorträge auch außerhalb des Bistums Münster. 1972 qualifizierte er sich zum Meditationsleiter. Ausdieser Zeit stammte auch sein Hobby des Blumensteckens (Ikebana).

1983 wurde er nach der Versetzung des Krankenhausseelsorgers auf Anregung der Seelsorgekonferenz zusätzlich Rektorder Hauskapelle am St.-Elisabeth-Hospital und damit auch zunächst alleiniger Krankenhauspfarrer. Etwa eineinhalb Jahrespäter kam Schwester Michaela als hauptverantwortliche Krankenhausseelsorgerin dazu.

Nach einer Bypassoperation am Herzen wurde Klemens Niermann 1988 mit sechzig Jahren als Berufsschulpfarrer pensio-niert und auf dem Papier Vicarius Cooperator mit dem Titel Pfarrer in St. Mauritius. Faktisch blieb er Krankenhauspfarrer.

Klemens Niermann starb am Dienstagmittag, dem 6. Februar 2007 im Alter von 78 Jahren in seiner Wohnung im St.-

Elisabeth-Hospital.

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Interview mit Klemens Niermann am 24. Januar 1996 - Seite 21

Nach den Kontakten in die damalige DDR hatte Klemens Niermann zunächst Beziehungen in die Tschechoslowakei, insbe-sondere auch zum Bischof von Tschernosek, zu dem er auch Hilfsgelder des Bistums mitnehmen konnte („Das war natür-lich streng verboten, aber ich hatte immer gute Verstecke im Auto, und die haben auch immer untersucht, aber nie wasgefunden“). Auch zwei oder drei PKW von Klemens Niermann fanden dort einen neuen Besitzer.Anfang der 70er Jahre kamen dann die Kontakte nach Stettin zustande. Dort landeten Autos, Geld, Baumaterial, Kirchen-bänke und eine Orgel. Außerdem sind dort die Lampen und die Lautsprecheranlage von St. Mauritius.

Über den damaligen Geschäftsführer des SKF Stefan Ottmann wurden die Kontakte mit Minsk/Weißrussland begonnen.

Am 25. März 1977 wurde Klemens Niermann bei dem Versuch, die Verlobte des Regisseurs Einar Schleef über die Grenzezu schmuggeln, in Ostberlin verhaftet. Zuvor hatte er bereits Einar Schleef die Flucht aus der DDR über die Tschechoslo-wakei und Wien ermöglicht und finanziert.Einer Schleef (1944-2001) war Schriftsteller und Regisseur. Die österreichische Schriftstellerin Elfriede Jelinek urteilte ineinem Nachruf: „Es hat in Deutschland nur zwei Genies gegeben: Im Westen Fassbinder, im Osten Schleef.“ Er arbeitetebeim Schauspiel Frankfurt und war lange Zeit am Berliner Ensemble, auch in Düsseldorf und Wien. Es gibt zahlreicheStücke, Hörspiele und Aufführungen von ihm, die mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurden. Klemens Niermann hat ihn 2001 in seiner Heimatstadt Sangerhausen beerdigt.Die Flucht der Verlobten von Einar Schleef fiel auf, da ein Telefongespräch von Ibbenbüren nach Ostberlin abgehört wor-den war. In Neustrelitz bei Neubrandenburg war Klemens Niermann sechs Wochen lang in einem Untersuchungsgefängnisder Staatssicherheit in strengster Einzelhaft und wurde dann am 5. Mai 1977 vor dem Gericht in Neubrandenburg wegen

erwiesener Fluchthilfe zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Nach drei Monaten Haft im Rummelsburger Gefängnisin Ostberlin wurde er vom Bistum Münster bzw. der Bundesrepublik Deutschland freigekauft.

Über die Berufsschule hatte Klemens Niermann immer schon Kontakt mit türkischen Familien, denen er vielfältig helfenkonnte. Mitte der siebziger Jahre regte er mit die Gründung des „Türkisch-Islamischen Kulturvereins“ an und half bei derVermittlung der ersten Räumlichkeiten für eine Moschee, zunächst an der Albert-Schweitzer-Grundschule. Er konnte diekatholischen Gemeinden und das Bistum Münster mit ins Boot holen, die damals die Teppiche für den Gebetsraum stifte-ten. Auch bei der Errichtung der Moschee an der Ledder Straße und des muslimischen Teils auf dem Hauptfriedhof hat ermitgeholfen.

Ein Anliegen war ihm immer auch die Erinnerung an die jüdische Geschichte Ibbenbürens.

Todesanzeige in der Ibbenbürener Volkszeitung am 7. Februar 2007

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Interview mit Klemens Niermann am 24. Januar 1996 - Seite 22

Wer ist eigentlich ... Klemens Niermann?Ein Pastor als Nothelfer in allen Lebenslagen

Klemens Niermann ist am 30. März 1928 in Altschermbeck gebo- ren, einem Dorf im Grenzbereich von Westfalen, Rheinland und Ruhrgebiet. Er ist das fünfte von vierzehn Kindern und wächst streng katholisch auf. Nach der Volksschulzeit und der Einberu- fung als Luftwaffenhelfer besucht er nach dem Krieg das Gym- nasium im nahegelegen Dorsten und macht sein Abitur. Er studiert in Münster und Fribourg (Schweiz). Sein Studium finan- ziert er sich über Darlehen und durch die Arbeit in der Ziegelei in Schermbeck sowie in der Zeche Bottrop. Am 16. März 1957 wird er zum Priester geweiht. Sechs Jahre ist er Kaplan in St.Peter Duisburg-Rheinhausen, dann wird er 1963 Kreisvikar in St.Mauritius Ibbenbüren. Zwei Jahre später ist er Religionslehrer an den Berufsschulen und Subsidiar in St. Michael, später wie- der in St. Maurit ius. 1983 wird er Rektor der Hauskapelle des St.- Elisabeth-Hospitals. Seit 1988 ist er Seelsorger im Krankenhaus,zusammen mit Sr. Michaela. Das Gespräch mit ihm führte Martin Weber - der es einfacher hätte, darüber ein Buch zu schreiben.Hier kann es nur ein Auszug sein! Was für Erinnerungen hast du noch an die frühere Zeit Zuhause?Was hat dich geprägt?In Schermbeck ging eine (Konfessions-) Grenze mitten durch dasDorf: Der westfälische Teil war katholisch, der rheinische Teil ur-sprünglich rein evangelisch - ganz anders als heute. Heute machendie mehr ökumenisch zusammen als in Ibbenbüren. Aber ich habeeine sehr positive Erinnerung an Kirche. Wir waren damals armeLeute. Als ich Primiz hatte, sagte einer der reichen Bauern aus der Nachbarschaft: „Er ist nur von kleinen Leuten, aber er wird trotzdem

Priester“. Meine Geschwister und ich waren in der katholischenJugendarbeit immer sehr aktiv gewesen. Mein Bruder gründete diePfadfinder. Ein anderer Bruder war Kolpingpräses. Eine Schwester gründete die Landjugend. Brüder sind im Kirchenvorstand und Pfarr-gemeinderat (gewesen). Wir waren eine brutal katholische Familie!Der Vater war der religiös prägende. Ein älterer Bruder wurde Steyler Missionarsbruder in Papua Neuguinea. Eine Schwester ist Hiltruper Ordensschwester geworden, eine andere Pastoralreferentin.Wie hast du die Nazi-Zeit und den Krieg erlebt?In Schermbeck gab es eine Zeitlang die Hitlerjugend, aber unser Vater hat uns verboten, dort hinzugehen. Wir durften keine Uniformtragen. Mein Vater war ein schwerer Nazi-Gegner. Ich weiß noch,wie er sich scher erregt hat, wie in Schermbeck die jüdische Synago-ge verbrannt wurde. Mit 15 Jahren wurde ich dann zusammen mit

fast der ganzen Klasse als Luftwaffenhelfer in der Nähe von Bottropund Haltern eingezogen. Unser Dorf wurde total zerstört.Wie ging es nach dem Krieg weiter?Ich habe das Abitur auf dem zunächst ganz zerstörten Gymnasium inDorsten gemacht. Ich bin zeitweilig die zehn Kilometer zu Fuß ge-gangen, weil es keine Fahrgelegenheit gab.Wie standen deine Eltern dazu, dass du Priester werden wolltest?Bevor ich nach Münster ging, nahmen Vater und Mutter mich in einNebenzimmer und fragten mich sehr ernsthaft, ob ich mir das gutüberlegt hätte und - das war für mich erstaunlich - ob ich mich vonihnen bedrängt fühlte. Damit das ganz freiwillig wäre.Von 1951 an war ich dann im Borromäum in Münster, dazwischenzwei Semester in Fribourg in der Schweiz, wo bei den Dominikanern

nur in Latein doziert wurde. Ich habe mich im Borromäum eigentlichimmer wohlgefühlt, auch wenn mich der Direktor zweimal kommenließ, weil ich mir überlegen sollte, ob ich zum Priestertum geeignet

sei, da ich mich um die Hausordnung nicht kümmern würde! Ichdachte: Es gibt gute Gründe, sich manchmal über kirchliche Vor-schriften hinwegzusetzen...1955 bin ich allein per Anhalter ohne Geld nach Jerusalem gefahren.Ich wollte unbedingt in das Land, in dem Jesus gelebt hatte. Unbe-dingt! Das war meine erlebnisreichste Reise! Ich war der dritte Deut-sche, dem damals eine Einreise nach Israel erlaubt wurde.1957 wurde ich Kaplan in Duisburg-Rheinhausen. Im Januar 1963habe ich mich hier bei Pastor Heufers vorgestellt. Das erste, was er mir sagte, war: „So dürfen Sie hier nicht herumlaufen in Ibbenbüren!“Ich kam nämlich in Zivil. Aber ich habe mich nicht dran gehalten... Ichhabe damals auf Anregung des Bischofs Höffner das TheologischeSeminar ins Leben gerufen. Höffner brachte mich 1965 auch an dieBerufsschule. Dort war ich in einer Sonderform der Seelsorge tätigund hatte viel zu tun mit Jugendlichen, die religiös ungebundenwaren, schon seit Mitte der 60er Jahre. Jahrelang war ich Vertrau-enslehrer. Daneben habe ich seit 1972 Meditationskurse gegeben.Wie kamen deine Ost-Kontakte zustande?Im Sommer 1955 mussten wir ein Praktikum in der Seelsorge vonvier Wochen machen. Und da habe ich mich gemeldet für eine Pfar-rei in der DDR. Das war Eisenberg in Thüringen. Von dort bekam ichKontakt mit der Gemeinde Meerane in Sachsen. Seit der Zeit bin icheine Kontaktperson zu dieser Gemeinde geworden. Ich bekam dannvor allem Beziehungen zur Tschechoslowakei, die bis heute gutbestehen. Später lernte ich dann den Pfarrer von Stettin in Polenkennen. 25 Jahre lang habe ich ihm geholfen: die Bänke in der Kirche, die Orgel, die Lampen, die Lautsprecheranlage habe ich

besorgt. Die Kontakte zu Minsk in Weißrussland begannen mit demdamaligen Geschäftsführer des SKF, Stefan Ottmann.Du hast oft Menschen geholfen. Was war deine Motivation dazu?Die Priester dort brauchten einfach Hilfe. Ich hatte ein Auto. Und er hatte zum Beispiel ein ganz schlechtes Auto. Und er brauchte unbe-dingt einen Wagen. Also musste ich ihm helfen und habe ihm meinAuto gegeben. Ich fühle mich bedrängt, mein Geld für arme Leuteauszugeben.Wie kam es zum Wechsel zur Tätigkeit im Krankenhaus?Ich bekam 1987 eine Herzoperation und vier Bypässe. Damals war es eine Selbstverständlichkeit, dass man außer Dienst ging. Als ich60 wurde, habe ich dann den Dienst in der Schule aufgegeben, weilich auch schon einige Jahre im Krankenhaus neben der Berufsschu-le tätig gewesen war. Damals hatte mich die Seelsorgskonferenz

dazu angefragt.Was bedeutet diese Aufgabe für dich?Ich habe mich noch nie so an der richtigen Stelle gefühlt als Priester wie augenblicklich! Die Begleitung der Schwerkranken und Sterben-den ist eine ganz wichtige Aufgabe für mich geworden. Es ist für mich ausfüllend.Klemens, was ist eigentlich dein Hobby?Eine Zeitlang war es das Blumenstecken. Außerdem bin ich vielgewandert, den ganzen Fernwanderweg von Norden bis Süden.Dabei habe ich oft bei schlechtem Wetter im Freien übernachtet.

Pfarrer Klemens Niermann, Roggenkampst raße 8,49477 Ibbenbüren, Tel. 05451-52-2585

Aus: St.-Ludwig-Blättchen 1/1996

5/13/2018 Pfarrer Klemens Niermann (1928-2007) im Gespräch - slidepdf.com

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Interview mit Klemens Niermann am 24. Januar 1996 - Seite 23

Ibbenbürener Volkszeitung am 13. Februar 2007

5/13/2018 Pfarrer Klemens Niermann (1928-2007) im Gespräch - slidepdf.com

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Interview mit Klemens Niermann am 24. Januar 1996 - Seite 24

Nachruf in der Ibbenbürener Volkszeitung am 8. Februar 2007

Nachruf in der Ibbenbürener Volkszeitung am 10. Februar 2007