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Pflege von suchtkranken alten Menschen wahrnehmen, entwickeln und handeln Tagung der Diakonie in Niedersachsen Andreas Kutschke

Pflege von suchtkranken alten Menschen Hautvortrag · Delirien und Stürze, daneben fallen vor allem gastrointestinale Probleme auf. Ebenfalls ... • Motivierende Gesprächsführung

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Pflege von suchtkranken alten Menschen

wahrnehmen, entwickeln und handeln

Tagung der Diakonie in Niedersachsen

Andreas Kutschke

Überblick

• Epidemiologie,

• Stand suchtkranker Menschen in der Altenhilfe,

• Ursachen, Differenzierung,

• Erkrankung erkennen,

• Probleme der Personen,

• Strategien Netzwerke

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Altenpflegeperspektive

• Stationäre / ambulante Altenpflege

• In aller Regel ohne Facharzt

• Ohne einen medizinischen Auftrag

• Der pflegerische Auftrag ist meistens nicht formuliert

• Bewohner haben einen Mietvertrag

• mit ambulant versorgten Patienten wird ein Leistungsvertrag abgeschlossen

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Differenzierte Wahrnehmung

• BewohnerInnen die nie Alkohol getrunken haben

• BewohnerInnen die nie einen schädlichen Gebrauch hatten

• First onset Trinker

• Late onset Trinker

• Trockene alkoholabhängige BewohnerInnen

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Andreas Kutschke

Zahlen zur Sucht im Alter

• 3,1 % der Männer und 0,5 % der älteren Frauen sind abhängig(ca. 400 000). Die Dunkelziffer liegt wahrscheinlich dreimal so hoch Zwei Drittel waren bereits in jüngeren Jahren abhängig (first onset).

• 10% der Heimbewohner weisen eine Alkoholdiagnose auf (ca. 70 000 Heimbewohner)

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Alkohol Diagnosen

Schädlicher Gebrauch

Abhängigkeitssyndrom

Entzugssyndrom

Entzugssyndrom mit Delir

Psychotische Störung

Amnestisches Syndrom

Akute Intoxikation

Korsakow Syndrom

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Konsum und Versorgung

• 60 % des Alkoholkonsums über 60 g und Tag wurde von Pflegenden nicht erkannt (Wurst et al. 2012)

• 1 Drittel der konsumierten BZD sind den Pflegekräften nicht bekannt (Interreg 2011)

• Über 15 % der Bewohner nehmen mehr als ein BZD

• Die Dauer der Einnahme beläuft sich im Schnitt auf mehrere Jahre

• Eine fachärztliche Versorgung trifft nur auf eine kleine Gruppe von Bewohnern zu ca. 14 %

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Andreas Kutschke

Missbrauch und Abhängigkeit von Medikamenten

• Frauen sind besonders häufig betroffen

• Zwischen 60 -80 % der Patienten über 60 nehmen Benzodiazepine länger als sechs Wochen ein.

• 35 % der Altenheimbewohner nehmen ein oder mehrere Benzodiazepine für mehr als drei Jahre ein

• Schlaf und Beruhigungsmittel werden Frauen doppelt so häufig Verordnet wie Männern.

• 1,5 – 2 Millionen Menschen sind von eine Medikamentenabhängigkeit betroffen, die meisten sind davon älter als 65

Zuhause wird mehr getrunken als im Heim

• In Heimen konsumierten 72,4 % der Bewohner keinen Alkohol, in Privathaushalten hingegen waren es 39,4 %. Ein Drittel der Probanden aus den Privathaushalten gab an, mehrmals wöchentlich oder täglich Alkohol zu trinken.

(Aurich et al. 2001)

Ein großer Teil der Betroffenen wird nicht diagnostiziert, obwohl es eine engmaschige Überwachung gibt

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Pflegerische Wahrnehmung der Erkrankung

Ab wann ist ein Alkoholkranker alt?

• Viele alkoholabhängige Bewohner sind vergleichsweise jung

• Pflegekräfte sind oft der Meinung, dass die Betroffenen zu jung für ein Altenheim sind!

• Gerade First onset Trinker sind oft „jung“, vorgealtert und benötigen Hilfen

• Die Betroffenen können 10 bis 20 Jahre voraltern und sind mit 70 oft richtig alt

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Unterschiedliche Argumentationen zum Alkoholkonsum? Pro und kontra• Ältere Menschen

profitieren vor allem bei kardiovaskuläre Erkrankungen von kleinen Mengen Alkohol wie ¼ Wein

• Ist ein Kulturgut in unserer Gesellschaft

• Alkohol ist ein gutes Einschlaf- und ein schlechtes Durchschlafmittel

• Macht an allen Organen Schäden

• Korrespondiert mit fast allen Medikamenten negativ

• Macht kognitive Schäden• Kann zur Verwahrlosung

führen • Vermehrte Unfälle

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Eine Befragung unter Altenpflegefachkräften

• Stoffgebundene Abhängigkeit wird von Pflegekräften als durchschnittlich häufig wahrgenommen, jedoch als besonders bedeutsam

• Alkohol im Seniorenheim als Pflegebedürftiger zu bekommen ist davon abhängig, in welchem Seniorenheim sie sind und welche Pflegekraft im Dienst ist

• Der überwiegende Teil der Pflegekräfte würde Alkoholkonsum einschränken

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Weitere Wahrnehmungen von Pflegenden

• «Meines Erachtens ist das Bewusstsein, dass auch Medikamente wie Benzodiazepine Sucht auslösen können, nur wenig ausgeprägt» so eine Befragte

• Medikamente werden nur sehr unregelmäßig auf ihre Notwendigkeit überprüft (von 1x monatlich bis gar nicht)

• Oft wissen die KollegInnen gar nicht, das BZD gegeben werden, die Antworten lagen in den gleichen Wohnbereichen zwischen 5 – 70 % (bei Fachkräften)

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Abhängigkeit und Missbrauch von Alkohol und BZD ein Thema für die Altenpflege?

Bisher kaum, außer in einigen Facheinrichtungen

• In der Fachliteratur findet man nur rudimentäre Hinweise

• Fortbildungsangebote sind selten

• Assessments sind kaum bekannt

• Wohnangebote für trinkende ältere Alkoholiker sind eher die Ausnahme

• Manche Seniorenheime wollen alkoholkranke Menschen nicht aufnehmen

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Häufige Gründe für die Aufnahme von älteren Alkoholabhängigen in die Ambulanz sind

Delirien und Stürze, daneben fallen vor allem gastrointestinale Probleme auf. Ebenfalls

Schmerzen, Schlafstörungen, Depressionen oder Angst (Onen et al. 2005), die Ursache

für diese Probleme werden oft nicht erkannt.

Auch bei der Aufnahme in ein Seniorenheim ist nicht bekannt ob der Bewohner Abhängig

ist oder Alkohol missbraucht.

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Epidemiologische Besonderheiten des Alters

• Abnahme des Alkoholkonsums

• Generationsspezifische Unterschiede des Trinkverhaltens

• Erhöhte alkoholbezogene Mortalität

• Positive Therapieergebnisse günstige Spontanverläufe

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Die Pflegenden in der Altenhilfe stehen zwischen zwei Stühlen,von denen der eine Fürsorge und der andere Freiheit und

Autonomie heißt!

Alkoholkonsum steht zwischen Genuss und dem Risiko von Missbrauch und

Abhängigkeit, Benzodiazepine zwischen sinnvoller Behandlung und Abhängigkeit

Ab

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Es gibt häufig pflegerische Probleme

• Eine Vielzahl von Alkoholfolgeerkrankungen

• Soziale Isolation

• Verwahrlosung

• Aggression

• Eigenwillige Biografie

• Bewohner verstehen sich nicht mit jüngeren Abhängigen

• Pflegekräfte sind nicht vorbereitet

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Patient/Bewohner (Alkohol)

Kontakt und Zugang zum Betroffenen herstellen und

halten

lebensbedrohende Einflüsse erkennen und abwenden

Grundbedürfnisse wie Ernährung und Pflege sichern

Milieu und Umfeld sichern und stabilisieren

Alkoholkonsum verringern oder stabilisieren

Selbstpflege und Abstinenz

Pflegerische Schwerpunkte in der Pflege alkoholabhängiger Bewohner • Ernährung• Förderung der Bewältigungskompetenz bei

Einsamkeit, Langeweile, Trauer und Angst• Förderung von Genuss- und

Entspannungsfähigkeit• Soziale Kontakte • Niedrigschwellige Angebote, sinnstiftende Arbeit • Angehörige, Betreuer, Selbsthilfe,

Beratungsstellen, Ärzte und Pflege zusammenbringen

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Große Unterschiede

Bei Alkoholabhängigkeit

• Vom freundlichen, netten und angepassten Bewohner bis

• Zum randalierenden, übel riechenden, übergriffigen Abhängigen, der jede Gelegenheit für seinen Vorteil nutzt

Bei BZD Abhängigkeit

• Von der ruhigen zurückhaltende älteren Dame bis

• Zur Nervensäge, oder Schläfrigen alles Ablehnenden die sich an nichts erinnert und immer nörgelt

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„Ich habe ja sonst nichts mehr“

• Im Seniorenheim kann dies tatsächlich so sein!

• Viele Pflegekräfte vertreten diese fatalistische Position ebenfalls durch ein resignierendes „das macht doch keinen Sinn mehr“

• Mehr Leben und sinnvolle Aufgabe in den Alltag

• Menschen mit einer Abhängigkeit benötigen eine Perspektive (im ambulanten und stationären Bereich)

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Gründe für Benzodiazepinabhängigkeit im Alter

• Nicht reflektierte Verordnung durch Ärzte

• Schmerzen, Schlaf- und Angststörungen

• und Unkenntnis über die Gefahren einer Abhängigkeit

• „Medikamente müssen gut für den Körper sein“ “das hat doch der Arzt verordnet“

• Wenig Angebote von Alternativen

• Pflegerische Anforderung

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Folgen einer längeren BZD Einnahme

• Hang-over-Sedierung und Medikamenten-Akkumulation

• Abhängigkeit bei normaler Dosierung, (Low Dose Abhängigkeit)

• Obstipation / Inkontinenz / Blutdruckabfall

• Stürze und Schluckstörungen

• Eingeschränkte Kritikfähigkeit und Reizbarkeit

• Gedächtnisstörungen

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Patient/Bewohner (Benzodiazepine)

Beziehung zum Betroffenen herstellen und halten

Risiken erkennen und abwenden

Gemeinsame Erkenntnis über die Wirkung und

Notwenigkeit der Medikamente

Kontakt mit dem/den Ärzten, Absprachen und

Strategien überprüfen

Alternativen überprüfen in Bezug auf Ursachen und

Wirkungen

Benzodiazepin verringern oder stabilisieren

Selbstpflege und Abstinenz

Benzodiazepinabhängigkeit wahrnehmen

• Assessment verwenden

• Lippstädter Benzodiazepincheck

• Benzodiazepinselbstauskunft Bogen

• Verhalten wahrnehmen

• Verordnungsdauer überprüfen

• Entzugssymptome bei Absetzen

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Substanzen/Handelsnamen

Clonazepam (Rivotril®, Antepilepsin®)

Chlordiazepoxid (Librium®, Radepur®)

Diazepam (Valium®, Valiquid®, Faustan®)

Flunitrazepam (Fluninoc®, Rohypnol®)

Flurazepam (Dalmadorm®, Staurodorm®)

Lorazepam (Laubel®, Tavor®)

Oxazepam (Adumbran®, Praxiten®)

Zolpidem (Stilnox®, Bikalm®)

Zopiclon (Ximovan®, Sonmosan®)

Halbwertzeit in Stunden

18 – 50

5 - 30

20 – 100

16 – 35

40 – 250

10 – 24

4 – 15

1,5 – 4,5

5 - 6

(Voss 2011, Bernhard 2009, Laux, Dietmaier et al. 2002)Andreas Kutschke 32

Überlegungen im Umgang mit BZD abhängigen Bewohnern

• Nicht besserwisserisch über BZD aufklären

• Über stationäre Entzugs- und Entwöhnungstherapien aufklären

• Auf Ängste, den Anforderungen einer Therapie nicht gewachsen zu sein, eingehen

• nicht Stigmatisieren

• Alternativen anbieten

• Multiprofessionelles Team beispielsweise in der Fallbesprechung nutzen

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Einige fachliche Kompetenzen die bei Alkohol und BZD benötigt werden• Verschiedene Assessments • Motivierende Gesprächsführung (Miller, Rollnick

2005)

• Kurzinterventionen • Stages of Change • Serial Trial Intervention • (ethische) Fallbesprechungen• Kollegiale Beratung • Niedrigschwellige Angebote • Umgang mit Ablehnung und Aggression

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generelle Strategien zur Verbesserung der Pflege

• Öffentlichkeit herstellen

• Praxisnahe Materialien

• Angehörige und Selbsthilfegruppen in die Prozesse einbeziehen

• Mitarbeiter schulen

• Interdisziplinäre Absprachen und Überprüfung

• Schwerpunktabteilungen und integrative Konzepte

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Pflegeeinstufung

• Eine Pflegestufe wird bei Abhängigen älteren Menschen selten gewährt

• Der Pflegebedürftigkeitsbegriff bezieht sich auf körperliche Gebrechen

• Der Pflegebedürftigkeitsbegriff soll seit Jahren geändert werden

• Die stationäre Versorgung in einem Altenheim ist nur mit einer Pflegestufe (SGB XI) möglich

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Die pflegerische Herausforderung liegt ebenfalls in einigen Fragestellungen begründet

• Sollten Pflegekräfte immobilen abhängigen Bewohnern/Patienten Alkohol beschaffen?

• Sind Pflegekräfte mit verantwortlich für die hohe Zahl der BZD Abhängigen?

• Wie ist auf Handgreiflichkeiten bei alkoholisierten Bewohnern zu reagieren?

• Wie werden Ekel und persönliche Ablehnung einbezogen?

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Schulungen der Mitarbeiter

• Grundlagen Alkohol / Abhängigkeit

• Biografie / Alkoholabhängigkeit

• Gesundheitliche Fragen

• Psychische Auswirkungen

• Verhalten gegenüber den Bewohnern

• Absprachen im Team Zusammenarbeit mit Selbsthilfe und sozialpsychiatrischen Diensten

• Supervision

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Allgemeine Forderungen/Strategien

• Die Betroffenen besser erkennen

• Die Situation in die Öffentlichkeit holen

• Mehr Wissen generieren

• Besserer Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen (steuern und lenken)

• Mehr Schwerpunkteinrichtungen

• Anerkennung einer Pflegestufe

• Therapieplätze

• Mehr Hilfen für first onset Trinker

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Den Glauben an die Betroffenen nicht verlieren!

Lieben Dank für Ihre Aufmerksamkeit

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