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In der Gesundheitspolitik wird fast ausschliesslich über Kosten diskutiert. Keine oder nur wenig Beachtung finden der gesellschaftliche Nutzen des Gesundheitswesens in Form von Lebenserwartung und Lebensqualität, der volkswirtschaftliche Nutzen und der Beitrag zum Forschungsstandort Schweiz.
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pharma:chGesundheitsausgaben lohnen sichIn der Gesundheitspolitik wird fast ausschliesslich über Kosten diskutiert. Keine oder nur
wenig Beachtung finden der gesellschaftliche Nutzen des Gesundheitswesens in
Form von Lebenserwartung und Lebensqualität, der volkswirtschaftliche Nutzen und
der Beitrag zum Forschungsstandort Schweiz.
Dank einem hochstehenden Gesundheitswesen ist
die Lebenserwartung in der Schweiz eine der höchs-
ten in der Welt. Schweizerinnen und Schweizer leben
aber nicht nur länger, sondern auch länger bei guter
Gesundheit. Das hat seinen Preis, der in Form der
Gesundheitskosten zu immer wiederkehrenden Dis-
kussionen führt. Dabei sind die Medikamentenpreise
für Politiker jeglicher Couleur ein besonders beliebter
und dankbarer Zankapfel. Zwar ist der Anteil der Arz-
neimittel an den Gesundheitskosten seit vielen Jah-
ren stetig rückläufig, dennoch sollen Medikamente
immer weniger kosten. Dabei blendet die Politik den
volkswirtschaftlichen Nutzen der Pharmaindustrie
einfach aus: Eine hohe Wertschöpfung und ein im-
menser Exportüberschuss tragen wesentlich zum
Wohlstand in unserem Land bei. Forschungsausga-
ben der Interpharma-Mitgliedfirmen von rund sechs
Milliarden Franken jährlich bilden den stärksten Pfei-
ler des Forschungsstandorts Schweiz. Zusammen
mit den Hochschulen begründen die Pharmaunter-
nehmen in der Schweiz ein weltweit einzigartiges
Forschungscluster.
Als Ergebnis der guten medizinischen Versorgung
und der innovativen Pharmaindustrie gehört die Ge-
sundheitswirtschaft zu den wichtigsten Wirtschafts-
zweigen unseres Landes. Fast jeder Achte verdient
hier sein Geld. Das sind gegen 600 000 Beschäf-
tigte. Die Gesundheitswirtschaft entwickelt sich
nicht stürmisch, aber sie wächst stetig: Anfang der
90er-Jahre waren 8 Prozent der Beschäftigten im
Gesundheitswesen tätig, im letzten Jahr waren es
mehr als 12 Prozent. All dies wird in der Aufregung
über steigende Gesundheitskosten ebenso verges-
sen wie der Beitrag, den Medikamente zum medizi-
nischen Fortschritt leisten. Sie verkürzen die Dauer
oder mildern die Folgen einer Krankheit. Nicht selten
sind damit auch ökonomisch Vorteile verbunden: In-
novative Medikamente mögen zwar häufig teurer
sein als ihre Vorläufer, sie tragen aber auch zu Kos-
tensenkungen bei, indem sie etwa Spitalaufenthalte
verkürzen oder gar operative Eingriffe unnötig ma-
chen. Schliesslich können Gesundheitsausgaben
Krankheitskosten reduzieren. Wer krank ist, verur-
sacht nicht nur Kosten, um wieder gesund zu wer-
1/12Markt und Politik
Schweizerinnen und Schweizer leben nicht nur länger, sondern auch länger bei guter Gesundheit.
2
pharma:ch 1/12
GesundheitsausGaben
den. Er verursacht auch indirekte Kosten. Letztere
beinhalten Produktivitätsverluste durch das Fehlen
am Arbeitsplatz, die informelle Pflege durch Ver-
wandte und Freunde sowie verlorene Freizeit. In die-
sem Sinn generieren Investitionen der Pharmaindus-
trie in Forschung und Entwicklung für neue Medika-
mente nicht nur Arbeitsplätze, sondern bringen über
die Verringerung der Krankheitskosten auch volks-
wirtschaftliche Einsparungen. Die empirische Evi-
denz lässt darauf schlies sen, dass die höheren Ge-
sundheitsausgaben der letzten dreissig Jahre durch
den Nutzen aus dem damit verbundenen medizin-
technologischen Fortschritt mehr als kompensiert
wurden.
Wird also eine Gesamtrechnung gemacht, ist un-
schwer zu erkennen, dass sich Ausgaben für die Ge-
sundheit durchaus lohnen und die Gesundheitswirt-
schaft – einschliesslich der Pharmaindustrie – für die
Schweiz einen positiven Wirtschaftsfaktor darstellt.
Fortsetzung von Seite 1
Gesundheitsausgaben reduzieren die übrigen KrankheitskostenEine ausschliessliche Betrachtung der Gesundheitsausgaben kann nicht nur zu Fehlschlüssen
führen, sie ist im Grunde genommen auch falsch, da sie nur einen kleinen Teil der gesamten
Krankheitskosten berücksichtigt. Dies ist die Kernaussage der Studie «Gesundheitsausgaben
und Krankheitskosten», die Polynomics im Auftrag von Interpharma erstellt hat.
Diese Schlussfolgerung wird dadurch untermauert,
dass Gesundheitsausgaben nicht einfach eine Kos-
tenfolge von Krankheit sind. Sie entstehen daraus,
dass die Krankheit bekämpft wird, um den Patienten
zu heilen oder seinen Gesundheitszustand zu ver-
bessern.
Gesundheitsausgaben reduzieren somit die übrigen
Krankheitskosten, da ein besserer Gesundheitszu-
stand oder eine schnellere Genesung zu weniger
Produktivitätsverlusten, weniger informeller Pflege
und einer Reduzierung von Schmerz und Leid führt.
Mit andern Worten: Erst eine Gesamtbetrachtung
aller Komponenten zeigt, ob sich Gesundheitsaus-
gaben lohnen oder nicht.
Insgesamt setzen sich Krankheitskosten aus drei
Komponenten zusammen: direkten, indirekten und
intangiblen Kosten:
• Bei den direkten Krankheitskosten handelt es sich
um finanzielle Ausgaben, die bei der Bekämpfung
einer Krankheit aufgewendet werden müssen.
Diese können sowohl innerhalb des Gesundheits-
wesens (z.B. Entlöhnung von Ärzten oder Ausga-
ben für Medikamente) als auch ausserhalb (z.B.
Ausgaben für eine behindertengerechte Wohnung
oder Fahrtkosten zum Arzt) anfallen, weshalb man
von direkten medizinischen und direkten nicht
medizinischen Kosten spricht.
• Neben finanziellen Ausgaben führt Krankheit auch
zu einem Verlust an produktiver Zeit. Es resultie-
ren Absenzen am Arbeitsplatz und damit indirekte
Kosten durch Produktivitätsverluste für Arbeitge-
ber und Arbeitnehmer. Indirekte Kosten fallen aber
auch an, wenn Familienangehörige und Freunde
Zeit aufwenden, um Patienten selbst zu pflegen
(sogenannte informelle Pflege).
• Schliesslich verursacht Krankheit auch Kosten in
Form von Schmerz und Leid beziehungsweise all-
gemein schlechterer Lebensqualität, welche von
Patienten, Angehörigen und Nahestehenden ge-
tragen werden. Diese intangiblen Kosten lassen
sich kaum in Franken beziffern und werden des-
halb in Studien auch kaum erfasst, obwohl der re-
ale Nutzenverlust für die Betroffenen gross ist.
In Krankheitskostenstudien (Cost-of-Illness-Studien)
werden die Bewertungen für spezifische Krankheiten
vorgenommen. Daraus lassen sich die Grössenord-
nungen der verschiedenen Kostenkomponenten ab-
leiten. Sieben in den letzten Jahren publizierte Stu-
dien für die Schweiz zeigen, dass die Gesundheits-
ausgaben im Durchschnitt einen Drittel der Krank-
heitskosten ausmachen, während zwei Drittel durch
indirekte Kosten wie Produktivitätsverlust am Ar-
beitsplatz und informelle Pflege entstehen.
3
1/12 pharma:ch
n Die Pharmaindustrie ist die wichtigste Export-
branche der Schweiz. Sie hat die Wertschöpfung,
die Zahl der Arbeitsplätze und die Produktivität in
den letzten Jahren weiter gesteigert.
Die Pharmaindustrie ist für mehr als 30 Prozent der
Schweizer Exporte verantwortlich. Ihre Wertschöp-
fung, direkt und indirekt, erreicht gegen 30 Milliar-
den Franken, was einem Anteil von 5.7 Prozent am
nominalen Bruttoinlandsprodukt entspricht. Wäh-
rend die nominelle Wertschöpfung aufgrund des
gestiegenen Preisdrucks und der Wechselkursent-
wicklung resp. des Erstarkens des Frankens zuneh-
mend unter Druck gerät und aktuell nicht mehr die
ganz hohen Zuwachsraten der Vergangenheit er-
reicht, bleibt das reale Wachstum mit über 4 Pro-
zent robust und hoch. Dies geht aus einer Studie
Schweiz als Pharma- und Forschungsstandort
von Polynomics in Zusammenarbeit mit BAK Basel
Economics im Auftrag von Interpharma hervor.
Die Zahl der Erwerbstätigen in der Pharmaindustrie
hat 2010 um 3 Prozent auf 36 700 Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter zugenommen. Berücksichtigt man
die Verflechtung mit vor- und nachgelagerten Be-
trieben, hingen 2010 mehr als 135 000 Arbeitsplätze
von dieser Branche ab. Die Pharmaindustrie weist
zudem eine überdurchschnittlich hohe Produktivität
auf. Die Wertschöpfung ist mit 400 000 Franken pro
Erwerbstätigen und Jahr oder 232 Franken pro Ar-
beitsstunde mehr als dreimal so hoch als die durch-
schnittliche Produktivität der Gesamtwirtschaft. Die
Pharmabranche liegt damit deutlich an der Spitze
– vor den Versicherungen mit 194 und den Banken
mit 137 Franken pro Stunde.
Gesundheitsausgaben und Krankheitskosten in der Schweiz
Gesundheitsausgaben (direkte medizinische
Kosten) in Mio. CHF/a
Direkte nicht medizinische
Kosten in Mio. CHF/a
Indirekte Kosten
in Mio. CHF/aGesamtkosten in Mio. CHF/a
Anteil Gesundheits- ausgaben an
Krankheitskosten
Multiple Sklerose 192 55 273 520 37.0%
Sepsis 355 k.A. 844 1 199 29.6%
Rheumatoide Arthritis 790 278 1 332 2 400 32.9%
Demenz 3 486 k.A. 2 771 6 257 55.7%
Krebs 3 062 241 4 593 7 655 40.0%
Kreuzschmerzen (HKA)1 2 751 1 224 6 316 10 291 26.7%
Kreuzschmerzen (FKA)2 2 751 1 224 3 390 7 365 37.3%
Gehirnerkrankungen 6 082 2 696 9 831 18 609 32.7%
Quelle: Polynomics, Gesundheitsausgaben und Krankheitskosten, 2011.
1 HKA: Humankapitalansatz.2 FKA: Friktionskostenansatz zur Berechnung der Produktivitätsverluste.
Ökonomisch gesehen handelt es sich bei den Ge-
sundheitsausgaben lediglich um einen Teil der Ge-
sundheitskosten. In der Volkswirtschaftslehre wer-
den Kosten allgemein als entgangener Nutzen ange-
schaut. Man spricht dabei von Opportunitäts- oder
Alternativkosten, die aus den ungenutzten Möglich-
keiten resultieren, auf die man verzichten muss. Aus
gesamtgesellschaftlicher Sicht sind die gesamten
Krankheitskosten entscheidend, unabhängig davon
wo, bei wem und in welcher Form sie anfallen. Nur
durch die Gesamtbetrachtung lässt sich bestimmen,
welche Kosten eine Volkswirtschaft durch eine spe-
zifische Krankheit zu tragen hat.
Sieben Studien für die Schweiz
Die in der Schweiz ausgewerteten Studien beschäf-
tigen sich überwiegend mit chronischen Krankhei-
ten, da diese aufgrund der demografischen Alterung
immer häufiger auftreten und an Wichtigkeit gewin-
nen. Drei Arbeiten berechnen Kosten von Gehirner-
krankungen, wobei neben multipler Sklerose und
Demenz eine Übersichtsstudie alle wichtigen Hirner-
krankungen abdeckt. Die intangiblen Kosten sind –
wie oben erwähnt – nicht berücksichtigt. Insgesamt
verursachen neben den Gehirnerkrankungen, wel-
che zwölf Erkrankungen erfassen, Kreuzschmerzen
die höchsten Kosten. Aber auch Krebs und Demenz
pharma:ch 1/12
GesundheitsausGaben
Die gezieltere und schnellere Wirkung neuer Therapien reduziert indirekte Krankheitskosten, wie z.B. die Kosten der informellen Pflege.
mit rund 6 bis 8 Milliarden Franken pro Jahr stellen
für die schweizerische Volkswirtschaft eine hohe Be-
lastung dar.
Selbstverständlich handelt es sich bei den Krank-
heitsbildern in diesen sieben Studien nicht um eine
repräsentative Auswahl aller Krankheiten in der
Schweiz. Mit rheumatoider Arthritis, Krebs und Ge-
hirnerkrankungen (inklusive Depressionen und Mi-
gräne) finden sich unter den Studien jedoch vier
der sieben häufigsten chronischen Krankheiten in
der Schweiz. Zusätzlich behandelt die Studie über
Kreuzschmerzen die häufigste körperliche Be-
schwerde, an der beinahe die Hälfte der Bevölkerung
leidet und die nicht direkt einer Krankheit zugeordnet
werden kann.
Hohe Kosten von Gehirnerkrankungen
und Kreuzschmerzen
Die Tabelle auf Seite 3 bietet einen Überblick über
die in diesen Studien gesamthaft ermittelten Kosten
für die Schweiz. Die Gesamtkosten setzen sich dabei
im Wesentlichen aus direkten medizinischen und di-
rekten nicht medizinischen sowie indirekten Kosten
(Produktivitätsverlust und informelle Pflege) zusam-
men. Die Gesamtkosten pro Krankheitsbild unter-
scheiden sich teilweise deutlich. Das liegt an der An-
zahl Betroffener (Prävalenz) und den unterschiedli-
chen Behandlungsformen. Die hohen Kosten von
Gehirnerkrankungen und Kreuzschmerzen belegen
dies trotz geringer Kosten pro Patient. Pro Patient die
teuerste Krankheit ist Sepsis, gefolgt von Demenz
und multipler Sklerose. Die relativ geringe Prävalenz
dieser Krankheiten führt dennoch zu insgesamt
niedrigeren Gesamtkosten.
Bei Demenzerkrankungen erreichen die Gesund-
heitsausgaben einen Anteil von über 50 Prozent. Die-
ser hohe Anteil erklärt sich dadurch, dass von De-
menz überwiegend ältere Personen betroffen sind,
die sich meist nicht mehr im Arbeitsprozess befin-
den. Deshalb wurden keine Arbeitsproduktivitätsver-
luste ermittelt, was sich in geringeren indirekten Kos-
ten niederschlägt. Umgekehrt bedeutet dies, dass
der Anteil der indirekten Kosten bei Akuterkrankun-
gen deutlich niedriger ausfällt als bei den chroni-
schen Krankheiten, weil die Produktionsverluste von
kürzerer Dauer sind. Die indirekten Kosten von Sep-
sis werden hauptsächlich durch die hohe Mortali-
tätsrate verursacht, die bei der Studie bei knapp 50
Prozent lag. n
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1/12 pharma:ch
Der Einfluss von Gesundheitsausgaben auf die
Krankheitskosten ist vor allem im Zusammenhang
mit dem medizintechnologischen Fortschritt von
grosser Bedeutung und deshalb auch immer wieder
Gegenstand von Studien. Innovationen im Gesund-
heitswesen sind üblicherweise teurer als Bestehen-
des. Dafür lassen sich im Gegenzug Krankheiten
wirkungsvoller und schneller behandeln. Beispiele
dafür gibt es viele. So haben beispielsweise minimal-
invasive chirurgische Verfahren wie die Laparosko-
pie dazu geführt, dass Leistenbruchpatienten heute
nach der Operation rund doppelt so schnell wieder
an den Arbeitsplatz zurückkehren können und deut-
lich weniger Schmerzen haben.
Gerade im Bereich neuer Medikamente existiert
eine Vielzahl an Studien, da die Zulassungsbehör-
den in den meisten Ländern einen Nachweis für
eine bessere Wirksamkeit verlangen, bevor ein
neues Präparat eingesetzt werden darf. Als Beispiel
Medizinischer Fortschritt führt zu tieferen KrankheitskostenInnovationen im Gesundheitswesen sind zwar teuer, aber neue Geräte, Medikamente
und Verfahren sind unabdingbar, um Krankheiten besser bekämpfen zu können.
Dadurch sinken nämlich die indirekten und intangiblen Kosten. Ein Aspekt, dem in der
Diskussion um die Kostenexplosion zu wenig Beachtung geschenkt wird.
GESuNDHEITSAuSGABEN
n Das Gesundheitswesen hilft nicht nur Kranken, es
ist auch ein bedeutender Wirtschaftsbereich. So ste-
hen hinter den Gesundheitsausgaben auch wirt-
schaftliche Leistungen und Arbeitsplätze: 16 000
praktizierende Ärzte schreiben jährlich 65 Millionen
Verordnungen, ihre Rezepte werden in 1700 Apothe-
ken eingelöst, knapp 300 Spitäler leisten über
12 Millionen Pflegetage – dies nur ein kleiner Aus-
schnitt aus der Gesundheitswirtschaft. Die volkswirt-
schaftliche Bedeutung ist nicht zu verkennen: Die
Gesundheitsausgaben machen 11 Prozent des Brut-
toinlandsprodukts aus, Gesundheit und Medika-
mente 14 Prozent des Landesindexes für Konsu-
mentenpreise. Beinahe jeder achte Erwerbstätige
arbeitet im Gesundheitssektor, das sind gegen
600 000 Beschäftigte. Damit ist das Gesundheitswe-
sen einer der wichtigsten Arbeitgeber in der Schweiz.
Die Gesundheitswirtschaft entwickelt sich nicht
stürmisch, aber doch stetig aufwärts: Anfang der
90er-Jahre waren 8 Prozent der Beschäftigten im
Gesundheitswesen tätig, im letzten Jahr waren es
mehr als 12 Prozent. Diese wachsende Bedeutung
hat bei den Ökonomen zu einer veränderten Be-
trachtungsweise des Gesundheitswesens geführt.
Der Berliner Professor Klaus-Dirk Henke, der seit
gut zwei Jahrzehnten Struktur und Entwicklung der
Gesundheitswirtschaft
Gesundheitswirtschaft verfolgt und untersucht,
spricht von einem neuen Verständnis. Während die
Gesundheitswirtschaft früher ein Teil des Gesund-
heitswesens war, sei es heute umgekehrt. Damit
einher geht die Abkehr von der überwiegenden Fi-
nanzierung durch die öffentliche Hand. Die Gesund-
heitsversorgung wird nicht mehr oder nicht mehr
allein als Kostenfaktor betrachtet, sondern als
Wachstumsbranche mit einer stetig steigenden Zahl
von Arbeitsplätzen und neuen Karrieremöglichkei-
ten. Als Folge dominiert nicht mehr der Konsu-
maspekt die Gesundheitsversorgung, sondern In-
vestitionen in die Gesundheit dienen dem wirt-
schaftlichen Wachstum und der Produktivität.
Henke hat für Deutschland ähnliche Zahlen erho-
ben, wie sie für die Schweiz gelten. Die Bruttowert-
schöpfung der Gesundheitswirtschaft macht rund
11 Prozent der gesamten Volkswirtschaft aus – dies
bei einer jährlichen Zuwachsrate von über 10 Pro-
zent. Henke gibt für die Gesundheitswirtschaft ei-
nen direkten Multiplikator von 1.41 an. Das heisst,
jeder Euro in der Gesundheitswirtschaft löst EUR
–,41 an zusätzlichen Leistungen in andern Berei-
chen aus. Berücksichtigt man auch noch den Kon-
sum aus diesen zusätzlich generierten Einkommen,
resultiert ein Multiplikator von 1.81.
6
pharma:ch 1/12
GesundheitsausGaben
sei der technologische Fortschritt im Bereich der
Antikoagulantien erwähnt, also die Masse aller Me-
dikamente, die hemmend auf die Blutgerinnung ein-
wirken. Hier hat beispielsweise der neue Wirkstoff
Rivaroxaban das Risiko einer Thrombose nach
gros sen orthopädischen Operationen um rund die
Hälfte senken können.
Wann lohnen sich höhere
Gesundheitsausgaben?
Durch diese Wechselbeziehungen zwischen direk-
ten und indirekten beziehungsweise intangiblen
Krankheitskosten stellen steigende Gesundheits-
ausgaben – zum Beispiel durch medizintechnologi-
schen Fortschritt – nicht a priori ein Problem dar. Es
stellt sich vielmehr die Frage, wann sich höhere Ge-
sundheitsausgaben lohnen beziehungsweise wie
der Gesamteffekt zwischen höheren Gesundheits-
ausgaben und den reduzierten anderen Kostenkom-
ponenten ausfällt. Die empirische Evidenz lässt der-
zeit darauf schliessen, dass die höheren Gesund-
heitsausgaben der letzten dreissig Jahre durch den
Nutzen aus dem damit verbundenen medizintechno-
logischen Fortschritt mehr als kompensiert wurden,
die Krankheitskosten insgesamt also eher abgenom-
men haben.
So gibt es einige Untersuchungen, die belegen, dass
höhere Gesundheitsausgaben in den industrialisier-
ten Ländern einen signifikanten Beitrag zur steigen-
den Lebenserwartung leisteten. Des Weiteren haben
verschiedene wissenschaftliche Studien aus den
USA gezeigt, dass jeder in den Jahren zwischen 1980
und 2000 ins Gesundheitswesen investierte Dollar
einen Ertrag von USD 1,50 bis USD 2,– «erwirtschaf-
tete», und zwar in Form von höherer Lebenserwar-
tung und verbesserter Gesundheit. Die Studien las-
sen sich zwar nicht direkt auf die Schweiz übertra-
gen. Auch klammern sie den Faktor aus, ob durch
mehr Effizienz noch höhere Erträge möglich gewesen
wären. Trotzdem sind sie ein starker Hinweis darauf,
dass sich der technologische Fortschritt und die da-
mit verbundenen höheren Gesundheitsausgaben
auch in der Schweiz gelohnt haben, sind doch die
USA das Land mit dem weltweit teuersten Gesund-
heitswesen.
Für die Schweiz ist zum Beispiel die Studie von No-
cera et al. (2002 und 2003) zu nennen, bei der eine
Kosten-Nutzen-Analyse zu verschiedenen Program-
men gegen die Alzheimerkrankheit durchgeführt
wurde. Die Autoren kommen zum Schluss, dass ein
Programm zur Entlastung der pflegenden Angehöri-
gen von Alzheimerpatienten insgesamt mehr Nutzen
als Kosten generieren würde. Bei einer solchen Lö-
sung können pflegende Angehörige für ein paar Wo-
chen pro Jahr zulasten der Krankenversicherung
professionelle Pfleger anfordern, um sich selbst zu
entlasten. Dies käme einer Verschiebung von indi-
rekten Kosten durch informelle Pflege hin zu den di-
rekten Kosten in Form höherer Ausgaben für profes-
sionelle Pflege gleich.
Höhere Lebenserwartung –
aber zu welchem Preis?
Wie komplex die Thematik letztlich ist, veranschau-
licht das Beispiel der demografischen Alterung.
Einigkeit besteht darüber, dass die in den Industrie-
nationen in den letzten 30 Jahren stark gestiegenen
Gesundheitsausgaben einhergingen mit einer be-
merkenswerten Zunahme der Lebenserwartung bei
Menschen über 60 Jahre. Und doch gibt es zwei
gegensätzliche Sichtweisen: Die statische betrach-
tet die Gesundheitsausgaben vor allem als Kosten-
komponente von Krankheit – die dynamische als In-
put für bessere Gesundheit. Anders ausgedrückt:
Würde Krankheit nicht bekämpft werden, müssten
auch keine Ressourcen im Gesundheitswesen auf-
gewendet werden. Prävention kann in diesem Zu-
sammenhang als Bekämpfung einer Krankheit vor
deren Ausbruch verstanden werden.
Höhere Gesundheitsausgaben sind also dann ge-
rechtfertigt, wenn der Nutzen daraus höher ist. Das
ist der Fall, wenn die Krankheitskosten trotz der
höheren Gesundheitsausgaben niedriger ausfallen
und somit der Rückgang bei den indirekten und
intangiblen Kosten grösser ist als die Erhöhung der
Gesundheitsausgaben. Im Gegensatz dazu ist eine
Reduktion der Gesundheitsausgaben nur dann zu
vertreten, wenn sich daraus Effizienzverbesserun-
gen im System ergeben und keine Leistungen mit
einem hohen Nutzen abgebaut werden.
«Die höheren Gesundheitsaus- gaben der letzten dreissig Jahre wurden durch den Nutzen aus dem damit verbundenen medizin-technologischen Fortschritt mehr als kompensiert.»
7
1/12 pharma:ch
Schlussfolgerungen
In der Regel geht es in der Diskussion um die Schwei-
zer Gesundheitspolitik nur um jene Ausgaben und
Kosten, die direkt im Gesundheitswesen anfallen. Wie
«teuer» die Gesundheit die Volkswirtschaft insgesamt
zu stehen kommt, wird tendenziell ausgeblendet. Die
ausgewerteten Krankheitskostenstudien zeigten aber,
dass die indirekten Krankheitskosten die Gesund-
heitsausgaben in der Schweiz deutlich übersteigen.
Da diese aber nur etwa einen Drittel der gesamten
Krankheitskosten ausmachen, ist es ein falscher An-
satz, vor allem die Gesundheitsausgaben senken zu
wollen.
Einer Gesamteinsicht zum Durchbruch zu verhelfen,
ist schwierig, da die Interessenlage der Akteure im
Schweizer Gesundheitswesen (Leistungserbringer,
Versicherer, die Politik sowie die Bevölkerung) zu
unterschiedlich ist. Aufseiten der Leistungserbringer
lassen sich zwei Gruppen unterscheiden:
1. Die niedergelassenen Ärzte, Spitäler und Apothe-
ken richten ihr Hauptaugenmerk auf die Wieder-
herstellung oder Verbesserung des Gesundheits-
zustandes des erkrankten Patienten. Dieser trägt
aufgrund der umfassenden Krankenversicherung
nur einen Bruchteil der anfallenden direkten me-
dizinischen Kosten unmittelbar. Dadurch haben
die Leistungserbringer kaum Anreize, bei ihren
Behandlungsentscheiden die Gesundheitsaus-
gaben zu berücksichtigen. Erschwerend kommt
der Kontrahierungszwang dazu. Dieser verlangt
von den Krankenkassen, dass sie für alle erbrach-
ten Leistungen aufkommen müssen, ungeachtet
des Umfangs und der Qualität.
2. Bei den forschenden Pharma- oder Medtech-
unternehmen, den sogenannten «Innovatoren»,
verhält es sich ähnlich. Der versicherte Patient
hat ein Anrecht auf das beste verfügbare Medi-
kament. Somit können sich die Firmen am Markt
besser behaupten, wenn sie neue Behandlungs-
und Therapieformen entwickeln, um ein «Mehr»
an Gesundheit anbieten zu können.
Die Leistungserbringer haben also primär den Ge-
sundheitszustand der Patienten im Auge und ver-
suchen, durch geeignete Behandlungen und Inno-
vationen die indirekten und intangiblen Krankheits-
kosten zu reduzieren. Bei den Krankenkassen ist es
genau umgekehrt. Sie haben in erster Linie das Ziel,
die Gesundheitsausgaben zu reduzieren, und unter-
stützen deshalb entsprechende Bestrebungen (z.B.
Erhöhung der Kostenbeteiligung der Patienten, eine
Beschneidung des Leistungskatalogs oder der Spe-
zialitätenliste für Medikamente). Alle übrigen Krank-
heitskosten sind für sie derzeit von untergeordneter
Bedeutung. Im Gegensatz zu der Unfallversicherung
gibt es keine obligatorische Taggeldversicherung, die
zumindest einen Teil der Produktivitätsverluste am
Arbeitsplatz in die Sichtweite der Versicherer rückt.
Trotz der Wechselwirkungen zwischen Gesund-
heitsausgaben und Krankheitskosten ergreift die
Gesundheitspolitik vor allem Massnahmen, um bei
den Gesundheitsausgaben zu sparen. Eine mögliche
Erklärung: Langfristige Effekte auf die Gesamtkos-
ten sind schwieriger zu vermitteln und liegen häufig
ausserhalb des Zeithorizontes, in dem Politiker wie-
dergewählt werden möchten.
Bevölkerung von allen Kostenfaktoren
betroffen
Während bei den bisher genannten Akteuren Partial-
betrachtungen eine zentrale Rolle spielen, ist die Be-
völkerung von allen Kostenfaktoren betroffen. Ent-
weder als Patient oder als Angehörige von Kranken,
sodann als Betroffener von intangiblen Kosten und
schliesslich als Mitglied einer Krankenkasse bzw.
als Steuerzahler. Aus volkswirtschaftlicher Sicht be-
trachtet besteht also ein Interesse, alle Kostenkom-
ponenten gleichermassen im Auge zu haben.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass im
derzeitigen schweizerischen Gesundheitssystem
die Anreize zur Betrachtung der verschiedenen Kos-
tenkomponenten bei den relevanten Akteuren sehr
unterschiedlich gesetzt sind, sodass es schwierig
ist, eine mehrheitsfähige und vor allem nachhaltige
Gesundheitspolitik zu betreiben. Dies gilt insbeson-
dere vor dem Hintergrund, dass chronische Erkran-
kungen nicht zuletzt aufgrund der demografischen
Alterung in den nächsten Jahren weiter zunehmen
werden.
Dadurch wird das Schweizer Gesundheitssystem
laufend vor neue Herausforderungen hinsichtlich der
Finanzierung gestellt, für die es langfristig ausgerich-
tete Lösungsvorschläge braucht. Dabei gilt es, auch
Möglichkeiten zur Effizienzsteigerung im Gesund-
heitssystem zu identifizieren, um den durch medi-
zintechnologischen Fortschritt unweigerlich steigen-
den Gesundheitsausgaben durch einen effizienteren
Ressourceneinsatz entgegenwirken zu können. n
pharma:ch 1/12
ImpressumHerausgeber: Thomas B. Cueni, Roland SchlumpfRedaktion: InterpharmaLayout: Continue AG, BaselFotos: Barbara Jung
Pharma:ch ist der Newsletter von Interpharma, dem Verband der forschenden pharmazeutischen Firmen der Schweiz, Actelion, Merck Serono, Novartis, Roche, Amgen, Bayer, Boehringer Ingelheim, Janssen-Cilag, UCB und Vifor. Diese Plattform will durch differenzierte Information Verständnis für die medizinisch-pharmazeutische Forschung und Entwicklung in der Schweiz schaffen.
Hintergrundinformationen und Stellungnahmen finden Sie unter www.interpharma.ch.
InterpharmaPostfach, 4003 BaselTelefon 061 264 34 00Telefax 061 264 34 [email protected]
Forschungsplatz braucht RevitalisierungDie pharmazeutische Industrie der Schweiz hält weltweit eine Spitzenstellung. Ihr Rohstoff
ist das Wissen – Forschung und Entwicklung an Hochschulen und universitäten. Nur
mit einem Revitalisierungsschub des Forschungsplatzes Schweiz wird das so bleiben.
Forscher und Entwickler der pharmazeutischen In-
dustrie bringen immer wieder neue Medikamente auf
den Markt. Das hat drei wichtige Konsequenzen:
• Die Medikamente heilen Kranke oder helfen, ihr
Leid besser zu ertragen. Die Medikamente stiften
einen individuellen Nutzen für das Individuum, der
sich gesellschaftlich in einer höheren Lebenser-
wartung und mehr beschwerdefreien Lebensjah-
ren niederschlägt.
• Die Gesundheitskosten steigen. Gleichzeitig neh-
men die volkswirtschaftlichen Kosten von Krank-
heit ab. Dabei übersteigen die volkswirtschaftli-
chen Einsparungen die Mehrkosten deutlich, wie
es diese Publikation deutlich darzulegen vermag.
• Die Gesundheitswirtschaft wächst. Je mehr The-
rapiemöglichkeiten es gibt und je differenzierter
diese sind, desto mehr profitiert der in der Schweiz
mittlerweile grösste Wirtschaftszweig.
Eine rundum gute Sache möchte man meinen und
es ist naheliegend, dass der Bund beste Rahmenbe-
dingungen für Forschung und Entwicklung schafft.
Leider hält sich der Enthusiasmus dafür in Grenzen.
Die Schweiz hat zwar viel erreicht. Doch stellen um-
ständliche und langwierige Verfahren das Erreichte
infrage. Dazu gehören bei Medikamenten die Zulas-
sung zum Markt und die Erstattung durch die Kran-
kenversicherer. Mit schlechteren Rahmenbedingun-
gen müssen auch klinische Studien kämpfen. Ihre
Zahl ist seit Jahren rückläufig und die Schweiz ist
daran, einen ihrer besten Trümpfe in der Pharmafor-
schung zu verlieren.
Lamentieren soll hier nicht im Zentrum stehen. Aber
darauf aufmerksam zu machen, wo die forschende
Industrie der Schuh drückt, ist Pflicht. Denn zu viel
hängt von Rahmenbedingungen ab:
• das Wohl der Patientinnen und Patienten
• die internationale Spitzenstellung der schweizeri-
schen Pharmaindustrie
• die bedeutendste Exportbranche der Schweiz
• ein weltweit einzigartiger Cluster von Industrie und
Hochschule
• Arbeitsplätze
Alldem gilt es Sorge zu tragen, um es zu erhalten.
Doch nichts ist auf Dauer garantiert. Alles muss im-
mer wieder neu erarbeitet und neu gestaltet werden.
Das trifft auch auf die Rahmenbedingungen des For-
schungsplatzes Schweiz zu. Er hat einen Revitalisie-
rungsschub nötig.
Thomas Cueni, Generalsekretär Interpharma