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166 Markus PospeschilVKristina Reiss Phasenmodell sich entwickelnder Problemlosestrategien bei raumlich-geometrischem Material 1 Heinrich Besuden zum 75. Geburtstag gewidmet Zusam menfassung Das Raumvorstellungsvermogen gilt in der mathematikdidaktischen Diskussion als wichtige zu fordemde Fahigkeit. Innerhalb dieses Konstrukts sind es vor allem raumliche Beziehungen, die sich bei Kindem schon fruhzeitig entwickeln und entsprechend fordern lassen. Allerdings kann dazu derzeit nicht auf eine padagogisch-psychologisch relevante Einteilung sich entwickelnder Strategien zurUckgegriffen werden. In diesem Artikel stellen wir ein 7+ I-Phasenmodell von sich entwickelnden Problernlosestrategien vor, das durch den Einsatz rliumlich-geometrischen Materials in einer Problernloseurngebung gewonnen wurde. Die empirischen Daten entstammen einer Zufallsstichprobe von 60 SchUlerinnen und Schulern der 7. Realschulklasse. Das Modelllegt nahe, dal3 auf der Grundlage physikalischer Handlungsmodelle selbstorganisierte Lemprozesse zu beobachten sind, in denen sich Phasen zunehmend adaquater Berucksichtigung von Komplexitlit bei den Objektmerkmalen, ihren Relationen und ihrer Dimensionalitlit differenzieren. Abstract Fostering spatial ability is regarded an important issue in the mathematics classroom. This construct includes spatial relationships, which show an early developing and a good promotion possibility. However, there is no psychological and pedagogical categorization of developing strategies to fall back on. This article provides a 7+ I-phase model of developing problem solving strategies, which is gained from a geometrical problem solving situation. The empirical data were taken from a random sample of 60 seventh graders. The model indicates that, on the basis of physical action models, self-organized learning processes can be observed, which differentiated phases of growing adaquacy of consideration about the complexity of object features, their relations und their dimensionality. 1 Einleitung /./ Zum Konzept von Problemlosestrategien bei der Raumvorstellung Die Forderung des Raumvorstellungsvermogens ist eines der wesentlichen Ziele des Geometrieunterrichts. Sie beinhaltet aus mathematikdidaktischer Perspektive Teilaspekte wie die Fahigkeit, sich real oder mental in einer Umgebung zu orientieren, die Fahigkeit, ein mentales Bild einer Situation zu erzeugen und die Fahigkeit, mit Vorstellungsinhalten mental zu operieren (Besuden, 1979). Vielfach konzentrieren sich Forschungsarbeiten zur Raumvorstellung auf Aufgabenstellungen, die Drehungen, Verschiebungen oder Rotationen von Objekten bzw. Objektteilen beinhalten. Auch die meisten Tests zum raumlichen Vorstellungsverrnogen basieren auf solchen Items (z. B. I Die Arbeit entstand im Rahmen des DFG-Projekts RE124711-1 .Problemlosestrategien bei raumlich-geometrischen Aufgaben mit konkretem oder computersimuliertem Material". (JMD 20 (1999) H. 2/3, S. 166-185)

Phasenmodell sich entwickelnder Problemlösestrategien bei räumlich-geometrischem Material

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Markus PospeschilVKristina Reiss

Phasenmodell sich entwickelnder Problemlosestrategien beiraumlich-geometrischem Material1

Heinrich Besuden zum 75. Geburtstag gewidmet

Zusam menfassung

Das Raumvorstellungsvermogen gilt in der mathematikdidaktischen Diskussion als wichtige zufordemde Fahigkeit. Innerhalb dieses Konstrukts sind es vor allem raumliche Beziehungen, diesich bei Kindem schon fruhzeitig entwickeln und entsprechend fordern lassen. Allerdings kanndazu derzeit nicht auf eine padagogisch-psychologisch relevante Einteilung sich entwickelnderStrategien zurUckgegriffen werden. In diesem Artikel stellen wir ein 7+ I-Phasenmodell von sichentwickelnden Problernlosestrategien vor, das durch den Einsatz rliumlich-geometrischenMaterials in einer Problernloseurngebung gewonnen wurde. Die empirischen Daten entstammeneiner Zufallsstichprobe von 60 SchUlerinnen und Schulern der 7. Realschulklasse. Das Modelllegtnahe, dal3 auf der Grundlage physikalischer Handlungsmodelle selbstorganisierte Lemprozesse zubeobachten sind, in denen sich Phasen zunehmend adaquater Berucksichtigung von Komplexitlitbei den Objektmerkmalen, ihren Relationen und ihrer Dimensionalitlit differenzieren.

Abstract

Fostering spatial ability is regarded an important issue in the mathematics classroom. Thisconstruct includes spatial relationships, which show an early developing and a good promotionpossibility. However, there is no psychological and pedagogical categorization of developingstrategies to fall back on. This article provides a 7+ I-phase model of developing problem solvingstrategies, which is gained from a geometrical problem solving situation. The empirical data weretaken from a random sample of 60 seventh graders. The model indicates that, on the basis ofphysical action models, self-organized learning processes can be observed, which differentiatedphases of growing adaquacy of consideration about the complexity of object features, theirrelations und their dimensionality.

1 Einleitung

/./ Zum Konzept von Problemlosestrategien bei der Raumvorstellung

Die Forderung des Raumvorstellungsvermogens ist eines der wesentlichen Ziele desGeometrieunterrichts. Sie beinhaltet aus mathematikdidaktischer Perspektive Teilaspektewie die Fahigkeit, sich real oder mental in einer Umgebung zu orientieren, die Fahigkeit,ein mentales Bild einer Situation zu erzeugen und die Fahigkeit, mitVorstellungsinhalten mental zu operieren (Besuden, 1979). Vielfach konzentrieren sichForschungsarbeiten zur Raumvorstellung auf Aufgabenstellungen, die Drehungen,Verschiebungen oder Rotationen von Objekten bzw. Objektteilen beinhalten. Auch diemeisten Tests zum raumlichen Vorstellungsverrnogen basieren auf solchen Items (z. B.

I Die Arbeit entstand im Rahmen des DFG-Projekts RE124711-1 .Problemlosestrategien beiraumlich-geometrischen Aufgaben mit konkretem oder computersimuliertem Material".

(JMD 20 (1999) H. 2/3, S. 166-185)

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1ST von Amthauer, 1953; Schlauchfiguren von Stumpf und Fay, 1983). Wenigerbeachtet wird hingegen die Untersuchung der Fahigkeit, raumliche Eigenschaften undBeziehungen zwischen statischen Objekten zu erkennen (wie z.B. die Lage,Orientierung und Anordnung in der Tiefe) und aus einer zweidimensionalenFlachenansicht in eine dreidimensionale raumliche Ansicht zu ubersetzen (Thurstone,1950).

Beide Bereiche unterscheiden sich in verschiedenen Aspekten voneinander. So wird imGegensatz zur riiumlichen Visualisierung davon ausgegangen, daB Denkvorgange zuriiumlichen Beziehungen nicht die Vorstellung der Bewegung einer Konfigurationbeinhaiten, sondem eher statisch die raumlichen Beziehungen zwischen selbstunbewegten Objekten erfassen (Pawlik, 1976). AIs wesentlich fllr den Umgang mitgeometrischen Formen wird dabei die Beachtung der Perspektive, das Erkennen vonFarbe und Formeigenschaften und das Ubertragen dieser Eigenschaften in raumlicheKonfigurationen erachtet. Allerdings ist zur Losung derartiger Aufgaben eine mentaleBewegung der Konfigurationen nicht prinzipiell auszuschlieBen, so daB auch hier einedynamischer Sichtweise moglich ist; die Objekte selbst bleiben aber statisch und werdennur als Ganzes bewegt. Eine empirische Abgrenzung des Faktors raumliche Beziehungvon raumlicher Visualisierung ist allerdings bisher nicht eindeutig gelungen und daherallenfalls psychologisch plausibel (Linn & Peterson, 1985). Dariiber hinaus steht eineverbindliche Taxonomie fur den gesamten Leistungsbereich der Raumvorstellung nochaus. Eine Besonderheit bei der Bearbeitung raumlicher Konfigurationen (z. B. beiWurfelaufgaben) ist allerdings, daB die Person ein derartiges Problem von auBenbetrachtet, ohne sich dabei raumlich orientieren, d.h. real oder mental im Raumzurechtfinden zu mussen, FUrdie Problembearbeitung ist entsprechend kein Wechsel derBetrachtungsperspektive notwendig.

Typischerweise wird in der Literatur unter dem Konstrukt .Raumvorstellung'' beiWUrfelaufgaben eine Flachenstrategie, eine Relationsstrategie (zusammengefaBt alsanalytische Strategie) und eine Raumstrategie (holistische Strategie) unterschieden(Koller, Rost & Koller, 1994; Putz-Osterloh, 1977; Putz-Osterloh & Luer, 1979). DieseDifferenzierung entstammt entsprechenden Typen von Aufgaben, welche die Extraktioneines Losungswurfels aus vorgegebenen Mustem unterschiedlicher Lage erfordem (vgI.Abbildung I). Die Strategien unterscheiden sich dadurch, daB bei einer Flachen­strategie der Stimulus (Flachenwurfel) nur durch Vergleich der einzelnen Flachen inWurfel b wiedererkannt werden kann (vgI. Abb. I). Bei einer Relationsstrategie wirddie spezifische Anordnung und Positionierung der sichtbaren Wurfelflachen paarweisezueinander in Beziehung gesetzt. Man erkennt so den Relationswurfel in Wurfel dwieder und nicht im Distraktor-Wurfel a, den man durch Verwendung einer Flachen­strategie als Losung identifizieren wiirde. Die Wahrscheinlichkeit, derartige Muster­Relationen aufzufinden, ist dabei von der Gestaitung der Muster und der DeutIichkeitihrer Beziehungen abhangig. Die Raumstrategie ist schlieBlich eine Vorgehensweise,bei der die Testaufgaben durch das ein- bzw. mehrmalige mentale Rotieren undJoderKippen urn 90° entweder des Vorgabewurfels oder des jeweiligen Losungswurfelsbearbeitet werden. Dabei kann die AquivalenzprUfung durch die mentale Rotation desWnrfels oder durch eine mentale Korperbewegung urn den Wurfel herum vorgenommenwerden. Man erkennt in Abb. I, daB Wtlrfel a und der Raumwurfel identisch sind. MitHilfe der anderen Strategien konnte die Losung nicht identifiziert werden.

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Clements (1983) postuliert, daB die Relationsstrategie besonders hohe Anteile logischenDenkens besitzt, da eine mangelnde raumlich-visuelle Qualifikation durch eine erhohteFahigkeit an schluBfolgemdem Denken kompensiert werden muB. Grundsatzlich istallerdings davon auszugehen, daB jede Bearbeitung einer Raumvorstellungsaufgabemehr oder weniger groBe Anteile analytischer Problemlosefahigkeiten impliziert. Einesolche Annahme grundet sich auf der Beobachtung, daB Testpersonen alle ihnen zurVerfligung stehenden Ressourcen nutzen, urn ein Problem zu losen (Lohman, 1979).

@tJ)~~[jWurfel a Wurfel b WOrfel c WOrfel d WOrfel e

g @ @Flachenwurfel Relationswiirfel Raumwiirfel

Abb. I: Beispiele fur verschiedene Strategien aus dem IST-Untertest "WOrfelaufgaben"(Amthauer, 1953)

1.2 Zum Konzept von Lernphasen bei sich entwickelnden Problemlosestrategien

Unsere Untersuchung fokussiert weniger die Suche nach den prototypischen (und damitidealisierten) Flachen-, Relations- oder Raumstrategien bei raumlich-geometrlschenAufgaben, sondem eher die Beobachtung von Phasen und Phasenubergangen sichentwickelnder (gelemter) Strategien. Dabei ist davon auszugehen, daB derartigeStrategien inter- und intraindividuellen Schwankungen unterliegen, die durch subjektiveAlltagserfahrungen und systematische Ubungssituationen bedingt sind. Daruber hinausscheint der aktuelle Problemloseprozels nicht einfach durch das stringente Befolgeneiner spezifischen Strategie beschreibbar zu sein, sondem eher durch wechselnde undmit indifferenten Ubergangen versehene Phasen von Strategiewechseln, die Stadiensicherer und unsicherer Strategien markieren. Strategieveranderungen sind dabei primaran subjektive Erfahrungen wahrend einer Problemlosesituation und an Veranderungendes Schwierigkeitsgrades bei einem Losungsversuch gekoppelt. Somit ist prinzipiellaufgrund unterschiedlicher Losungsstrategien von einer starken wechselseitigenAbhangigkeit aller Komponenten des raumlichen Vorstellungsvermogens auszugehen.Besonders anspruchsvolle Probleme fllhren dabei moglicherweise (unter Ausnutzungweiterer Kapazitaten) zum Einsatz von Erganzungs- und Ausweichstrategien, welche dieAnforderungen an das raumlich-visuelle Potential vermindem sollen. So ist gerade beiProbiemstellungen zu raumlichen Beziehungen die Anwendung analytischer Strategiendurch Einsatz schluBfolgemden Denkens nicht auszuschlieBen. Allerdings setzen auch

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Problemlosestrateqlen bei raumlich-geometrischem Material 169

logische Strategien voraus, daB fur kombinatorische Losungen notwendige Begriffe mitraumlichen Vorstellungen verknilpft sind.

Wenn in diesem Zusammenhang von Problemlosen gesprochen wird, so soll darunter(abweichend von der einfachen Gleichsetzung mit einem SuchprozeB) das zielgerichteteVerhalten eines kognitiven Systems verstanden werden, einen Ausgangszustand(Problem) unter Nutzung von im wesentlichen prozeduralem Wissen in einen Ziel­zustand (Losung) zu uberfuhren. Dazu muB das kognitive System den gegebenenZustandsraum so anpassen (d.h. verandern oder aufbauen), daB eine minimale(akzeptable) Abweichung vom gewunschten Zielzustand erreicht wird. Fur diesenAdaptationsprozeB sind wechselnde Anteile von (vorbereitenden) Planungen imArbeitsgedachtnis erforderlich, in die selektiv bestimmte Vorinformationen aus demLangzeitgedachtnis eingehen; vielfach wird in diesem Zusammenhang von einer(Problemlose-)Strategie gesprochen. Der Erfolg der Strategie hangt im wesentlichendavon ab, ob die kognitive Reprasentation eines Problems (in Form eines mentalenModells) die fur die Problemlosung entscheidenden Informationen (prozeduralenWissenselemente) enthalt. Die Effizienz der Strategie(n) bemiBt sich daran, oblosungsdienliche Strukturen und funktionale Zusammenhange erkannt (dies setzt dieVerfugbarkeit geeigneter Kategorien voraus) und in eine losbare Form uberfuhrt werdenkonnen (dies setzt geeignete Handlungsanweisungen voraus).

Entsprechend halten wir die Gleichsetzung eines Problemloseprozesses mit einemSuchprozeB fur inadaquat, urn dessen Entwicklung zu beschreiben. Eine psychologischplausible Problemlosung muB vielmehr auf problemspezifisches, vorwiegendprozedurales Wissen rekurrieren, das den Suchraum fur die jeweilige problemlosendePerson auf ein vertretbares MaB reduziert. Dieser durch Aufmerksamkeit gesteuerteProzeB hat allerdings zur Folge, daB die Komplexitat des Ausgangsproblems nurunvollstandig erfaBt wird. MaBgeblich fur die Losbarkeit eines Problems ist es, denProblemraum nach bedeutungshaltigen Kriterien zu strukturieren und zu organisieren(vgl. Enzinger, Puppe & Strube 1994). Hieraus ergeben sich Konsequenzen fur das Ziel,da durch den eingegrenzten Problemraum eine Losung nicht garantiert ist; dies ist aber,wie wir versuchen zu zeigen, kennzeichnend fur einen LemprozeB. Es geht unsallerdings nicht darum, Suchprozesse prinzipiell auszuschlieBen, sondem auskognitionspsychologischer Sicht auf die kapazitatsbedingten Limitationen des Arbeits­gedachtnisses und die langsame Uberfuhrung von Information in das Langzeitgedachtniszu verweisen, die eine extensive Suche unmoglich machen (Baddeley, 1990).

1.3 Entwicklungsaspekte und Trainierbarkeit von Raumvorstellungen

Bei der Genese von Problemlosestrategien muB grundlegend auf die Frage eingegangenwerden, inwieweit sich die Anwendung spezifischer Strategien (gegenuber"unveranderlichen" Personeneigenschaften) uberhaupt entwickeln bzw. trainieren laBt.Ftir die Klarung relevant sind hier spezifische Nachweise von Entwicklungsgrofsen undLemeffekten.

Geschatzte Kurven fur die Entwicklung liefert bereits Thurstone (vgl. Bloom, 1971):Diese legen nahe, daB, gemessen an der Leistung von Erwachsenen, im 9. Lebensjahretwa 50% und im Alter von 14 Jahren etwa 80% der Raumvorstellungsfahigkeit erreichtsind. Besonders steil entwickelt sich dieser Verlauf im Alter von 7 bis 14 Jahren, so daB

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eine Forderung des raurnlichen Vorstellungsvermogens vom 2. bis 9. Schuljahrbesonders sinnvoll erscheint(vgl. z.B. Bauersfeld, Radatz, Rickmeyer und Schumacher1973). Auch fur den Nachweis von Trainingseffekten bietet eine Stichprobe aus dieserAltersspanne damit gute Voraussetzungen.

Raurnliches Vorstellungsvermogen gilt inzwischen als trainierbar (Maier, 1994; Reiss &Albrecht, 1994), auch wenn davon auszugehen ist, daf die Art der verwendeten Modellegrundlegend auf die Ergebnisse einwirkt. Viele Problemkonfigurationen basieren aufrein visuellen Entscheidungsmodellen mit kurzen Einzelreaktionen (vgl. 1ST bzw.IST-70 Untertest "WUrfelaufgaben" von Amthauer, 1953; 3DW von Gittler, 1990).Physikalische Handlungsmodelle hingegen, die beim Training auf handlungs­orientierten Aktivitaten mit Modellen und Medien basieren, zeigen generell starkereTrainingseffekte. Vor allem der Aspekt .raumliche Beziehungen" scheint hierfurpradestiniert zu sein (Maier, 1994). Gerade geometrische Korpermodelle belegen, dafeine Vielzahl aktiver Handlungen moglich sind, wie z.B. das Zusammensetzen einesKorpers aus Einzelwurfeln oder Prismen, die wir fur die vorliegende Untersuchungverwendet haben (vgl. Ben-Chain, Lappan & Houang, 1989).

Bezilglich moglicher Entwicklungsstadien von Kindem beim Umgang mit raumlicherInformation gibt es eine gewisse Evidenz fur die Annahme, daf verschiedene Ansichtengeometrischer Objekte (z. B. eines Wurfels) in einer fruhen Entwicklungsphasesequentiell kodiert werden. In Anlehnung an Wollring (1995) ist damit gemeint, daf dieAnsichten eines raurnlichen Gegenstands aus unterschiedlichen Perspektiven in einemebenen Bild nebeneinander zusarnmengefugt werden. Die sequentielle Tiefen­kodierung verschiedener Ansichten scheint dabei auf ein Entwicklungsprinziphinzudeuten, daf neben der Wahmehmung von Tiefe moglicherweise auch auf andereMerkmale einer Problemkonstellation ubertragbar ist, die zunachst unabhangigvoneinander ("eindimensional") betrachtet werden. In der weiteren Entwicklung wirddie sequentielle Kodierung von einem ersten Wechsel der Blickposition abgelost, wobeiAspekte der simultanen Sichtbarkeit zunehmende Berucksichtigung finden undangemessen abgebildet werden (Wollring, 1995). Auch hier sind Erweiterungen auf dieparallele Berucksichtigung von Merkmalen zu vermuten. Eine Besonderheit dieserEntwicklung ist, daB hier weder eine unmittelbare Altersabhangigkeit noch einaltersbedingter Entwicklungsbeginn nachzuweisen ist, wie eine Untersuchung vonWoodrow (1991) belegt.

1.4 Elaboration von Problemlosestrategien

Elaborierte Strategien (bei der Raumvorstellung) erscheinen nur dann sinnvoll, wenn siefur das zu bearbeitende Problem angemessen sind. Mit anderen Worten: Warum eineRaumstrategie verwenden, wenn sich das Problem auch mit einer effizientenFlachenstrategie losen 11113t? Diese grundlegende Tendenz, Aufgaben mit anspruchs­vollen Voraussetzungen an die Raumvorstellung, wenn moglich, durch einfachereMethoden zu losen (z. B. indem dreidimensionale in zweidimensionale Problemeuberfuhrt werden), ist Ausdruck des Parsimonieprinzips. Gerade die Expertiseforschunglegt nahe, daB echtes Expertentum in der angemessenen Wahl einer Strategie besteht, diemit moglichst geringem kognitiven Aufwand zum Ziel fuhrt (Hacker, 1992). Dabei solinicht verschwiegen werden, daB es natilrlich verschiedene Strategien fur eine

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Problernlosestrateqlen bei raurnlich-qeometrischem Material 171

erfolgreichc Losung gibt, daf diese aber in ihrer Okonomie und Effizienz differierenkonnen.

In forschungsmethodischer Hinsicht schwierig erscheint in Lemphasen die Trennungzwischen holistischen ("Ganzmethode") und analytischen ("Teilmethode") Strategien zusein, bei der im ersten Fall das Objekt als Ganzes betrachtet und in seinen Merkmalenparallel beriicksichtigt wird, wahrend im zweiten Fall das Objekt zerlegt und nur ineinem Teil beachtet wird (Barrat, 1953). Besonders anspruchsvolle Probleme konnen zurPraferenz von Teilmethoden gegentiber Ganzmethoden fuhren. Von Interesse ist inunserem Forschungszusammenhang aber, ob sich zwischen diesen prinzipiellenStrategieunterscheidungen Phasenubergange finden lassen, welche die eine in die andereStrategie uberfuhren, Bei der Entwicklung einer Strategie wird davon ausgegangen, daBsich diese aus (anfangs) unverbundenem Teilwissen zusammensetzt und in derErprobung zu einer prozeduralen Wissensstruktur manifestiert. Die Frage ist hier alsoweniger, wie sich Strategien unterscheiden, sondem wie sie entstehen und sichetablieren. 1stdabei eine feinstufige Extraktion von Stufenubergangen moglich, so stelltdiese in didaktischer Hinsicht eine Hilfe dar, Lem- und Entwicklungsprozesse auf derGrundlage eines empfindlichen "MeBinstrumentes" einschatzen, beurteilen und fordernzu konnen.

Typisch fur die Elaboration von Strategien scheint zu sein, wie sicher ihre Anwendungvon der problemlosenden Person vorgenommen wird. Ohne damit bereits verschiedeneStrategien auf ihre Effizienz einschatzen zu wollen, scheint dies ein wesentlichesqualitatives Trennkriterium zu sein. Sichere Strategien (eher vergleichbar mit einemAufgabenlosen) implizieren bereits gelemte (Teil-)Losungen fur Probleme; unsichereStrategien konnen sich mit diesen abwechseln und markieren Phasenubergange furTeilprobleme, in denen ein echtes Problem vorliegt und (noch) keine exakte Strategieausgebildet ist. Besonders unsichere Strategien implizieren einen hohen Anteil desProbierens.

1.5 Problemlosestrategien bei geometrischen Aufgaben

Bezieht man die dargestellten Ergebnisse und Oberlegungen auf mathematikdidaktischeInhalte, so wird deutlich, wie wenig tiber Problemlosestrategien und damit Lemprozessebei geometrischen Aufgaben bekannt ist. Dies ist erstaunlich, da der Geometrie einewichtige Rolle im Unterricht zugewiesen wird und die Forderung des raumlichenVorstellungsvermogens in den Curricula als wichtiges Ziel des Mathematikunterrichtsgilt. Daruber hinaus wird immer wieder eine Beziehung zwischen raumlichenFahigkeiten und der Mathematikleistung diskutiert (vgl. z.B. Brown & Wheatley, 1989).Dabei kann eine grobe Einteilung etwa in analytische und holistische Strategien nur einerster Schritt sein. Aus mathematikdidaktischer Perspektive ist Modellen der Vorzug zugeben, die feinschrittige Phasen, Phasenverlaufe und gegebenenfalls Phasenubergangebeschreiben. Ein moglichst prazises und umfassendes Lemermodell kann bei derIdentifizierung und Beschreibung individueller Problemloseprozesse hilfreich sein.

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2 Methodik und Untersuchungsplanung

Ein Ziel der im folgenden beschriebenen Untersuchung ist es, Problemlosestrategien vonSchUlerinnen und Schulem der siebten Klassenstufe bei (insgesamt vier) verschiedenenVarianten eines raumgeometrischen Problems zu identifizieren und zu beschreiben.

2.1 Stichprobe

Die Stichprobe der vorliegenden Untersuchung stellen 60 Schiilerinnen und Schuler dersiebten Klassenstufe aus zehn verschiedenen Realschulen in Schleswig-Holstein (KreisNordfriesland, Kreis Schleswig-Flensburg und Stadt Flensburg) dar. Die Untersuchungwurde im Februar und im Marz 1997 durchgefuhrt. Dabei wurden die SchUlerinnen undSchiller in Einzelinterviews mit den Problemen konfrontiert.

2.2 Untersuchungsmaterial

Die Aufgabenstellung in der Untersuchung besteht darin, selbstandig geometrischeAufgaben zu bearbeiten, die vom Aufgabentyp der raumlichen Geometrie zuzuordnensind. Die konkrete Aufgabe ist, einen zusammengesetzten Wiirfel bzw. wurfelahnlichenKorper, der aus 8 bzw. 27 EinzelwUrfeln und Dreiecksprismen aufgebaut ist, mit Hilfeder vorgegebenen Vorderansicht, Draufsicht und rechten Seitenansicht zu konstruieren.Die Einzelwurfel und Dreiecksprismen besitzen dabei verschieden eingefarbte Flachen.Bei einem Wurfel, der aus 8 TeilwUrfeln zusammengesetzt ist, werden die dreiAnsichten als Flachen mit jeweils 2x2 Quadraten prasentiert. Jedes der vier Quadratekann eine von vier Farben' annehmen (vgl. Abbildung 2a). FUr eine korrekte Losung istes erforderlich, daB die verschiedenen Flachen in ihrer Relation von Farbe, Form undOrientierung richtig zugeordnet werden.

Komplexer (und damit schwieriger) wird die Aufgabe, wenn ein Teil der Einzelwilrfeldurch Dreiecksprismen ersetzt wird. (Die rechteckigen .Schnlttflachen'' der Dreiecks­prismen haben bei diesem Aufgabentyp aile dieselbe Farbe, die sich von den anderenvier verwendeten Farben unterscheidet.) Bei dieser Konfiguration konnen etwa in derDraufsicht zwei Dreiecke sichtbar sein, von denen eines von der unteren Schicht und dasandere von der oberen Schicht des zusammengesetzten Korpers stammt (vgl.Abbildung 3a).

Eine andere Moglichkeit der Komplexitats- und Schwierigkeitssteigerung ergibt sich inder 3x3x3-Anordnung, bei welcher der zusammengesetzte Korper aus 27 Teilenzusammengebaut werden mul3 (vgl. Abbildung 2b und Abbildung 3b). Auch bei diesemvergrofserten Korper konnen wieder Aufgaben mit und ohne Dreiecksprismen eingesetztwerden.

2 Die vier im Original verwendeten Farben wurden fur den SchwarzweiBdruck dieses Beitragsdurch Grautone ersetzt.

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Problemlosestrateqien bei raumlich-qeornetrisohem Material 173

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Abb. 2a: Problemkonstellation des Aufbaus eines 2x2x2-Quaders aus Einzelwiirfeln unterVorgabe der Vorderansicht , der Draufsicht und der rechten Seitenansicht

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M. Pospeschill/K. Reiss

Abb. 3a: Problemkonstellation des Aufbaus eines 2x2x2-Quaders aus Einzelwfufeln undDreiecksprismen unter Vorgabeder Vorderansicht, der Draufsicht und der rechten Seitenansicht

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Probleml6sestrategien bei raumllch-qeornetrlschem Material 175

2.3 Zusammenhang zwischen Problem und.Strategie

Durch das verwendete Untersuchungsmaterial ist es moglich, prinzipiell ahnlicheAufgabenstellungen zu definieren, die aber hinsichtlich verschiedener Aspekteunterscheidbar sind. Hervorzuheben sind dabei besonders ihre• Komplexitat: Konstellationen mit wenigen vollstandigen Einzelobjekten (aus

wenigen EinzelwUrfeln bestehende Konfigurationen) werden zu komplexerenoffenen Konstellationen gesteigert (dreidimensionale Gebilde mit nichtgeschlossener Oberseite bestehend aus hintereinander geschichteten Dreiecks­prismen);

• Dependenz: Objekte mit geringer Abhangigkeit gegenuber anderen Perspektiven(z. B. gleichfarbige WUrfel) werden durch Objekte mit hoherer Abhangigkeit vonanderen Perspektiven (mehrfarbige WUrfel und Dreiecksprismen mit farb­loser/offener Seite) erweitert;

• Transparenz: Objektkonstellationen mit direkter vollstandiger Beobachtbarkeit ihrerElernente werden in geschichtete Objektkonstellationen mit partieller Sichtbarkeittlberfllhrt.

Daruber hinaus differieren die Aufgaben in der Vielfaltigkeit anwendbarer Strategien:Bei Aufgaben, die bereits mit einer Flachenstrategie zu losen sind, mussen beiBeobachtung des Losungsverhaltens der Versuchsperson die verwendete(n) Strategie(n)erschlossen werden, da diese nicht eindeutig aus der Aufgabe hervorgeht (gehen);derartige Aufgaben sind also in diesem Sinne nicht homogen, da ihnen keine eindeutigeVorgehensweise zugeschrieben werden kann (vgl. Aufgabe 1 und Aufgabe 2 inAbbildung 4). Aufgaben hingegen, die (zur Bewaltigung) raumliches Vorstellungs­vermogen erfordem, schlieBen den Einsatz von flachenorientierten Strategien insofemaus, da sich damit nur Teillosungen erzielen lassen; fur eine vollstandige Losunghingegen wird eine raumorientierte Strategie benotigt (vgl. Aufgabe 3 und Aufgabe 4 inAbbildung 4).

Aufgabe 1

Losung

Aufgabe 2

Losung

Vorderansicht

Vorderansicht

Draufsicht

Draufsicht

rechte Seitenansicht

rechte Seitenansicht

Page 11: Phasenmodell sich entwickelnder Problemlösestrategien bei räumlich-geometrischem Material

176

Aufgabe 3

Losung

Aufgabe 4

Losung

Vorderansicht

Vorderansicht

Draufsicht

Draufsicht

M. Pospeschill/K. Reiss

rechte Seitenansicht

rechte Seitenansicht

Abb. 4: Vorgegebene Flachenansichten und Losungen der Aufgaben zum raumlichenVorstellungsvermogen

2.4 Ablauf

Die Einzelinterviews mit den Schtilerinnen und Schiilem dauerten etwa 90 Minuten.Dabei wurden zwei Teile unterschieden, die jeweils die Halfte der Zeit in Anspruchnahmen:

• 1m ersten Teil bearbeiteten die Versuchspersonen selbsttatig die vier beschriebenengeometrischen Aufgaben (Abb. 4). Nach einer kurzen standardisierten mundlichenInstruktion und einer Demonstrationsaufgabe zur Ubung wurden ihnen einzeln dieAufgaben mit aufsteigender Schwierigkeit prasentiert, Die Bearbeitungszeit war aufmaximal 45 Minuten beschrankt, Die Interviewerin bzw. der Interviewer bliebwahrend der Bearbeitung anwesend, beantwortete ggf. Fragen, griff aber beiSchwierigkeiten nicht ein. Die resultierenden Beobachtungsdaten beinhaltenausschlief31ich die Problemloseaktionen (Setzen bzw. Legen, Loschen bzw.Entnehmen oder Ersetzen bzw. Austauschen von Wurfeln) und sprachlicheAuBerungen der Versuchspersonen (zu denen sie explizit aufgefordert werden).

• Im zweiten Teil legten die Versuchspersonen selbstandig eine sogenannte conceptmap (vgl. Reiss & Haussmann, 1990, fur eine Beschreibung der Methode), bei derzur Problemaufgabe gehorende, vorgegebene Begriffe angeordnet und mit verbali­sierten Verbindungen versehen wurden (auf eine Analyse dieses zweiten Teil wird andieser Stelle verzichtet). Auch hierfur standen maximal 45 Minuten zur Verfugung.

2.5 Auswertung

Die ProtokolIierung jeder Problemlosesequenz erfolgte tiber eine Videokamera, die Tonund Bild aufzeichnete. Somit lassen sich verbale Protokolle als auch die Losungs­sequenzen auswerten. Neben der Protokollierung tiber eine Kamera wurden die Datenrechnergesttltzt protokolliert. Zu jedem Zug wurden Zeitpunkt, gesetzter Stein und

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Problemlosestrategien bei raumlich-geometrischem Material 177

Position des Steins erfaBt. Diese Technik diente als Grundlage fur eine effektive,automatisierte Auswertung. Die Protokolle konnen leicht unter verschiedenenGesichtspunkten qualitativ wie quantitativ ausgewertet werden.

3 Ergebnisse der Untersuchung

3.1 Phasenmodell des Lernens

Die gewonnenen Daten zeigen deutliche interindividuelle, aber auch intraindividuelleUnterschiede bei der Losung der Problemaufgaben. Dabei erweist sich die Einteilung ineine Flachenstrategie, eine Relationsstrategie und eine Raumstrategie als zu grob. DieDetailanalyse der Daten zeigt vielmehr, daB ein ganzer oder teilweiser Erfolg bei derLosung von der Berucksichtigung aller relevanten Merkmale einer Problem­konfiguration abhangt. Zur Kennzeichnung dieses Merkmalsraums fuhren wir hierzuden Begriff der Dimensionalitat ein, der aile Merkmale zusammenfaBt. Anhand dieserAnalyse konnen wir prinzipiell verschiedene Zugange zu den Aufgaben identifizieren,die im folgenden zu einem Phasenmodell des Lemens verbunden sind.

Das Modell basiert auf beobachteten konkreten Schulerinnen- und Schulerlosungen derbeschriebenen Aufgaben, die sich jeweils einer der Phasen zuordnen lassen (vgl.Tabelle 3). Die Grundlage ist dabei eine qualitative Analyse der Daten, die auf dieseWeise eine theoretische Einordnung erfahren.

Das vorliegende Phasenmodell des Lemen fokussiert zwei zentrale Aspekte beimErwerb raumlichen Vorstellungsvermogens. Zum einen ist es der Nachweis einesgraduellen Autbaus an Komplexitat bei der Berucksichtigung von Objektmerkmalen,ihren Relationen und ihrer Dimensionen. Zum anderen ist es der Aspekt des graduellenUbergangs bei der Berucksichtigung von einem zu mehreren Merkmalen im Sinnezunehmender Komplexitat, Entsprechend unterscheidet unser Lemmodell auch 7+1Phasen bzw. Phaseniibergiinge beim Erkennen raumlicher Beziehungen vondreidimensionalen Objekten (gegenuber den ublichen drei Strategien):

1. eine Phase der ,,1-Dimensionalitiit", in der Flacheneigenschaften von Objekten nureindimensional betrachtet werden und auch nur in einer Dimension bezuglich derMerkmalsauspragung fur die Rekonstruktion benutzt werden (typischerweise werdennur einfarbige Wurfel gewahlt);

2. eine Phase der ,,1Ya-Dimensionalitiit", in der Flacheneigenschaften eines Einzel­objekts nur eindimensional betrachtet werden, aber erkannt wird, daf eine odermehrere andere Dimensionen existieren, in der ebenfalls Objekte anzuordnen sind(die Bevorzugung einfarbiger Wurfel bleibt erhalten);

3. eine Phase der "l%-Dimensionalitiit", in der Flacheneigenschaften zweidimensionalerkannt werden, Objekte auch als mehrfarbig erkannt werden, aber die zweite Ebenenoch nicht mit der ersten Ebene angemessen verbunden wird (erstrnalige Wahlmehrfarbiger Wurfel);

4. eine Phase der ,,2-Dimensionalitiit", in der Flacheneigenschaften zweidimensionalerkannt und die entsprechenden Objekte auch in heiden Perspektiven adaquatberucksichtigt werden (diese Phase ermoglicht das Losen reiner WUrfelaufgaben);

5. eine Phase der ,,2Ya-Dimensionalitiit", in der weiterhin primar mit zwei Dimensio­nen operiert wird, aber zusatzlich auch erste Informationen von Tiefe wahrgenom-

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men werden, die sich aber noch nicht korrekt einordnen und strukturieren lassen(Prismen werden zwar verwendet, ohne aber deren Besonderheit zu erkennen);

6. eine Phase der ,,2%-Dimensionalitat", in der zwar erkannt wird, daf bestimmteAbbildungen von Dreiecksprismen eine zusatzliche Tiefeninforrnation beinhalten,diese aber noch nicht in die dreidimensionale Perspektive unter Berticksichtigungaller Merkmale korrekt eingeordnet werden konnen (die Verwendung der Prismenbereitet Schwierigkeiten, wenn es urn die neuen Merkmale der Schnittflache geht);

7. eine Phase der ,,3-Dimensionalitat", in der Objekte bezuglich der raumlichenAbhangigkeit ihrer Eigenschaften als dreidimensional erkannt werden (Prismenwerden in ihren Besonderheiten erkannt und korrekt eingesetzt);

8. eine besondere (+ 1) und immer wieder auftretende Phase des Probierens, in derentweder keine eindeutige (sichere) Strategie verfolgt wird, oder die als Ubergangzwischen einer bisher erfolglosen Strategie und einer neuen Strategie benutzt wird.

Die verwendete Etikettierung der einzelnen Lemphasen soli dabei keinerlei Metrik oderskalierbaren Abstand zwischen den Stufen andeuten, sondem lediglich die Existenz"kleinerer" (V4, z. B. bei erweiterter Berticksichtigung des Merkmals .Farbe") und"groBerer" (%, z.B. bei gleichzeitiger Berticksichtigung der Merkmale "Farbe" und.Anordnung") Entwicklungsfortschritte differenzieren.

Da die Phasenunterteilung unseres Lemmodells aus den empirischen Daten einer relativhomogenen Untersuchungsgruppe gewonnen wurde, erscheint ein Alterseffekt alsPradiktor fllr den Entwickungsstand als unzureichend. Vielmehr sind fur diebeobachtbaren Unterschiede Einflusse verantwortlich zu machen, die aus subjektivenErfahrungen und systematischen Lemeffekten resultieren.

Den empirischen Beispielen zu den Phasen 0 bis 0 der folgendenTabelle liegt jeweils die oben dargestellt Aufgabe I zugrunde, derenLosungskorper nebenstehend noch einmal abgebildet ist.

o Typisch fur die Phase der l-Dimen­sionalitiit ist, daft nur die Farb­information eina: Wurfelflache ausge­wertet wird, obwohl die Wurfel mehr­farbig sind. Diese Beschrankung in derAuswertung relevanter Informationenzeigt sich in der ausschliefilichen Wahleinfarbiger Einzelwiirfel und in dersequentiellen Beriicksichtigung einzelnerAnsichten. Ein zufriedenstellendes Er­gebnis bleibt - wie das Beispiel derSchulerin Elisa zeigt - bei dieser Stra­tegie aus.

4.Zug

16.Zug

9.Zug

19.Zug

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Problernlosestrateqien bei raumlich-geometrischem Material 179

Versuchsperson: Edwin (V024)f) In der Phase der I1Jf-Dimensionalitiitwerden die Flacheneigenschaften einesEinzelobjekts zwar immer noch ein­dimensional betrachtet, aber es liegenerste Vorkonzepte fur andere Dimen­sionen vor, in der Objekte eingeordnetwerden konnen. Betroffen von dieserPhase sind die Eckwurfel mit zwei oderdrei Farben. Sie werden in dieser fruhenPhase noch nicht als ein und derselbeWurfel erkannt, sondern als zwei Wurfelunterschiedlicher Farbe. Weiter typischist, daft die Versuchspersonen trotz dieserEinsicht immer noch am Prinzip der ein­'arbieen Wurtel festhalten.

3. Zug

10. Zug

7.Zug

14. Zug

Versuchsperson: Igor (V036)e In der Phase der I "4-Dimensionalitlitwerden erstmalig Flacheneigenschaftenals zweidimensional erkannt. Allerdingsbereitet es noch Schwierigkeiten, diemehrfarbigen Objekte in allen Dimen­sionen adaquat zu berucksichtigen. Diesfiihrt beispielsweise dazu, daft bei einemEckwurfel zwar verschiedene Farbenberucksichtigt werden, diese aber in derFarbanordnung noch nicht mit derVorgabe ubereinstimmen.

4.Zug 8. Zug

10. Zug 15. Zug

Versuchsperson: Frank (V026)

8. Zug

14.Zug

6.Zug

12.Zug

o Die Phase der 2-Dimensionalitiit voll­endet den Prozeft der Berucksichtigungmehrerer Flacheneigenschaften. Ent­sprechend werden aile mehrfarbigenWurfel angemessen aus den Flachen­ansichten erkannt und zugeordnet. DasBeispiel Franks zeigt zunachst einentypischen I-dimensionalen Beginn miteinfarbigen Wurfeln, die aber dannsukzessive durch mehrfarbige Wiirfelausgetauscht werden (sequentielle Ko­dierung). Mit dieser Strategie lassen sichdie Aufgaben lund 2 losen.

Tab. 3a: Beschreibung und Zuordnung empirischer Beispiele zum Phasenmodell des Lemens

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180 M. Pospeschill/K. Reiss

Den empirischen Beispielen zu den Phasen " bis 8 der folgendenTabelle liegt jeweils die Aufgabe 3 zugrunde:

12.Zug

18. Zug

4. Zug

16. Zug

~:::::::::::::::/mt::t:/ttm::::t::::::::::::::::~_fif.Q'iif:·:::::::::~:tt:::::::::::::::::::::tt:t::::::::}~::::t:tttttt:::::.r·::m~m~a.u.:·:·::latt::::::::::::::::::ttm::::"In der Phase der 2~-Dimens;onalitlit Versuchsperson: Georg (V032)

werden erste Versuche unternommen, denAspekt der Tiefe in ein zweidimensionalesAbbild zu integrieren. Wahrend Wiirfel(bekannt aus den vorherigen Problemen)korrekt iibertragen werden, bereiten dieDreiecksprismen Schwierigkeiten, die indieser Problemkonstellation neu aufgenommen werden. Dabei wird die neueFarbe "Grau ,,3 noch nicht als Schnitt­flache akzeptiert, die in der zwei­dimensionalen Ansicht als Flache, in derdreidimensionalen Perspektive aber alsTiefe zu interpretieren ist. Entsprechendhaufig werden Prismen an derselbenPosition ausgetauscht. 1m Ergebniszeigen sich nur partielle Erfolge, da diePrismen primar durch ihre Farbezugeordnet werden.

Versuchsperson: Betti (V091)(i) In der Phase der 23J4-D;mens;onalitlitge/ingt bereits die Entschlusselung derverschiedenen Orientierungsmoglichkei­ten der Prismen und der Tiefeninfor­mation (zzgl. zur Farbinformation). Aller­dings ge/ingt es noch nicht, diezweidimensionale Flachenansicht mentalso in die dreidimensionale Raumansichtzu uberfiihren, daj3 ein Vergleich beiderKonstellationen moglich ist. So wirdbeispielsweise die Anordnung von .Pris­ma aufPrisma/Wurfel /iegend", die in derFlachenansicht als zwei Prismenerscheint, trotz korrekter Problemlosungnoch nicht erkannt. Daraus resultierenAnordnungen, die bspw. gleichfarbig sindoder seitenverkehrt angeordnet werden.

4. Zug

14.Zug

9. Zug

16. Zug

3 1m Original sind die Schnittflachen grau; sic werden im Schwarzweilldruck dieses Beitrags - zurUntcrscheidung der in Grautonen abgebildeten "normalen" Flachen - weif dargestellt.

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Problernlosestrateqien bei raumlich-geometrischem Material 181

!::t::ttttttittt::::::::mt::ti::B..fifiibb··:··::::t:::::::::t::ti:::t:::t:t:::::::t:: ::::::::::::::::::t:!:))!:=:t.if··:]fiila:J...·:···· "::'I::::fit:i::::rWmf) In der elaboriertesten Phase der Versuchsperson: Udo (V074)

3-Dimensionalitlit werden aile Objektebezuglich der raumlichen Abhangigkeitihrer Eigenschaften (Farbe, Form undOrientierung) und ihrer Dreidimen­sionalitat erkannt. So wird die Ansichteines zwei- oder dreifarbigen Quadrats,bestehend aus verschieden angeordneten I 4. Zug 10. ZugPrismen. als Zwei- bzw. Drei-Ebenen­Information erkannt. Entsprechend kanndas Problem korrekt gelost werden.

13. Zug 15. Zug

Q Fur die Phase des Problerens liegenkeine prototypischen Beispiele vor. DiesePhase ist zumeist ein lndiz fur eineunsichere Strategie, oder aber Vorlauferfur den Ubergang (Ablosung) zu einerneuen Strateeie.

Deutlich wird diese Phase nur antypischen Zugen, wie z.B. der haufigeAustausch eines Objektes anderselben Position im zusammen­gesetzten Wurfel.

Tab. 3b: Beschreibung und Zuordnung empirischer Beispiele zum Phasenmodell des Lemens

1m Unterschied zu den Standardaufgaben raumlichen Vorstellungsvermogens (z.B. inUntertests des 1STund IST-70 oder im 3DW) spielt bei den hier untersuchten Problemenein kombinatorisches ("strategisches") Wissen eine zusatzliche Rolle. Die Probleme sindnicht nur mit einer Entscheidung filr die eine oder andere Alternative zu losen, sondernrnussen von der Versuchsperson selbsttatig in Konstruktion gelost werden. Dazu sindzweidimensionale Flacheninformationen in eine dreidimensionale Raumkonfigurationzu uberfuhren, Die Entscheidungen, die dabei zu treffen sind, differenzieren sich dabeivor allem in ihrer wechselseitigen Dependenz (als Unterscheidungsmerkmal furKomplexitat).

Unabhangig von dieser zielfllhrenden Vorgehensweise sollte die Abhangigkeit vonmotivationalen und interessenbezogenen Aspekten bei derartigen Aufgaben niehtunerwahnt bleiben, auch wenn diese unter experimentellen Bedingungen nur schweroperationalisiert werden konnen (und auch hier ausgeklammert bleiben mussen).Dennoch mul3 damit gerechnet werden, daB sie Phasenubergange behindern oderfordern, Strategien blockieren oder freisetzen und u.U. zum Abbruch oder zumbeschleunigten Losen eines gestellten Problems flihren konnen (vgl. Hesse, Spies undLuer, 1983; Krapp, 1992).

3.2 Phasenmodell sequentieller und paralleler Merkmalskodierung

Gekoppelt an die zunehmende Berucksichtigung von Tiefeninformation beim Phasen­modell des Lernens ist ein Entwicklungsmodell der Merkmalskodierung; es zeigt, wiemit der Berucksichtigung zusatzlicher Dimensionalitat der Merkmalsraum wachst und

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182 M. Pospeschill/K. Reiss

wie sieh die anfangs isolierte Beriieksichtigung von Einzelmerkmalen (sequentiell) hinzu einer gleiehzeitigen Berucksichtigung mehrerer Merkmale (parallel) verandert,Entspreehend den zu losenden Aufgaben unterseheidet das Modell folgendeEinzelmerkmale:• Lage bezUglieh der Position im Raum des zusammengesetzten Korpers

(Iinks/vom/unten bis rechts/hinten/oben),• Farbe (gelb, grtln, rot, blau, "grau"),• Anordnung mehrerer Objekte in der Tiefe (neben-, uber- und hintereinander),.• Form (raumliche Merkmale von Warfel, Dreieeksprisma und zusammengesetztem

Wiirfel),• Orientierung eines Einzelobjekts (Orientierung eines Wiirfels oder Dreieeks­

prismas),:::::> und in der Foige dieser fllnf Merkmale ein Weehsel der Perspektive von einem

zwei- in ein dreidimensionales Abbild (Umsetzung von Vorderansieht, Draufsiehtund reehter Seitenansieht in ein raumliches Abbild).

Aueh wenn die hier aufgefllhrten Merkmale nieht voneinander unabhangig sind, sodienen sie dennoeh der Markierung versehiedener Phasen im LemprozeB. Bei einerKombination mit dem Phasenmodell des Lemens ergibt sieh ein integrativesGesamtmodell, das den Wandel an Komplexitat und die Zunahme an parallelerKodierung dokumentiert (vgI. Tabelle 4).

Wie die Tabelle 4 zeigt, werden die Merkmale Lage, Farbe, und Anordnung bereits inden frUhen Lemphasen berucksichtigt, Allerdings bleibt das Merkmal der Orientierungund in der Folge das der Perspektive lange Zeit unberucksichtigt. Zudem zeigen sieh erstab der I%-D-Phase erste Anzeiehen einer parallelen Merkmalskodierung. Diefortgesehrittenen Phasen (ab 2%-0) unterseheiden sieh hingegen prirnar in derEntwieklung der Merkmale Form und Orientierung und kodieren aueh komplexeMerkmalskombinationen.

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::rJ!iit$Jiilk.i lVi Jfff ® ® ® ® ® ©::rmrX(fdJi iiHiili( Seq. Seq. S.lP. Par. Par. Par. Par.

Tab. 4: Zusammenhang zwischen dem Phasenmodell des Lemens und dem Phasenmodell derMerkmalskodierung (Zur Bedeutung der verwendcten Symbolik: ,,®" = Merkmal wird nichtberiicksichtigt; die Strategie ignoricrt dieses Merkmal; ,,@" = Merkmal wird insowcitberiicksichtigt, wie es in dieser Phase moglich ist; die Strategie ist fur das Merkmal ausreiehend;,,©" = Mcrkmal wird in seiner gesamten Komplexitiit beriicksichtigt; die Strategie bcriicksichtigtdasMerkmal zielflihrend).

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Problemlosestrategien bei raumlich-geometrischem Material 183

4 Diskussion

Das Phasenmodell verdeutlicht, daf die Zuschreibung einer Strategie alsPersoneneigenschaft eine unter psychologischer und mathematikdidaktischerPerspektive unbefriedigende Antwort auf die Frage nach der Erlern- bzw.Trainierbarkeit von Raumvorstellungen darstellt. Vielmehr scheinen die Strategie­modelle, die fur Intelligenzstrukturtests wie den 1ST bzw. 3DW typisch sind, aus demvisuellen Entscheidungscharakter zu resultieren, der diesen Verfahren zugrunde liegt. Daunser Modell ein prinzipiell anderes Konzept verfolgt, namlich das konstruktiveHandeln mit Objekten, ist es sehr viel mehr _darauf angelegt, Lernpotentiale unddynamische Veranderungsprozesse zu zeigen.

Mit dem vorliegenden Phasenmodell des Lemens ist nieht beabsichtigt, eine strengeEntwieklungshierarchie vorzulegen, die jede Person von unten naeh oben durchlauft..Einstiegspunkt und Verlauf ergeben sich mit interindividuellen Untersehieden. JedePhase wird, entspreehend der beriieksichtigten Merkmale, als adaquat angesehen, wennsie zur Losung von Teilen oder des gesamten Problems beitragt, Entspreehend zeigenauch unsere Versuchspersonen unterschiedliche Einstiegspunkte und einen unter­schiedlichen Phasenverlauf; demgegeniiber lassen sich aber auch Probanden identi­fizieren, die konsequent wahrend einer Problemlosung an einer Strategie festhalten. DasPhasenmodell bewertet also nieht, sondem versucht moglichst feinkornig, einenEntwicklungsverlauf nachzuzeiehnen und zu charakterisieren.

Diese Feinkornigkeit des Entwicklungsverlaufs richtet sich vor allem auf den Aspekt,wie es Versuchspersonen gelingt, zunehmende Komplexitat bei ihrer Strategie zuberucksichtigen und in ihre Problemlosehandlung zu integrieren. Dafur ist es ent­scheidend, die Anzahl beriicksiehtigter Merkmale zu steigem und so zu verarbeiten, daBsie gemeinsam berUcksichtigt werden. In den Phasen, in denen dies noeh nieht perfektgelingt, sind partielle Losungen typisch.

Die Beobachtungsdaten konnen dahingehend interpretiert werden, daB handlungs­bezogene Problemlosestrategien dynamisehe Prozessedarstellen, in denen sieh Zustandesicheren und unsicheren Vorgehens standig abwechseln. In Abhangigkeit von dengenutzten bzw. nutzbaren mentalen Ressourcen ("kognitive Reprasentation") und derdaraus resultierenden Berucksichtigung von Komplexitat ("prozedurale Wissens­elemente") erzielen Versuchspersonen mehr oder weniger adaquate Losungen. Dabeiwird haufig weniger systematisch gesucht, als vielmehr durch sukzessive Reduktion desSuchraums (z. B. im Erzielen von Teillosungen) eine Annaherung an das Ziel versucht.

Hervorzuheben bleibt, daB diese Untersuchung erste Hinweise auf geeigneteUmgebungen fur selbstorganisiertes Lemen auch ohne eine von aufsen gesteuerteInstruktion gibt, die zu dynamischen Fortentwicklungen bei den Probanden fiihrenkonnen,

Das Phasenmodell legt nahe, daB die zunehmende Fahigkeit zur simultanen Erfassungvon Tiefe in Verbindung mit weiteren definierenden Merkmalen einer raumlichenKonstellation einen weitgehenden Einfluf auf den Losungserfolg bei komplexenAufgabenstellungen der gegebenen Art hat. Dies ist aus mathematikdidaktiseherPerspektive von Interesse, da auf der Grundlage des Modells Lehrsequenzen entwickeltwerden konnen, urn entsprechende Lemprozesse bei Schulerinnen und Schulem zu

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initiieren. Dazu ist allerdings zunachst anhand empirischer Daten zu prufen, ob diemoglichen Losungen mit Hilfe des Modells vollstandig beschrieben werden konnen.Eine Untersuchung der Frage, ob sich Lemprozesse mit Hilfe der gegebenen raumlich­geometrischen Aufgaben ermoglichen lassen, konnte sich dann anschlieBen.

ZusammengefaBt zeigt das von uns vorgestellte Phasenmodell, daB raumlicheProblemloseaufgaben auf unterschiedlichen Niveaus bearbeitet werden konnen, Es wirddeutlich, daB bei einfachen Aufgaben, wie etwa den Wurfelkonstellationen das Raum­vorstellungsvermogen zur Losung nicht voll entwickelt sein muB. Fur dieMathematikdidaktik heiBt das, daB die Wahl der Arbeitsumgebung fur die Forderung desraumlichen Vorstellungsvermogens eine wesentliche Rolle spielt. Insbesondere genugtes nicht, mit einfachen dreidimensionalen Objekten zu arbeiten. Vielmehr muB dieArbeitsumgebung komplexe Merkmalskombinationen ermoglichen, urn ein ausgepragtesWissen uber die Dimensionalitat von dreidimensionalen Objekten zu erlangen.

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Anschriften der Autoren

Markus PospeschillUniversitat des SaarlandesFachrichtung 6.4 - Psychologie (Geb. 1.1)Postfach 151150D-66041 SaarbrUckenE-Mail: [email protected]: http://www.cops.uni-sb.de/psy/pospesch.html

Kristina ReissCarl von Ossietzky Universitat OldenburgFachbereich 6 - MathematikPostfach 2503D-26111 OldenburgE-Mail: [email protected]

Manuskript: 2.2.1998Typoskript: 10.2.1999