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Arbeit zu LV Philosophie in Lateinamerika (Argentinien, Chile, Paraguay) Identität, Vergleich, Wechselwirkung zwischen lateinamerikanischem und europäischem Denken Thema Die Jesuitenreduktionen in Paraguay Verfasser Karl Heinz Gober WS 2011 Wien/Güssing 2011 Matrikelnr.: 1007923 Studienkennzahl: A 033 603 Studienrichtung: BA Geschichte: Bachelor anrechenbar als: Alternative Erweiterungen Betreuer: Prof. Dr. habil., Dr. hc. Heinz Krumpel

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Arbeit zu LV

Philosophie in Lateinamerika (Argentinien, Chile, Paraguay)

Identität, Vergleich, Wechselwirkung zwischen lateinamerikanischem und europäischem Denken

Thema

Die Jesuitenreduktionen in Paraguay

Verfasser

Karl Heinz Gober

WS 2011

Wien/Güssing 2011

Matrikelnr.: 1007923

Studienkennzahl: A 033 603

Studienrichtung: BA Geschichte: Bachelor

anrechenbar als: Alternative Erweiterungen

Betreuer: Prof. Dr. habil., Dr. hc. Heinz Krumpel

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Einleitung

Die seit Beginn des 17. Jahrhunderts errichteten jesuitischen Missionsstationen in der zur

spanischen Einflusssphäre zählenden Provinz Paraguay spalteten die intellektuellen Gemüter

sowohl in Iberoamerika als auch im Europa der Aufklärung und in den nachfolgenden

Epochen. Glühenden Verfechtern des dort praktizierten „Experiments“ standen vehemente

Gegner dieser extraordinären Form von Missionierung halbnomadischer Indianergruppen

gegenüber.

Im Wesentlichen soll in der vorliegenden Studie in das Debattenforum eingestiegen bzw.

der Diskurskern vorgestellt werden. Es handelt sich um jene kontroversen

Auseinandersetzungen auf sozio-okonomischer, religiös-kulturell-philosophischer und freilich

auch imperial-machtpolitischer, sprich: kolonialpolitischer Ebene, die letztendlich – so die

hier vertretene These – die Grundsätze von Freiheit, Eigentum und Gehorsam ansprachen und

damit in einer Atmosphäre von antiklerikalem Vernunftglauben jene Primärprinzipien auf

pragmatische Brauchbarkeit überprüften, die den beiden Aufklärungsjahrhunderten den

Stempel auftrugen.

Wir werden zunächst skizzenhaft – mehr lässt der Umfang der Studie nicht zu – die

Grundzüge jesuitischen Tuns im Rahmen des Kolonisationszeitalters umreißen, einleitend

ihre territoriale Verbreitung, Zielabsichten und „methodischen Missionserfolge“, um danach

den Fokus justieren auf das etwa 150 Jahre andauernde Wirken der Societas in den sog.

Reduktionen Paraguays. Im Anhang der Arbeit soll an Hand ausgewählter zeitgenössischer

Quellen dem am Thema Interessierten die Möglichkeit für einen tieferen Einblick in die

Kontroversendebatte geboten werden.

Wenn in der Arbeit auf zeitgenössische Quellenzitate zugegriffen wird, so sei vorab an das

historiografische Gebot der Kontextualisierung erinnert (wer?, wo?, wann? warum? usw.).

Das will in unserem Fall heißen, dass auch das „Experiment Jesuitenstaat“ von jeder

historischen Epoche durch die jeweils eigene Brille der zeitimmanenten Zustände und

staatsphilosophischen Ideale geprüft, bemustert und – unbekümmert nach mehr oder weniger

divergent lautenden Erkenntnisergebnissen – klassifiziert wurde. Die Situation der Gegenwart

bildet da keine Ausnahme.

Der Verfasser dieser Zeilen legt Wert auf die Feststellung sich nicht anzumaßen, quasi als

Resümee eine moralische Beurteilung über Sinn- respektive Unsinnhaftigkeit des

„utopischen“ Unternehmens abzugeben. Gleichzeitig steht die Skizzierung unter dem

Bemühen, „Objektivität“ (zumindest bei der Quellenauswahl) zu bewahren, also weder für die

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eine noch für die andere Denkposition den Stab zu brechen oder in ihrer Vielfalt welche auch

immer zu verurteilen. Sehr wohl beinhaltet die Untersuchung die Intention, mit der

Darstellung eine Denkanregung zu begründen, die, verstanden als historischer Hintergrund

oder Modell, für gesellschaftliche Gegenwarts- und/oder Zukunftsphantasien bzw. -szenarien

möglicherweise hilfreich sein kann.

Worum es geht

Es wird sich wie ein roter Faden die Frage durch die Arbeit ziehen, ob das Agieren der

Jesuiten bloß eine überschaubare Abweichung des allseits praktizierten Konzepts vom

Kolonisierungszweck ausmacht, das da bei den Spaniern und Portugiesen „Domestizierung“

oder „Umerziehung“ der Kolonialvölker bedeutete. Gehen wir einmal davon aus, dass es sich

bei den jesuitischen Intentionen „im Wesentlichen um ein aus der kolonialen Situation

geborenes und von den konkreten Umständen diktiertes Schutzprogramm für die

ausgebeuteten und der Vernichtung preisgegebenen Indianer handelte“.1 Das Mantra des

Unternehmens in den Pfarrdörfern bestand aus Zivilisierung und Christianisierung; oder die

Hauptzielstellung anders besagt: eine gottgefällige Erziehung der lediglich „Wilden“ – „ad

ecclesiam et vitam (essent) civilem reducti“, wie ein deutscher Jesuit die Wortschöpfung

„Reduktionen“ auslegte.2 Diese nicht zuletzt auf das menschliche Gleichheitsprinzip

abzielende Absichtspaket lässt heute Zweifel hochkommen an der Annahme, dass etwa ein

idealistisches Vorbild wie die „Utopia“ eines Thomas Morus (1516) Pate gestanden hat. Wir

werden eigens darauf zurückkommen.

Die Jesuiten – Mitlieder einer weltweit verbreiteten Gesellschaft

Ein grober Überblick über das weltweite Wirken der Jesuiten kann bei unserer Thematik als

Orientierungshilfe dienen. Als der Stifter des Bettelordens Ignatius von Loyola 1556 starb

waren bereits an die tausend Ordensmitglieder nahezu in allen katholischen Ländern Europas

tätig und in allen überseeischen Ländern der Einflusssphäre Portugals missionarisch im

Einsatz: noch in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Indien, im Kongogebiet, in Japan

und Brasilien. Die Errichtung von Missionsstationen erfolgten wenig später in China und –

auffallend produktiv wirkend – auf den Philippinen. Der Orden konnte zu Beginn des 17.

1 Horst Gründer: Der „Jesuitenstaat“ in Paraguay. „Kirchlicher Kolonialismus“ oder „Entwicklungshilfe unter kolonialen Vorzeichen? In: Franz-Joseph Post; Thomas Küster; Clemens Sorgenfrey (Hg.): Christliche Heilsbotschaft und weltliche Macht. Europa-Übersee Bd. 14 (Münster 2004) 49. [Gründer 2004]

2 Gründer 2004, 49. Mit Zitathinweis auf Maria Fassbinder: Der Jesuitenstaat in Paraguay (Halle 1926) 11, Bezug nehmend auf Adam Schirmbeck: Messis l’araqualensis a patribus S.J. per sexennium collecta (1638-1643), Monachii 1649, 108.

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Jahrhunderts stolz rund 10.000 Mitglieder aufweisen und vor allem in Südamerika die

Expansion seiner Missionsgebiete vorantreiben, vorzüglich in Peru, Mexiko und Paraguay.

Nach der gewaltsamen Ausweisung aus Portugal, Frankreich, Spanien und Neapel und

schließlich der Aufhebung durch Papst Clemens XIV. (1773), der sich dem Druck der

Königshöfe von Paris und Madrid beugte,3 umfasste die Gesellschaft Jesu in ihren

zweiundzwanzig Provinzen über 23.000 Mitglieder, wovon „3276 in den portugiesischen,

spanischen und französischen Kolonien als Missionäre gewirkt (hatten)“.4

Zahlreiche österreichischer Patres und Brüder setzten gravierende Akzente im Zuge der

„großartigen missionarischen und kolonisatorischen Taten“5 der Societas Jesu. Der größte

Strom in die Weltmission speziell aus den habsburgischen Ländern ergoss sich ab Mitte des

17. Jahrhunderts. Eine kleine Statistik hilft die Beteiligung am globalen Ausbreitungserfolg zu

untermauern: In jenem und im 18. Jahrhundert belegten aus den österreichischen

Alpenländern (22%) und aus den böhmischen Landschaften (18%), somit insgesamt staatliche

40 Prozent aller Jesuitenmissionare das Weltmissionsfeld.6 Gustav Otruba bedauerte schon

vor einem halben Jahrhundert, dass „der hervorragende Anteil, den österreichische Patres und

Brüder an den Jesuitenreduktionen in Paraguay genommen haben“, nur wenig in Erinnerung

geblieben ist.7

Die Jesuitenmissionen in Paraguay

Bei den Jesuitenreduktionen in Paraguay handelt es sich um hermetisch von europäischen

Einflüssen abgeschottete missionarische Niederlassungen in den Grenzgebieten des heutigen

Argentinien, Brasilien, Uruguay und Panama. Die erste Gründung geht auf das Jahr 1609

zurück und im selben Jahrhundert wurden dreißig solcher Reduktionsstationen errichtet. Ein

durchaus weltlich orientierter Teil des Konzepts der Jesuiten bestand darin, den indogenen

Bevölkerungsgruppen, in unserem Fall den Guarani-Indianern, durch von allerhöchster

Autorität genehmigte Autonomie und Abgeschlossenheit Schutz zu gewähren vor – und schon

stoßen wir auf eine Konfliktkomponente – Übergriffen spanischer Siedler (Encomanderos)

3 Vgl. P. Hans Hager (Steyler Missionare e.V.): Beantwortung der Leserfrage „Was hat Papst Clemens XIV veranlasst den Jesuitenorden aufzulösen? Quelle: http://www.steyler.at/svd/medien/zeitschriften/stadt_gottes_AT/2006/2006_02/Was-hat-Papst-Clemens-XIV-veranlasst-den-Jesuitenorden-aufzuloesen.php [27.12.2011]

4 Vgl. Gustav Otruba: Österreichische Jesuitenpatres des 17. und 18. Jahrhunderts in der Weltmission und als Erforscher der Erde. In: Österreich in Geschichte und Literatur. Hg. vom Arbeitskreis für Österreichische Geschichte. 5. Jg. H. 1 (Wien 1961) 29f. [Otruba 1961]

5 Otruba 1961, 30.6 Otruba 1961, 30f. Siehe auf den folgenden Seiten von ebenda namentlich genannte verdienstvolle

Persönlichkeiten; die aus den Habsburgerländern kamen und in diversen Regionen der Weltmission wirkten. 7 Otruba 1961, 37.

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und brasilianischer, sprich: portugiesischer Sklavenjäger und der Mamulucos von Säo Paulo.8

Im Jahr 1732 nahmen die in dem Sinn als Zufluchtsorte zu bezeichnenden „Häuser Gottes“

etwa 120.000 bis 140.000 Indianer auf9 und boten ihnen ein Leben ohne wirtschaftliche Nöte.

An die Stelle von nomadischer Jagd und Fischfang traten befestigte Häuser, der 8-Stundentag,

die bisher den „Nichtzivilisierten“ ebenso unbekannte Vorratswirtschaft u. a. m. Elementares

jesuitische Erziehungsziel war die Übernahme des christlichen Glaubens. Die den

„Primitiven“ vorgestellte „gute Ordnung“ nach christlichen Regeln (etwa jene der zehn

Gebote), die die „christliche Freiheit“ gewährleiste – d. i. die Freiheit von Sünde bzw. die

Befreiung der Indianer vor der zB mit Schock beobachteten sexuellen „wilden Freiheit“10 –

sollte die eine Basis für friedvolles kollektivistisches Zusammenleben und Harmonie bilden.

Der von den Reduktionsindianern abverlangte Preis hierfür hieß „Gehorsam“, ein immer

wieder von bellenden Widerspruchsgeistern vorgetragener Kritikpunkt, wie noch ausgeführt

werden soll. Gegenargumentativ interpretierten die angegriffenen Jesuiten persönliche

Freiheit als „Freiheit von Sklaverei im allgemeinen Sinne und speziell die Freiheit von

wirtschaftlicher Not“.11

Hinter den historisch belegbaren außerordentlichen Erfolgen – aus projesuitischer

Perspektive! – steckte alles andere als ein großes Geheimnis. Wird in literarischen Quellen die

militärisch straffe Ordensorganisation betont,12 so haben wohl andere Faktoren kräftigere

Niederschläge für eine vorzeigbare Entwicklung erzeugt. An die Stelle der bislang gängigen

8 Heinz Krumpel: Utopie und Wirklichkeit. In: Aufklärung und Romantik in Lateinamerika (Frankfurt am Main 2004) 87-94, hier 89 [Krumpel 2004]

9 Renate Dürr: Paraguay als Argument. Die europäische Debatte über Freiheit und Gehorsam im 18. Jahrhundert. In: Dagmar Bussiek; Simona Göbel: Das Karussell. Kultur, Politik und Öffentlichkeit: Festschrift für Jens Flemming (Kassel 2009) 70. [Dürr 2009] Quelle:http://books.google.at/books?hl=de&id=RXVHdYQ_wdAC&dq=otruba+jesuiten+paraguay&ots=Al77MBpWRv&q=paraguay#v=snippet&q=paraguay&f=false [17.12.2011] Dazu Otruba 1961, 37: „Um die Mitte des 18. Jahrhunderts betreuten hier [in den Reduktionen der Guaranis, KHG] 303 Jesuiten in 21 [sic!] Niederlassungen, 7 Missionen, 9 Kollegien, 1 Universität, 1 Noviziat, 1 Seminar und 2 Residenzen 113.000 Indianer. 44 der Patres und Brüder waren aus habsburgischen Ländern gebürtig.“ Vgl. auch Krumpel 2004, 89: „Bis zu ihrer Ausweisung aus den spanischen Kolonien 1767 gründeten und leiteten die Padres dreißig Pueblos, welche 150.000 Indios zählten.“

10 Nach Pedro Cortez y Larraz, Erzbischof von Guatemala (1766–1779) richte das Schauspiel der Nacktheit „großen Schaden im Gehirn“ an. Zit. nach Edoardo Hughes Galeano: Der blaue Tiger und unser versprochenes Land. In: Bundesministerium für Unterricht und Kunst (Hg.): Informationen zur politischen Bildung. Serviceheft 1992 (1492: Entdeckung Amerikas?) (Wien 1992) 37–44, hier 40. [Galeano 1992] Galeanos Aufsatz in anderer Übersetzung und gekürzt unter „Der blaue Tiger und unser gelobtes Land“ elektronisch abrufbar unter http://webcache.googleusercontent.com/search?hl=de&gbv=2&rlz=1W1GPEA_de&tbs=lr%3Alang_1de&lr=lang_de&gs_sm=e&gs_upl=2762265l2779469l0l2782375l19l19l0l9l9l0l266l1968l0.5.5l10l0&q=cache:nWyXuAOkVAIJ:http://www.quetzal-leipzig.de/themen/ethnien-und-kulturen/der-blaue-tiger-und-unser-gelobtes-land-19093.html+Pedro+cortes+larraz&ct=clnk [26.12.2011]

11 Vgl. Dürr 2009, 79f.12 Krumpel 2004, 92: „Aus den Reihen der getauften Guarani-Indianer rekrutierten die Jesuiten eine reguläre

Armee. Die Indianer erhielten wöchentlich einmal Unterricht in Fechten, Turnen, Kriegstänzen u. a.“.

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Wander- oder „fliegenden Mission“ mit dem Weihwasserwedel als wichtigstes

Bekehrungsutensil, was nur geringe tief greifende Früchte zeitigte, trat standortfeste, Zeit

ungebundene einfühlsame Pädagogik in aufrechter Zuneigung gegenüber den Betreuten.

Zweiter, vielleicht der am meisten Ausschlag gebende Punkt für den Christianisierungseffekt

war die praktizierte Evangelisierungsmethode der Akkomodation, der nach Otruba

„psychologisch wohldurchdachten Anpassung an Bildungsstand, Beruf und

Lebensgewohnheiten der zu Bekehrenden“.13 Als „Väter“, so in jesuitischer

Selbstbetrachtung, gingen die Patres „ihren“ Indianern, den Guarani, mit gutem Beispiel und

uneigennützig voran. Es spricht Klugheit aus der Praxis, herkömmliche Gewohnheiten (zB

Polygamie, Nacktheit) und auch naturreligiöse Glaubenselemente der Guarani (Götzendienst)

zunächst nicht radikal über Bord geworfen zu haben, sondern durch geduldige erzieherische

Lenkung weitest möglich versenken zu lassen, vorläufig zumindest sie nicht ersatzlos zu

zerstören. Indianische Vorstellungen und Mythen wurden der christlichen Botschaft angepasst

oder auf diese hin umgedeutet. Beispielsweise ersetze das verheißene (christliche) Paradies

die indianische Vorstellung von einer „Welt ohne Böses“.14 Doch sollte man im Kontext

Bekehrung zum „wahren Glauben“ mit überbordenden Lobspenden Zurückhaltung üben, was

auch für das Nachstehende geboten erscheint. Denn: Die trotz ausgeübter Behutsamkeit

gegenüber sog. heidnischen Sitten und Gebräuchen wenig toleranten Jesuiten hielten an der

Dominanz der christlich-europäischen Zivilisation und Geisteswelt, kurz gesagt am

eurozentrischen Weltbild gemäß eigener Studienordnung fest und distanzierten sich strikt von

einem Zugeständnis an kulturpluralistische Perspektiven. Der Verlust der spirituellen Heimat

und somit die „Befreiung“ von der eigenen Identität der Götzen anbetenden und vermeintlich

vom Teufel besessenen und folglich rechtlosen Indianer15 (wenn auch seit 1537 mit

päpstlichem Dekret mit Seele und Vernunft ausgestattet) war nun mal jesuitisches

Kernprogramm, wenn möglicherweise auch mit geringerer Stringenz verfolgt als in anderen

Ordensmissionen. Eine tiefe Langzeitwirkung der Evangelisierung musste von diesem Ansatz

her scheitern.16 Viel ausgemerzt geglaubte indigene Kultursubstanzen lebten nach dem

Abgang der Padres nicht bloß unter der Oberfläche weiter. Die heute in Mittel- und

Südamerika beobachtbaren differenten Formen synkretistischer Religiosität legen davon

Zeugnis ab – nach Dafürhalten des Verfassers dieser Studie gar nicht zum Nachtteil auf der

legitimen Suche nach (verloren gegangener) Identität.

13 Otruba 1961, 30.14 Gründer 2004, 61.15 Galeano 1992, 40. 16 Vgl. Krumpel 1992, 31.

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Zurück zur Akkomodationsstrategie. Wurden etwa weltliche Strafen maßvoll vollzogen

(dazu gehörte die Drohung mit Gottesstrafen als Teil der Erziehungsmethoden), so bestand so

etwas wie zweckmäßige Angemessenheit auch in allen anderen Lebenssituationen,

insbesondere die Wahrung eines gewissen Maßes an Fremdachtung den Schutzbefohlenen

gegenüber – konträr zu zeitüblichen „Wilden“-Diskussionen trotz der erwähnten durch den

Papst erfolgten Anerkennung der Indianer als Menschen.17 Schwer bestreitbar: ein nicht

unwesentliches Element für fruchtbare Christianisierung, dem auch die Gegner des

Wirtschafts- und Sozialprojekts nolens volens bewundernden Respekt zollen mussten. In

einem Reduktionsdorf, in der unter Leitung von ein oder zwei Padres durchschnittlich 4.000

bis 6.000 Guarani lebten,18 war die einheimische Muttersprache grundsätzlich Missions-, also

Kult- und Verkehrssprache, was auch für den Schulunterricht und den Gottesdienst galt. Die

Erlaubnis dazu hatte der Kolonialstaat erteilt. Guarani überlebte (in modernisierter Form) als

Landessprache Paraguays.19 (Das Land ist heute das einzige bilinguale in Lateinamerika. Das

Guarani, neben Spanisch die zweite Amtssprache, wird von 90 Prozent der überwiegend

mestizischen Bevölkerung gesprochen und wird als bleibendes Erbe nicht zuletzt der Jesuiten

betrachtet.20) Otruba schreibt in dem Kontext: „Sie verstanden mit jedermann in seiner

Sprache zu diskutieren, wobei sie genau das geistige Niveau und die Interessen ihres

Gesprächspartners abzuschätzen verstanden.“21

In einer bis zu fünfzig Stämmen zählenden Reduktionsgemeinschaft behielten in der

Verwaltung und Jurisdiktion die Kaziken, also die Führer und Machthaber indigener Gruppen

ihre herausgehobene Stellung, die sich u. a. äußerte in der Befreiung von Tribut- und

Arbeitsleistungen, in der Positionierung als Verwaltungsbeamte und im Privileg,

Nahrungsmittel sowie den Boden zu verteilen. Auch waren sie von öffentlichen Bestrafungen

ausgenommen.22

Nochmals sei daran erinnert: Wenn bisher von „erfolgreicher“ Akkomodation die Rede war,

so geschah das aus der Sicht eines Europäers, der christliches, somit parteiisches Denken

17 Krumpel 2004, 94.18 Krumpel 2004, 89f: „Die an der Zahl ihrer Mitglieder gemessen stärkste Niederlassung war die Mission des

Heiligen Xaver mit einer Bevölkerung von 30.000 Indianern. Insgesamt 26 Missionen gehörten zur Mission der Guaranis.“

19 Gründer 2004, 52. Anmerkung ebenda: Der „Franziskanermissionar Luis de Bolanos (betrieb) seit Mitte der 1570er Jahre als erster eine systematische Mission und (verfasste) eine Guarani-Grammatik.“

20 Vgl. Michael Müller: Da soziale, wirtschaftliche und politische Profil der Jesuitenmissionen. Versuch einer umfassenden Annäherung am Beispiel der Provinzen Chile und Paraguay. In: Johannes Meier: Sendung – Eroberung – Begegnung. Franz Xaver, die Gesellschaft Jesu und die katholische Weltkirche im Zeitalter des Barock (Wiesbaden 2005) 203. [Müller 2005]

21 Otruba 1961, 30.22 Gründer 2004, 55.

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vollzieht (gemeint ist eigentlich der Verfasser dieser Zeilen). Wechseln wir daher die

Perspektive, auf die Seite der Indianer und ihrer Nachkommen. Nach Krumpel

„(war) der höchste kulturelle Wert der Guarani ihre Religion, die in Ritualtänzen, in den Träumen der Schamanen und dadurch inspirierten Worten zum Ausdruck kam. […] 'Der religiöse Absolutheitsanspruch, und die Vorstellung, daß eine Religion Kultstätten und Idole und große logische Lehren haben müsse, die sie [die Missionare KHG] aus dem barocken Europa bei den Guarani nicht sahen, ließ sie die religiöse Kultur der Guarani übersehen. Es gab also keinerlei religiöse Akkomodation, sondern nur die Substitution der Guarani-Religion durch die christliche.’“23

Halten wir zusammenfassend fest: Die unter „glaubenseifrigen ‚Paternalismus’“ aufgestellte

Leitlinie, die da hieß Schaffung einer „societas perfecta“,24 sollte subsumiert sein in der

Hauptzielstellung Gottgefälligkeit gemäß der Ordensregel Omnia ad majorem Dei gloriam.25

Sehen wir uns im Folgenden die irdische Seite der propagierten „perfekten Gesellschaft“

genauer an.

Der „Jesuitenstaat“ in Paraguay – kein „Staat“ wie jeder andere

Noch heute erregen die wissenschaftlichen Leistungen, Künste und praktischen

Handfertigkeiten der Ordensbrüder Erstaunen. Ob als Architekten und/oder Baumeister von

Kirchen und ganzen (Reißbrett-)Städten, ob als Konstrukteure von Observatorien, als

Initiatoren für die Errichtung von Universitäten, Druckereien, Glocken- oder

Kanonengießereien und Schiffswerften, als Ärzte, Völkerkundler, Kartografen, oder, was

unser spezielles Interesse anbelangt, als Gründungsväter und Leiter von Musterkolchosen und

Großmanufakturen in den Urwäldern Südamerikas.

In der Literatur zumindest des letzten halben Jahrhunderts wird der Begriff „Jesuitenstaat“

als ein der Gerüchteküche entnommener Ausdruck betrachtet. Um als „Staat“ zu gelten, fehlte

die für die Definition eines Staatsverbandes nötige vollständige politische Autonomie. Die

Reduktionsbewohner „waren unmittelbare Vasallen der spanischen Krone […] und

verwaltungsrechtlich den Vizekönigen und lokalen Gouverneuren unterstellt“.26 Zwar waren

in den unter Führung der Jesuiten stehenden Pueblos die Überwachungsmöglichkeiten der

lokalen Behörden, d. h. die Kontrolle sowohl durch die Siedler (Gouverneure) und durch die

Kirchen (Bischöfe), sehr limitiert. Was aber bestimmend war und von den Betreibern nie

angefochten wurde, war das Faktum, dass die Verantwortlichkeit der

23 Heinz Krumpel: Philosophie in Lateinamerika. Grundzüge ihrer Entwicklung (Berlin 1992) 130f. [Krumpel 1992] Zitatentnahme aus Hans-Jürgen Prien: Die Geschichte des Christentums in Lateinamerika (Göttingen 1978) 289.

24 Gründer 2004, 59.25 Otruba 1961, 30.26 Gründer 2004, 54.

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Siedlungsgemeinschaften dem König von Spanien gegenüber ein fixer Bestandteil des

Gesamtherrschaftsmodells war. Der höchsten Obrigkeit oblag die Entscheidung, bestimmte

Missionsmethoden zu billigen oder aber sie zu verschmähen. Und diese schützende,

gegenüber der Kirche nahezu allmächtige Krone garantierte die generelle Lebensfähigkeit der

Reduktionssiedlungen, barg aber, wie zu erahnen, gleichzeitig einen Unsicherheitsfaktor in

sich. Im Falle einer grundsätzlichen Änderung der Interessenslage bei Hof zeichnete sich

nämlich ein Rückfall in den Status einer bloßen Illusion und Utopie ab. Ohne königliches

Patronat, wie sich erweisen sollte, „war ihr Untergang vorherbestimmt“.27

Ebenso wenig wie dieses von Gegenspielern, die den absolutistischen Zentralismus

verfochten, die als „Staat im Staate“28 ausgedeutete Gemeinschaftsgefüge ein „heiliges

Experiment“ war, so traf das auch auf die Wirtschaftsverfassung zu,29 die schwer anfechtbar

entsprechend der Zielabsicht „Lebenssicherung“ die Punzierung Erfolgmodell verdient. Sie

war charakterisiert durch Agrarkollektivismus und Gemeinschaftseigentum; Ursache genug,

die europäische Debatte so sehr anzuheizen. Die Konstitution basierte „nämlich auf der

Unterscheidung zwischen dem so genannten ‚Gottesbesitz’, Ländereien in Gemeineigentum,

und dem so genannten ‚Menschenbesitz’, kleineren Gärten oder Äckern in Privateigentum, die

jedoch wirtschaftlich fast ohne Belang waren“.30 Bei Beibehaltung des Tauschhandels spielte

in den Dorfschaften Geld allein für den Außenhandel, da aber eine umso gewichtigere Rolle.

Zu den Handelswaren zählten an vorderster Linie der wertvolle Mate-Tee, riesige Viehherden

und verschiedenste Produkte aus den Handwerksbetrieben, die mancherorts den Charakter

europäischer Manufakturen annahmen. Überschüssige Exportmittel dienten zur Finanzierung

von militärischen Aufrüstungen bzw. bewaffneten Milizheeren31 und/oder gingen in den Bau

von prächtigen Kirchen und nicht zuletzt in die Errichtung und Erhaltung breit angelegter

sozialer Netzwerke (zB Hospitäler, Frauenhäuser).32 Verständlich, wenn schon früh die

Prosperität den Neid der umliegenden Provinzen erweckte, insbesondere der kreolischen

27 Gründer 2004, 54.28 Vgl. Gründer 2004, 62: „Als ‚Staat im Staate’ […] stand der Orden überdies den zentralistischen Tendenzen

des aufgeklärten bürokratischen Staatsabsolutismus entgegen. Der hochabsolutistische Staat, der sich die Religion unterzuordnen gedachte (‚Staatskirchentum’), wollte aber auch in der Wirtschaft keine unkontrollierten Bereiche zulassen. In einer ‚merkantilistischen’ Ausrichtung […] war ihm daher die Handelsautonomie der Jesuiten ein Dorn im Auge. Daher zielte der Staat des 18. Jahrhunderts verstärkt auf die Beseitigung der überkommenen und wirtschaftlichen Selbständigkeit der Reduktionen ab.“ Dazu Müller 2005, 206: „Die indianische Miliz hatte aufgrund königlichen Privilegs das legitime Gewaltmonopol in Paraguay inne, ein in Ibero-Amerika singuläres Phänomen. Der spätere antijesuitische Vorwurf einer jesuitischen Indianerarmee führt sich also selbst ad absurdum, denn es handelte sich um reguläre indigene Milizen in Diensten des Königs.“

29 Vgl. Otruba 1961, 37.30 Dürr 2009, 73. Vgl. auch Gründer 2004, 56f.31 Anmerkung von Krumpel: „Mit ihrer indianischen Armee verteidigten die Padres nicht nur die Reduktionen,

sondern führten auch andere kriegerische Auseinandersetzungen.“ Beispielsweise „(schickten) sie 1653 ihre Truppen nach Asuncion, wo aufständische Indianer die Spanier vertreiben wollten.“ Krumpel 2004, 92.

32 Vgl. Gründer 2004, 59.

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Encomanderos, die spürbare wirtschaftliche Konkurrenz orteten und bei denen der

vermeintliche und weitaus überschätzte Reichtum etwa an Gold- und Silberschätzen33

Zugriffsgelüste wachrief. Folglich entwickelte sich gegen die wirtschaftlich und militärisch

derart erstarkten Gütergemeinschaften auch in diesen Reihen eine Abwehrfront, die auch von

religiösen Orden34 und Kirchenvertretern Unterstützung erhielt.35

Zwischenresümee

Bevor wir uns der Frage nach dem Verhältnis von Utopie und Wirklichkeit zuwenden und

Pro- und Kontrastimmen aus verschiedenen Epochen uns ansehen, lassen wir das bisher

Dargestellte vom profunden Kenner der Kultur- und Geschichtswelt Mittel- und Südamerikas

zusammenfassen. Heinz Krumpel schrieb in seiner „Philosophie in Lateinamerika“:

„Die missionarische Tätigkeit der Jesuiten, gepaart mit ihrem hierarchischen Sinn für Organisation und Disziplin […] konzentrierte sich vor allem auf vier Gesichtspunkte.

Erstens ging es ihnen um die Evangelisierung der Indios durch die Katechese. Eine wichtige Rolle spielte dabei auch ihr permanentes Bemühen um materielle und moralische Unterstützung durch die Kolonialbürokratie. Zweitens ging es ihnen um eine Reformierung des Kultes und der religiösen Gewohnheiten und Bräuche.

Drittens kam es ihnen darauf an, den intellektuellen Fortschritt voranzutreiben, allerdings im Verständnis ihres orthodoxen Weltbildes. Und viertens kam in ihrer Tätigkeit ein fundamentaler Beitrag zur ökonomischen (besonders in der Landwirtschaft und im Gewerbe) und kulturellen Entwicklung zum Ausdruck.“36

Schwankende Urteile im Wandel der Zeit

Man sieht wohl richtig, wenn die ideologische Auseinandersetzung mit den „Jesuitenstaat“ –

die Bezeichnung ist nomen atque omen, also Name, Vorbedeutung und Position zugleich – in

moderner Sprechart ein Propagandakrieg war. Im anfangs ausschließlich aus politischen

Motiven genährten Streit standen sich gemeinsam Staatsmänner und Philosophen, auf der

anderen Seite die Jesuiten selbst gegenüber. Nicht innerlich erbaut die Letzteren über

Befürworter, die etwa ab Mitte der 1850er in Gemeineigentum und Kollektivproduktion den

Kommunismus realisiert sahen, deren Nachfolger wiederum hundert Jahre danach –

33 Gustav Otruba: Der Jesuitenstaat in Paraguay Idee und Wirklichkeit (Wien 1962) 61. [Otruba 1962]34 Krumpel 2004, 92.35 Zu den Denunzianten der Reduktionen zählten neben Händlern und Siedlern auch Vertreter der kirchlichen

Hierarchie. Letztere schmerzte die „Befreiung der Reduktionsindianer von der Abgabe des Kirchenzehenten“, wodurch eine „wichtige finanzielle Einnahme verlustig ging“. Gründer 2004, 54.

36 Krumpel 1992, 129f.

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zumindest akademisch, jedoch nicht ohne politische Relevanz – glaubten deutliche

Identifikationsmerkmale mit kommunistischen Sozialordnungen festmachen zu können. Es

beweist den geflügelten Ausdruck tempora mutantur oder, wie Otruba sich ausdrückt, dass

„das Urteil der Geschichte im Wandel der Zeiten schwankt“.37

Antijesuitische Schmähschriften über die Unternehmungen der Jesuiten in Südamerika

unterrichteten eine breitere europäische überkonfessionelle Öffentlichkeit „seit der Mitte des

18. Jahrhunderts, in denen der Orden des Hochverrats und des Abfalls von der spanischen und

portugiesischen Krone bezichtigt wurde“.38 Vertreter des nach Rationalismus und

Säkularisierung heischenden Zeitalters, unter ihnen große französische Philosophen der

Aufklärer, standen aber jenem religiös-kirchlichen Unternehmen teils zwar ablehnend,

zumindest aber ebenso oft verteidigend und sogar bewundernd gegenüber. Spendete die

französische Enzyklopädie unverhohlenes Lob, so geben wir die Stellungnahme von Charles-

Louis de Montesquieu (1689–1755) wieder, der in den Reduktionen „das Ideal der

platonischen Republik verwirklicht (sah)“.39 Nach seinem Dafürhalten berechtige die

vorgezeigte erfolgreiche Erziehung zur Tugendhaftigkeit, sie als Republiken zu klassifizieren,

stelle doch die Tugend die Basis jeder Republik dar.40 Ein Textauszug aus Montesquieus

„Geist der Gesetze“ lautet:

„Es gereicht der Gesellschaft Jesu zum Ruhme, in jenen Gegenden zuerst die Idee der Religion, gepaart mit derjenigen der Humanität, gezeigt zu haben ... Sie hat die zerstreuten Völkerschaften aus dem Wald gezogen, sie hat ihnen einen gesicherten Lebensunterhalt gegeben, sie hat sie gekleidet. [...] Es wird immer schön sein, die Menschen zu regieren, um Sie glücklich zu machen.“41

Bedauernd gab Montesquieu zu bedenken, die Realisierung dieses Ideals sei nur in

überschaubarem Kreis möglich, „wo man ein ganzes Volk wie eine Familie erziehen kann“.42

Nach Horst Gründer „(schlossen sich) Klassik und Romantik im Zeichen von

Neuhumanismus und Philanthropie […] den rühmenden Aussagen über den ‚Jesuitenstaat’

an“.43 Der deutsche Philosoph Johann Gottfried Herder (1744 –1803) stieß in ähnliches Horn

wie Montesquieu. Er „feierte in seiner ‚Kalligone’ den Jesuitenstaat als ein Werk größter

Humanität“,44 attestierte den Jesuiten anständige Behandlung der Eingeborenen, pries ihre

37 Otruba 196, 78.38 Gründer 2004, 47.39 Krumpel 2004, 38 u. 87.40 Vgl. Dürr 2009, 77.41 Montesquieu, Esprit des lois (Geist der Gesetze), 4. Buch, 6. Kapitel. Hier zit. n. Krumpel 2004, 87. Vgl. auch

(in anderer Übersetzung) bei Dürr 2009, 74 Anm. 18. Vgl. ebenso Otruba 1962, 70.42 Zit. n. Otruba 1962, 70.43 Gründer 2004, 48.44 Otruba 1962, 72.

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ruhmwürdigen Leistungen, meinte freilich auch, dass bei der Missionierung „der Sprung (vom

Stande der Einfalt) zu groß war zu einer Jesuitenschule“.45

Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831), bedeutendster Vertreter des Deutschen

Idealismus, kritisierte „zwar den unfreien Zustand der Reduktionsindianer“ (s. o. das

Gehorsamsgebot), anerkannte aber wohlwollend, dass die jesuitischen Erfolge Bedürfnisse

weckten, „welche die Triebfeder jeder Entwicklung sind“.46

Ebenfalls von der Phantasie über die Guarani-Siedlungen ergriffen ritt hingegen Voltaire

(1694–1778) Attacken gegen das jesuitische Projekt in Paraguay. Wie andere sah er „die

Barbaren nicht bei den Indianern, dafür aber bei den Jesuiten“,47 die zwar die Indianer

arbeitsam gemacht hätten, sie jedoch wie Sklaven hielten und folglich „an der allen Menschen

möglichen Vervollkommnung ihrer Fähigkeiten hinderten“.48 Diese Position Voltaires war ein

deutlicher Angriff gegen die oben angeführten Parameter jesuitisch interpretierter Freiheit.

Weil die Jesuiten unter Ausnutzung der Religion die Indianer den Untertanenstatus

aufzwingen würden, sie daher der Freiheit berauben [sic!], hätten sie sich zu absoluten

Herrschern und Königen aufgeschwungen.49 Dünger genug für die unterschwellig kursierende

Verschwörungstheorie, die die Könige und den Papst nicht unberührt lassen konnte.

Man darf davon ausgehen, dass der Franzose Voltaire sich leiten ließ vom Geist des wohl

vehementesten Hetzers gegen die Jesuiten, Marquês de Pombal (1699–1782), seines Zeichens

einflussreichster portugiesischer Staatsmann des 18. Jahrhunderts und als Antiklerikalist

Befürworter des aufgeklärten Absolutismus. Seine Pamphlete, insbesondere die „Kurze

Nachricht von der Republik der Jesuiten“ (1757), beeinflussten in den beiden nachfolgenden

Jahrhunderten die Kritikrichtung der antijesuitischen Tendenzen. Nach dem spanisch-

portugiesischen Traktatkrieg 1751–56 gegen sieben Indianerreduktionen (die Spanier

überließen sie den Portugiesen; 30.000 Indianer wurden deportiert) schildert der

Staatsminister die Jesuitenvertreibung aus den bereits genannten europäischen Staaten und die

im Jahr 1768 erfolgte Verbannung aus Paraguay selbst als „überfällige Reaktion der

Königreiche auf die […] antimonarchistische Herrschaftsanmaßung der Ordensbrüder“.50

Thomas Lange schreibt über Pombals Ansichten: „Die Jesuiten führten nach Pombal ein

45 Zit. n. Krumpel 2004, 88f.46 Otruba 1962, 73.47 Krumpel 1992, 87.48 Voltaire, Essai sur les moeurs et l'esprit des nations, Bd. 2, Paris 1963, S. 387ff. Hier zit. n. Thomas Lange:

Soutanenkaserne oder heiliges Experiment? Die Jesuiten-Reduktionen in Paraguay im europäischen Urteil. In: Historia interculturalis. Thema: Die Alte und die Neue Welt Weltliteratur(en)/Lateinamerika Zuerst in: Karl Heinz Kohl (Hrsg.): Mythen der Neuen Welt. Zur Entdeckungsgeschichte Lateinamerikas. Ausstellungskatalog der Horizonte ’82 (Berlin 1982) 210-223. [Lange 1982] Hier abgerufen aus:http://www.historia-interculturalis.de/historia_interculturalis/Weltliteratur01.htm [15.12.2011]

49 Vgl. Dürr 2009, 81.50 Dürr 2009, 76.

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drakonisch strenges Regiment über die Indianer, die sich für das Wohlleben der Patres

abschufteten und nur durch jesuitische Gräuelmärchen über die Weißen zusammengehalten

würden.“51 Der protestantische Zeitgenosse Christian G. Murr deutet Pombals Schriftwerk als

einen „ungeheuren Haufen von Fabeln und Verleumdungen“, und der englische Minister R.

Wall verurteilte besagtes Pamphlet 1765 als „Gewebe von Lug und Trug“.52

[Textauszüge aus Pombals „Kurze Nachricht“ und als Gegenstimme eine Aufzeichnung über den Tagesablauf in einer Reduktion, verfasst vom Tiroler P. Anton Sepp von Reinegg, der 1661 von Europa nach Paraguay reiste, großes Verdienst erwarb bei der „Verbreitung der Baumwollkulturen in den Guarani-Reduktionen“53 und seine Beobachtungen vor Ort niederschrieb, s. im ANHANG dieser Arbeit.]

Freilich, so muss angemerkt werden, erfolgte das Bemühen bei der Seelengewinnung bzw.

beim „Versuch der Realisierung eines sozialen Evangeliums, mit dem sich eine antikoloniale

Utopie verband“,54 sowohl hinter heiligen, nichtsdestotrotz auch weltlichen Masken. Die von

erbitterten Kritikern als „heilige List“ bezeichnete Sozialisationsstrategie hatte sich die

jesuitische Intelligenz zu stellen.55 Wie sich erweisen sollte machte sich ihre intensiv

betriebene geistige Ausbildung bezahlt, letztendlich aber doch vergebens im Kampf um ein

Weiterbestehen als Kolonisationsakteure.

Verhältnis von (Sozial-)Utopie und Wirklichkeit

Die kontroversen Urteile über den Jesuitenstaat leisten bis zur Gegenwart Anstöße, Gedanken

anzustellen über das Verhältnis von Utopie (im Sinne einer harmonischen

Gesellschaftsauffassung) und Wirklichkeit. Ob idealistische Entwürfe wie das schon erwähnte

„Utopia“ eines Morus oder Campanellas „Sonnenstaat“ (1602 Errichtung einer brüderlichen

Gemeinschaft ohne Privatbesitz), ja sogar Grundprinzipien von Platons „Politeia“, d. h. das

Ideal der platonischen Republik (Montesquieu),56 Vorbildwirkung und deshalb unmittelbaren

Einfluss auf das Reduktionenprojekt ausgeübt haben, kann bei nüchternen Untersuchung einer

Verifizierung nur schwer standhalten. Ebenso wenig war die kommunistische Sozialisierung 51 Lange 1982, o. S.52 Die beiden letzten Zit. n. Otruba 1962, 69.53 Otruba 1961, 37. Über die „immensen wirtschaftlichen Erfolge“ von P. Sepp, dem „Organisator ersten

Ranges“, schreibt Müller 2005, 206: „In drei Jahren wurden 300.000 Baumwollpflanzen gepflanzt, die jährlich 4.000 Zentner Wolle lieferten. Er unterrichtete die Eingeborenen in Handwerk, Gewerbe, Kirchen- und Hausbau sowie in Viehzucht und Weinbau.“

54 Krumpel 1992, 129.55 Vgl. beispielsweise Röwer, Johann Friedrich: Künste und Wissenschaften seit der Wiederherstellung

derselben bis an das Ende des achtzehnten Jahrhunderts (Göttingen 1808) 455f. Kritisch heißt es dort: „Fromme und heilige List! Die Gesellschaft Jesu ahmt sie glücklich nach. Sie sucht sich nach den Sitten Aller zu bilden und zu accommodiren, alle Ämter zu übernehmen, alle Rollen zu spielen, Allen alles zu werden […]. Die Knaben finden an den Gesellschaften Jesu Knaben, die Männer Männer, die Bedrückten Bedrückte: mit den Landsleuten sind sie Landsleute, mit den Soldaten Soldaten […]“ usw. Dann die Quintessenz: „Ein goldenes Netz, um Seelen zu fangen!“

56 Krumpel 1992, 127; ders. 2004, 38 u. 87.

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ein Versuch, dem idealisierten Urchristentum in Gestalt des augustinischen Gottesstaates

neues Leben einzuhauchen.57

Die in Tat umgesetzte kollektive Lebensweise bezeichnete den Kernpunkt ideologischer

Debatten in der sozialistischen Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts, die in der

Frage gipfelte, ob denn jene zu den Vorläufern des Sozialismus/Kommunismus zählte. Und

spätestens seit dem Zusammenbruch des Ostblock-Arbeiterparadieses mit der vermeintlich

Glück verheißenden „planwirtschaftlichen Qualität“ (1989/90) – die Formel kollektive

Gleichheit = individuelle Gerechtigkeit hat sich als Absurdum entblößt – berechtigt zur

(theoretischen) Frage, wie Thomas Lange es tut, ob „die jesuitische Utopie den Untergang

verdiente“.58

Otruba zeichnet nach, wie bei der Verwendung des Begriffes „kommunistisch“

Gespaltenheit nicht nur unter den Historiografen herrsch(t)e, ja darüber nicht einmal unter den

„Reihen der Gesellschaft Jesu einhellige Stellungnahme“ anzutreffen ist.59

Explizieren wir das an zwei Beispielen. Der Schwiegersohn von Karl Marx, Paul Lafargue

(1842–1911) und der deutsch-tschechische Philosoph und sozialdemokratische Politiker Karl

Kautsky (1854–1938) geben in ihrem gemeinsam herausgegebenen Sammelwerk „Vorläufer

des neueren Sozialismus“60 Belege ab für die Zwiespältigkeit, die durch jeweils aktuelle

politische Perspektiven nun einmal erzeugt werden und wie derart differente Aspekte den

Blick auf die Geschichte einfärben können. Als Bewunderer der „ geduldige(n) Zähigkeit der

Missionare“ wehrt sich Lafargue, die „christliche Republik“, für ihn „ein soziales Experiment,

und zwar eines der interessantesten und ungewöhnlichsten“,61 in utopischen Sphären zu

verklären. Nicht eine kommunistische Gesellschaftsordnung finde man in ihnen vor, sondern

eine „Ausbeutungsorganisation kapitalistischer Kolonialpolitik“.62 Der Marxist Lafargue

wendet „die marxistische Verelendungstheorie auch auf die expropriierten [enteigneten KHG]

Guaranis“ an.63

Dem Standpunkt Lafargues konnte Kautsky nichts abgewinnen. Die im südamerikanischen

Urwald von den Jesuiten erbrachte „Meisterleistung“ zog er als Lehrstück heran für ein

57 Dass die Reduktionen als eine Art Abbild der ersten Kirche darstellen, geht (möglicherweise) auf den italienischen Historiker Ludovico Muratori, der in einem viel beachteten Schriftwerk (ed. 1743/49) weismachte: „Der meiste Theil von ihnen ist von solcher Eingezogenheit, von solcher brüderlichen Liebe, von solcher Unschuld der Sitten und Andacht, daß sie eine Abschilderung der ersten Kirche scheinen.“ Aus: Das glückliche Christenthum in Paraguay, unter den Missionarien der Gesellschaft Jesu. Beschrieben von Luduvico Antonio Muratorio seiner Lesenswürdigkeit wegen in das Deutsche übersetzt. Erster Theil. Wien, Prag und Triest ... 1758; vgl. Francisco Esteve Barba, Historiografia Indiana, Madrid 1964, S. 587; hier zit. n. Lange 1982, o. S.

58 Lange 1982, o. s.59 Otruba 1962, 75f.60 Karl Kautsky; Paul Lafargue: Vorläufer des neueren Sozialismus (Stuttgart 1921).61 Zit. n. Krumpel 2004, 91.62 Zit. n. Otruba 1962, 75.63 Otruba 1962, 75.

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„Studium“ über „die Herausbildung sozialer Denkweisen bei unterentwickelten ökonomischen

Strukturen“, um Relevanzen zu erkunden zu dem in der russischen Revolution von 1917/18

Realisierten.64 Seine Diagnose: „Auch sonst ähnelt, trotz großen Unterschieden, die

kommunistische Partei Russlands dem Jesuitenorden in manchen Zügen ganz auffallend, in

Gutem und Bösem […], (auch) in der Unbedenklichkeit bei der Wahl ihrer Mittel, die durch

Zwecke geheiligt werden. […] Auch in ihrer Vorliebe, sich unkultivierter Völker für ihre

Zwecke zu bedienen, stimmen Jesuiten und Bolschewiki überein. Doch haben die Jesuiten

dies erfolgreicher betrieben.“65

Versuch eines Resümees

Dass die Reduktionsdörfer Geborgenheit den Guarani boten, darüber herrscht in der neueren

Literatur Einigkeit. Was den Zweck und die Hintergründe anlangt, verzweigen sich seit eh und

je die Atteste; sie reichen von gelungener „Entwicklungshilfe“ (der Begriff ist nach heutiger

Definition unbrauchbar, weil falsch; zB fand kein partnerschaftlicher Austausch auf gleicher

Augenhöhe zwischen den Zivilisationen statt) bis exklusiv christlich-religiöser Zielsetzung,

was an Blauäugigkeit grenzen mag. Die Beschreibung des Projekts als Kolonisation mit

anderen Mitteln hilft nur wenig weiter, weil allgemeingültig im Rahmen der globalen

Kolonialpolitik anwendbar. Auch als Quelle jesuitischen Gewinnstrebens nach irdischen

Gütern (neben Seelenfischerei) wird den Fratres nicht gerecht, wie wir hoffentlich zeigen

konnten.

Was aber dann? Diplomatisch ausgedrückt lag die Wahrheit wohl in der Mitte eines

abstrakten Irgendwo. In einer Mitte, die zu suchen ist zwischen kolonial-ethischer Diskussion,

die einerseits die Jesuiten ernster als alle übrigen „Eroberer“ genommen haben und, auf der

anderen Seite, mit „heiliger List“ kaschiertem Zwang und verborgener Unterdrückung zur

„kultureller Höherführung“ ihrer Schützlinge.

Haben wir uns mit dem oben Skizzierten tatsächlich mit etwas Utopischem, einem „Nicht-

Ort“, wie uns das Lexikon weismacht, beschäftigt? Wenn die Begriffsbedeutung nicht

hinausläuft auf absolut Unmögliches, so darf darüber zumindest nachgedacht werden.

Geschichte schreibt auch Utopien, diese wiederum erstattet den Dank zurück indem sie ihr als

Transmissionsriemen für Weiter- respektive Höherentwicklung der Menschheit dient.

64 Krumpel 2004, 93.65 Karl Kautsky, Vorwort in: Kautsky/Lafargue, Vorläufer des neueren Sozialismus (Berlin 1921) 7f. Hier zit. n.

Krumpel 2004, 93, Anm. 104.

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ANHANG

Dokument 1

„Es ist … unweit den Flüssen Uruguay und Paraguai eine sehr mächtige Republique, welche … 31 große Völkerschaften und gegen 100.000 Mann zählet. Gleich wie diese zum Vortheile der Jesuiten an Geld sehr vermögend … desto bedürfftiger und unglückseeliger befanden sich die trostlosen Indianer, welche unter einer betrübten Leibeigenschaft gedrukket seufzen mußten. [ ... ] Ja sogar haben sie listiglich … die Spanische Sprache einem jeden verbotten, nur allein den Gebrauch der sogenannten Guaranaischen zulassend, um auf diese Weise alle Gelegenheit einer Communikation zwischen den Indianern und Spaniern abzuschneiden … Endlichen, da sie nach ihrer Art denen Indianern die Christenlehr … den blinden Gehorsam einflößten. … Jedoch gelunge es ihnen durch so viele Jahre, diese unglücklich vernünftige Seelen in der härtesten und unterträglichsten Dienstbarkeit zu erhalten … als wäre in der Welt kein mächtigerer Souverain als die Heiligen Patres Jesuiten. … Vermög dieser Beherrschung über Leib und Leben führten sie unter den Indianern eine General-Regul ein, welche … der christlichen Liebe zuwider lauffet, dergestalten, daß sie erstlichen zu ihnen sagten, die weltliche Europäer oder Weiße wären solche Menschen, die ohne Gesätze und Religion leb-ten, das Gold als Ihren Gott anbeteten, auch sogar den Teufel in ihrem Leib hätten, folglich notwendiger Weise Feinde … wären … solchergestalten, daß wann sie einmal den Fuß in ihr Land setzen würden, sie selbes mit Feuer und Schwerd verheeren und nach zerstörten Altären auch ihre Weiber und Kinder ihrer Wuth aufopfern würden. [ ... ] Zu gleicher Zeit ließen sie ihre Indianer in den Waffen üben und versahen selbe mit Stuck, Pulver und Bley …“Zit. n. Lange 1982, o. S.

Dokument 2

Auszug aus dem Tagesablauf in einer Garani-Missionsstation nach P. Anton Sepp:

„Zu Morgens, eine Stund vor Anbrechung des Tags, wecket mich mein Indianer Büblein mit Namen Franciscus Xaverius, sein Gesell heißet Ignatius, auf. .... Nach Besuchung der Kranken visitire ich unsere Officinas: Erstlich gehe ich in die Schul der kleinen Indianer-Büblein, so lesen und schreiben lernen. Die Mägdlein anstatt dessen lernen spinnen, stricken, nähen. Gibe ihnen die Lection, examinire selbige. Darauff gehe ich zu denen Musicanten, höre ihr Gesang …[ ... ] Einen anderen Tag nimme ich die Tantzer zu Handen, lehre sie einige Täntz …[ ...] Nachdem ich diese … sambt denen Musicanten instruiret, visitir ich die andern Werckstätt, als die Brenn- und Ziegel-Oeffen, die Mühl und Brod-Banck, die Schmitten, Schreinerey und Zimmerleuth. Siehe, was die Bildhauer schnitzeln, Mahler mahlen, Weber wircken, Drechsler drehen, die Stricker strikken. Die Metzger schlachten täglichen … 15 bis 20 Kühe … Wann mir Zeit übrig, gehe ich in Garten, siehe, ob die Gärt-ner ansäen, Pflantzen wässern, jäten, grasen. Der beste aus den Discantisten leset mir über Tisch ein Capitel aus der Heil. Schrifft lateinisch … Büblein, so stets bey mir im Haus wohnen, dienen zum Tisch. Einer träget auff, der andere ab, einer holet das Wasser aus dem Fluß … Alle seyn barfuß, stehen mit entdeckten Haupt da gantz züchtig [...].

Um halbweg 1 Uhr beten wir in der Kirchen aller Heilgen Litaney mit obgemeldten Kindern. Alsdann bis auf 2 Uhr hab ich Zeit für mich, etwas zu arbeiten. [ ... ] Umb 2 Uhr giebet man ein Zeichen mit der großen Glocken zur Arbeit. Gehet dann wiederum das Visitiren der Werkstätt an. Gehe abermals zu denen Kranken, tröste sie und siehe, was ihnen mangelt. Alsdann um 4 Uhr halte ich Kinderlehr, bete mit dem Volck den Rosen-Crantz, darauf die Litaney und mache mit ihnen überlaut Actum Contritionis, Reu und Leid über unsere Sünd.

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Nach diesem begrabe ich die Todten, so fast täglich geschicht. Alsdann bete meine priesterlichen Tag-Zeiten, des andern Tages Matutinum et Laudes. Umb 7 Uhr esse ich zu Nacht.“

Quelle: Antonii Sepp und Antonii Bähm, der Societät Jesu Priestern Teutscher Nation Reiszbeschreibung, wie dieselbe am Hispanien in Paraguariam kommen ... (Nürnberg 1697) 320–337. Hier zit. n. Otruba 1962, 40 – 43.

Karte

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Quelle: „Der ‚Jesuitenstaat’ in Paraguay und die anderen Jesuitenmissionen in Südamerika“ nach Peter Claus Hartmann: Die Jesuiten (München 2001) 50.

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LITERATUR

Renate Dürr: Paraguay als Argument. Die europäische Debatte über Freiheit und Gehorsam im 18. Jahrhundert. In: Dagmar Bussiek; Simona Göbel: Das Karussell. Kultur, Politik und Öffentlichkeit: Festschrift für Jens Flemming (Kassel 2009) [Dürr 2009]

Edoardo Hughes Galeano: Der blaue Tiger und unser versprochenes Land. In: Bundesministerium für Unterricht und Kunst (Hg.): Informationen zur politischen Bildung. Serviceheft 1992 (1492: Entdeckung Amerikas?) (Wien 1992) [Galeano 1992]

Horst Gründer: Der „Jesuitenstaat“ in Paraguay. „Kirchlicher Kolonialismus“ oder „Entwicklungshilfe unter kolonialen Vorzeichen? In: Franz-Joseph Post; Thomas Küster; Clemens Sorgenfrey (Hg.): Christliche Heilsbotschaft und weltliche Macht. Europa-Übersee Bd. 14 (Münster 2004) [Gründer 2004]

Peter Claus Hartmann: Die Jesuiten (München 2001)

Heinz Krumpel: Philosophie in Lateinamerika. Grundzüge ihrer Entwicklung (Berlin 1992) [Krumpel 1992]

Heinz Krumpel: Utopie und Wirklichkeit. In: Aufklärung und Romantik in Lateinamerika (Frankfurt am Main 2004) [Krumpel 2004]

Thomas Lange: Soutanenkaserne oder heiliges Experiment? Die Jesuiten-Reduktionen in Paraguay im europäischen Urteil. In: Historia interculturalis. Thema: Die Alte und die Neue Welt Weltliteratur(en)/Lateinamerika Zuerst in: Karl Heinz Kohl (Hrsg.): Mythen der Neuen Welt. Zur Entdeckungsgeschichte Lateinamerikas. Ausstellungskatalog der Horizonte ’82 (Berlin 1982) [Lange 1982]

Gustav Otruba: Der Jesuitenstaat in Paraguay Idee und Wirklichkeit (Wien 1962) [Otruba 1962]

Gustav Otruba: Österreichische Jesuitenpatres des 17. und 18. Jahrhunderts in der Weltmission und als Erforscher der Erde. In: Österreich in Geschichte und Literatur. Hg. vom Arbeitskreis für Österreichische Geschichte. 5. Jg. H. 1 (Wien 1961) [Otruba 1961]

Johann Friedrich Röwer, Künste und Wissenschaften seit der Wiederherstellung derselben bis an das Ende des achtzehnten Jahrhunderts (Göttingen 1808)

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