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© Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch. Studien zur International und Interkulturell Vergleichenden Erziehungswissenschaft 15 Phillip Dylan Thomas Knobloch Pädagogik in Argentinien Eine Untersuchung im Kontext Lateinamerikas mit Methoden der Vergleichenden Erziehungswissenschaft

Phillip Dylan Thomas Knobloch Pädagogik in Argentinien · wicklungen, Bildungstheorien und Beispiele der Bildungspraxis simultan in den Blick nehmen und die wechselseitigen Beziehungen

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Studien zur International und Interkulturell Vergleichenden

Erziehungswissenschaft 15Phillip Dylan Thomas Knobloch

Pädagogik inArgentinien

Eine Untersuchung im Kontext Lateinamerikas mit Methoden der Vergleichenden Erziehungswissenschaft

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Studien zur International und Interkulturell

Vergleichenden Erziehungswissenschaft

herausgegeben von

Wilfried Bos, Dortmund Marianne Krüger-Potratz, Münster

Jürgen Henze, Berlin Sabine Hornberg, Bayreuth

Botho von Kopp, Frankfurt (Main) Hans-Georg Kotthoff, Freiburg

Knut Schwippert, Hamburg Dietmar Waterkamp, Dresden

Peter J. Weber, München

Band 15

Waxmann 2013 Münster / New York / München / Berlin

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Phillip Dylan Thomas Knobloch

Pädagogik in Argentinien

Eine Untersuchung im Kontext Lateinamerikas mit Methoden der Vergleichenden Erziehungswissenschaft

Waxmann 2013 Münster / New York / München / Berlin

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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Diese Dissertation wurde von der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln im Januar 2011 angenommen.

Studien zur International und Interkulturell Vergleichenden Erziehungswissenschaft, Bd. 15

ISSN 1612-2003 ISBN 978-3-8309-7816-9

Waxmann Verlag GmbH, Münster 2013

www.waxmann.com [email protected]

Umschlaggestaltung: Plessmann Design, Ascheberg Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier, säurefrei gemäß ISO 9706

Printed in Germany

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, verboten. Kein Teil dieses Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Vorwort Mit der vorliegenden Arbeit betritt der Verfasser aus deutscher Sicht Neuland und begibt sich in ein Gebiet der Vergleichenden Erziehungswissenschaft, das in zweifa-cher Hinsicht bislang wenig bearbeitet wurde. Erstens liegen nur sehr wenige Arbei-ten vor, in denen die argentinische bzw. die lateinamerikanische Pädagogik (ggf. Er-ziehungswissenschaft) oder Fragen im Zusammenhang mit Bildung und Erziehung in Argentinien aus deutscher Sicht untersucht werden. Zweitens zeichnet das Projekt einen historischen Abriss der Entstehung des Bildungssystems und der argentini-schen Pädagogik bzw. Erziehungswissenschaft (im lateinamerikanischen Kontext) parallel nach. Dabei wird der gesellschaftliche, kulturelle und politische Zusammen-hang erhellt, in welchem die ehemalige spanische Kolonie Argentinien sukzessive ein Bildungssystem aufgebaut und deren Intellektuelle eine Reflexion über Bildung, Er-ziehung und Pädagogik entfaltet haben. Dies stellt insofern ein originelles und kom-plexes Unterfangen dar, als Untersuchungen der Vergleichenden Erziehungswissen-schaft häufig vornehmlich die Ebene der Bildungssysteme und die Diskurssphäre der Bildungspolitik in den Blick nehmen. Seltener sind vergleichende Untersuchungen, welche die Diskurssphäre der Bildungstheorie mit einbeziehen oder gar diese als primären Fokus wählen, und erst noch in einem bestimmten Zeitraum (hier: rund zweihundert Jahre) die Zirkulation der Ideen und deren Einflüsse zu erfassen versu-chen. Noch seltener sind vergleichende Untersuchungen, die bildungspolitische Ent-wicklungen, Bildungstheorien und Beispiele der Bildungspraxis simultan in den Blick nehmen und die wechselseitigen Beziehungen unter ihnen analysieren.

Ziel der Untersuchung ist es, der Frage nach der Bedeutung von »Pädagogik in Argentinien« nachzugehen, um einerseits einer deutschsprachigen Leserschaft kon-krete Einblicke in pädagogische Diskurse in und aus Argentinien zu vermitteln und andererseits dadurch einen Beitrag zur allgemeinen und systematischen Auseinan-dersetzung mit Pädagogik und Erziehungswissenschaft im deutschsprachigen Raum zu liefern.

Im zentralen Kapitel der Arbeit geht es um »Pädagogik in Argentinien«. Ein einheitli-ches Verständnis von Pädagogik gebe es in Argentinien nicht, und deshalb sei es kaum möglich, eine systematische Gliederung und Darstellung aller pädagogischer Theorien und Diskurse vorzulegen. Deshalb hat sich der Verfasser für den Weg ent-schlossen, auf Klassiker der Pädagogik in Argentinien sowie auf aktuelle Beiträge aus dem pädagogischen Feld einzugehen. Die Auswahl der Klassiker erfolgte aufgrund der mit Experten geführten Interviews sowie der in der pädagogischen Literatur (auch in der deutschsprachigen, insbesondere durch Winfried Böhm vorgenommenen Bezeichnung einiger Autoren als »Klassiker«. Die von Phillip Knobloch vorgestellten Autoren sind Domingo Faustino Sarmiento (Theoretiker, vergleichender Bildungsfor-scher und Bildungsreformer), Juan Mantovani (»Die Erziehung und ihre drei Pro-bleme«), Jorge W. Ábalos (Autor des Romans »Shunko«, gilt als Wegbereiter einer interkulturellen und bilingualen Pädagogik) und Paulo Freire (»Pädagogik der Unter-drückten«). Im Rahmen der Darstellung von Werken und Wirken der vier »Klassiker«

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der argentinischen Pädagogik werden Bezüge zu europäischen pädagogischen und philosophischen Autoren bzw. Theorien aufgezeigt. Freire wurde einbezogen, obwohl er Brasilianer war, weil seine Auffassung von Bildung und Erziehung für die gesamte lateinamerikanische, also auch für die argentinische Pädagogik, charakteristisch ist. Ähnliche Ansätze, wie sie bei Freire zur vollen Entfaltung kamen (Alphabetisierung gekoppelt mit geistiger und politischer Emanzipation der Massen), sind auch bei ar-gentinischen Autoren, z. B. bei Mantovani, zu finden. Dass Paulo Freires Ideen welt-weit einflussreich waren und immer noch sind, unterstreicht die Globalität der wech-selseitigen ideellen Einflüsse.

Bezüge zu europäischen Klassikern: Rousseau, Kant, Schiller, Hegel, Schleierma-cher u. a. werden rekonstruiert. Es handelt sich hierbei um vergleichende Ideenge-schichte und Analyse der transnationalen Rezeption und Verarbeitung von pädagogi-schen und philosophischen Ideen sowie von Modellen der Gestaltung von Bildungssystemen (Letzteres insbesondere bei Sarmiento). In diesem Rahmen identi-fiziert Phillip Knobloch sechs Schwerpunkte, in denen sich die pädagogische Theo-riebildung und Praxis sowie die bildungspolitische Initiative bündeln. Auch hier wird die Rezeption europäischer Einflüsse in argentinischen pädagogischen Diskursen nachgezeichnet: Freud, Derrida, Foucault, Rancière, Lévinas u. a. Das Projekt der »Educación Popular« mit einer fahrenden Universität (es handelte sich konkret um einen Bus) stellt eines der Beispiele für eine Bildungspraxis dar, die im Sinne der An-wendung einer progressiven Pädagogik die von der offiziellen Bildungspolitik ver-nachlässigten sozialen Milieus in Stadt und Land einbeziehen wollte. Abschließend werden verschiedene Zusammenhänge der Verknüpfungen zwischen philosophischer Anthropologie und Pädagogik zusammenfassend dargestellt: Pädagogik und Philoso-phie, Pädagogik und Menschenrechte sowie vergleichende Betrachtungen angestellt: zwischen Mantovani und Baquero Lazcano, zwischen Freire und Baquero Lazcano, zwischen Friedrich Schneider und Baquero Lazcano.

Die Ergebnisse dieser umfangreichen Arbeit sind auf zwei Ebenen anzusiedeln. Auf der primären Ebene hat Phillip Knobloch eine Untersuchung nach hermeneutischen und empirischen qualitativen Methoden durchgeführt, die es ermöglicht hat, den Ge-genstand »Pädagogik in Argentinien« zu beleuchten und aus europäischer Sicht ver-gleichend zu betrachten. Ziel des Vorhabens war es, aufzuzeigen, wie Bildung und Erziehung sowie Pädagogik bzw. Erziehungswissenschaft in Argentinien maßgeblich von europäischem Gedankengut beeinflusst wurden und durchdrungen sind. Nord-amerikanische Einflüsse, die zeitweise (auch von der politischen Lage abhängig) wohl nicht unwesentlich gewesen sein dürften, wurden von den pädagogischen Experten kaum genannt. Es konnte deutlich gemacht werden, dass Autoren und Diskurse selek-tiv rezipiert werden. Offenbar sind die soziokulturellen und politischen Bedingungen der argentinischen Gesellschaft sowie die daraus entstehenden Bildungs- und Erzie-hungsproblematiken entscheidend dafür, welche »fremden« Autoren und Diskurse als für die Auseinandersetzung mit der »eigenen« Realität und Theorie produktiv sind.

Auf einer weiteren Ebene, die als »Metareflexion« bezeichnet werden kann, stellt Phillip Knobloch in seiner Arbeit Überlegungen an zu seinem eigenen epistemologi-schen Standpunkt, zu der Monokulturalität (oder nicht) der Pädagogik, zu der Trian-

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gulation der von ihm angewandten sozial- und geisteswissenschaftlichen Methoden, zu der Dialektik von Pädagogik und (Vergleichender) Erziehungswissenschaft und abschließend zu der Eröffnung einer »transatlantischen« Perspektive durch die Be-schäftigung mit dem Gegenstand »Pädagogik in Argentinien«.

Ausgangspunkt des eigenen Forschungsansatzes waren Gedanken, die bereits in den Theorien von Friedrich Schleiermacher und – hundert Jahre später – von Fried-rich Schneider zu finden sind. Diese Ideen waren leitend für das Vorhaben, die Ent-wicklung pädagogischer Theorien in Argentinien auf »exogene« sowie auf »endoge-ne« Faktoren zurückzuführen (Schneider; Schleiermacher mit anderer Begrifflichkeit) und die Prozesse historisch zu rekonstruieren. Die Einbettung der Untersuchung pä-dagogischer Theorien in die gesellschaftliche und politische Realität des Landes ist in dieser Arbeit auf eindrückliche Art gelungen. Die fruchtbare Kombination von her-meneutischen und empirischen Methoden wurde hier gekonnt demonstriert. Durch den gewählten Forschungsansatz kann diese Arbeit zeigen: Eine Auseinandersetzung mit fremdem Denken und Handeln ist nicht anders möglich als im Vergleich zum ei-genen Kontext. So gesehen ist eine vergleichende Untersuchung wie die hier vorge-legte auch ein Beitrag zum Verstehen der »eigenen« Pädagogik sowie des allgemeinen Charakters der Pädagogik. Die Auseinandersetzung mit Sarmiento, einem der argen-tinischen »Klassiker«, stellt geradezu eine Entdeckung dar. Als Wegbereiter der Ver-gleichenden Erziehungswissenschaft wird in den meisten Einführungen der Aufklärer Marc Antoine Jullien de Paris mit seinem Fragment von 1817 genannt, das lange ver-gessen blieb und dessen methodische Innovation nie – zumindest in der ursprüngli-chen Form – angewandt wurde. Alle in der Literatur als bedeutend bezeichneten ver-gleichenden Erziehungswissenschaftler sind entweder westeuropäisch oder nord-amerikanisch. Diese Arbeit zeigt, dass der Argentinier Sarmiento eigentlich eine bisher verkannte, aber herausragende Figur für die Vergleichende Erziehungswissen-schaft ist. Am Beispiel der argentinischen Diskurse lässt sich die Internationalisie-rung, die Globalisierung, aber auch die Transkulturation pädagogischer Diskurse zei-gen. Sarmiento bereiste eine große Anzahl von Ländern und importierte bzw. verarbeitete zahlreiche Ideen, die er dort kennen gelernt und dann bekannt gemacht hat. Er war, was in Europa kaum bekannt sein dürfte, ein bewusster »Vergleicher« und ein wahrer Kosmopolit der Pädagogik.

Schließlich vertritt Phillip Knobloch die These, dass eine Auseinandersetzung mit pädagogischen Diskursen in Argentinien (dies gilt natürlich mutatis mutandis auch für die Auseinandersetzung mit einem anderen Land der südlichen Hemisphäre) da-bei helfen kann, ein »multiperspektivisches Bewusstsein« für die transnationalen Auswirkungen der Globalisierung auf Bildung, Erziehung und Pädagogik sowie Er-kenntnisse über den Sinn von Bildung zu gewinnen und zu fördern.

Die Arbeit besticht durch eine ausgeprägte Fähigkeit zur systematischen Aufar-beitung von Literatur (in deutscher und spanischer, in geringerem Ausmaß auch in englischer Sprache) sowie zur Interpretation und Analyse empirischer Daten. Die Kenntnis des Landes hat der Verfasser nicht nur durch das Studium der Fachliteratur, sondern auch im Rahmen zweier einjähriger Aufenthalte erworben. So gesehen ist sein Herangehen an den Forschungsgegenstand nicht das eines »Fremden«, der stau-nend von außen einen unbekannten Gegenstand kennenlernen und bekannt machen

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will. Sprachliche und fachliche Kenntnisse und Kompetenzen, kombiniert mit reflek-tierter interkultureller Auseinandersetzung aus einer emic-Perspektive heraus, tragen zur Durchdringung der Materie und zur hohen Qualität der Ergebnisse sowie zur Ak-tualität dieser Arbeit bei – sowohl für die Vergleichende Erziehungswissenschaft als auch für die Allgemeine Pädagogik.

Köln, im Juli 2012 Cristina Allemann-Ghionda

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Inhalt

Zur Einführung in das Forschungsprojekt ........................................................................................... 15 Erster Teil Theoretische Grundlagen des Forschungsansatzes und Forschungsmethoden

1 Annäherungen an den Forschungsgegenstand Pädagogik................................................. 25

1.1 Erziehung und pädagogisches Bewusstsein .......................................................................... 25

1.2 Moderne Pädagogik und Erziehungswissenschaft ............................................................... 26

1.3 Sprache und soziokultureller Kontext..................................................................................... 27

1.4 Pädagogik als Forschungsgegenstand der Vergleichenden Erziehungswissenschaft ............................................................................... 29

1.5 Exogene und endogene »Triebkräfte« der Pädagogik.......................................................... 30

1.6 Forschungsfrage ........................................................................................................................... 35

2 Hinweise zum Forschungsstand............................................................................................... 36

3 Forschungskonzept und epistemologische Grundlagen ..................................................... 40

3.1 Der Strukturalismus von Claude Lévi-Strauss ...................................................................... 42

3.2 Der Entwurf einer Theorie der Praxis von Pierre Bourdieu.............................................. 44

3.3 Argentinien als sozialer Raum.................................................................................................. 47

3.4 Das pädagogische Feld als methodisches Konstrukt ........................................................... 48

4 Methoden der Untersuchung .................................................................................................... 50

4.1 Hermeneutik ................................................................................................................................. 50

4.2 Das Experteninterview als Methode qualitativer Sozialforschung.................................. 52

4.3 Die Erforschung von Lebenswelt, Weltanschauung und Habitus.................................... 55

5 Planung und Durchführung des Forschungsprojekts.......................................................... 57

5.1 Forschungsverlauf........................................................................................................................ 57

5.2 Planung der Experteninterviews.............................................................................................. 58

5.3 Anmerkungen zu den interviewten Experten....................................................................... 60

5.4 Exkurs: Anmerkungen zur Literaturrecherche in Argentinien......................................... 61

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Zweiter Teil Pädagogik und Vergleichende Erziehungswissenschaft

1 »La idea de Bildung«: Die interkulturelle Problematik des Bildungsbegriffs ................ 65

2 Pädagogik und Erziehungswissenschaft................................................................................. 71

2.1 Empirische Erziehungswissenschaft und praktische Pädagogik bei Wolfgang Brezinka ...................................................................................................................... 73 2.1.1 Empirische Erziehungswissenschaft ......................................................................... 74 2.1.2 Philosophie der Erziehung .......................................................................................... 76 2.1.3 Praktische Pädagogik.................................................................................................... 76

2.2 Personalistische Pädagogik und technologische Erziehungswissenschaft bei Winfried Böhm............................................................................................................................. 79 2.2.1 Theorie und Praxis ........................................................................................................ 79 2.2.2 Erziehung: Praxis oder Poiesis? ................................................................................. 81 2.2.3 Erziehungswissenschaft als poietische Theorie ..................................................... 81 2.2.4 Zweck und Ziel der Erziehung ................................................................................... 83 2.2.5 Grund und Bedingungen personaler Bildung......................................................... 84

2.3 Wissenschaftliche Pädagogik zwischen Metaphysik und empirischer Analyse ........... 84

3 Vergleichende Erziehungswissenschaft.................................................................................. 85

3.1 Anmerkungen zu den Begriffen »System« und »Nation« .................................................. 86 3.1.1 Die Auseinandersetzung mit Systemen durch die Systemtheorie ..................... 86 3.1.2 Die Auseinandersetzung mit den Nationen in der

Nationalismusforschung .............................................................................................. 93

3.2 Forschungsperspektiven der Vergleichenden Erziehungswissenschaft.......................... 95 3.2.1 Analyse von Bildungssystemen ................................................................................. 96 3.2.2 Beschreibung nationaler Identitäten und kultureller Konfigurationen............ 98 3.2.3 Verschränkung nomothetischer und idiografischer Ansätze............................ 100

3.3 Bildung und Identität im internationalen und interkulturellen Zusammenhang....... 104

4 Amerikanische Pädagogik im Kontext der Globalisierung .............................................. 105

4.1 Der historische Kontext: Das koloniale Erbe Amerikas.................................................... 111

4.2 Moderne Pädagogik aus Amerika: John Dewey und Paulo Freire.................................. 114 Dritter Teil Argentinien: Gesellschaft und Identität

1 Über den Begriff der sozialen Identität................................................................................. 121

1.1 Theoretische Grundlagen......................................................................................................... 124 1.1.1 Über das soziale Wesen des Menschen .................................................................. 125 1.1.2 Über das menschliche Wesen der Gesellschaft .................................................... 132

1.2 Die Bildung Argentiniens: Eine Annäherung ..................................................................... 138

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2 Geschichte und soziale Strukturen der argentinischen Gesellschaft............................. 139

2.1 Anmerkungen zur Bevölkerungsentwicklung..................................................................... 141 2.1.1 Kolonialzeit ................................................................................................................... 141 2.1.2 Nach der Unabhängigkeit .......................................................................................... 143 2.1.3 Aktuelle Bevölkerungsverteilung und Besiedlungsdichte ................................. 145

2.2 Anmerkungen zur ökonomischen Entwicklung ................................................................. 149 2.2.1 Argentinien als Agrarexporteur (1880–1946) ........................................................ 149 2.2.2 Industrialisierung (1946–1976) .................................................................................. 150 2.2.3 Neoliberales Finanzsystem (1976–2003).................................................................. 151

2.3 Anmerkungen zum Bildungssystem...................................................................................... 155 2.3.1 Geschichte und Struktur des argentinischen Bildungssystems ........................ 155 2.3.2 Nationale Erziehungsgesetze .................................................................................... 169

3 Soziale Grundstrukturen in Lateinamerika.......................................................................... 181

3.1 Armut und Ungleichheit .......................................................................................................... 182

3.2 Lebensbedingungen lateinamerikanischer Kinder............................................................. 185

4 Gesellschaftliche Urteilskraft und soziale Grundstrukturen in Argentinien ............... 189

4.1 Zweiteilung der sozialen Welt: Dienstpersonal haben oder sein ................................... 191

4.2 »La inseguridad«: Unsicherheit als Grundordnung der Gesellschaft ............................ 193

4.3 Argentinien, Buenos Aires und das Innenland: Föderalismus und Zentralismus ...... 195

4.4 Anmerkungen zum Verhältnis von »legitimer« und »populärer« Kultur..................... 198 Vierter Teil Pädagogik in Argentinien

1 »Klassiker« der argentinischen bzw. lateinamerikanischen Pädagogik ........................ 215

1.1 Domingo Faustino Sarmiento: »Zivilisation und Barbarei« ............................................ 218 1.1.1 Zur Biografie Sarmientos........................................................................................... 219 1.1.2 Argentinische Identitätsbildung zwischen »Zivilisation und Barbarei« ........ 226 1.1.3 Dichotomie oder Dialektik? Zur Interpretation der Formel »Zivilisation

und Barbarei« ............................................................................................................... 229 1.1.4 Die Widersprüche des Projekts der »Zivilisierung« in Argentinien ............... 237 1.1.5 Sarmiento: Pädagoge, Wegbereiter der Transkulturation und früher

Vertreter einer Vergleichenden Erziehungswissenschaft? ................................ 239

1.2 Juan Mantovani: »Die Erziehung und ihre drei Probleme« ............................................. 242 1.2.1 Die Idee des Menschen............................................................................................... 243 1.2.2 Die Idee des Ziels......................................................................................................... 246 1.2.3 Die Idee der Mittel....................................................................................................... 251 1.2.4 Anmerkungen zur Pädagogik von Juan Mantovani ............................................ 254

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1.3 Jorge W. Ábalos: Der Roman »Shunko« als Wegbereiter einer interkulturellen und bilingualen Pädagogik ...................................................................................................... 260 1.3.1 Die Problematik der kulturellen »Homogenisierung« durch die

Landschulen .................................................................................................................. 262 1.3.2 »Shunko« als pädagogischer Beitrag zur argentinischen

»concientización« ........................................................................................................ 267

1.4 Paulo Freire: »Pädagogik der Unterdrückten« .................................................................... 269 1.4.1 Die Pädagogik Paulo Freires ..................................................................................... 269 1.4.2 Freire und deutschsprachige Bildungstheorien.................................................... 277 1.4.3 Zur Rezeption Freires in Argentinien..................................................................... 282

2 Aspekte des pädagogischen Denkens in Argentinien am Anfang des 21. Jahrhunderts.......................................................................................................................... 290

2.1 Gleichheit und Ungleichheit: Die Geschichte von Erziehung und Schule in Argentinien ............................................. 292 2.1.1 Vom »Barbaren« zum »Kind mit Defiziten« ......................................................... 292 2.1.2 Eine Schule für alle: Demokratisierung und Homogenisierung....................... 293 2.1.3 Die Abwendung vom Ideal der Demokratie in der Erziehung ......................... 295 2.1.4 Vielfalt und Gleichheit ............................................................................................... 295

2.2 Die postmoderne Kritik am herrschenden Diskurs ........................................................... 297 2.2.1 Gleichheit als Ideologie: Vom Liberalismus bis zur Postmoderne ................... 297 2.2.2 Kritik am Diskurs......................................................................................................... 299 2.2.3 Europäische Einflüsse: Freud, Derrida, Foucault, Rancière ............................... 301

2.3 »Educación Popular« als Antwort auf eine gescheiterte öffentliche Erziehung......... 316 2.3.1 Für eine Schule der »Ortskundigen« statt einer Schule der Experten............. 316 2.3.2 »Tato« Iglesias und die »Universidad Trashumante« ......................................... 320

2.4 Anmerkungen zum »akademischen« und »populären« pädagogischen Feld............... 327

2.5 Anmerkungen zur Rezeption der PISA-Studie (2006) in Argentinien ........................... 331

2.6 Vergessene Zusammenhänge oder unterdrückte Diskurse?............................................ 336 2.6.1 Die (vergessenen) Grundfragen der Pädagogik.................................................... 338 2.6.2 Die (vergessene) Philosophie der Befreiung ......................................................... 341

3 Pedro Baquero Lazcano: Philosophische Anthropologie und Neoliberalismus .......... 351

3.1 Zur Philosophischen Anthropologie von Baquero Lazcano............................................ 351 3.1.1 Der Mensch als Wesen und das Wesen des Menschen ...................................... 352 3.1.2 Die drei menschlichen Wesensmerkmale: Realität, Wissen und Freiheit ...... 354 3.1.3 Wesensmerkmale und Menschenrechte................................................................. 355 3.1.4 Die Erziehungsprobleme der Gegenwart............................................................... 357 3.1.5 Die negative Dialektik des 20. Jahrhunderts.......................................................... 361 3.1.6 Globalisierung .............................................................................................................. 363 3.1.7 Die Globalisierung und die Zukunft der lateinamerikanischen Kultur .......... 364

3.2 Philosophische Anthropologie und Pädagogik................................................................... 366 3.2.1 Pädagogik und Philosophie ....................................................................................... 367 3.2.2 Pädagogik und Menschenrechte:

Die Nationen als zufällige und notwendige soziale Einheiten ......................... 369 3.2.3 Philosophische Anthropologie bei Mantovani und Baquero Lazcano ............ 369

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3.2.4 Politik und Pädagogik, Erziehung und Bildung: Freire und Baquero Lazcano ..................................................................................... 371

3.2.5 »Exogene Faktoren« der Erziehung (F. Schneider) und »diffuse Erziehung« (Baquero Lazcano)................................................................. 372

Fünfter Teil Anmerkungen zu den Ergebnissen des Forschungsprojekts »Pädagogik in Argentinien«

1 Anmerkungen zum Forschungsansatz .................................................................................. 377

1.1 Der epistemologische Ausgangspunkt: Pädagogik und Erziehungswissenschaft ...... 378

1.2 Die Pädagogik – eine »monokulturelle« Wissenschaft?................................................... 380

1.3 Zur sozial- und geisteswissenschaftlichen Annäherung an pädagogisches Denken .382

1.4 »Triangulation« sozial- und geisteswissenschaftlicher Methoden ................................. 384

1.5 Die Dialektik von Pädagogik und (Vergleichender) Erziehungswissenschaft ............. 385

2 Zur Eröffnung einer »transatlantischen« Perspektive durch die »Pädagogik in Argentinien«.................................................................................................... 386

Anhang

1 Abbildungen und Tabellen....................................................................................................... 395

1.1 Nachweis der Abbildungen ..................................................................................................... 395

1.2 Nachweis der Tabellen.............................................................................................................. 395

2 Quellen ......................................................................................................................................... 396

2.1 Deutschsprachige Literatur ..................................................................................................... 396

2.2 Fremdsprachige Literatur......................................................................................................... 404

2.3 Dokumente aus dem Internet (Format pdf)......................................................................... 410

2.4 Internetquellen ........................................................................................................................... 412

3 Die Experteninterviews: Übersicht und Anmerkungen ................................................... 413

4 Abkürzungen............................................................................................................................... 417

5 Personenregister ........................................................................................................................ 417

Schlussbemerkung ................................................................................................................................... 423

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Zur Einführung in das Forschungsprojekt »Wenn die guten Ideen doch die Entfernungen überwinden könnten, wie die Polka allein in einem Jahr!«1 Dieser Gedanke bewegte einen argentinischen Reisenden, als er sich im Jahr 1847 für einige Tage in München aufhielt. Seinen südamerikanischen Landsleuten berichtete er später, dass die Deutschen sich ungezwungen in Biergärten versammelten und dort die Jugendlichen zur Blasmusik tanzten. Da er die Polka in unterschiedlichen Formen zuvor bereits in Chile, Uruguay, Brasilien und Frankreich gehört hätte, sei es dann ein besonderes Glück gewesen, diese Musik in ihrem Ur-sprungsland zu hören. Während sich Musik anscheinend sehr schnell auf der Welt ausbreitete und lokale Varianten der Polka bereits in Südamerika gespielt und getanzt wurden, beunruhigte den argentinischen Reisenden, dass es ungleich schwieriger war, dort auch die guten Ideen aus Europa zu verbreiten. Unter diesen guten Ideen verstand er letztlich nichts anderes als die Grundwerte der Zivilisation. Die Entwick-lung seiner Heimat zu einer modernen Zivilisation sah er jedoch durch Gauchos, In-dianer und Caudillos2 bedroht, da diese amerikanischen Barbaren den Fortschritt be-kämpften. Gerade deshalb war der Verfasser dieses Berichts, Domingo Faustino Sar-miento (1811–1888), zu einer Reise nach Europa aufgebrochen, um sich ein eigenes Bild von der zivilisierten Welt zu machen. Vor allem galt die Reise jedoch dem Studi-um europäischer Schulsysteme, da es für ihn nur durch Erziehung möglich schien, seine barbarischen Landsleute zu zivilisieren und sein Heimatland in einen fortschritt-lichen, wohlhabenden und demokratischen Staat zu verwandeln.

Während in Argentinien zur Zeit seiner Reise Bürgerkrieg herrschte und sich dort vermutlich nur wenige Menschen um die Kultur sorgten, beeindruckten Sar-miento in München die Museen und Statuen sowie die öffentlich zugänglichen Gär-ten und Plätze. Die vom bayerischen König zur Erinnerung an bedeutende Deutsche gegründete Walhalla führte Sarmiento zur Überlegung, dass man sicherlich bald in allen zivilisierten Ländern jene Persönlichkeiten verehren würde, die zum Fortschritt der menschlichen Gattung maßgeblich beigetragen haben. Da Argentinien auch ein zivilisiertes Land werden sollte, legte er seinen Landsleuten die Idee nahe, diesem Bei-spiel zu folgen. Jedoch erschien es Sarmiento in Bezug auf seine südamerikanische Heimat nicht sinnvoll, nur Persönlichkeiten aus dem eigenen Volk bzw. Land zu ge-denken. »¿Por qué no honraríamos nosotros a Colon i a Cook, a Sócrates i a Franklin, a Gutenberg, a Buffon, a Cuvier? ¿No nos pertenecen de derecho como a todos los que han aprovechado de sus trabajos?«3 (Sarmiento 1851/1996, 280)

An diesem Reisebericht von Sarmiento (vgl. 1996) wird deutlich, dass im 19. Jahr-hundert bereits ein kultureller Austausch zwischen Lateinamerika und Europa zu be- 1 I. O.: »Oh! si las buenas ideas pudieran hacer las leguas que ha hecho en un año la polka!« (Sar-

miento 1851/1996, 279) 2 Nach Riekenberg bezeichnet der Begriff Caudillo im 19. Jahrhundert in Argentinien politisch-

militärische Führergestalten bzw. Kultur-Helden (vgl. Riekenberg 2009, 79 ff.). 3 Übers.: »Warum verehren wir nicht Kolumbus und Cook, Sokrates und Franklin, Gutenberg, Buf-

fon und Cuvier? Gehören sie nicht genauso zu uns [Argentiniern] wie zu allen anderen, die von ihren Arbeiten profitiert haben?« [Alle Übersetzungen aus dem Spanischen ins Deutsche stam-men, wenn nicht anders angegeben, von Ph. D. Th. Knobloch.]

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obachten ist, der heute zugleich als Antrieb und als Folge der Globalisierung bezeich-net werden könnte. Während am Beispiel der Polka deutlich wird, dass europäische Einwanderer Musik aus ihrer eigenen Kultur in Südamerika verbreiteten und sich die-se dort mit einheimischen Stilen vermischte, stellt der Bericht selbst auch eine kultu-relle Austauschform dar, indem er den südamerikanischen Lesern ermöglichte, Kenntnisse über die von Sarmiento in Europa, Nordafrika und Nordamerika bereisten Länder und deren Bevölkerungen zu gewinnen. Der Gedanke Sarmientos, dass auch in Argentinien bedeutende Persönlichkeiten aus den Bereichen Wissenschaft und Kultur stärker gewürdigt werden sollten, und zwar nicht nur Argentinier, verweist auf eine moderne, internationale Geisteshaltung. Ebenso spricht die Tatsache, dass er fremde Schulsysteme untersuchen wollte, um dadurch Anregungen für den Aufbau und die Gestaltung eines öffentlichen Schulsystems in Argentinien zu erhalten, für kulturelle Offenheit und Interesse an Ideen aus anderen Ländern. Bedenkt man, dass die Zeit nach der Französischen Revolution in vielen Teilen Europas durch Nationa-lismus und durch die Gründung von Nationalstaaten gekennzeichnet war, so könnte man fragen, ob Sarmiento mit seiner geradezu kosmopolitischen und internationalen Gesinnung seiner Zeit voraus war. Hatten die Lateinamerikaner die Chancen der Glo-balisierung, d. h. der internationalen Zusammenarbeit und des interkulturellen Aus-tauschs, etwa früher erkannt als die Europäer?

Auch wenn der Begriff Globalisierung erst seit Ende des 20. Jahrhunderts zum »Schlagwort« (Allemann-Ghionda 2004, 31), nach Ulrich Beck sogar zum »Schre-ckenswort« (Beck 1997/2007, 13) geworden ist, so kann tatsächlich das damit bezeich-nete Phänomen unmittelbar mit der Geschichte Lateinamerikas in Verbindung ge-bracht werden. Zumindest gilt manchen Autoren die sogenannte Entdeckung4 Ame-rikas durch Kolumbus im Jahr 1492 als »Geburtsstunde der Globalisierung« (Allemann-Ghionda 2004, 31; vgl. auch Sloterdijk 2006, 11–29). An der Entdeckung Amerikas kann jedoch nicht nur der Beginn der Globalisierung festgemacht werden, sondern sie ist auch ein Ereignis, mit dem der Übergang vom Mittelalter in die Neu-zeit verbunden wird. Im zweiten Band seines Kosmos, der etwa zeitgleich zu Sarmien-tos Europareise in Deutschland erschien, bezeichnete Alexander von Humboldt (1769–1859) das 15. Jahrhundert deshalb als eine Übergangsepoche, die sowohl dem Mittelalter als auch der Neuzeit angehört habe (vgl. A. v. Humboldt 18475/2004, 312).

»Wo hat die Geschichte der Völker eine Epoche aufzuweisen, der gleich, in welcher die folgenreichs-ten Ereignisse: die Entdeckung und erste Colonisation von Amerika, die Schifffahrt nach Ostindien um das Vorgebirge der guten Hoffnung und Magellan’s erste Erdumsegelung, mit der höchsten Blüthe

4 Bereits Alexander von Humboldt betonte, dass, aus der Perspektive der Völker Europas, die erste

Entdeckung des tropischen Teils des amerikanischen Kontinents durch Kolumbus von der ersten Entdeckung des nördlichen Teils durch die Nordmänner streng unterschieden werden müsse. »Als noch das Chalifat in Bagdad unter den Abbassiden blühete, wie in Persien die der Poesie so güns-tige Herrschaft der Samaniden, wurde Amerika um das Jahr 1000 von Leif, dem Sohne Erik’s des Rothen, vom Norden her bis zu 41° ½ nördlicher Breite entdeckt.« (A. v. Humboldt 1847/2004, 313)

5 Obwohl in der Ausgabe von 2004 auf den Titelblättern für den zweiten Band des Kosmos das Jahr 1847 angegeben wird, verweisen die Herausgeber in der Editorischen Notiz darauf, dass der Band tatsächlich 1846/1847 erschienen sei (vgl. A. v. Humboldt 2004, 927).

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der Kunst, mit dem Erringen geistiger, religiöser Freiheit und der plötzlichen Erweiterung der Erd- und Himmelskunde zusammentrafen?« (Ebd., 349)6

Die europäische Welt hatte sich durch die Entdeckung Amerikas deutlich vergrößert und man könnte sagen, dass sich die europäische Geschichte von da an auch auf der westlichen Seite des Atlantiks abspielte. Der rasch wachsende transatlantische Han-del, vor allem mit Rohstoffen aus den amerikanischen Kolonien, kann auch als ein entscheidendes Moment des sich von nun an entwickelnden kapitalistischen Weltsys-tems bezeichnet werden, dessen Zentrum bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs hauptsächlich in Europa lag (vgl. Sloterdijk 2006, 21; Wallerstein 1989/2004). Als Do-mingo Faustino Sarmiento in der Mitte des 19. Jahrhunderts von Südamerika aus zu seiner Studienreise nach Europa aufbrach, gab es jedoch schon fast keine europäi-schen Kolonien mehr in Amerika. Nach der Declaration of Independence der USA im Jahr 1776 hatten zumindest auch die meisten spanischen Kolonien in Amerika, nach dem Vorbild aus dem amerikanischen Norden und im Geiste der Französischen Revo-lution, seit 1810 ihre Unabhängigkeit erklärt und militärisch durchgesetzt. Einen ar-gentinischen Staat im strengen Sinne gab es jedoch noch nicht, da auf dem heutigen Gebiet Argentiniens nach der Unabhängigkeit die ehemalige spanische Kolonie Vize-königreich des Río de la Plata in kleinere politische Einheiten zerfiel und die Caudillos in einem Bürgerkrieg um Macht und die zukünftige politische Gestaltung der argenti-nischen Nation kämpften.

Vergleicht man die Ideen europäischer Autoren aus derselben Epoche mit dem Wunsch Sarmientos, in Argentinien einen zivilisierten, demokratischen und fort-schrittlichen Staat und ein öffentliches Schulsystem zu gründen, so zeigen sich schnell Ähnlichkeiten. Zumindest im deutschsprachigen Raum forderten etwa Philo-sophen wie Johann Gottlieb Fichte (vgl. 1808/2008) und Friedrich Daniel Ernst Schlei-ermacher (vgl. 1826/2000) ebenso und fast zeitgleich wie Sarmiento die Gründung eines Nationalstaats und die Erziehung und Bildung der gesamten Bevölkerung. Dass der Bildung der Bevölkerung ein hoher Wert beigemessen wurde, mag nicht zuletzt an dem Urteil über deren sittliche Verfassung gelegen haben. Während Sarmiento ei-nen Großteil seiner argentinischen Landsleute als unzivilisiert, gesetzlos, wild und barbarisch beschrieb (vgl. Sarmiento 1845/2007), berichtet der deutsche Philosoph und Pädagoge Wilhelm Dilthey (1833–1911), dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch die deutschen Intellektuellen ein ähnlich abwertendes Urteil über die breite Masse der deutschen Bevölkerung fällten. »Es gab damals keinen tieferen Kopf in Deutschland, der nicht vor dem haltlosen Treiben dieser staats- und religionslosen, einem weichen und bornierten Egoismus verfallenen Menge tiefen Ekel empfunden hätte.« (Dilthey 1936, 3) Obwohl man sich meist nur an »die großen Dichter und Philosophen« (ebd.)

6 Während in der sogenannten Neuen Welt die spanischen Eroberer am Ende des 15. und zu Anfang

des 16. Jahrhunderts versuchten Kolonien zu gründen und ihren Herrschaftsbereich auch militä-risch auszudehnen, erschütterte parallel dazu in Europa ein weiteres großes Ereignis die beste-hende Ordnung: »In demselben Monat, in welchem Hernan Cortes [sic] […] gegen Mexico anzog, um es zu belagern, verbrannte Martin Luther die päbstliche [sic] Bulle zu Wittenberg und be-gründete die Reform, welche dem Geiste Freiheit und Fortschritte auf fast unversuchten Bahnen verhieß.« (A. v. Humboldt 1847/2004, 350).

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erinnern würde, verdecke man dadurch »alle ärmlicheren Gestalten« (ebd.). Während Dilthey von »der völligen Verderbnis der leitenden Politiker dieser Jahre« (ebd.) sprach, bezeichnete Sarmiento den damaligen Gouverneur von Buenos Aires als »Ty-rannen ohnegleichen« (Sarmiento 1845/2007, 10).

Obwohl in der globalisierten Welt des 19. Jahrhunderts unter den Intellektuellen sowohl in Südamerika als auch in Europa ähnliche Ideen diskutiert und Aufgaben gesehen wurden, wie etwa die Gründung von Nationalstaaten und öffentlichen Schulsystemen, zeigen sich an diesen Beispielen auch deutliche Unterschiede. Wäh-rend sich etwa Fichte und Schleiermacher um die Bildung der gesamten deutschen Bevölkerung sorgten und sich deshalb mit ihrer eigenen Kultur auseinandersetzten, galten für Sarmiento vor allem die europäische Kultur, besonders die französische und die der USA als Vorbilder für die Erziehung und Bildung der argentinischen Na-tion. Da es, zumindest nach Sarmiento, in Argentinien noch kein tieferes Bewusstsein für eine eigene Kultur gab und von einer zivilisierten, eigenständigen argentinischen Kultur auch noch keine Rede sein konnte (vgl. Sarmiento 1845/2007), erscheint es nachvollziehbar, dass Sarmiento die Bildung seiner Landsleute an den großen Errun-genschaften der Menschheit aus den unterschiedlichsten Epochen und Ländern aus-richten wollte (vgl. Sarmiento 1851/1996, 279 f.). Ein Pantheon allein für bedeutende Argentinier wäre demnach in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wohl noch sehr überschaubar, wenn nicht gar leer geblieben.

Der Frage nach der richtigen Erziehung der Bevölkerung kam demnach sowohl in Europa als auch in Amerika im Zusammenhang mit der Gründung von Nationalstaa-ten und öffentlichen Schulsystemen eine besondere Bedeutung zu. Im deutschspra-chigen Raum hat u. a. Friedrich Schleiermacher als einer der ersten versucht, eine allgemeine Theorie der Erziehung zu entwerfen (vgl. Schleiermacher 1826/2000), wes-halb er, neben Johann Friedrich Herbart (vgl. 1804–1841/1982), auch als einer der Be-gründer der Pädagogik als Wissenschaft gelten kann (vgl. Horn 2008, 8). Während sich in den deutschsprachigen Regionen im 19. Jahrhundert im akademischen Bereich eine philosophisch orientierte Pädagogik durchgesetzt hatte, waren laut Horn die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts durch eine experimentelle Pädagogik bzw. eine em-pirische Erziehungswissenschaft geprägt, welche auch von Konzepten der sogenann-ten Reformpädagogik beeinflusst wurden. Dieser empirische Ansatz wurde jedoch damals von kulturphilosophischen Pädagogen kritisiert (vgl. ebd., 15). Nach Ende des Zweiten Weltkriegs dominierte im Westen Deutschlands vor allem die geisteswissen-schaftliche Pädagogik das akademische Feld. In den 1960er-Jahren kam es dann in Anschluss an Heinrich Roth zu einer Hinwendung zur empirischen Forschung. Radi-kaler als Roth forderte Wolfgang Brezinka (vgl. 1971) später in Kritik zur philosophi-schen Pädagogik eine erfahrungswissenschaftliche Ausrichtung der Erziehungswis-senschaft (vgl. Horn 2008, 23). Als Gegenposition zu Brezinka formierte sich eine kritische Erziehungswissenschaft, deren Vertreter, etwa Klaus Mollenhauer, Wolfgang Klafki und Herwig Blankertz, sich »sowohl gegen die geisteswissenschaftliche Päda-gogik, als auch gegen die als positivistisch bezeichnete kritisch-rationalistische Erzie-hungswissenschaft« (ebd., 24) richteten und eine Kritik der Gesellschaft und ihrer Ideologien forderten.

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Stellt man die Frage nach der gegenwärtigen Ausrichtung der Pädagogik bzw. Erziehungswissenschaft, so kann laut Horn eine Ausdifferenzierung und Spezialisie-rung beobachtet werden, die jedoch so vielfältig ist, dass »gemeinsame Grundlagen einer als Erziehungswissenschaft zu bezeichnenden Disziplin« (ebd., 27) kaum mehr sichtbar sind. Zwar habe sich die Disziplin von ihrer ursprünglichen Bindung an die Philosophie und die Theologie gelöst, doch habe die Pluralisierung und Diversifizie-rung zur Etablierung einer Vielzahl nicht mehr zusammenhängender Bindestrichpä-dagogiken und zu einem Wildwuchs an Studiengängen geführt (vgl. ebd., 26). Da die »Fülle an neuen Forschungsergebnissen aus unterschiedlichen, sich gerade formie-renden erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen vom Einzelnen kaum noch über-blickt werden kann«, stellt sich gegenwärtig zumindest im deutschsprachigen Raum die Frage, »ob die Einheit des Pädagogischen noch zu wahren« (Mertens/Frost/Böhm/Ladenthin 2008, XI–XII) oder ob die akademische Pädagogik bzw. Erziehungswissen-schaft »an ihr Ende gekommen« (Horn 2008, 27) sei.

Aufgrund dieser Diagnose scheint es kaum noch möglich, die Bedeutung von Pä-dagogik und Erziehungswissenschaft für die Gegenwart allein durch eine Auseinan-dersetzung mit aktuellen Beiträgen aus dem deutschsprachigen Raum herausarbeiten zu können. In dieser Situation kann jedoch die Studienreise Sarmientos daran erin-nern, dass es schon während der Gründungszeit der Pädagogik vielversprechend war, die eigenen Grenzen zu überschreiten und in fremden Ländern und Kulturen nach guten Ideen zu suchen. Neben der Suche nach pädagogischen Anregungen könnte die Auseinandersetzung mit der Pädagogik in einem anderen Land aber auch der Vertie-fung des Bewusstseins für die eigene Pädagogik dienen. Zumindest betonte Friedrich Schneider (1881–1974), der im deutschsprachigen Raum als ein Begründer der Ver-gleichenden Erziehungswissenschaft gilt, dass der Vergleich zwischen der Pädagogik verschiedener Völker geeignet sei, Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen dem fremden wie eigenen pädagogischen Denken herauszuarbeiten. Darüber hinaus könn-ten auf diesem Weg allgemeine Einsichten über die Pädagogik erlangt werden (vgl. Schneider 1947, 39 f.). Betrachtet man die aktuellen Entwicklungen im Bereich der deutschsprachigen Pädagogik und Erziehungswissenschaft, so mag diese von Schnei-der eröffnete Forschungsperspektive gerade in einer Zeit besonderes Interesse erwe-cken, in der es immer schwieriger erscheint, sich überhaupt noch ein einheitliches und umfassendes Verständnis für den Sinn und die Aufgabe von Pädagogik und Er-ziehungswissenschaft bilden zu können.

Greift man den Forschungsansatz von Schneider auf, stellt sich jedoch die Frage, in welche Richtung die eigenen Grenzen überschritten werden sollten und wo es möglich sein könnte, neue Anregungen für die Pädagogik zu finden, die eine derartige Besinnung auf die Grundlagen der Disziplin erlauben und Perspektiven für die Zu-kunft eröffnen. Zwar wird in aktuellen Konzepten der Vergleichenden Erziehungs-wissenschaft »der gesamte Planet Erde« (Allemann-Ghionda 2004, 30) als Referenz-rahmen betrachtet, doch erscheint es kaum möglich, in einer einzigen Untersuchung pädagogische Theorien aus der ganzen Welt zu analysieren und zu vergleichen. Da zumindest innerhalb des deutschsprachigen und europäischen Raums, aber auch in-nerhalb der westlichen Welt bereits auf eine lange Geschichte des wechselseitigen pä-dagogischen Austauschs zurückgeblickt werden kann, erscheint es interessanter, den

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Blick auf eine Region zu richten, über deren Pädagogik zumindest im deutschsprachi-gen Raum noch deutlich weniger bekannt ist. Damit könnte nicht nur eine deutsch-sprachige, sondern auch eine eurozentrische oder okzidentozentrische (vgl. ebd., 15) Perspektive in der Pädagogik erweitert werden.

Da Lateinamerika einerseits durch die europäische conquista und Kolonisierung sowie im Falle von Brasilien, Argentinien und Uruguay auch durch die »Massenein-wanderung aus Europa« (Caruso 2007, 81) mit der europäischen Kultur verbunden ist, andererseits die dortigen Länder, Gesellschaften und Kulturen durch das indigene Er-be, durch vielfältige Prozesse kultureller Vermischung und vor allem durch die eigene Geschichte aber auch eindeutig anders sind, bietet sich diese Region für eine derartige Untersuchung geradezu an. Zwar war Lateinamerika auch im 20. Jahrhundert Ge-genstand einiger erziehungswissenschaftlicher Untersuchungen und bildungspoliti-scher Projekte, doch zielten diese meist darauf, den dortigen Ländern aufgrund ihres Entwicklungsrückstands Bildungshilfe zu leisten. Angesichts der gegenwärtigen Krise der deutschsprachigen Pädagogik, die im Zusammenhang mit der veränderten, globa-lisierten Weltlage vielleicht nur ein Aspekt einer umfassenderen sozialen (Identi-täts-)Krise ist, soll in der vorliegenden Arbeit die Sichtweise verändert und eine la-teinamerikanische Perspektive auf die Pädagogik betrachtet7 werden. Da trotz mancher Gemeinsamkeiten jedoch auch soziale wie kulturelle Unterschiede zwischen den lateinamerikanischen Ländern bestehen, war es notwendig, ein einzelnes Land aus dieser Region auszuwählen. Da bereits eigene Voruntersuchungen zu Argentinien durchgeführt worden waren und diese darauf hindeuteten, dass es dort pädagogische Diskurse und Theorien gibt, die auch für eine Auseinandersetzung im deutschspra-chigen Raum interessant sein könnten, fiel die Wahl auf dieses südamerikanische Land.

Die vorliegende Arbeit über Pädagogik in Argentinien besteht aus fünf Teilen, in denen von Anfang an Fachliteratur aus Lateinamerika verwendet wird. Während im Ersten Teil eine erste Annäherung an den Forschungsgegenstand Pädagogik zu finden ist sowie eine Beschreibung des Forschungsansatzes, widmet sich der Zweite Teil ei-ner genaueren Bestimmung von Pädagogik, Erziehungswissenschaft und Vergleichen-der Erziehungswissenschaft. Da die Untersuchung pädagogischer Theorien in einem fremden Kontext genaue Kenntnisse über das entsprechende Land erfordert, werden im Dritten Teil sowohl allgemeine Überlegungen über die Erforschung soziokulturel-ler Kontexte angestellt als auch Aspekte und Besonderheiten der argentinischen Ge-schichte, Gesellschaft und Kultur beschrieben. Diese relativ allgemeine Auseinander-setzung mit Argentinien und seiner geschichtlichen Bildung ermöglichte es, vor diesem Hintergrund pädagogische Theorien auszuwählen, die geeignet sind, einer deutschsprachigen Leserschaft einen Einblick in das pädagogische Denken in und aus Argentinien zu liefern. Diese Theorien werden im Vierten Teil vorgestellt und exem-plarisch untereinander, aber auch mit Ansätzen aus dem deutschsprachigen Raum verglichen. Da sich der für diese Untersuchung entwickelte Forschungsansatz als hilf-

7 Ob eine lateinamerikanische Perspektive von einem europäischen Forscher eingenommen werden

kann, ist sicherlich fraglich. Daher erscheint es sinnvoller davon zu sprechen, eine lateinamerika-nische Perspektive zu betrachten bzw. zu untersuchen.

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reich erwies, um ein über den europäischen Rahmen hinausgehendes Verständnis für Pädagogik zu bilden, werden im abschließenden Fünften Teil einige zentrale Aspekte dieses Ansatzes nochmals hervorgehoben. Ebenso wird in diesem Kapitel exempla-risch auf Möglichkeiten verwiesen, den Horizont der deutschsprachigen Pädagogik und (Vergleichenden) Erziehungswissenschaft mit Hilfe von Ergebnissen aus dieser Arbeit transatlantisch zu erweitern.

Inwieweit die Erkenntnisse über Pädagogik in Argentinien zur Vertiefung des pä-dagogischen Bewusstseins beitragen können, wird letztlich jeder Leser vor dem Hin-tergrund seines eigenen pädagogischen Verständnisses selbst beurteilen müssen. Eine Auseinandersetzung mit der Pädagogik aus der Perspektive eines unterentwickelten, südlichen oder peripheren Landes könnte für Leser aus dem europäischen Raum aber zumindest zu einer anderen Sicht auf die eigene und zu einer Annäherung an eine fremde Pädagogik führen. Und vielleicht lassen sich in Argentinien ja auch noch eini-ge der guten Ideen finden, die Sarmiento in Europa suchte und in seinem Heimatland verbreiten wollte.

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Erster Teil

Theoretische Grundlagen des Forschungsansatzes und Forschungsmethoden

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1 Annäherungen an den Forschungsgegenstand Pädagogik

Für eine wissenschaftliche Untersuchung von Pädagogik auf internationaler Ebene stellt sich zu Beginn die Frage, wie eine allgemeine Bestimmung des Forschungsge-genstands möglich sein kann. Obwohl die Forschungsarbeit erst zu klären versucht, was unter Pädagogik in Argentinien verstanden werden kann, erscheint es dennoch notwendig, zunächst eine allgemeine Vorstellung des Gegenstandes Pädagogik der eigentlichen Untersuchung voranzustellen, um die Forschungsfrage zu konkretisieren und einen Ausgangspunkt zu beschreiben, an dem die Untersuchung ansetzen kann. Betrachtet man aktuelle pädagogische und erziehungswissenschaftliche Beiträge und versucht man auf diesem Wege eine systematische Übersicht über die Pädagogik als Wissenschaftsdisziplin zu erlangen, so lässt allein im deutschsprachigen Raum die Fülle an Beiträgen und die Vielzahl der verwendeten Ansätze, Konzepte und Theorien keinen anderen Schluss zu, als dass ein derartiger Überblick vom Einzelnen kaum mehr zu erreichen ist (vgl. Mertens/Frost/Böhm/Ladenthin 2008, XI–XII). Es erscheint nicht nur immer schwieriger, die Gesamtheit der unterschiedlichen Beiträge zu über-blicken, sondern es gilt auch als nicht mehr vorstellbar, diese im Rückgriff auf eine »systematische allgemeinpädagogische Einheitskonstruktion« (Mertens 2008, XV) po-sitionsübergreifend zu strukturieren, da von der »Standortgebundenheit einer jeden theoretischen Position« (ebd.) ausgegangen wird. Daraus ergibt sich nicht nur die Frage, ob angesichts dieser Situation die »Einheit des Pädagogischen« (Mertens/Frost/Böhm/Ladenthin 2008, XI–XII) innerhalb der Wissenschaft noch bewahrt werden kann, sondern auch, ob in der Konsequenz nicht das »Pädagogisch-Eigentliche« (Guardini 2000) aus dem Blick zu geraten droht. Wenn man von der erwähnten Stand-ortgebundenheit jeder pädagogischen Theorie ausgeht, so ist der Versuch einer mög-lichst allgemeinen Auseinandersetzung mit Pädagogik bereits als Beschreibung eines spezifischen Standorts zu verstehen, die auch mit dem Vorverständnis des jeweiligen Autors, mit seinen Vorarbeiten und mit seiner persönlichen Denkbiographie (vgl. Wa-terkamp 2006, 9–12) in Zusammenhang steht.

1.1 Erziehung und pädagogisches Bewusstsein Wenn hier von Pädagogik als wissenschaftlicher Disziplin die Rede ist, so gilt es zu bedenken, dass die Geschichte des pädagogischen Denkens nicht erst bei den Versu-chen beginnt, allgemeine Theorien über Erziehung zu entwerfen, die dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit gerecht werden sollen. Es ist darüber hinaus anzunehmen, dass es Erziehung zwar schon so lange gibt wie die Menschheit selbst, aber dass das bewusste Nachdenken über Erziehung erst in einem bestimmten Moment der Ge-schichte hervorgetreten ist und dadurch der Anfang für einen geistigen Bildungspro-zess gesetzt wurde, der bis zu den gegenwärtigen wissenschaftlichen Erziehungstheo-rien führt. Jedenfalls dürfte »Erziehung in Form der mündlichen Weitergabe von Maßregeln der Lebensgestaltung und die Übermittlung bestimmter kultureller Orien-

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tierungsmuster von der älteren an die jüngere Generation […] so alt wie die Mensch-heit selbst sein.« (Böhm 2004, 11) Erziehung sollte also ursprünglich dazu dienen, durch zwischenmenschliche Einwirkung die Eingliederung des Menschen in die exis-tierende Gesellschaft und seine Anpassung an die vorliegende Kultur zu befördern und Gesellschaft wie Kultur über Zeit und Generationen hinweg zu erhalten.

»Diese archaisch-primitive Erziehung bewegt sich wie alle bloße Weitergabe von Erfahrungen in ausgesprochen konservativen und festgefahrenen Bahnen. Sie bleibt im wesentlichen darauf be-schränkt, genau umschriebene Inhalte den Heranwachsenden ›beizubringen‹, ohne dass man diesen die Möglichkeit zu eigener Kritik einräumt und ohne dass man sich um deren Zustimmung kümmert, geschweige denn sich darum bemüht.« (Ebd.)

In der europäisch-abendländischen Geistesgeschichte lässt sich jedoch eine Abkehr von dieser archaisch-primitiven Vorstellung von Erziehung bereits im antiken Grie-chenland erkennen. Die griechische Antike »hat die Auffassung der Erziehung als einer bloßen Nachahmung der Älteren und als einer tätigen Eingewöhnung in das soziale Gefüge überwunden und damit zuallererst den Grund für ein pädagogisches Bewusstsein gelegt.« (Ebd.) Pädagogischem Denken liegt demnach ein Bewusstsein zugrunde, das erst durch geistige Distanzierung von den gegebenen Umständen ge-bildet werden kann und auf einer kritischen Auseinandersetzung mit den kulturellen Traditionen sowie den sozialen Strukturen der jeweiligen Zeit beruht. Die geistige Transzendenz der Wirklichkeit eröffnet die Möglichkeit, dass der Mensch sich seiner selbst bewusst wird: »Der menschliche Geist wird sich seiner selbst gewahr, besinnt sich auf sich selbst und gewinnt eine distanziert-kritische Einstellung zu den bis da-hin fraglos übernommenen und gefügig verinnerlichten Traditionen.« (Ebd., 13)

1.2 Moderne Pädagogik und Erziehungswissenschaft Erziehung findet demnach ursprünglich als Anpassung und Eingliederung der nach-wachsenden Generation in die bestehende Ordnung statt. Erst das bewusste Nach-denken über Erziehung begründet dann ein pädagogisches Bewusstsein. Aber erst bei Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), so Winfried Böhm in seiner Geschichte der Päda-gogik (2004), wird jenes moderne pädagogische Denken ersichtlich, das den Menschen selbst als Grund und Ziel von Erziehung bestimmt: »Die Bestimmung des Menschen selbst wird zum Bestimmungsgrund der Erziehung« (ebd., 67). Die Frage nach dem Wesen des Menschen, nach dem Ziel seines Lebens und nach der Möglichkeit der Humanisierung wird damit zur Grundfrage moderner Pädagogik (vgl. Mantovani 1948).

Dieses moderne pädagogische Denken kann als Ausgangspunkt einer Entwick-lung gesehen werden, in der es zumindest im deutschsprachigen Raum zu »Begrün-dungsversuchen einer Pädagogik als Wissenschaft« (Böhm 2004, 108) kam. Nach Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (vgl. 2008, 29) lässt sich der Anfang der wissenschaft-lichen Pädagogik bei Immanuel Kant (1724–1804), Friedrich D. E. Schleiermacher (1768–1834) und Johann Friedrich Herbart (1776–1841) finden. Böhm verweist in die-sem Zusammenhang darauf, dass Herbart »die Notwendigkeit einer pädagogischen

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Berufswissenschaft für die professionellen Erzieher und den aufkommenden Lehrer-stand« (Böhm 2004, 81) sah und Schleiermacher eine »wissenschaftliche Theorie der Erziehung entwarf« (ebd., 85). Nach Dietrich Benner gilt Schleiermacher deshalb als »Mitbegründer der modernen Pädagogik und Erziehungswissenschaft« (Benner 2003, 144). Die wissenschaftlichen Begründungsversuche der Pädagogik von Kant, Schlei-ermacher und Herbart mögen der ursprüngliche Grund sein, weshalb sich der »deut-sche Typ der Organisation der Erziehungswissenschaft […] von anderen nationalen Mustern […] durch seine disziplinäre Engführung« (Horn 2008, 5) abhebt. »Die Erzie-hungswissenschaft in Deutschland beansprucht(e) disziplinäre Eigenständigkeit in Abgrenzung von anderen Wissenschaften bzw. Disziplinen und war lange Zeit ge-prägt von der philosophischen, geisteswissenschaftlich-hermeneutischen Tradition pädagogischer Reflexion.« (Ebd.)

1.3 Sprache und soziokultureller Kontext Obwohl die grundlegenden Ideen des modernen pädagogischen Denkens also bereits vor etwa 250 Jahren bei Rousseau formuliert wurden und Kant verdeutlichte, dass Erziehung auf die »Menschwerdung, die Menschlichkeit des Menschen« (Schmied-Kowarzik 2008, 31) zielt sowie, damit unmittelbar verbunden, auf die schrittweise Vervollkommnung der Menschheit, der jede Generation etwas näher kommen könne (vgl. ebd., 29), zeigt sich bei dem brasilianischen Pädagogen Paulo Freire (1921–1997), dass dieses Verständnis von Pädagogik auch im 20. Jahrhundert nicht an Aktualität eingebüßt hat. Nach Ansicht von Freire war zwar die »Humanisierung […] in einem grundsätzlichen Sinne schon immer das Zentralproblem des Menschen – heute je-doch hat sie den Charakter einer unabweisbaren Fragestellung gewonnen.« (Freire 1973, 31) Wenn aber Humanisierung als pädagogisches Grundproblem und menschli-ches Zentralproblem verstanden wird, so stellt sich dieses Problem für die Gesamtheit aller Menschen, ungeachtet ihrer individuellen Anlagen und Einschränkungen und ungeachtet ihres kulturellen, sozialen, ökonomischen oder sprachlichen Hintergrun-des. Jeder Entwurf einer Pädagogik, der in diesem Sinne versucht, dem erzieherischen Handeln Orientierung zu bieten, indem die Möglichkeit der Humanisierung des Men-schen vor den jeweils gegenwärtigen (und dehumanisierenden) Bedingungen kritisch reflektiert wird, kann deshalb als allgemeine Theorie der Erziehung verstanden wer-den. Der Anspruch auf Allgemeingültigkeit dieser Theorie ergibt sich aus der für alle Menschen gleichermaßen gültigen Zielsetzung der Humanisierung.

Jedoch hat bereits Schleiermacher in seiner Vorlesung über Pädagogik von 1826 die kritische Frage gestellt, ob es denn überhaupt möglich sei, eine pädagogische Theorie zu entwerfen, die allgemeine Gültigkeit beanspruchen kann (vgl. Schleierma-cher 1826/2000). Er kommt dabei zu dem Schluss, dass der Anspruch der Pädagogik auf Allgemeingültigkeit allein durch die Gebundenheit an eine bestimmte Sprache notwendigerweise auf ein Sprachgebiet beschränkt ist:

»Unsere Theorie ist auf jeden Fall eine solche, die nicht anders als durch die Sprache mitgeteilt wer-den kann, nicht durch mathematische Zeichen. Somit ist sie schon an das Gebiet einer Sprache ge-

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bunden und auf andere Sprachgebiete nicht ebenso anwendbar. Jede einzelne Lehre würde schon nicht mehr ganz denselben Wert haben in dem Gebiet einer anderen Sprache, indem keine Sprache vollkommen in einer anderen aufgeht, und selbst jede Übertragung aus einer Sprache in die andere nur einen approximativen Wert hat.« (Ebd., 25)

Sucht man nach konkreten Beispielen, um diesen Gedanken Schleiermachers zu ver-anschaulichen, so kann es hilfreich sein, deutschsprachige Übersetzungen pädagogi-scher Theorien aus einem anderen Sprachraum zu betrachten. Zumindest fällt an der deutschsprachigen Ausgabe der Pädagogik der Unterdrückten (1973) von Paulo Freire auf, dass der zentrale Begriff conscientização vom Übersetzer nicht vom Portugiesi-schen ins Deutsche übertragen wurde (vgl. u. a. Freire 1973, 53). Diese Tatsache könn-te darauf hinweisen, dass in der deutschen Sprache kein Begriff vorliegt, der densel-ben Wert hat.

Am Beispiel der Pädagogik der Unterdrückten lässt sich aber auch zeigen, dass pädagogische Entwürfe nicht nur sprachliche Besonderheiten aufweisen können, die sich einer Übersetzung von einer Sprache in eine andere widersetzen, sondern ebenso in einem historischen und soziokulturellen Kontext stehen, von dem aus der jeweilige Autor seine Gedanken entwickelt. Freire stellt etwa gleich am Anfang seiner Pädago-gik einen direkten Bezug zu den »gegenwärtigen Widerstandsbewegungen« (ebd., 31) her und geht auf die Probleme der brasilianischen »Landarbeiter« (ebd., 33) ein. Hie-ran zeigt sich ein Zusammenhang zwischen pädagogischem Text und historischem sowie soziokulturellem Kontext.

Auch der britische Philosoph und Mathematiker Bertrand Russell (1872–1970) hat in seiner 1945 erstmals veröffentlichten Auseinandersetzung mit der Philosophie des Abendlandes auf einen Zusammenhang zwischen dem Denken eines philosophischen Autors und den auf ihn einwirkenden soziokulturellen Bedingungen hingewiesen, der auch auf die Pädagogik übertragen werden kann: »Philosophen sind sowohl Ergeb-nisse als auch Ursachen: Ergebnisse ihrer sozialen Umstände, der Politik und der In-stitutionen ihrer Zeit; Ursachen (wenn sie Glück haben) der Überzeugungen, die der Politik und den Institutionen späterer Zeitalter die Form geben.« (Russell 1945/2009, 9)

Der argentinische Pädagoge Marcelo Caruso betont in diesem Zusammenhang, dass »pädagogische Theorien eng an ihre Entstehungsbedingungen gekoppelt [sind]: Theorien erreichen nie den abstrakten Status, der durch ihre Aussagen behauptet wird, denn sie sind lokal inspirierte bzw. kontextabhängige Reflexionen und Abstrak-tionen.« (Caruso 2007, 77) Auf der anderen Seite gilt nach Caruso auch, dass die »Lek-türe als Haupthandlung einer Rezeption« stets eine »kultur- und kontextspezifische Deutung« (ebd., 115) beinhaltet.

Jede Allgemeine Pädagogik kann demnach in einem dialektischen Spannungsfeld verortet werden, das sich aus dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit und der Not-wendigkeit des konkreten Kontextbezuges ergibt. Die Überlegungen Freires zeigen, dass gerade dieser Zusammenhang zwischen universellen Ideen und partikularen Pro-blemen für die Pädagogik maßgebend ist. Obwohl Freire die »gegenwärtigen Wider-standsbewegungen« (Freire 1973, 31) als »Eigentümlichkeiten der jeweiligen Umstän-de« (ebd.) bezeichnet, sieht er »in ihrem Kern doch eben diese Besorgnis um den Menschen, um den Menschen als Menschen in der Welt und mit der Welt – die Be-sorgnis darum, was und wie der Mensch ›sein‹ kann.« (Ebd.)

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Auch Schleiermacher hat darauf hingewiesen, dass zwar Pädagogik und Erzie-hung allgemein auf die sittliche Menschwerdung zielen, aber sittliche Vorstellungen stets in einen konkreten, geschichtlichen und soziokulturellen Kontext eingebettet sind. »Die Pädagogik beruht auf der Einsicht vom Sittlichen, wie diese in einem be-stimmten Gesamtleben, für welches die Pädagogik gegeben wird, im einzelnen und großen gerade ist.« (Schleiermacher 1826/2000, 30) Vergleicht man verschiedene Ge-sellschaften und Kulturen, so kann sich zeigen, dass unterschiedliche Vorstellungen darüber bestehen, was »für gut gehalten wird« (ebd.). Auch wenn man die in einer bestimmten Gesellschaft vorherrschenden sittlichen Vorstellungen vor dem Hinter-grund der eigenen Werte ablehne, könne man dennoch nicht behaupten, dass es ein Fehler der Erziehung sei, wenn dort »das jüngere Geschlecht nach dieser Einsicht erzogen wird und, diese Einsicht auf diese Weise sich in der Masse fortbildet« (ebd.). Der Wert einer pädagogischen Theorie sowie des erzieherischen Handelns kann demnach nur an den sittlichen Vorstellungen gemessen werden, die in einer Gesell-schaft vorherrschen. »Die Erziehung ist gut und sittlich, wenn sie dem sittlichen Standpunkt der Gesellschaft entspricht.« (Ebd., 31) Daraus ergibt sich für Schleierma-cher, dass eine pädagogische Theorie einerseits nur für »das Gebiet einer bestimmten sittlichen Einsicht aufgestellt werden« (ebd.) kann und dass die Pädagogik umso voll-kommener wird, »je vollkommener die sittliche Einsicht wird« (ebd.).

An die Überlegungen Schleiermachers lässt sich die Frage anschließen, wie die Unterschiede zwischen den sittlichen Vorstellungen verschiedener Gesellschaften oder Kulturen zu bewerten sind. Besonders problematisch wird diese Bewertung wohl vor allem dann, wenn sich die Frage nach dem Umgang mit dem Anderen stellt (vgl. Todorov 1985; Wallerstein 2007). Unabhängig von der Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis von partikularer und universaler Gültigkeit bestimmter sittlicher Vorstellungen und pädagogischer Ideen kann aus dieser Überlegung der Schluss ge-zogen werden, dass pädagogische Theorien aus unterschiedlichen Ländern bzw. Kon-texten verglichen werden können, um Unterschiede wie Gemeinsamkeiten festzustel-len. Die Idee, die Pädagogik der Völker zum Untersuchungsgegenstand einer internationalen, sprach- und kulturübergreifenden Forschung zu machen, wurde im deutschsprachigen Raum von Friedrich Schneider aufgegriffen und kann als Aus-gangspunkt für sein Konzept einer Vergleichenden Erziehungswissenschaft bezeich-net werden (vgl. Schneider 1947; Allemann-Ghionda 2009).

1.4 Pädagogik als Forschungsgegenstand der Vergleichenden Erziehungswissenschaft

Obwohl bereits seit der Antike Berichte über fremde Länder, ihre Sitten und Gebräu-che sowie über ihre Erziehungspraktiken angefertigt wurden (vgl. Allemann-Ghionda 2004, 18 ff.), der »gelegentliche Vergleich von alters her üblich« (Schneider 1947, 12) war und sich in »den Erziehungsschriften des Altertums, der Kirchenväter, des Mit-telalters und der Neuzeit« (ebd.) finden lässt, kann nach Schneider von einer verglei-chenden Auseinandersetzung mit Pädagogik im Sinne einer Wissenschaft jedoch

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»erst die Rede sein, seit die Pädagogik Wissenschaftscharakter erwarb.« (Ebd., 14) Während sich nach Schneider noch wenig Anlass zum Vergleich geboten hatte, so-lange »die abendländischen Schulen […] Ausfluß des christlichen Geistes […] waren und […] in der ihnen zugrunde liegenden Ideologie im ganzen Abendland weitgehend übereinstimmten« (ebd. 13 f.), ergab sich »infolge der Auflösung des einheitlichen christlichen Geistes und der Entwicklung des nationalen Bewußtseins der verschie-denen Völker« durch die zunehmende Verschiedenheit »reicher Anreiz zu verglei-chender Betrachtung« (ebd., 14).

Während in Bezug auf Schleiermacher (vgl. 1826/2000) die Pädagogik als ein wis-senschaftlicher und möglichst allgemeingültiger Entwurf einer Theorie der Erziehung für eine bestimmte Gesellschaft oder Kultur verstanden werden kann, versucht die Vergleichende Erziehungswissenschaft nach Schneider (vgl. 1947), sowohl die Erzie-hungswirklichkeit verschiedener Länder als auch das dort vorherrschende pädagogi-sche Denken und Handeln und dort entworfene pädagogische Theorien wissenschaft-lich zu vergleichen. Im Gegensatz zur Pädagogik als praktischer Theorie zielt demnach die Vergleichende Erziehungswissenschaft nicht auf den Entwurf von Handlungstheorien, sondern versucht vielmehr, durch den Vergleich ein tieferes all-gemeines Verständnis für das Phänomen der Erziehung sowie konkrete Erkenntnisse über unterschiedliche Erziehungsvorstellungen zu erlangen.

Obwohl pädagogische Theorien dem erzieherischen Handeln möglichst allge-meingültig Orientierung bieten wollen, können sie nicht mit dem in einer Gesell-schaft vorherrschenden pädagogischen Denken gleichgesetzt werden. Dennoch kann zwischen pädagogischen Theorien und verbreiteten Erziehungsvorstellungen ein Zu-sammenhang gesehen werden. Während einerseits die Theorien das in einer Gesell-schaft vorherrschende pädagogische Denken beeinflussen können, fließen anderer-seits auch allgemeine und verbreitete Vorstellungen in die Theorien ein. Jedoch stellen pädagogische Theorien für Schneider nur einen Faktor unter anderen dar, die in ihrer Gesamtheit die Entwicklung der Pädagogik der Völker beeinflussen.

1.5 Exogene und endogene »Triebkräfte« der Pädagogik Für die vergleichende Auseinandersetzung mit der Pädagogik unterschiedlicher Völ-ker oder Gemeinwesen ist es nach Schneider zunächst notwendig, einzelne Gesell-schaften in den Blick zu nehmen und die dortige Pädagogik zu untersuchen.1 Die Pä-dagogik eines Volkes versteht er als »organisches Lebensgebilde« (Schneider 1947, 408), das von seiner Umwelt unterschieden werden kann. Von dieser Differenzierung aus-gehend versucht Schneider zu zeigen, dass Umwelteinflüsse auf die Gestaltung der Pädagogik einwirken. Diese Umweltfaktoren bezeichnet er als exogene (äußere) Trieb-kräfte der Pädagogik. Jedoch werde die Entwicklung der Pädagogik nicht nur von au-

1 Eine derartige Forschung ordnet er dem Bereich der Auslandspädagogik zu. Nach Christel Adick

findet sich diese Art der Untersuchung heute »in Gestalt vieler Länderstudien, die bei näherem Hinsehen sogar den größten Teil dessen ausmachen, was unter dem Etikett der Vergleichenden Erziehungswissenschaft geschrieben wird.« (Adick 2009, 30)

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ßen, sondern auch von innen vorangetrieben. Derartige Impulse, die von der Pädago-gik selbst ausgehen, bezeichnet Schneider als endogene (innere) Triebkräfte.

»Die gestaltende Einwirkung der Ganzheit der Umwelt auf die Pädagogik der Völker läßt sich nur so untersuchen und darstellen, daß man die erstere in ihre Komponenten zerlegt und deren Mitwirkung bei der Gestaltwerdung der Pädagogik glaubhaft macht.« (Ebd., 38)

Zu den exogenen Faktoren der Pädagogik gehören für Schneider der sogenannte Volkscharakter, der geografische Raum, die Kultur, die Geschichte und das Ausland. Die Kultur lasse sich jedoch wiederum in verschiedene Bereiche unterteilen, weshalb Schneider in diesem Zusammenhang auf die Einteilung Sprangers verweist, der zwi-schen den Hauptgebieten Wirtschaft, Gesellschaft, Staat, Kunst, Wissenschaft und Religion unterscheidet (ebd., 147). Dem Bereich der Kultur ordnet Schneider auch die Pädagogik zu. Sie entstehe aus der Kultur, die sich »ein Organ für ihre Aufgabe der Formung der Menschen in einer Theorie der Erziehung und in Schul- und Bildungs-einrichtungen« (ebd., 161 f.) schaffe. Jedoch habe erst eine langwierige Entwicklung dazu geführt, dass die Pädagogik als selbständiges Kulturgebiet anerkannt wurde.

»Erst als sich die Pädagogik als eine der letzten Wissenschaften den mütterlichen Armen der Philoso-phie entwand und zu einer selbständigen Wissenschaft wurde, und als die Schulen nicht mehr als bloße kirchliche oder politische Organe galten, sondern der pädagogischen Praxis eine gewisse Auto-nomie zuerkannt wurde, ergab sich die Berechtigung, den gesamten pädagogischen Bezirk als ein eigenes selbständiges Kulturgebiet anzuerkennen.« (Ebd., 162)

Obwohl zur Untersuchung der Umwelteinflüsse auf die Gestaltung der Pädagogik zwischen unterschiedlichen exogenen Faktoren unterschieden werde, betont Schnei-der, dass diese Differenzierung allein aus methodischen Gründen vorgenommen wer-de.

»Durch diese theoretische Isolierung kann der Eindruck erweckt werden, als wenn diese Faktoren jeder für sich, vom anderen unabhängig, auf den Inhalt und die Form des pädagogischen Denkens und der pädagogischen Wirklichkeit von Einfluss wären. Das ist aber nicht der Fall. Die Pädagogik entfal-tet sich vielmehr in der Totalität der Umwelt, in die sie hineingebettet ist, in der die verschiedensten Kraftströme im ganzheitlichen Zusammenhang, sich gegenseitig fördernd, hemmend, nebeneinander herlaufend oder aufeinanderfolgend, sich überschneidend oder überdeckend, unmittelbar oder mittel-bar wirksam sind. Auch für diese von den verschiedenen Faktoren ausgehenden, die Pädagogik der Völker gestaltenden Kräfte gilt das ›Gesetz der Kräftekomposition‹. [...] Die aus methodischen Grün-den erfolgte Isolierung der einzelnen Gestaltungsfaktoren ist also im Grunde etwas Künstliches.« (Ebd., 38)

Obwohl die exogenen Faktoren empirisch erfasst und analysiert werden können und die Vergleichende Erziehungswissenschaft nach Schneider hauptsächlich mit der Er-hebung und Analyse empirischer Erkenntnisse beschäftigt sei, gibt er zu bedenken, dass sich aus der Existenz der exogenen Faktoren ihr Einfluss auf die Pädagogik nicht mechanisch ableiten lasse und eine Pädagogik deshalb auch nicht mechanisch auf bestimmte äußere Umstände zurückzuführen sei. Vielmehr sei es die Aufgabe der Wissenschaft, mit Hilfe empirischer Beispiele allein jenen grundlegenden Zusam-menhang zwischen den äußeren Bedingungen und der Gestalt der Pädagogik glaub-haft zu machen, ohne ihn aber im streng rationalen Sinne beweisen und festschreiben zu können. Daher benennt er sehr eindeutig die Gefahr, die mit einer einseitigen Aus-

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richtung der Erziehungswissenschaft auf empirische Forschungsergebnisse einherge-he: Zwar könne man theoretisch die Umwelt in Faktoren zerlegen und diese mit em-pirischen Beispielen verbinden, doch dürfe man daraus nicht den Fehlschluss ziehen,

»die Entwicklung der Pädagogik durch die Aufdeckung des Anteils der exogenen Faktoren an ihr ›er-klärt‹ zu haben. […] Das Gesetz von Ursache und Wirkung hat […], wie auf das Geistige überhaupt, so auch auf das Erziehungsdenken keine allgemeine Anwendung wie in unserer Sinneserfahrung. Son-dern vieles in ihm ist Wirkung der Freiheit und Spontaneität.« (Ebd., 408)

Denn alles Geistige, wie die Pädagogik auch, könne zwar durch äußeren Einfluss ge-prägt werden, müsse es aber nicht. Trotz der Notwendigkeit der empirischen Unter-suchung der exogenen Faktoren dürfe deshalb die Besinnung auf die endogenen Triebkräfte der Pädagogik nicht vernachlässigt werden. Die Entwicklung der Pädago-gik gehe »auch von innen her vor sich, so daß man von einer gewissen immanenten Selbstentfaltung der Pädagogik und ihrer immanenten Gesetzmäßigkeit sprechen kann.« (Ebd., 410)

Eine umfassende Darstellung der Selbstentfaltung der Pädagogik ist für Schnei-der nicht möglich, da es sich um »wissenschaftliches Neuland« (ebd.) handle und die notwendigen Vorarbeiten fehlen. Seine Theorie begründet Schneider jedoch durch eine Analogie zur Biologie. »Was vom Leben überhaupt gilt, trifft auch für jeden ein-zelnen Lebenskreis, also auch für das Lebensgebiet der Erziehung im weitesten Sinne, zu.« (Ebd., 409) Da die Entwicklung biologischer Organismen aus Keimen hervorgehe, in denen ein innerer Trieb liege, könne man davon ausgehen, dass auch Entwicklun-gen der Pädagogik auf innere Triebkräfte zurückzuführen seien.

Schneiders Konzept der Pädagogik beruht demnach auf einer organischen Vor-stellung. Daher ist es in diesem Zusammenhang aufschlussreich, auf seine Ausfüh-rungen zum kosmisch-organischen Denken einzugehen, das unter Verweis auf Wechs-ler vom ethisch-persönlichen, vom physikalisch-mechanischen und vom rational-ma-thematischen Denken abgegrenzt wird (vgl. ebd., 416). Zentral erscheint für das kosmisch-organische Denken der aristotelische Begriff der Entelechie.

»Aristoteles kennt wie Plato die Idee des Menschen, die diesem sein Dasein verleiht. Während Plato sie aber in ein transzendentes Reich versetzt, hat Aristoteles sie aus dem himmlischen Gefilde geholt und sie in den werdenden Menschen selbst als sein Aufbau- und Organisationsprinzip gelegt, als seine Entelechie. Diese im Menschen liegende Idee treibt von innen her zur Verwirklichung.« (Ebd., 419)

Die Annahme, dass der Mensch seine Bestimmung – nach Böhm die »Bestimmung, sich selbst zu bestimmen und zu vervollkommnen« (Böhm 2004, 28) – in sich selbst trägt, kann für die Pädagogik als grundlegend bezeichnet werden und lässt sich auch bei Schleiermacher finden: »Der Mensch ist ein Wesen, welches den hinreichenden Grund seiner Entwicklung vom Anfange des Lebens an bis zum Punkt der Vollen-dung in sich selbst trägt.« (Schleiermacher 1826/2000, 10) Analog zu dieser anthropo-logischen Vorstellung überträgt Schneider den Gedanken der Entelechie auf die Pä-dagogik und spricht »von der immanenten Selbstentfaltung der pädagogischen Ideen« (ebd., 39). Geht man von der hier skizzierten Idee des Menschen aus, so lässt sich ein enger Zusammenhang zur Idee der Pädagogik aufzeigen.

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»Die Idee der Pädagogik kommt in ihrer geschichtlichen Ausgestaltung mithin dort zu sich selbst, wo der Gedanke der geschichtlichen Selbsthervorbringung des Menschen nicht mehr nur den Grund für eine Bestimmung des Menschen abgibt, sondern selbst zur Bestimmung des Menschen wird« (Böhm 2004, 10).

Die Idee der Pädagogik ist demnach unmittelbar mit einer bestimmten Idee des Men-schen verbunden. Deshalb kann die Pädagogik in diesem Sinne nur als Hilfe zur Hu-manisierung, d. h. zur Selbstbestimmung des Menschen, gedacht werden. Obwohl die Idee der Pädagogik mit dieser Erkenntnis demnach zu sich selbst gekommen ist, muss nach Schneider dennoch von einer bestehenden Spannung zwischen der Pädagogik und ihrer Idee ausgegangen werden. Denn nur der Idee nach hilft die Pädagogik der Selbstbestimmung der Menschen. Ob und inwieweit sie auch wirklich diesem Ziel dient, muss fragwürdig bleiben – und zwar gerade aus dem Grund, dass der Mensch ja nicht von außen bestimmt werden, sondern sich selbst bestimmen soll. »Diese Er-ziehung wird sich auch in Zukunft nicht technologisch bewerkstelligen lassen, und die Pädagogik ist gut beraten, wenn sie sich der Grenzen und Kautelen bewusst bleibt, die die historische Erfahrung lehrt und bereit hält.« (Ebd., 124)

Diese Spannung zwischen Idee und Wirklichkeit der Pädagogik drückt sich auch in der Pädagogik selbst aus, da sie nach Schneider »in die beiden Teilbezirke der The-orie und der Praxis, des Bildungsdenkens und der Bildungswirklichkeit, zerfällt.« (Schneider 1947, 430) Fragwürdig wird damit, inwieweit das zu einer bestimmten Zeit vorherrschende pädagogische Denken und Handeln der Selbstbestimmung des Men-schen auch wirklich hilft. Die Idee der Pädagogik erscheint damit als kritische Instanz, vor deren Hintergrund das pädagogische Denken und Handeln stets überdacht wer-den müssen. In diesem Sinne erscheint die Annahme durchaus sinnvoll, die Idee der Pädagogik als Kraft zu betrachten, die von innen zur Verwirklichung drängt und da-mit auf die Gestaltung der Pädagogik einwirkt.

»Die [...] Entwicklung der pädagogischen Theorie [...] wirkte [...] anregend und befruchtend, regulie-rend, normgebend und zielsetzend auf das pädagogische Tun. [...] Umgekehrt beeinflußt die pädagogi-sche Praxis das pädagogische Denken, und zwar dadurch, daß es ihm pädagogische Sachverhalte und praktische Probleme zur spekulativen Beschäftigung darbietet [...], einen pädagogischen Gedanken in der pädagogischen Wirklichkeit erprobt, seine etwaigen Übertreibungen, Einseitigkeiten oder sonsti-gen Mängel bloßlegt, seine Lückenhaftigkeit oder Lebensfremdheit aufdeckt und ihre Korrektur an-regt, den Anstoß zur Reform, eventuell zu seiner Um- oder Weiterbildung gibt. So wirkten also die pädagogische Theorie und Praxis wechselseitig gestaltend aufeinander ein.« (Ebd., 438 f.)

Obwohl es einsichtig erscheint, dass aus dem »Gegenseitigkeitsverhältnis von päda-gogischer Theorie und Praxis« (ebd., 440) eine Dynamik entsteht, die in diesem Sinne aus der Pädagogik selbst hervorgeht, betont Schneider, dass bei einer derartigen Be-trachtungsweise die Beeinflussung dieser endogenen Faktoren durch exogene nicht vergessen werden dürfe.

»Wenn man [...] die pädagogische Theorie und Praxis selbst als endogene Faktoren auffaßt und sie theoretisch von den exogenen Faktoren isoliert, so darf das doch nicht dazu führen, daß man den komplexen Zusammenhang der beiden Faktorengruppen übersieht. Die Wirkungsweise der inneren Faktoren ist keineswegs autark, sondern von den äußeren Faktoren wie Charakter, Kultur, Politik usw. der Völker weithin abhängig. Das gilt auch für Theorie und Praxis als Faktoren der pädagogischen Selbstentfaltung.« (Ebd., 439)

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