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Philosophie nach Marx

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Christoph Henning (Dr. phil.) unterrichtet Kulturwissenschaften an der ZeppelinUniversity in Friedrichshafen und forscht derzeit zu Themen der Arbeit, der Ge-fühlstheorie und der Theoriegeschichte.

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Christoph Henning

Philosophie nach Marx100 Jahre Marxrezeption und die normative

Sozialphilosophie der Gegenwart in der Kritik

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Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissen-schaften in Ingelheim am Rhein

Bibliografische Information der Deutschen BibliothekDie Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National-bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2005 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheber-rechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen,Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Umschlaggestaltung und Innenlayout: Kordula Röckenhaus, BielefeldLektorat und Satz: Christoph HenningDruck: Majuskel Medienproduktion GmbH, WetzlarISBN 3-89942-367-4

Leider war es dem Autor nicht möglich, den Rechteinhaber der Umschlagabbil-dung ausfindig zu machen. Wir bitten etwaige Rechteinhaber, sich beim Autor zumelden.

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

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INHALT

Vorrede 9 1 Einleitung 11 1.1 Die Fragestellung 11 1.2 An Marx festhalten? Ein Vorbegriff seiner Theorie 14 1.3 Die Lücke in der Sozialtheorie der Gegenwart 17 1.4 Zur Methode dieser Arbeit 20

1.4.1 Die Beschränkung auf Texte 20 1.4.2 Der deutschsprachige Schwerpunkt 21 1.5 Der Aufbau der Arbeit 23 2 Marx gestern: Zur Genese theoretischer Fehlrezeptionen 27 2.1 Marx in der Theorie der Sozialdemokratie 31 2.1.1 Das Erfurter Programm 31 2.1.2 Der Revisionismus 40 2.1.3 Der Neukantianismus als gegenstrebige Fügung 49 2.1.4 Die Orthodoxie 52 2.1.5 Systematische Kernpunkte I: Die Reproduktionsschemen 60 2.1.6 Systematische Kernpunkte II: Der Fall der Profitrate 77 2.2 Marx in der Theorie des Kommunismus 88 2.2.1 Die Rolle der Gewalt 89 2.2.2 Die Organisation der Partei 95 2.2.3 Die Diktatur des Proletariats 98 2.2.4 Schöpferische Entwicklung des Marxismus 105 2.2.5 Der Trotzkismus – ein geringeres Übel? 111 2.2.6 Systematische Kernpunkte III: Der Imperialismus 114 2.3 Marx in der ökonomischen Theorie 130 2.3.1 Marx zwischen wirtschaftswissenschaftlichen Paradigmen 130 2.3.2 Marxwiderlegungen aus neoklassischer Sicht 141 2.3.3 Übernahme der Neoklassik durch Marxisten 152 2.3.4 Ausstrahlung des Paradigmas in Nachbarwissenschaften 167 2.3.5 Systematische Kernpunkte IV: Zur Geldtheorie bei Marx 169

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2.4 Marx in der (deutschen) Soziologie 190 2.4.1 Die Aufteilung der Welt in normfreie Funktionen und normative Rahmen 193

2.4.2 Woher die Vorherrschaft der Neoklassik in der Soziologie? 200 2.4.3 Normativität als Lückenbüßer unvollständiger Weltbilder 203 2.4.4 Die Projektion der Schwächen auf die Symbolfigur Marx 211 2.4.5 Kritik der Technokratiethese und Industriesoziologie 215 2.4.6 Die soziologische Behandlungsart sozialer Klassen 224 Systematische Kernpunkte V: Klassen bei Marx 225 Klassen (und mehr) bei Max Weber 230 Klassen bei Helmut Schelsky 237 Klassen bei Niklas Luhmann 245

2.5 „Von Marx zu Heidegger“: Sozialphilosoph 251 2.5.1 Ein Kategorisierungsversuch von René König 253 2.5.2 Philosophiehistorische Vergegenwärtigung des Idealismus 258 Der Einfluss Fichtes 258 Der Einfluss Nietzsches 262 Der Einfluss Hegels 264 Die Weltanschauungs- und Lebensphilosophie 267 2.5.3 Rudolf Eucken als Vorläufer 277 2.5.4 Georg Lukács als Mittelsmann 286 2.5.5 Martin Heideger als Ausläufer 302 Heidegger und Marx 304 Heidegger und der Nihilismus 312 2.5.6 Die Systemphilosophie Niklas Luhmanns 321 2.5.7 Systematische Kernpunkte VI: Marx und Hegel 328 Marx als Hegelkritiker 328 Hegelmarxismus: Semantische Verschiebungen 336

2.6 Kritische Theorie oder die Auflösung der Kritik in Religion 343 2.6.1 Horkheimers Lebensphilosophie 344 2.6.2 Pollocks hermetische Staatskapitalismus-Analyse 350 2.6.3 Adornos quietistischer Utopismus 355 2.6.4 Systematische Kernpunkte VII: Marx’ Religionskritik 362 2.6.5 Religionskritik als Politikum 373 2.6.6 Vier theologische Positionen zu Marx 376 Ablehnung wegen „Atheismus“ 376 Toleranz trotz „Atheismus“ 378 Religiöser Sozialismus 380 Exkurs: Kritik philosophischer Säkularisationstheorien 384 Trennung von Religion und Politik 398 2.6.7 Walter Benjamins politische Theologie 400

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3 Marx heute: Kritik der Gegenwartsphilosophie 4113.1 Jürgen Habermas oder die Rückkehr der Philosophie des Rechts 414 3.1.1 Anthropologische Anfänge 416 3.1.2 Die Transformation in Rationalitätstypen 421 3.1.3 Der Mythos der „normativen Fundamente“ 423 3.1.4 Systematische Kernpunkte VIII: Marx und die Ethik 430 3.1.5 Die prozeduralen Strukturen 438 3.1.6 Systematische Kernpunkte IX: Marx und das Recht 454

3.2 John Rawls oder die Apotheose des Nichtwissens 462 3.2.1 John Rawls als Neoklassiker 463 3.2.2 Rechtfertigung von Stachanov 469 3.2.3 Die Reaktion des Kommunitarismus 471 3.2.4 Reaktionen in der deutschen Philosophie nach 1989 480 Otfried Höffe 482 Wolfgang Kersting 483 Axel Honneth 485

3.3 Wirtschaftsethik: eine „normativ gehaltvolle“ Gesellschaftstheorie? 491 3.3.1 Hintergründe des Aufstiegs dieser Disziplin 491 3.3.2 Theologische Wirtschaftsethik 494 3.3.3 Betriebswirtschaftliche Wirtschaftsethik 501 3.3.4 Historistische Wirtschaftsethik 509 3.3.5 Der Hegelianismus der Wirtschaftsethik 515 3.3.6 Globalisierungskritik als Platzhalter 519

3.4 Neopragmatismus oder die Permanenz Hegels 522 3.4.1 Die deutsche Pragmatismusrezeption als Problemanzeige 523 3.4.2 Eine Transformation des deutschen Idealismus? 526 3.4.3 Neopragmatismus und Marxismus als feindliche Brüder 534 3.4.4 Die Bewahrung von Rationalität und Normativität bei Marx 539

4 Folgerungen für die Philosophie nach Marx 543 4.1 Die Rolle der Realität als Maß der Verortung 5444.2 Topologie der Sozialphilosophie 548 4.2.1 Topik der Philosophie bei Kant 549 4.2.2 Überwindung des Dualismus bei Hegel 550 4.2.3 Transformation der Philosophie (Hegels) bei Marx 551 4.2.4 Transformation der Philosophie (Hegels) im Pragmatismus 554 4.2.5 Supernormativismus: Doppeltransformierte Philosophie 556

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4.3 Funktion und Reichweite der Theorie bei Marx 557 4.3.1 Grundzüge der Theorievermeidung in der Marxkritik 558 4.3.2 Marx’ Theorie ist kein Determinismus 560 4.3.3 Marx’ Thema ist die bürgerliche Gesellschaft 561 4.3.4 Neoklassische Umbesetzungen der ökonomischen Theorie 562 4.3.5 Der Nebenschauplatz Dialektik als diskursive Verschiebung 563 4.3.6 Die Aufgabe einer Kritik der normativen Sozialphilosophie 564

4.4 Normative Theorie: Ethik als Erklärungssubstitut 566

5. Literatur 571

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Vorrede

Wir leben in turbulenten Zeiten – viele, allzu viele Dinge sind im Umbruch. Dies betrifft nicht nur Wirtschaft, Kultur und Politik, sondern zunehmend auch die Wissenschaften, und zwar im besonderen Maße die Kultur- und Sozialwissen-schaften. Obwohl sie durch diese Betroffenheit eigentlich zur Empathie mit ande-ren Betroffenen befähigt sein müssten, führt die allseitige Umstrukturierung der-zeit eher zur Selbstbeschäftigung der Anwälte des Allgemeinen mit sich selbst: eine selbstverschuldete autopoiesis. Das hat zur Folge, dass wichtige Themen auf der Strecke bleiben – kurzfristige Modewellen haben sich weiterer Felder der Wissenschaft bemächtigt, als man für vertretbar halten möchte.

Die Philosophie hatte schon immer die Narrenfreiheit, sich der Themen an-zunehmen, die in anderen Fächern eher tabuisiert werden; im gewissen Sinne lebt sie sogar von diesem Mut zum Antizyklischen. Gerade heute, wo oft viel Staub aufgewirbelt wird, wirbeln auch ideengeschichtliche Gehalte nicht selten herren-los umher. Doch nur wer die alten Theorien kennt, kann beurteilen, was an den neuen eigentlich neu oder besser sein soll. Natürlich gibt es auch Wissensfort-schritte, aber sie sind kontingent und durch nichts garantiert. Daher ist genau hinzusehen, was da eigentlich an Weltdeutungen herum geboten wird.

Dieses Buch versteht sich als Propädeutik in dieser Hinsicht, und darin be-steht seine Aktualität. Ohne die Überzeugung, mit diesen teilweise weit ausho-lenden ideengeschichtlichen Archäologiearbeiten dicht an heutigen Problemen zu sein, hätte ich niemals so viel Energie in sie hineinstecken können. Zum Gelin-gen einer solchen Arbeit gehört aber mehr als das, und darum möchte ich mich an dieser Stelle bei denen bedanken, die ganz wesentlich dazu beigetragen haben: neben meiner Familie, die mich all die Jahre unterstützt hat, sind das zunächst meine Gutachter Prof. Thomas Rentsch und Prof. Karl-Siegbert Rehberg aus Dresden sowie Prof. Ulrich Steinvorth aus Hamburg. Bedanken möchte ich mich auch ganz herzlich bei Amalia Barboza, Daniel Schulz, Verena Poloni, Sidonia von Ledebur und Morris Vollmann für mühevolle Korrekturen und wertvolle Kommentare, und bei Grit Hein, die mir das und weit mehr gegeben hat.

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Zu Dank verpflichtet bin ich auch der Studienstiftung des deutschen Volkes für ihr Promotionsstipendium und viele Anregungen und Bekanntschaften; der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften für einen Druckkostenzuschuss; der Philosophischen Fakultät der TU Dresden für den Ab-solventenpreis; dem transcript-Verlag, insbesondere Gero Wierichs, für die gute Betreuung; Prof. Anwar Shaikh von der New School University in New York für seine unvergleichliche analytische Kraft; sowie meiner neuen Wirkungsstätte, der Zeppelin University, für eine ganz andere, aber ähnlich revolutionäre Arbeitsat-mosphäre wie die, in die mich die Arbeit an diesem Thema stets versetzt hat.

Zuletzt möchte ich zugeben, dass der polemische Ton der Marx’schen Schrif-ten, wenn auch unwillkürlich, etwas auf mich abgefärbt hat. Daher möchte ich diejenigen, die sich durch die Lektüre dieser Arbeit angegriffen fühlen sollten, schon vorab bitten, es nicht persönlich zu nehmen, sondern lieber mit der Feder in der Hand zu reagieren und es inhaltlich besser zu machen. Es geht hier um keine neue Doktrin, sondern um neue Auseinandersetzungen.

Frankfurt, im Juli 2005

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1. Einleitung

1.1 Die Fragestel lung

Als Triftigkeitserweis eines Denkers dient gemeinhin die Quote an Publikationen über ihn. Daher werden philosophische Arbeiten oft mit einem Verweis auf aktu-elle Texte eingeleitet, in denen ein der weiteren Bearbeitung für würdig befunde-nes Problem aufgewiesen wird. Wenn man vom deutschen Buchmarkt einmal ab-sieht, so ist an seriösen Neuerscheinungen über Karl Marx kein Mangel.1 Im deutschsprachigen Raum gibt es zwar einige neue Bücher zu Marx, allerdings haben sie meist den faden Beigeschmack politischer Nachhutgefechte.2

Doch im Falle von Marx verhält sich ohnehin vieles anders. So war das Prob-lem, um das es ihm ging, nicht textual, sondern real: es war der horrible Zustand der menschlichen Welt. Denkt man an die vielen Hungerepidemien bei gleichzei-tigem Wohlstand, an die vorsätzlich in Kauf genommenen Naturkatastrophen und die anhaltenden sozialen Konflikte weltweit, hat sich daran wenig geändert. Deutlicher als durch die Anzahl an Publikationen zeigt sich die Aktualität von Karl Marx daher in Phänomenen der realen Welt: Schon bei der täglichen Zei-tungslektüre fallen verschiedene Schlagzeilen auf wie eine steigende Arbeitslo-senzahl, eine steigende Staatsverschuldung, stets neue Kürzungen von Leistun-gen für Arbeitnehmer und Steuererleichterungen für Unternehmen, häufige Um-weltskandale, eruptive Wirtschaftskrisen wie jüngst in Asien, Argentinien und

1 Im angelsächsischen Sprachraum jüngst Bermann 1999, Itoh 1999, Wheen 1999, Pe-

relmann 2000, Boudin 2001, Dussel 2001, Lee-Lampshire 2001, Oihshi 2001, Renton 2001, Arthur 2002, Brenner 2002, Campbell 2002, Desai 2002, Eatwell 2002, Martin 2002, Megill 2002, Rockmore 2002, Sullivan 2002, Wolff 2002, Antonio 2003.

2 Den kalten Krieg in der Theorie perpetuieren Thomas 1993, Khella 1995, Löw 1996, 2001, Kelpanides 1999, Schöler 1999, Gerhardt 2001, Backes 2002 oder die BildDresden 2002. Einige Werke, die nach Fertigstellung dieses Buches erschienen sind (M. Berger 2003, Iorio 2003, Kittsteiner 2003, Postone 2003, Heinrich 2004, H.-J. Lenger 2004 und Derrida 2004), habe ich inzwischen in Rezensionen behandelt, sie-he Henning 2004a, 2005, 2005c und 2005e.

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Brasilien sowie das allmähliche Absterben Afrikas durch die Schuldenkrise und durch AIDS, wobei die Rolle großer Pharmakonzerne hervorsticht (Werner 2001, 106, 226). Es gibt bewaffnete Konflikte in aller Welt, oft entlang der Kreuzung ökonomischer Interessen, und neuerdings eine Aushöhlung der mühsam errunge-nen internationalen Rechtsstandards, nicht nur durch Kriege (Habermas 2003a), sondern beispielsweise auch durch Korruption (Henning 2005g). Über allem schwebt die Grundmusik einer globalen Privatisierung von Ausbildung, Alters-versorgung und Gesundheit sowie der ständigen Ausweitung der Masse und Mo-bilität globaler Geldströme. Währenddessen wächst die Ungleichheit innerhalb und zwischen den Nationen weltweit permanent an.

Was hat das mit Marx zutun? All diese Phänomene sind mit der Marx’schen Theorie erklärbar. Es ist das ganz normale Verhalten des global agierenden und anarchischen kapitalistischen Wirtschaftssystems. Damit sind Marx’ Theorien aktueller denn je.3 Mit ihm sind die genannten Phänomene nicht nur zusammen-hängend zu verstehen, es sind sogar Wirkmechanismen zu dechiffrieren, die hin-ter diesen Phänomenen stehen. Diese sind nicht mehr Gegenstände einer ober-flächlichen Zeitungslektüre, sondern einer Wissenschaft, und zwar der politi-schen Ökonomie. In dieser konstatierte Marx ein sich beschleunigendes kapitalis-tisches Wachstum, periodische Krisen der globalen Wirtschaft und eine Tendenz zur gesellschaftlichen Polarisierung. Das vermag jene Prozesse zu erklären, deren Manifestationen die Zeitungsmeldungen nur beschreiben.

Wenn aber die vortheoretische Wahrnehmung der sozialen Realität allerorten davon zeugt, dass Marx aktuell ist,4 warum ist dann in der deutschsprachigen So-zialphilosophie so wenig davon zu spüren? Die Antwort lautet meist: weil der Sozialismus untergegangen ist. Doch das ist „faule Vernunft“ (Kant, KrV, B 717/801), glich doch das politische Modell der zerfallenen Ostblockstaaten in keiner Weise einem „Verein freier Menschen“.5 Warum sollte Marx ausgerechtet mit dem Niedergang eines Imperiums, das fast jeden emanzipatorischen Gedan-ken erstickte, vergessen werden? Eine Denkart, die im Kern Kritik am Bestehen-den ist, kann sich nicht derart eng an Bestehendes heften, dass sie mit diesem vergeht. Das hat die Geschichte der jüdisch-christlichen Religion oft bewiesen. Es muss andere Gründe dafür geben, dass das einst zentrale marxistische Denken vierzehn Jahre nach der Wende angesichts der Rückkehr des Turbokapitalismus (Fehrmann 1997, Luttwak 1999) noch immer nur vegetiert.

3 „Marx’s theories have never been more relevant“ (Rockmore 2002, xii; Wolff 2002). 4 Die Financial Times Deutschland betitelt ein Marxportrait: „Marx hätte die Globa-

lisierung der Politik sicher befürwortet“ („Gegen die Allmacht Washingtons“, 22.08.02). Das Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt schrieb: „Wäre der Marxismus nicht tot, müsste er jetzt eigentlich triumphieren“ („Marx und die Banken“, 10. 03. 2000; vgl. Sichtermann 1990, Ziegler 1992, Cassidy 1997, Hobsbawm 1998, Leuen-berger 2001, H. Lohmann 2001, 137; W. Winkler 2003).

5 MEW 1, 95; MEW 23, 92. Angezielt war eine „allseitige Entwicklung der Individu-en“ (MEW 3, 424) – nicht als Einzelner, sondern „als eines gesellschaftlichen, d.h. menschlichen Menschen“ (MEW 40, 536; cf. Fromm 1963).

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EINLEITUNG | 13

Einer dieser Gründe ist theoriegeschichtlicher Natur: Als Denkschule hatte sich der Marxismus lange vor 1989 erschöpft. Der dogmatisierte, gebetsmühlen-haft vorgetragene „dialektische Materialismus“ auf der einen, der zur „Kulturkri-tik“ abgeflachte westliche Marxismus auf der anderen Seite des eisernen Vor-hangs waren theoretisch längst nicht mehr tragfähig. Um diese Marxismen imp-lodieren zu lassen, brauchte es nur eines Anstoßes. Und es ist gut so. An solche „Schwundstufen“ des Marxismus wäre heute ohnehin nicht mehr anzuknüpfen.6

Wenn überhaupt, so kann heute nur an der Marx’schen Theorie selbst angeknüpft werden, wie sie in seinen Texten steckt. Doch hier gibt es ein Problem. Um zu ihr zu gelangen, muss zuerst die fatale Wirkungsgeschichte seiner Texte aufgear-beitet werden – nicht nur die politische, sondern auch die theoretische. Andern-falls bleibt es bei Neuauflagen dieses oder jenes problematischen marxistischen Narrativs, mit dem im Rücken die Marx’schen Texte schon vorausgelegt werden. Eine solche Perpetuierung der nicht erst 1989 fraglich gewordenen Urteile über das Marx’sche Denken begegnet nicht nur in Rechtfertigungsstrategien des Be-schweigens von Marx, sondern auch in den Versuchen, die Erinnerung an ihn theoretisch wach zu halten – was seine Relektüre mehr verhindert als fördert.7

Das Ziel dieser Arbeit ist es daher, die überkommenen Rezeptionsbarrieren und immanenten Verzerrungen des Marx’schen Denkens zu überwinden, zumin-dest soweit sie theoretisch fassbar sind. Nur so kann es für die Sozialtheorie wie-der fruchtbar gemacht werden. Dazu ist diese Arbeit ein erster Schritt. Ihre Fra-gestellung greift einen Abschnitt heraus, den sie nur in begrenzter Weise beant-worten kann. Sie nähert sich ihrem Ziel über zwei Fragestellungen:

1. Wie lässt sich, angesichts der offensichtlichen Aktualität von Marx für vortheore-

tische Betrachtungen, begreiflich machen, dass sich heutige Sozialwissenschaften

und Sozialphilosophien in ihren Theorien von Marx meist so deutlich fernhalten?

2. Welche Auswirkungen hat dieses „ausgesparte Zentrum“ (Johannes 1995), das

Fehlen von Marx’schen Einsichten, für den Charakter heutiger Sozialphilosophie?

Die Bearbeitung dieser Fragen eröffnet am Ende systematische Perspektiven auf ein reflektiertes und kritisches Verständnis von Philosophie. Dieses Ergebnis gab der Arbeit ihren Namen. Das Material, an dem diese Fragen untersucht werden,

6 Der Begriff „Schwundstufe“ entstammt einer Pathogenese des Kantianismus (Mar-quard 1954). Zur „Krise des Marxismus“ siehe Althusser 1978, Kallscheuer 1986, anschaulich Koenen 2001, vgl. schon Korsch 1935.

7 Verbliebene Marxisten recyceln oft alte Argumente, siehe etwa Steigerwald 1996, Backhaus 1997, Stieler 1997, Haug 2001 oder Kurz 2001. Auch Honneth (1999a, 2002) und Wildt (1997, 2002) lesen Marx weiter wie gehabt, nämlich normati-vistisch. Die Ökonomen bedienen sich ebenfalls alter Argumente (Nutzinger 1999, Heinrich 2001, Gerlach 2003). „Vor einer ‚positiven’ Rekonstruktion der Marxschen Theorie muss daher die Untersuchung dieser Wirkungsgeschichte stehen“ (Stephan 1974, 111; ähnlich Rockmore 2002, xiv, 1 ff.). „Old ideas give way slowly; for they are more than abstract logical forms and categories. They are habits …, deeply engrained attitudes of aversion and preference“ (Dewey 1910, 14).

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wird in doppelter Hinsicht eingeschränkt: Es geht dabei nur um Theorien, und zwar primär um deutschsprachige Theorien. Diese beiden Einschränkungen sind nicht äußerlich, sondern in der Sache gegründet. Erst sie erlauben eine metho-disch klare Vorgehensweise. Dieser Ansatz wird in Kapitel 1.4 dargestellt. Aus ihm folgt eine bestimmte Gliederung dieser Arbeit, die zur Orientierung kurz vorgestellt wird (1.5). Da auf das Fehlen von Marx in den gegenwärtigen Theo-rien noch eingegangen wird (einleitend 1.3), seine sachliche Berechtigung aller-dings aufgrund der methodischen Beschränkung auf eine Analyse von Theoriennicht eigens aufgenommen wird, werden zuvor die Andeutungen über die realen Phänomene vertieft, da ja erst sie diese Arbeit plausibilisieren. Solche Beobach-tungen spannen den Bogen, von dem sie ihre motivationale Kraft bezieht (1.2).

1.2 An Marx festhal ten? Ein Vorbegri f f seiner Theorie

„Die eigentlich Frage, die die Epochenwende von 1989 aufgeworfen hat, ist [...] nicht die, die heute in aller Munde ist: warum ‚der’ Sozialismus geschei-tert ist. Die Frage müsste vielmehr lauten: warum mehrere Generationen von Kommunisten und linken Intellektuellen den Staatssozialismus der rückstän-

digsten Regionen [...] gegenüber den hochentwickelten kapitalistischen In-dustrienationen als Fortschritt [...] begreifen konnten.“ (Schneider 1992, 15)

Diese Arbeit versteht sich als philosophische. Sie erhebt nicht den Anspruch, ei-ne eigene politökonomische Analyse der Gegenwart zu geben. Allerdings geht jede sozialphilosophische Betrachtung von einem bestimmten Vorgriff aus, von dem aus sie die soziale Welt schon vorausgelegt hat (Henning 2001b). Das her-meneutische „Vorurteil“, von dem diese Arbeit ausgeht, ist eine vom common sense (Reid 1784) getragene Weltsicht, die etwa Folgendes beinhaltet:

Heute entscheidet die wirtschaftliche Lage eines Landes über das Schicksal von Politikern. Kultur und Erziehung hängen von wirtschaftlichen Daten ab. In Brasilien, Südafrika und Israel, aber auch in den USA und in England gibt es für Besserverdienende bereits militärisch befestigte Wohnsiedlungen.8 Im Unter-schied zu vielen heutigen Ansätzen nehmen wir dies als vortheoretischen Beleg dafür, dass die Aussagen von Marx höchst aktuell sind. Zumal seit 1989 wird er-kennbar, dass der Kapitalismus nach wie vor existiert. Alles wird der Logik des Marktes unterstellt, auch vormals geschützte Bereiche wie Verkehr, Gesundheits- und Sozialwesen, Kultur und Bildung. In den USA gibt es Jobs, die allein nicht mehr zum Lebensunterhalt ausreichen (Ehrenreich 2001). Gleichzeitig steigen die Bezüge in höheren Etagen rasant (Kienbaum 2003). Der Trend zur unglei-chen Entwicklung ist deutlich, selbst das Wort Klasse ist wieder gesellschaftsfä-

8 Für ähnliche Wahrnehmungen siehe etwa Philipps 1990, Chomsky 1993, S. George 1995, UNDP 1996, Forrester 1997, Gray 1999, Soros 1999, Klein 2001, Kraus 2001, Chossudovsky 2002, Ziegler 2002, Worldwatch 2003.