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1. Einfiihrung 1.1 Volkswirtschaftliche Gro6en und Zusammenhange 1.1.1 Aufgabenstellung der Volkswirtschaftslehre Jede Studentin und jeder Student der Volkswirtschaftslehre verrugt aufgrund der bisherigen Lebenserfahrung fiber weitreichende Kenntnisse volkswirtschaftlicher Begriffe und wirtschaftlicher Abhangigkeiten. Insoweit sind die Phanomene des Wirtschaftslebens nicht unbekannt. Die Disziplin "Volkswirtschaftslehre" kann daher von vornherein mit ihren Fragestellungen und Aussagen auf wirtschaftlichem Grundwissen aufbauen. Ein einruhrendes Lehrbuch zu den Grundlagen der Volks- wirtschaftslehre will diese Vertrautheit mit den Begriffen und Beziehungen aus der Erfahrungswelt bewuBt aufgreifen. Damit solI einerseits deutlich werden, daB sich die Volkswirtschaftslehre als sozialwissensehaftliche Disziplin mit Erscheinungen der jedermann zuganglichen sozialen, d.h. gesellschaftlichen Umwelt befaBt. Es werden in der Volkswirtschaftslehre aus dieser gesellschaftlichen Umwelt ganz konkrete, wirtschaftliche Sachverhalte herausgehoben, beschrieben und in ihren Zusammenhangen erlautert. Zugleieh ist die Volkswirtschaftslehre als wissen- schaftliehe Disziplin bestrebt, diese erfahrbaren wirtschaftliehen GroBen und deren Verfleehtungen systematisch und zusammenhangend zu untersuehen und hierbei eine einheitliche Analysemethode zu benutzen. Es geht ihr darum, mit eindeutig definierten Fachbegriffen eine gesehlossene Besehreibung wirtschaftlicher Tat- bestande vorzunehmen und eine faehspezifische Analyse zu unterbreiten, die we- sentliche wirtschaftliche Abhangigkeiten verdeutlichen kann. Hier ergeben sich vielfaeh bei Studierenden die ersten Probleme mit der Dis- ziplin Volkswirtschaftslehre, denn die aus dem Alltagsleben vertrauten Begriffe, GroBen oder Wirkungszusammenhange sind vie len von ihrer Definition, ihrem sachlichen Inhalt oder auch in ihrem okonomiseh begriindbaren Ablauf nicht hin- reichend klar. Es kommt hinzu, daB die Alltagssprache sowie die Ausdrucksweise in Veroffentlichungen oder PresseauJ3erungen haufig zwischen unterschiedlichen Sachverhalten und Begriffen nieht trennt, zum Teil vollig unzutreffende Bezeich- nungen verwendet oder Zusammenhange unterstellt oder behauptet, die bei syste- matischer, wirtschaftlieher Betrachtung nicht vorliegen. Die Grundlagen der Volkswirtschaftslehre haben als erste Aufgabe, wirt- schaftswissenschaftliehe Begriffe zu klaren, ihren Bedeutungsinhalt aufzuzeigen und auch die Begrenztheit darzustellen, die den Begriffen innewohnt, weil sie immer auf spezifisehen Defmitionen und Abgrenzungen beruhen. Daneben muB sie in die Lage versetzen, einfaehe wirtschaftliche Analysen selbstandig durchfUhren zu konnen. Damit diese Analysen aber wirtschaftswissenschaftlich fundiert sind, bedarf es der Vertrautheit mit der Methode der wissensehaftliehen Disziplin Volks- wirtschaftslehre. Denn volkswirtschaftliches Denken und volkswirtschaftliche Analysen unterscheiden sich wesentlich von anderen sozialwissensehaftlichen Disziplinen. Der eigentlich wirtsehaftliehe Aspekt, d.h. das Abwagen von Vortei- G. Graf, Grundlagen der Volkswirtschaftslehre © Physica-Verlag Heidelberg 2002

[Physica-Lehrbuch] Grundlagen der Volkswirtschaftslehre || Einführung

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1. Einfiihrung

1.1 Volkswirtschaftliche Gro6en und Zusammenhange

1.1.1 Aufgabenstellung der Volkswirtschaftslehre

Jede Studentin und jeder Student der Volkswirtschaftslehre verrugt aufgrund der bisherigen Lebenserfahrung fiber weitreichende Kenntnisse volkswirtschaftlicher Begriffe und wirtschaftlicher Abhangigkeiten. Insoweit sind die Phanomene des Wirtschaftslebens nicht unbekannt. Die Disziplin "Volkswirtschaftslehre" kann daher von vornherein mit ihren Fragestellungen und Aussagen auf wirtschaftlichem Grundwissen aufbauen. Ein einruhrendes Lehrbuch zu den Grundlagen der Volks­wirtschaftslehre will diese Vertrautheit mit den Begriffen und Beziehungen aus der Erfahrungswelt bewuBt aufgreifen. Damit solI einerseits deutlich werden, daB sich die Volkswirtschaftslehre als sozialwissensehaftliche Disziplin mit Erscheinungen der jedermann zuganglichen sozialen, d.h. gesellschaftlichen Umwelt befaBt. Es werden in der Volkswirtschaftslehre aus dieser gesellschaftlichen Umwelt ganz konkrete, wirtschaftliche Sachverhalte herausgehoben, beschrieben und in ihren Zusammenhangen erlautert. Zugleieh ist die Volkswirtschaftslehre als wissen­schaftliehe Disziplin bestrebt, diese erfahrbaren wirtschaftliehen GroBen und deren Verfleehtungen systematisch und zusammenhangend zu untersuehen und hierbei eine einheitliche Analysemethode zu benutzen. Es geht ihr darum, mit eindeutig definierten Fachbegriffen eine gesehlossene Besehreibung wirtschaftlicher Tat­bestande vorzunehmen und eine faehspezifische Analyse zu unterbreiten, die we­sentliche wirtschaftliche Abhangigkeiten verdeutlichen kann.

Hier ergeben sich vielfaeh bei Studierenden die ersten Probleme mit der Dis­ziplin Volkswirtschaftslehre, denn die aus dem Alltagsleben vertrauten Begriffe, GroBen oder Wirkungszusammenhange sind vie len von ihrer Definition, ihrem sachlichen Inhalt oder auch in ihrem okonomiseh begriindbaren Ablauf nicht hin­reichend klar. Es kommt hinzu, daB die Alltagssprache sowie die Ausdrucksweise in Veroffentlichungen oder PresseauJ3erungen haufig zwischen unterschiedlichen Sachverhalten und Begriffen nieht trennt, zum Teil vollig unzutreffende Bezeich­nungen verwendet oder Zusammenhange unterstellt oder behauptet, die bei syste­matischer, wirtschaftlieher Betrachtung nicht vorliegen.

Die Grundlagen der Volkswirtschaftslehre haben als erste Aufgabe, wirt­schaftswissenschaftliehe Begriffe zu klaren, ihren Bedeutungsinhalt aufzuzeigen und auch die Begrenztheit darzustellen, die den Begriffen innewohnt, weil sie immer auf spezifisehen Defmitionen und Abgrenzungen beruhen. Daneben muB sie in die Lage versetzen, einfaehe wirtschaftliche Analysen selbstandig durchfUhren zu konnen. Damit diese Analysen aber wirtschaftswissenschaftlich fundiert sind, bedarf es der Vertrautheit mit der Methode der wissensehaftliehen Disziplin Volks­wirtschaftslehre. Denn volkswirtschaftliches Denken und volkswirtschaftliche Analysen unterscheiden sich wesentlich von anderen sozialwissensehaftlichen Disziplinen. Der eigentlich wirtsehaftliehe Aspekt, d.h. das Abwagen von Vortei-

G. Graf, Grundlagen der Volkswirtschaftslehre© Physica-Verlag Heidelberg 2002

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len und Nachteilen oder von Ertragen und Aufwendungen in Entscheidungssi­tuationen ist jeweils zu verdeutlichen und in systematischer Weise an typischen Beispielen einzuiiben. Okonomisches Denken besteht im Erfassen dieser Ertrage und Aufwendungen oder auch der Kosten und Nutzen einer Erscheinung oder einer MaBnahme und im Herausfmden eines Optimums zwischen den beiden entgegen­gesetzten Einfliissen.

Eine Einfiihrung in die Volkswirtschaftslehre solI die Studenten in die Lage versetzen, Erscheinungen des wirtschaftlichen Umfelds eigenstandig erklaren zu konnen - zumindest insoweit als einfachere Strukturen und Wirkungsmechanismen bestehen. Man muB sich jedoch hiiten, diese einfacheren Bedingungen leichthin zu unterstellen. Haufig zeichnen sich wirtschaftliche Gegebenheiten dadurch aus, daB eine groBe Zahl von Einfliissen gleichzeitig und mit unterschiedlichem Gewicht vorliegt. AuBenstehende, die iiber wenig wirtschaftliche Informationen verrugen, aber auch volkswirtschaftliche Experten konnen nicht immer von vornherein aIle Einfliisse ausmachen und die jeweils wesentlichen erkennen. Dieses prinzipielle Problem bei der Analyse sozialer, wirtschaftlicher Erscheinungen so lIte allerdings nicht zur Resignation ruhren, es ist lediglich als Hinweis darauf zu verstehen, daB sich wirtschaftliche Zusammenhange nicht immer leicht oder mit einmal festgeleg­ten Argumenten analysieren lassen.

Gleichwohl gibt es eine Fiille wirtschaftlicher Erscheinungen des taglichen Lebens, die sich einfach und gut bereits mit dem Instrumentarium erklaren lassen, das eine Einfiihrung in die Volkswirtschaftslehre vermittelt. Fiir den Volkswirt ergibt sich dabei gleichzeitig hin und wieder die Erfahrung, daB kompliziertere Erklarungsversuche mit iiberaus vielgestaltigen und schwierigen Instrumenten und Methoden kaum weitere oder zusatzliche Erkenntnisse erbringen als das ange­wandte Grundlagenwissen. 1m Einzelfall wird sich erst erweisen, welches Verfah­ren das aussagekraftigere ist. Dies ist schlieBlich ein wesentlicher Grund dafiir, wissenschaftliche Fragestellungen und Methoden weiterzutreiben und eine wissen­schaftliche Disziplin wie die Volkswirtschaftslehre nicht als statische und abge­schlossene Sammlung von Aussagen zu betrachten, zumal sich wesentliche Rah­menbedingungen der wirtschaftlichen Umwelt, z.B. durch Veranderungen in den politischen Gegebenheiten jeweils auf das Ergebnis der Wirtschaftstatigkeit aus­wirken konnen.

1.1.2 Mikrookonomik

Folgende volkswirtschaftliche GroBen werden zumindest von der Bezeichnung her allgemein bekannt sein: • Preise, d.h. die Preise einzelner Giiter

• Angebot • Nachfrage • Markt • Haushalte • Untemehmen

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• Kosten • Umsatz oder ErlOse • Monopole • Einkommen eines Haushalts • Bediirfnisse und Nutzen. Diese wenigen, ausgewahlten GroBen bezeichnen einzelwirtschaftliche oder mi­krookonomische Sachverhalte. Sie beziehen sich im wesentlichen auf einzelne Teilbereiche einer Volkswirtschaft, d.h. einzelne Personen oder einzelne Entschei­dungstrager bzw. gleichartige Gesamtheiten von ihnen beispielsweise auf einem Markt. Eine Volkswirtschaft insgesamt besteht aus einer Vielzahl solcher GroBen oder Gesamtheiten. Es sind aber nicht nur die mikrookonomischen Bezeichnungen oder Begriffe allgemein bekannt, sondern auch wirtschaftliche Wirkungszusam­menhange, die sich mit ihnen darstellen lassen. Beispielsweise kann als bekannt unterstellt werden, daB mit steigender Nachfrage nach einem Gut auch der Preis flir dieses Gut (bei gegebenem Angebot) steigt. Der Nutzen, den jemand von einem Gut hat, wird sich mit der Menge des Gutes andern, sonst gabe es keine Sattigungs­grenzen. Unternehmen bieten Guter an, wobei sich das Angebotsverhalten sicher­lich an den Kosten der Unternehmen bzw. an den Preisen orientieren wird, die flir diese Guter zu erzielen sind, so daB die Umsatze und auch ein moglicher Gewinn nicht ohne EinfluB auf das Angebot sind.

Die Volkswirtschaftslehre besteht zu einem Teil aus der Beschreibung und Analyse solcher einzelwirtschaftlicher GroBen. Die Mikrookonomik geht dabei aus von Entscheidungstragern, die ihr wirtschaftliches Verhalten selbstandig, wenn auch im Rahmen der gegebenen okonomischen Bedingungen, bestimmen konnen. Diese Entscheidungstrager werden Wirtschaftssubjekte genannt. Sie bilden die Basis der Analyse, d.h. die Volkswirtschaftslehre baut in der Mikrookonomik auf den individuellen Verhaltensweisen und den okonomischen Entscheidungen der Wirtschaftssubjekte auf.

In der Mikrookonomik wird aber nicht nur das Verhalten von einzelnen Wirt­schaftssubjekten betrachtet, es findet diese Betrachtung zudem mit einer bestimm­ten Methode statt, die ihrerseits auf der plausiblen Annahme beruht, daB ein Ein­zeiner in einer gesamten Volkswirtschaft nur ein kleines wirtschaftliches Gewicht hat und die Gesamtheit der Volkswirtschaft durch sein Handeln nicht beeinflussen kann. Die Mikrookonomik betrachtet daher das okonomische Verhalten der Wirt­schaftssubjekte, wenn sich von auBen fUr ein Wirtschaftssubjekt geanderte okono­mische Bedingungen ergeben, so z.B. wenn das Einkommen eines Haushalts oder die Kosten eines Produzenten steigen. Die mikrookonomische Analyse will nicht erklaren, woher diese AnstOBe kommen und sie wird im ubrigen darauf bauen, daB die von den AnstOBen ausgelOsten okonomischen Reaktionen bei den Wirtschafts­subjekten ihrerseits in der Volkswirtschaft nicht zu weiteren noch zu beriicksichti­genden Ruckwirkungen fiihren. Diese isolierte Modellanalyse ist vergleichbar mit naturwissenschaftlichen Untersuchungen in einem abgeschlossenen Raum. Sie wird auch mit der ceteris paribus-Annahme umschrieben. Damit ist gemeint, daB viele

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andere Einfliisse konstant oder unverandert gehalten werden und lediglich die Auswirkungen der Anderung von einer oder wenigen GraBen erfaBt werden.

1.1.3 Makrookonomik

Aus der allgemeinen wirtschaftlichen Erfahrungswelt sind die Studierenden eben­falls mit den nachfolgenden GraBen und Zusammenhangen vertraut wie: • Preisniveau • Inflationsrate • Wirtschaftswachsturn • Beschiiftigung • Arbeitslosigkeit • Zinsen • Export • Zahlungsbilanz • Wechselkurse • Konjunktur • Geldmenge. Bei diesen GraBen handelt es sich urn gesamtwirtschaftliche oder urn makrooko­nomische GraBen. Sie werden zur Kennzeichnung der Situation oder der Entwick­lung einer V olkswirtschaft insgesamt benutzt. Auch hieriiber liegen zusatzliche Kenntnisse iiber Beziehungszusammenhange vor, wie beispielsweise, daB mit Wirtschaftswachstum die Arbeitslosenzahlen sinken oder daB die Geldmengenent­wicklung auf Zinsen und Preisniveau einwirken kann. Es wird mit Sicherheit aber an dieser Stelle auch schon deutlich, daB magliche Zusammenhange zwischen dem Wechselkurs einer Volkswirtschaft und den Komponenten der Zahlungsbilanz nicht so einfach zu iiberschauen sind. Wie Zinsen und Wechselkurse schlieBlich auf die Konjunktur eines Landes wirken, bzw. wie die dabei zu beachtenden Wir­kungsketten laufen, diirfte gleichfalls ohne nahere methodische Festlegung kaurn maglich sein, zumal hierbei eine Reihe von rein praktischen Kenntnissen iiber den WirtschaftsprozeB, d.h. von institutionellen Regelungen und Abhiingigkeiten er­forderlich ist.

Es ist Aufgabe der makroakonomischen Theorie, diese Erklarungen zu lie­fern. Die Makrookonomik muB insoweit die Wirkungszusammenhiinge zwischen den gesamtwirtschaftlichen GraBen darstellen. Sie ist dabei von der Methode her auf ein anderes Instrumentarium angewiesen, als es in der Mikroakonomik ver­wendet wird. Will man tatsachlich das Zusammenspiel von gesamtwirtschaftlichen GraBen analysieren, kann man nicht mehr von einem abgeschlossenen Wirtschafts­bereich ausgehen, der ohne Riickwirkung fUr die Gesamtwirtschaft bleibt. Viel­mehr muB Makroakonomik immer ganz bewuBt die gesamtwirtschaftlichen Riick­wirkungen mit einbeziehen, die vom Verhalten groBer Sektoren ausgehen. Diese Riickwirkungen dUrfen nicht mehr vemachlassigt werden, weil sich der Volkswirt­schaftsprozeB aus einem Geflecht interdependenter Beziehungen ergibt. Die

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wechselseitigen Abhangigkeiten miissen mithin vollstiindig erfaBt werden, wenn verwertbare gesamtwirtschaftliche Aussagen angestrebt werden.

Die weiteren Ausfiihrungen des Buches werden sich beispielhaft den grundle­genden Aufgabenfeldem der Volkswirtschaftslehre widmen und dabei die Vielfalt von wirtschaftlichen Begriffen und Zusammenhiingen soweit systematisieren, daB damit auch Antworten auf die hier angedeuteten, den Lesem bereits vertrauten volkswirtschaftlichen Problembereiche gegeben werden konnen.

1.2 Ausgangsproblem der Wirtschaftswissenschaften

1.2.1 Wie entsteht Knappheit?

Die Wirtschaftswissenschaften befassen sich mit der konkreten gesellschaftli­chen Umwelt, in der wir leben, und mit den daraus erwachsenden wirtschaftlichen Problemstellungen. Durch Negativbeispiele wird dies am besten deutIich. Denn nur in unserer uns bekannten und erfahrbaren Welt gibt es wirtschaftliche Fragen und besteht die Notwendigkeit des Wirtschaftens.

Die Negativbeispiele fUr Welten, in denen wir tatsiichlich nicht leben, sind: das Schlaraffenland, das Paradies oder das Nirwana. Diese gedachten, d.h. nicht realen, Welten zeichnen sich dadurch aus, daB in ihnen beispielsweise alles Wiinschbare sofort und gleichzeitig erfilllt wird, es keinen Mangel an Giitem gibt, keine materielle oder seelische Not vorliegt. Auch im Schlaraffenland ist davon auszugehen, daB die Wilnsche der Menschen prinzipiell unbegrenzt sind, daB sie aber (auf wundersame Weise) sofort und vollstiindig erfUllt werden. Kurzum: in diesen gedachten Welten existieren die uns bekannten Probleme und Fragen des tiiglichen Lebens nicht, die gepragt sind von Knappheiten und unerfUllten Wiin­schen, was im Zusammenwirken vieler Menschen in einer Volkswirtschaft auch mit Ungerechtigkeiten und Not verbunden sein kann.

Die tatsiichliche, erfahrbare Welt zeichnet sich im wesentlichen durch ihre Endlichkeit aus, die zu den erwiihnten Problemen fiihrt. So miissen wir hier eben­falls feststellen, daB sich unsere Wiinsche auf eine Vielzahl von GUtem richten und weiterhin prinzipiell unbegrenzt sind. 1m Unterschied zum Schlaraffenland sind unsere Mittel, z.B. das zur VerfUgung stehende Einkommen, jedoch begrenzt. Auch andere Ressourcen oder Fiihigkeiten stehen uns jeweils nur in beschriinkter Weise zur VerfUgung. Damit zeigt sich insgesamt die Erfahrung, die seit einer Reihe von Jahren auch im Zusammenhang mit der Umweltproblematik fUr aIle nachhaltig deutlich geworden ist: unsere Welt ist begrenzt, sie ist endlich oder sie ist gekennzeichnet durch Knappheiten. Die Knappheit existiert allerdings nicht in erster Linie deshalb, weil einige Ressourcen endlich sind. Die Knappheit ergibt sich vielmehr aus dem Zusammentreffen von iibersteigenden Wiinschen der Men­schen nach einigen der Ressourcen, die in einem solchen unbegrenzten AusmaB nicht vorhanden sind.

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Der einzelne stellt mithin fest, daB seine Wiinsche groller sind, als die ihm zur Verfugung stehenden Moglichkeiten. Er erkennt die Knappheit seiner Mittel, was ihn wiederum dazu zwingt, zu wirtschaften, d.h. wirtschaftlich zu handeln. Dies bedeutet konkret, der einzelne muO sich entscheiden, er muB zwischen Alternativen auswahlen, er kann nicht aIle Wunsche oder Bedurfuisse vollstandig und gleichzeitig erfullen. Er muB auf einige oder sogar viele Wunsche verzichten und kann andere unter Umstanden nur zum Teil verwirklichen. Er ist immer ge­zwungen, Wahlentscheidungen zu treffen, sich zwischen Altemativen zu ent­scheiden, die nicht aIle zugleich realisiert werden k6nnen.

1m Gegensatz zu den gedachten Welten, wie dem Schlaraffenland, in dem aIle Wunsche jederzeit vollstandig befriedigt werden k6nnen, weist die tatsachliche Welt Begrenzungen auf, die dem einzelnen ein Wahl- und Entscheidungsproblem auferlegen und ihn gleichwohl mit vielfach unbefriedigten Wunschen zurUcklassen. Das wirtschaftliche Problem wird allerdings von einem bewuBt handelnden Men­schen nach M6glichkeit reduziert. Insoweit als er seine Wiinsche wegen der Knappheit zweck- und zielgerichtet verfolgt, wird er nach seinen Vorstellungen rational handeln. Man kann auch sagen, der einzelne wird seine Wunsche mittels des Rationalprinzips anstreben.

Das Rationalprinzip ist ein reines Formalprinzip, das in einem jeweiligen Fall zu konkretisieren ist. Es liegt in zwei unterschiedlichen Auspragungen vor und besagt in der Form des Minimumprinzips: • ein gegebenes Ziel mit minimalen Mitteln erreichen; in der Form des Maximumprinzips besagt es: • mit gegebenen Mitteln einen maximalen Zielerreichungsgrad anstreben. Der wirtschaftlich handelnde Mensch muB im Einzeifall seine Situation zunachst analysieren, ehe er in Abhangigkeit von gegebenen Zielen oder Mitteln den zu minimierenden Mitteleinsatz oder den zu maximierenden Zielerreichungsgrad an­strebt. Zum Mitteleinsatz zahlt zum einen die M6glichkeit, uber Tauschbeziehun­gen geeignetere Gliter fur das angestrebte Ziel zu erreichen. Man kann zum ande­ren den Mitteleinsatz oder die Zielerreichung dadurch beeinflussen, daB Guterpro­duktion betrieben wird, urn auf diesem Weg die Knappheitsverhaltnisse im Ver­gleich zum Ausgangszustand zu reduzieren.

1.2.2 Giiter

Un sere Wlinsche richten sich auf Giiter. Unter GUtem versteht man physische Waren, Dienstleistungen aber auch v611ig immaterielle GroOen wie Ehre, Zu­neigung, Anerkennung, Rechte. Giiter ist mithin der Oberbegriff fur Waren, Dienstleistungen und angestrebte immaterielle Ziele. Der Worts inn legt es bereits nahe, daB ein Gut einen Wunsch positiv erfullen kann oder daB sich mit einem Gut ein Bedurfnis befriedigen laBt.

Die allgemeine Erfahrung belegt im ubrigen, daB zwischen den Menschen keine Identitat ihrer Wiinsche besteht, d.h. die Giiterqualitaten sind aus der Sicht der einzelnen nicht gleich. Auch wenn auf Menschen gleichartige Einflusse

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durch das gesellschaftliche Umfeld einwirken, gibt es beobachtbare, deutliche Unterschiede zwischen dem, was eine Person als Gut ansieht im Verhaltnis zu dem, was fur andere ein Gut ist. So gibt es z.B. relativ gleichen Einflilssen unterliegende Menschen, die zum Raucher (zur Raucherin) werden, andere nicht. Ob man die Dienstleistung einer Opemveranstaltung als Wunsch hat oder die eines FuBball­spiels unterscheidet sich vielfach bemerkenswert zwischen den einzelnen Personen. Die Unterschiedlichkeit der Einschatzung von Waren, Dienstleistungen oder imma­teriellen Gro/3en ist ilberaus vielfaltig und reicht von unterschiedlichen Wilnschen und V orziigen bei technisch gleichen N ahrungsmitteln wie Kartoffeln und Salat Uber die Einschatzung der Kleidungsfarbe bis hin zu mehr oder weniger gro/3er Vorliebe fur die Anerkennung oder Zuneigung einer Person.

Eine Ware, Dienstleistung oder immaterielle Gro/3e wird nur dann zu einem Gut fur eine Person, wenn aufgrund der subjektiven Einschatzung eines einzelnen ein Wunsch danach besteht. Das hei/3t, ein Gut ist eine subjektive GroBe und wird deshalb von unterschiedlichen Menschen keineswegs als gleichartig fur die Befrie­digung von Wilnschen oder BedUrfnissen angesehen. Das hei/3t auch, da/3 bei­spielsweise eine Ware oder Dienstleistung nicht aus sich selbst heraus ein Gut ist. Erst durch den subjektiven Bezug zu einer Person entsteht die Gutsqualitat. Es gibt daher kein Gut an sich, sondem nur eine vielfach situationsabhiingige Einschatzung einer Ware oder Dienstleistung durch eine Person, die daraus ein anstrebenswertes oder gewiinschtes Gut macht. Ober die Gutsqualitat befindet also jeder einzelne Mensch je fur sich. Dabei wird immer wieder festzustellen sein, da/3 zwischen den Menschen zum Teil groBe Unterschiede Uber die Einschatzung von Waren, Dienstleistungen und immateriellen Gro/3en bestehen.

Diese beobachtbaren Unterschiede liegen vor, obwohl viele WUnsche und damit die Einschatzung von GUtem yom sozialen Kontext, von der Umwelt, von Personen aus dem Bekannten- und Verwandtenkreis, von Leitgro/3en (wie sozialen Normen) und Leitpersonen mitgepragt werden. Soziale und kulturelle Gegebenhei­ten haben durchaus einen Einflu13 auf die Wlinsche der einzelnen Menschen. Nur so sind Uberhaupt Moden zu erkliiren, die sich keinesfalls nur auf Kleidung und Sportarten, sondem auch auf Reiseziele, Kunstansichten und politische Werthal­tungen erstrecken. Diese EinflUsse gehen jedoch keineswegs so weit, da/3 sie Uni­formitat fur alle Menschen herstellen konnten. Es bleibt immer - und dies auch in Zwangsgesellschaften - Raum fur eigenstandige, personliche Entscheidungen dar­Uber, was der einzelne nach oder trotz allem als das fur ihn erstrebenswerte Gut ansieht. Ein Gut wird somit immer subjektiv definiert.

Nach GUtem bestehen Wiinsche, die subjektiv gepragt sind. Andere Um­sChreibungen dieses Sachverhaltes lauten: es gibt Bediirfnisse nach GUtem. Der einzelne wird einen Bedarf an Giltem feststellen und damit gegebenenfalls sein besonders intensives subjektives WunschgefUhl zum Ausdruck bringen. Ein Bedarf ist mithin keineswegs ein objektives Bediirfnis, da es solche objektiven WUnsche, die zwischen Personen vollig identisch oder vollig unstrittig waren, nicht gibt. WUnsche werden gleichwohl von einem Dritten oder z.B. einer staatlichen Instanz, als objektiv bezeichnet. Damit wird aber nur der subjektive Wunsch der dritten Person oder des Staates anderen auferlegt, was ihm nicht den Charakter einer ob-

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jektiven GroBe geben kann, die von menschlichen Entscheidungen und Werthal­tungen unabhangig ist.

Obwohl wir in einer beschrankten Welt mit Knappheit leben, konnen wir im­mer wieder auch die Erfahrung machen, daB einige, zumeist wenige, Wiinsche nahezu unbeschrankt erfullt werden konnen. Die angestrebten Guter stehen dann frei zur Verfugung. Man muB nichts aufgeben, urn sie zu erhalten. Bei diesen spe­zifischen GUtem besteht das individuelle Wahlproblem nicht. Solche GUter werden als freie Guter bezeichnet. Beispiele fur freie GUter sind Helligkeit am Tage, Dunkelheit in der Nacht, Luft im Freien, Warme im Sommer oder Kalte im Winter. Auch fur freie GUter gilt, daB es sie nicht ohne die Einschatzung einer Person zum freien Gut werden. Sie sind lediglich situationsabbangig frei, d.h. sie werden nur aus subjektiver Sicht zum freien Gut.

1m Unterschied dazu sind die meisten Guter, die wir anstreben, knappe oder okonomische Guter. Bei ihnen liegen Wiinsche vor, die tiber die Verfugbarkeit der GUter hinausgehen, bzw. die Wiinsche ubersteigen die vorhandenen GUtermengen oder die Moglichkeiten, sie zu erreichen. Fur diese knappen GUter gilt das typische Entscheidungsproblem, d.h. man muB fur sie etwas aufgeben, urn sie zu erhalten und hierbei eine Wahlhandlung vomehmen. Die Kennzeichnung eines Gutes als knappes Gut ist selbstverstandlich von den subjektiven Einschatzungen einer Per­son abhangig und gilt wiederum nicht absolut. Es kann daher durchaus situations­abhangig ein freies Gut (Warme im Sommer) zum knappen Gut (Warme im Win­ter) werden und umgekehrt.

1.2.3 Gesellschaftliche Verteilungsverfahren

Wir haben die GUterknappheit als Ausgangsproblem dargestellt, das bei einzelnen Person en zu wirtschaftlichem Handeln, d.h. zu Entscheidungen, zu Wahlhandlun­gen zwischen GUtem fiihrt. Bei Wunschen, die die Moglichkeiten oder Mittel einer Person ubersteigen, muB die Person sich entscheiden und zwischen Altemativen auswahlen. Das Knappheitsproblem existiert aber nicht nur fUr einzelne Perso­nen. Es wird vielmehr noch gravierender und in seinen Konsequenzen noch deutli­cher, wenn wir eine Gesellschaft mit vielen Personen, vie len Individuen be­trachten. Immer dort, wo Menschen zusammenleben, in jeder Gesellschaft und dam it in jeder Volkswirtschaft, stellt sich das Problem, wie und mit welchem Ver­fahren die insgesamt knappen Mittel oder Ressourcen auf die vielen, sie uber­steigenden Wunsche zugeteilt werden konnen. In jeder Volkswirtschaft ist damit ein gesellschaftliches - man konnte auch sagen: soziales - Verteilungs-, Abstim­mungs- oder Wahlproblem zu IOsen.

Zur Losung des gesellschaftlichen Verteilungsproblems, wie knappe GUter auf die ubersteigenden Wunsche der vie len Personen zugeordnet werden konnen, haben sich in der Menschheitsgeschichte drei prinzipielle Verteilungsverfahren herausgebildet:

(I) Ein rudimentares, aber gleichwohl immer wieder anzutreffendes Verfah­ren ist der Kampf oder der Einsatz von Gewalt. Man muJ3 dabei nicht nur an

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Kriege denken, mit denen zwischen groBeren Bevolkerungsgruppen oder Staaten Verteilungsprobleme gelOst, Vorrechte und EinfluBmoglichkeiten behauptet oder ausgedehnt werden. Kampfmechanismen kommen auch in einfacheren Situationen vor. Wenn sich z.B. funfKinder im Alter vonje drei lahren in einem gemeinsamen Raum befinden, in dem auch eine Schale mit von allen Kindem begehrten SiiBig­keiten aufgestellt ist, wird es in der Regel zu Kampf- oder Gewaltmechanismen fur die Verteilung dieser knappen Guter kommen. Die uberall beobachtbare Gewalt­kriminalitat ist ebenfalls eine Erscheinungsform dieses Verteilungsverfahrens.

Derart entschiedene Verteilungsprobleme haben vielfach die Eigenheit, daB von vornherein und insbesondere fur AuBenstehende das Ergebnis des Kampfpro­zesses kaum vorhersehbar ist. Insoweit laBt sich das Ergebnis des Verteilungs­verfahrens nicht (gut) planen oder vorhersagen. Es kommt hinzu, daB Kampfme­chanismen durchaus berechtigten gesellschaftlichen Bedenken begegnen, weil sie nicht selten zu hochst unerwiinschten Nebenerscheinungen fuhren. Gleichwohl findet man dieses Verteilungsverfahren fur knappe Guter in den verschiedensten Auspragungen in der gesamten Menschheitsgeschichte vor.

(2) Ein weiteres Verteilungsverfahren besteht darin, daB ein auBenstehen­der Dritter die Verfugung uber die aufzuteilenden Guter erhalt oder sich die Verfugungsmacht aneignet und daraufhin nach seinen Vorstellungen oder Zielen die Verteilung der Guter auf die Wunsche oder Personen vomimmt. Dieses Verfah­ren heiBt Rationierung. Rationierungsverfahren wollen vielfach bewuBt eine auch fur AuBenstehende gute Uberschaubarkeit des Ergebnisses des Verteilungspro­zesses erreichen. Sie werden deshalb besonders haufig dann eingesetzt oder ange­wendet, wenn ein auBenstehender Dritter ein Ziel wie das der Gerechtigkeit der Verteilung anstrebt, was selbstverstandlich nicht nur eine GleichmaBigkeit der Verteilung bedeuten muB, sondem auch eine bewu8te Ungleichheit in den zu­geteilten Gutem zur Folge haben kann. Es geht mithin urn die Gerechtigkeitsvor­stellung des Dritten, die sich nicht mit derjenigen anderer Personen, insbesondere auch nicht mit derjenigen der im Verteilungsverfahren Begiinstigten oder Ausge­schlossenen, decken muB.

1 edes Rationierungsverfahren muB auf Rationierungskriterien zuriickgreifen, urn das jeweils vorliegende Zuteilungsproblem zu lOsen. Derartige Rationierungs­kriterien sind z.B. Alter, Familienstand, Einkommen, Kinderzahl. Andere Kriterien konnen nachzuweisende spezielle Fahigkeiten oder Kenntnisse sein. So erhalten Studenten das begehrte Gut "Dip 10m" erst aufgrund des Nachweises spezifischer Fahigkeiten. Knappe Guter wie sportliche Urkunden oder Auszeichnungen unter­liegen in der Regel ebenfalls einem Rationierungsverfahren, wobei Geschwindig­keit, Starke oder Geschicklichkeit die Rationierungs- oder Auswahlkriterien sind. Fur politische Amter in parlamentarischen Demokratien gilt als wesentliches Zutei­lungskriterium (neben anderen) die jeweils erforderliche ParteizugehOrigkeit.

Die Kriterien des Rationierungsverfahrens sind mithin zwischen den Verfah­ren unterschiedlich und hangen von der verfolgten Zielsetzung ab, die sich die fur die Rationierung zustandige Instanz stellt. Ein wesentIiches Element der Rationie­rungsverfahren besteht aber immer darin, daB ein fur Dritte und AuBenstehende

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nachvollziehbares Kriterium oder ein gewichtetes BUndel von Kriterien verwandt wird, urn zur Giiterzuteilung zu kommen. Verschiedene Personen oder vorgetra­gene WUnsche werden insoweit gleichartig behandelt. Dies heiBt allerdings nicht, daB aus der'Sicht der BegUnstigten, aIle oder wesentliche WiinscheerfUllt werden. Der AuBenstehende, der die Rationierung vomimmt, orientiert sieh an seinen eige­nen Verteilungsabsichten; diese mUssen den Bediirfnissen der einzelnen nicht wi­dersprechen. Es ist aber keinesfalls erforderlich, daB sie mit den individueIlen, subjektiven WUnschen und Bewertungen bei den davon betroffenen Personen iibereinstimmen.

(3) Ein drittes Zuteilungsverfahren, mit dem gesellschaftlich knappe Giiter auf die iibersteigenden Wiinsche zugeordnet werden kannen, besteht in Tausch­angeboten. Bei einem Tausch erhalt diejenige Person ein knappes Gut, die bereit ist, dafUr ein anderes, ebenfalls knappes Gut einzutauschen oder aufzugeben. Tauschangebote beruhen von ihrer Definition her immer auf einem freiwilligen Verhalten der Tauschpartner, d.h. es werden dabei die zu tauschenden Giiter nicht zugeteilt, sondem es wird nur derjenige ein Gut erhalten, der einen Tauschpartner findet, der sich wiederum zu einem freiwilligen Giitertausch bereit erklart. Bei Tauschangeboten kommt daher die subjektive Einschatzung der zu tauschenden Giiter seitens der Tauschpartner deutlich zum Tragen. Es wird nur derjenige ein Gut erhalten, der bereit ist, ein von ihm nieht so hoch eingeschatztes Gut auf­zugeben, urn an das von ihm hoher bewertete Gut zu gelangen. Tauschangebote sind wegen der sUbjektiv unterschiedlichen Wiinsche und Einschatzungen der Giiter von auBenstehenden Dritten in der Regel schlecht vollstandig erklarbar oder in ihrem Ergebnis vorauszusagen.

Das Ergebnis von Tauschprozessen ist von vornherein nicht bekannt. Tausch­prozesse laufen zwischen unterschiedlichen Personen gegebenenfalls auch je ver­schieden abo Da die Wiinsche der am Tausch Betei!igten und die Knappheiten sich zudem in der realen Welt immer im FluB befinden und .Anderungen unterworfen sind, kannen gleiche technische Giiter, z.B. der in US-$ bewertete Euro, iiber die Zeit hin andere Bewertungen erfahren. Die Tauschrelationen zwischen den ge­tauschten Giitem andem sich immer wieder, so daB der Beobachter vielfach yom Ergebnis der Tauschvorgange iiberrascht wird. Fiir AuBenstehende, die in stati­schen Dimensionen denken, oder die den Bewertungen anderer miBtrauen, weil sie sie nicht kennen und auch nicht kennen kannen, ergibt sich daher immer wieder ein unvorhergesehenes oder iiberraschendes Resultat. Dies liegt aber an den subjektiv unterschiedlichen Bewertungen und Informationen der einzelnen. Tauschangebote sind jedoch bei den direkt beteiligten Tauschpartnem besonders beliebt, wei! iiber sie die jeweils eigene, subjektive Einschatzung der zu tauschenden Giiter zum Aus­druck kommen kann. Insoweit spiegeln sich in Tauschrelationen am deutlichsten die Wiinsche und Bediirfnisse der Tauschpartner.

AIle gesellschaftlichen Verteilungsverfahren fUr Gilter haben eines gemein­sam: sie sind geeignet, knappe Giiter auf ilbersteigende Wiinsche zuzuteilen. Die Wiinsche oder Personen, die die Wiinsche auBem, stehen hierbei in einem Wett­bewerb oder in Konkurrenz zueinander. Die gesellschaftlichen Verteilungsver­fahren ftihren jeweils zu einem Auswahlproze8 zwischen den gleichzeitig vorge-

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tragenen, konkurrierenden WUnschen. Sie tun das dadurch, daB sie WUnsche, d.h. Personen mit diesen WUnschen, aus dem VerteilungsprozeB ausscheiden. Jedes Verfahren diskriminiert zwischen den Wiinschen, die erfUllt werden, und denje­nigen, die keine Berucksichtigung finden. Die Art der Diskriminierung oder des Ausscheidens von WUnschen bzw. Personen ist selbstverstandlich vom gewahlten Verteilungsverfahren abhangig. Bei Kampfinechanismen werden beispielsweise Schwachere ausgeschieden. Rationierungsverfahren diskriminieren in Abhangig­keit vom zugrundeliegenden Rationierungskriterium, z.B. Geschwindigkeit, Ein­kommenshohe und dergleichen. Bei Tauschangeboten werden diejenigen ausge­schieden, die nicht bereit sind, fUr die knappen GUter, die sie erhalten wollen, ent­sprechende andere knappe GUter aufzugeben, was in der Regel heiBt, daB sie nicht den vom Tauschpartner gewUnschten Preis zahlen wollen oder konnen.

Die Verteilungsverfahren, die oben als "reine" Verfahren dargestellt sind, konnen in einigen Fallen mit Uberschneidungen oder vermischt auftreten. Dies fUhrt dann beispielsweise bei grundsatzlicher Rationierung dazu, daB die Ratio­nierungsinstanzen durch Tauschangebote dahin gebracht werden sollen, nicht aus­schlieBlich die gerade Ublichen Rationierungskriterien zu verwenden, sondem durch Annahme eines knapp en Gutes gegebenenfalls das erwiinschte Gut zu ande­ren als den Rationierungsbedingungen zuzuteilen. (Wenn eine Behorde knappe GUter nach Rationierungskriterien zuteilt, z.B. fUr eine Baugenehmigung be­stimmte sachliche Vorschriften verlangt, kame es dann zu einer Uberschneidung mit Tauschangeboten, wenn der zustandige Beamte vom Antragsteller bestochen wUrde, urn von der BehOrde die Baugenehmigung gewissermaBen zu erkaufen). Auch Tauschangebote konnen durch andere Aspekte Uberlagert sein, z.B. durch die Androhung von Gewalt. Solche Uberlagerungen oder Vermischungen von Vertei­lungsverfahren werden Ublicherweise in den Gesellschaften nicht als sinnvoll fUr das Zusammenleben eingestuft. In den meisten Gesellschaften existieren aber zu­mindest die beiden Methoden Rationierung und Tauschangebote gleichzeitig und nebeneinander. Sie werden allerdings fur jeweils spezielle OUter benutzt. So wer­den in unserer Volkswirtschaft viele GUter, die der Staat anbietet oder fUr die der Staat ein Monopol hat, in der Form eines Rationierungsverfahrens zugeteilt. Pri­vate GUter, wie Hosen, Bananen oder der GenuB einer Curry-Wurst am ImbiBstand konnen von Interessierten in der Regel nur Uber das Bezahlen eines Preises, d.h. Uber die Aufgabe eines vom Tauschpartner akzeptierten knappen Gutes in dem von ihm gedachten Volumen eingetauscht werden.

Unterschiedliche Wirtschaftssysteme greifen im Ubrigen schwergewichtig auf je andere Verteilungsmechanismen zuruck. Kampfmechanismen sind fUr Anarchien kennzeichnend. Staatliche geplante Wirtschaften, Zentralverwal­tungswirtschaften oder sogenannte Planwirtschaften, bedienen sich fUr die GU­terverteilung vorwiegend der Rationierungsmethoden. Marktwirtschaften hin­gegen beruhen auf dem weitreichenden Einsatz von Tauschangeboten fUr viele GUter, die von der Bevolkerung in der marktwirtschaftlich gesteuerten Volkswirt­schaft angestrebt oder gewUnscht werden. Das allgemeine Verstandnis der unter­schiedlichen Wirtschaftssysteme erfordert daher eine grundliche Kenntnis der

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gesellschaftlichen Verteilungsverfahren und der in ihnen vorkommenden Abhlin­gigkeiten und Wirkungsmechanismen. Die Wirtschaftssysteme lassen sich im iibrigen keineswegs zu einem einheitlichen oder vereinheitiichten Mischsystem zusammenfassen. Es ist auch nicht damit zu rechnen, daB sie sich einem soichen einheitiichen System nahem. Vielmehr muB in jeder Volkswirtschaft daruber be­funden werden, fUr weiche Giiter beispielsweise Rationierungsverfahren oder Tauschangebote vorgesehen werden. Hierbei kommt es auf historische Gegeben­heiten und auf die vorherrschenden Meinungen iiber die Art und Weise der Ver­sorgung einer Bevolkerung mit Giitem an. Dementsprechend fallen die Vertei­lungsprozesse eher marktwirtschaftlich aus oder werden eher iiber Rationierungs­verfahren abgewickelt.

1.3 Methode der Wirtschaftswissenschaften

Jeder Student und jede Studentin hat bereits einmal einen Blick in volkswirt­schaftliche Lehrbiicher geworfen und sich dabei vielleicht verwundert gefragt, weshalb man dort auf derart viele und zudem formal-mathematisch komplizierte Modelle stOBt. Gerade bei einer sozialwissenschaftlichen Disziplin wie der Volks­wirtschaftslehre, die sich mit dem Verhalten von Menschen befaBt, stellt sich die Frage nach der Notwendigkeit und dem Sinn dieses Vorgehens immer wieder. Ein Verweis auf die Methoden in anderen wissenschaftlichen Disziplinen, wie den Naturwissenschaften, die sich durch ein hohes formales Anspruchsniveau aus­zeichnen, ist keineswegs von vornherein schliissig, da in jenen Disziplinen andere Wirkungszusammenhange bestehen, beispielsweise physikalische GesetzmaBigkei­ten, die im mensch lichen Verhalten nicht gleicherweise unterstellt werden konnen.

Die Frage nach der wissenschaftlichen Methode, nach der Vorgehensweise bei der Analyse stellt sich daher in der Volkswirtschaftslehre ganz prinzipiell. Wie konnen iiberhaupt menschliche, wirtschaftliche Verhaltensweisen so erfaBt werden, daB sie einerseits den Erfordernissen nach Systematik der Aussagen geniigen und andererseits fUr Dritte nachvollziehbar sind. Dies erscheint deshalb besonders schwer, weil - wie wir gesehen haben - auf das menschliche Verhalten eine Viel­zahl hOchst individueller und subjektiver Einfliisse einwirken. Gleichwohl wird in der Volkswirtschaftslehre wie in anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen auch dieser Versuch unternommen, der im iibrigen durchaus berechtigt ist und zu sinnvollen und verwertbaren Ergebnissen fUhrt. Allerdings erfordert dies die Kon­struktion und Verwendung von Modellen, was im folgenden begriindet werden solI.

Ein erster Grund fUr die Verwendung von Modellen besteht darin, daB zur Beschreibung einer wirtschaftlichen Gegebenheit, dem Wert der Giiterproduktion in einer Volkswirtschaft, der Hohe der Inflationsrate oder des wirtschaftlichen Verhaltens einer Vielzahl von Menschen in Form der Nachfragereaktion bei Preis­bzw. Einkommensanderungen, eine bewuBt einfache Darstellungsform gewahlt werden solI. Die Abstraktion von Details erscheint notwendig, urn zu griffigen

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und verstandlichen Aussagen zu gelangen. Mit einem Modell solI insoweit eine vereinfachende Betrachtung wirtschaftlicher Gegebenheiten oder Reaktionen vorgenommen werden.

Diese Sichtweise der Modellbildung beruht auf der plausiblen Uberlegung, daB die wirtschaftliche Realitiit selbst zu vielgestaltig ist und ein Modell demge­genUber den V orteil hat, die wirtschaftlichen Erscheinungen Uberschaubarer darzu­stellen. AuBerdem legen Ubliche pMagogische Konzepte diese Vorgehensweise nahe, wonach von einfacheren Zusammenhingen oder Modellen auf kompli­ziertere Zusammenhange oder auf eine realistischere Darstellung bzw. auf die Analyse der Realitit Ubergegangen wird. So sinnvoll diese GrundUberlegung fUr die Modellbildung sein mag, so haufig wird allerdings gegen die dabei gewonne­nen Modelle der Einwand erhoben, sie seien realitatsfem. Zugleich werden dann realitatsniihere Annahmen oder realitatsniihere Modellzusammenhiinge gefordert. Dahinter steht das Ziel, die an sich bekannte Realitit mit dem realititsnaheren Modell oder den realitiitsniiheren Annahmen besser erfassen zu konnen.

Ein zweiter, altemativer Grund fUr die Verwendung von Modellen in einer sozialwissenschaftlichen Disziplin wie der Volkswirtschaftslehre geht von fol­gender Uberlegung aus: Menschliches Handeln, soziales Handeln und damit auch das wirtschaftliche Handeln von Menschen als Individuen und in einer Volkswirt­schaft insgesamt ist das Handeln intelligenter Wesen. Derjenige, der dieses Han­deln beschreiben oder erklaren will, ist zwar ebenfalls ein intelligentes Wesen, er steht jedoch auf einem prinzipiell gleichen Niveau der Erkenntnis wie die Men­schen, deren Verhalten er erlautem will. Insoweit hat der Beobachter keine prin­zipiell hOhere Einsicht in die Entscheidungsstruktur und die Entscheidungsgrunde als die Betroffenen selbst. Das heillt auch, daB ein Beobachter die Entscheidungen und das wirtschaftliche Handeln von Menschen nicht "Uber"blicken kann, es bleibt ihm nur, die nach auBen dringenden Ergebnisse zu Kenntnis zu nehmen und sie nach seinen eigenen Vorstellungen zu strukturieren. Das Handeln anderer Men­schen wird daher fUr Dritte immer mehr oder weniger unverstindlich oder uner­klarlich bleiben mUssen, weil sie sich nicht auf einem hOheren Stand der Einsicht oder Intelligenz befmden als andere Menschen auch.

FUr den Wirtschaftswissenschaftler ergibt sich daraus, daB er als ebenfalls AuDenstehender das wirtschaftliche Verhalten der Menschen nicht von einer Uber­geordneten Warte aus erfassen kann. Er steht deshalb vor einer prinzipiellen Un­wissenheit dessen, was die Realitat des wirtschaftlichen Handelns ausmacht. Er kann immer nur Teilaspekte aus der Realitiit des menschlichen Verhaltens erken­nen und versuchen, diese in einer Struktur zusammenzufassen. Bei Erkliirungsver­suchen wird er daher notwendigerweise auf Modelle zuruckgreifen mUssen, in die er die fUr ihn bedeutsamen Strukturen einfiigt und verbindet. Mit den einmal ge­wonnen Modellen kann er dann in Situationen, die nach seiner Einschatzung zum Modellzusammenhang passen, wiederum Erkliirungsversuche untemehmen.

Ein Modell, das aus dieser Sicht heraus entsteht, ist keine Abstraktion von der Realitat, es ist insbesondere keine Vereinfachung eines bekannten Zusam­menhangs, da die Realitat selbst immer unerfaDbar bleibt. Das Modell stellt

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vielmehr die einzige Moglichkeit dar, die beobachtbaren Teilaspekte einer wirt­schaftlichen Realitat in eine Struktur zu bringen und damit Zusammenhange zu konstruieren, aus denen ihrerseits Erklarungen fUr wirtschaftliche Gegebenheiten folgen konnen. Ein wirtschaftstheoretisches Modell ist daher keine Abstraktion, sondem das notwendige Hilfsmittel, urn Uberhaupt zu systematischen Aussagen Uber die wirtschaftliche Umwelt zu gelangen. Es gibt folglich auch keine realitats­nahen oder realitatsfemen ModeIle, da die Realitat selbst immer unbekannt bleibt.

Man wird Modelle aIlerdings danach unterscheiden kannen, ob sie sich gut fUr beobachtbare Zusammenhange eignen oder ob die aus ibnen abzuleitenden Folgerungen von den Beobachtungen widerlegt werden. Ein Modell, das sich gut fUr beobachtbare Zusammenhiinge eignet, kann auch dazu dienen, Wir­kungsanalysen von Veranderungen wirtschaftlicher GraBen auf den Wirtschafts­prozeB vorzunehmen. Das bedeutet gleichfaIls, daB die Auswirkungen des Ein­satzes von wirtschaftspolitischen Ma8nahmen aus solchen ModeIlen erkennbar werden. Die ModeIle lassen sich schlieBlich fUr die Ableitung bedingter Progno­sen fUr die Zukunft heranziehen. Insoweit dienen sie auch einer vorausschauenden Wirtschaftspolitik, sofem diese ihrerseits okonomische Grundsachverhalte beruck­sichtigt.

Ein Modell ist immer ein yom Beobachter gemachter Versuch, die fUr ibn be­deutsamen Teilaspekte eines wirtschaftlichen Zusammenhangs in eine Struktur zu bringen. Dieser StrukturierungsprozeB kann auf unterschiedliche Weise erfolgen, wobei ausgehend von rein verbalen Formulierungen aIle Moglichkeiten bis hin zu formal-mathematischen Darstellungen offenstehen. Die in den letzten fUnfzig Jahren immer beliebteren mathematischen ModeIlbildungen haben den Vorteil, enger und eindeutiger interpretierbar zu sein sowie dem Gebot der Logik vielfach strikter zu folgen als manche doch nicht so eindeutige verbale Umschreibung. Ma­thematische ModeIlformulierungen sind aus dem gleichen Grund in vie len wis­senschaftlichen Disziplinen ublich geworden.

Das vorliegende Lehrbuch zu den Grundlagen der Volkswirtschaftslehre will allerdings nur solche formalen Verfahren verwenden, die mit den Kenntnissen der Schulmathematik nachvoIlzogen werden konnen, wobei im wesentlichen auf grafi­sche DarsteIlungen zuruckgegriffen werden solI, die aus sich heraus hinreichend leicht verstandlich und interpretierbar sind.

1.4 Volkswirtschaftliche Ziele

1.4.1 Gesellschaftspolitische Grundwerte und volkswirtschaftliche Ziele

Jeder Staat verfolgt Ziele seines Handelns und orientiert sich dabei an gesell­schaftspolitischen Grundwerten. Solche Grundwerte kannen in Freiheit, Gerech­tigkeit, Sicherheit, Gleichheit bestehen und insgesamt einem Wohlfahrtsinteresse fUr die Volkswirtschaft und die BevOlkerung dienlich sein. Der Staat kann zudem

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ein Gemeinwohlinteresse verfolgen und hierbei das Ziel des okonomischen Wohl­stands anstreben. Das W ohlstandsziel mu13 dann aber seinerseits inhaltlich inter­pretiert und auf konkret anzustrebende Unterziele hin fixiert werden. In unserer Volkswirtschaft kann als Wohlstandsziel die Versorgung der Menschen mit Gii­tern gewertet werden. Die Giiter sollen zur BedUrfnisbefriedigung der einzelnen Personen in einer Volkswirtschaft beitragen, aber auch kollektive GUter umfassen, an denen einzelne Personen zum Teil nur geringfligig teilhaben. Die Versorgung mit Giitem laBt sich nun im Rahmen der gesellschaftlichen Grundwerte, der jeweiligen zeitabhangigen Vorstellungen von Wohlfahrt und den wirtschaftspoliti­schen Konzeptionen naher mit Unterzielen festlegen. Diese Unterziele werden gemeinhin als die Ziele der Wirtschaftspolitik oder volkswirtschaftliche Ziele bezeichnet. Hierbei ist die besondere Verantwortung des Staates und seiner Wirtschaftspolitik bedeutsam, denn er will mit seiner staatlichen Einflu13nahme auf das Wirtschaftsgeschehen einwirken und zum Erreichen der volkswirtschaft­lichen Ziele beitragen.

1.4.2 Der Zielkatalog des Stabilitatsgesetzes

In der Bundesrepublik Deutschland gibt es seit den 60er Jahren des 20. Jahrhun­derts einen Katalog an volkswirtschaftlichen Zielen, die Verfahrensziele sind, und die in der gesetzlichen Formulierung als "gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht" umschrieben werden, dem Bund und Lander nach Art. 109, Abs. 2 Grundgesetz (GG) Rechnung zu tragen haben. In § 1 des Gesetzes zur Forderung der Stabilitat und des Wachstums der Wirtschaft vom 8. Juni 1967 (kurz: Stabilitatsgesetz) wird das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht naher umschrieben. Danach sind die wirt­schafts- und finanzpolitischen MaBnahmen so zu treffen, daB sie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig zur Stabilitat des Preisniveaus, zu einem hohen Beschaftigungsstand und au6enwirtschaftlichem Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum beitragen.

Die vier Teilziele, die zusammen das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht bilden sollen, bediirfen noch einer Konkretisierung, urn hinreichend faBbar zu sein. Aus dem Gesetzestext selbst laBt sich die Konkretisierung nicht entnehmen, sie muB vielmehr aus der allgemeinen wirtschaftspolitischen Diskussion abgeleitet werden. Daher gibt es auch keine vollig einheitliche inhaltliche Interpretation der vier Teilziele. Eine mogliche inhaltliche Umschreibung flir die vier Teilziele des Gesetzes zur Forderung der Stabilitat und des Wachstums der Wirtschaft kann jedoch wie folgt versucht werden: • Stabilitat des Preisniveaus laBt sich mit Konstanz der Kaufkraft des Geldes

und der Vermeidung von Inflation (allerdings auch Deflation) definieren. Als MaBgroBe hierflir wird zumeist der Preis index ausgewahlt, von dem anzuneh­men ist, daB er flir den groBten Teil der Bevolkerung von unmittelbarem Inter­esse und von direkter personlicher Bedeutung ist. Diese Funktion erflillt in Deutschland der Preisindex fUr die Lebenshaltung aller privaten Haushalte weitgehend. Der Preisindex ist dabei so konstruiert, daB ausgehend von einem

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Warenkorb einer Basisperiode danach gefragt wird, wie teuer der gleiche Wa­renkorb in der Beobachtungsperiode ist. Aus der Relation der Ausgabensum­men fur den konstant gehaltenen Warenkorb heute und in der Vergangenheit (der Basisperiode) ergibt sich die prozentuale Veranderung, die als Inflations­rate interpretiert wird. Der Warenkorb des Statistischen Bundesamtes enthalt rund 750 Giiter (Waren und Dienstleistungen), die das Konsumverhalten der Haushalte in Deutschland reprasentativ abbilden sollen. Die Indexstande wer­den im librigen monatlich ermittelt. Stabilitat bedeutet wortlich genommen eine Indexveranderung von 0 %. Die Wirtschaftspolitik interpretiert aber einen Be­reich von 0 bis 2 %, jeweils im Verhaltnis zum Vorjahreszeitraum, als zielge­recht.

• Ein hoher Beschiiftigungsstand ist in der wortlichen Interpretation als abso-lute Zahl wenig aussagekraftig, da hierbei die GroBe der Volkswirtschaft und deren Bevolkerungszahl eine nicht unwesentliche Rolle spielen. Der hohe Be­schiiftigungsstand kann allgemein als weitgehende AusschOpfung des Poten­tials an Erwerbspersonen verstanden werden, wobei die Erwerbspersonen diejenigen Mitglieder einer Bevolkerung umfassen, die einem Erwerb nachge­hen konnen und wollen. Ein hoher Anteilswert der Erwerbspersonen, die tat­sachlich einem Erwerb nachgehen, konnte als MaBgroBe fur dieses volkswirt­schaftliche Ziel verwendet werden. Das AusmaB, in dem Erwerbspersonen aber tatsachlich erwerbstatig sind, ist auch preis- oder lohnabhangig und wird von den weiteren Regelungen des Arbeitsmarkts und des Sozialsystems beeinfluBt.

Als liberaus grobe Niiherungsgro6e fur den hohen Beschaftigungsstand wird in der wirtschaftspolitischen Diskussion vielfach auf eine DifferenzgroBe zuruckgegriffen, die die Unterauslastung des Erwerbspersonenpotentials messen soll und fUr die es in Form der amtlich registrierten Arbeitslosenzahlen jederzeit verfiigbare und objektivierbare Angaben gibt. Die Arbeitslosenzahl wird dabei sowohl als absolute GroBe benutzt, aber auch in der Form der Ar­beitslosenquote, d.h. dem Verhiiltnis von registrierten Arbeitslosen zu den Er­werbspersonen.

Da sich Arbeitslosigkeit in einer marktwirtschaftlichen Volkswirtschaft nie vollig vermeiden laBt, weil im Zuge von dynamischen Wirtschaftsprozessen immer Klindigungen und Entlassungen eintreten, ist eine ZielgroBe von null fur die Arbeitslosenzahl oder die Arbeitslosenquote keinesfalls sinnvoll. Die Gro­Ben werden immer positiv sein, sollten jedoch keine allzu hohen Werte anneh­men. 1m intemationalen Vergleich haben sich hierbei Arbeitslosenquoten im Umfang von 3 bis 5 % als mit dem Ziel des hohen Beschaftigungsstandes ver­einbar herausgebildet.

• Unter dem au6enwirtschaftIichen Gleichgewicht kann allgemein eine Si-tuation verstanden werden, wonach sich aus der Sum me der wirtschaftlichen Transaktionen mit dem Ausland keine fUr die inlandische Volkswirtschaft unerwlinschten, nachteiligen oder auch ungeplanten Riickwirkungen ergeben. Welche Rlickwirkungen aus den auBenwirtschaftlichen Transaktionen im jewei­ligen Einzelfall erwlinscht oder nachteilig sind, laBt sich aber nicht generell

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festiegen, zumal dies nicht unwesentiich yom vorhandenen Wechselkurssystem (fixe oder flexible Wechselkurse) und anderen auBenwirtschaftlichen Regelun­gen (z.B. freier Kapitalverkehr und Freizligigkeit fur Arbeitskrafte) abhiingt. Bei der Einfuhrung des Gesetzes zur Forderung der Stabilitat und des Wachs­turns der Wirtschaft im Jahr 1967 galten international fixe Wechselkurse. Daher war das unmittelbar verfolgte auBenwirtschaftliche Ziel vorrangig eine ausgeglichene Leistungsbilanz und damit die Verhinderung unerwiinschter Kapitalstrome, die im Inland inflationssteigernd hatten wirken konnen. Das Sy­stem fixer Wechselkurse ist aber seit Anfang der 70er Jahre untergegangen und von einem System flexibler Wechselkurse abgelOst worden. Ein System flexib­ler Wechselkurse fuhrt immer zu gleichgewichtigen Wiihrungsverhiiltnissen und verhindert ins owe it inflationssteigernde Kapitalzufliisse. Das Ziel des auBen­wirtschaftlichen Gleichgewichts hat daher an wirtschaftspolitischem Interesse verloren, zumal es gewissermaBen bei flexiblen Wechselkursen automatisch si­chergestellt ist.

• Stetiges und angemessenes Wirtschaftswachstum bedeutet zum einen, daB die Wirtschaftstatigkeit schwankungsfrei, ohne konjunkturelle Einbriiche und Uberhitzungen ablaufen soil. Die Wirtschaftstatigkeit soll zum anderen zu Wachstum fuhren, d.h. es sollen jahrlich Zuwachse im gesamtwirtschaftli­chen Giitervolumen und im gesamtwirtschaftlichen Einkommen erreicht werden. Ais MaBgroBe fur Wirtschaftswachstum dient das reale Bruttoin­landsprodukt. Zuwachsraten dieser GroBe im Umfang von 2 bis 4 % erschei­nen weithin als angemessen.

Das nach den Vorstellungen des Stabilitatsgesetzes aus vier Teilzielen bestehende gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht ist keineswegs die einzige Formulierung fUr volkswirtschaftliche Ziele. Der Zielkatalog des Stabilitatsgesetzes ist lediglich in der Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland relativ friih gesetz­lich festgelegt worden. Durch seine Normierung im Grundgesetz hat er zudem eine Bedeutung erlangt, die ihn von anderen volkswirtschaftlichen Zielen unterscheidet. Das hat auch dazu gefuhrt, daB die Ziele des Stabilitatsgesetzes in viele populare Schriften aufgenommen worden sind und dabei vielfach als einziger oder abschlie­Bender Zielkatalog der Wirtschaftspolitik gewertet werden. Dabei darf nicht iiber­sehen werden, daB der Zielkatalog des Stabilitatsgesetzes zwar ahnlich aber keines­falls identisch in anderen Landern gilt und dort auch nicht in hochrangige Rechts­normen eingebunden wurde. Das Stabilitatsgesetz ist insoweit ein deutsches Uni­kum, das seine Entstehung spezifischen wirtschaftspolitischen Bedingungen und dem personlichen Wirken besonderer wirtschaftspolitischer Entscheidungstrager verdankt. Es gab und gibt dariiber hinaus weitere Ziele, die zum Teil als solche direkt benannt und angestrebt werden, zum Teil aber auch nur als wichtige Ne­benbedingungen fur den Wirtschaftsablauf geiten. SchlieBlich sollte nicht auBer acht gelassen werden, daB der Zielkatalog des Stabilitatsgesetzes auf einer iiberaus vereinfachten wirtschaftspolitischen Konzeption beruht, die einer seriosen Uberpriifung nicht standhiilt.

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1.4.3 Weitere volkswirtschaftliche Ziele in Deutschland

Bereits das Stabilitatsgesetz sieht als wesentliche Nebenbedingung beim Erreichen des dort genannten Zielkatalogs die Aufrechterhaltung einer marktwirtschaftli­chen Ordnung vor. Dies ist von erheblicher Bedeutung, wei! damit eine Rahmen­ordnung fUr die Funktionsweise des Wirtschaftsprozesses in Deutschland insge­samt festgelegt wird.

Das Sozialstaatsgebot des Art 20, Abs. 1 GG stellt ebenfalls eine wesentli­che Nebenbedingung dar, die sich an die Teilnehmer des Wirtschaftsprozesses und an die staatliche Wirtschaftspolitik richtet. So folgen daraus Verteilungsziele, die fUr die staatliche Wirtschaftspolitik bedeuten, daB groBere Unterschiede in der Ein­kommens- und Vermogensverteilung verhindert oder reduziert werden sollen.

Seit vielen Jahren wird eine weitere Nebenbedingung fUr das Wirtschaften be­sonders intensiv diskutiert. Es ist das Umweltziel. Damit solI erreicht werden, daB die Wirtschaftstatigkeit die natiirlichen Lebensgrundlagen nicht auf Dauer scha­digt. Dieses Prinzip des nachhaltigen Wachstums (sustainable growth) ist seit 1994 als Art. 20 a mit folgender Formulierung in das Grundgesetz aufgenommen worden: "Der Staat schutzt auch in Verantwortungfur die kunftigen Generationen die naturlichen Lebensgrundlagen im Rahmen der verfassungsmaj3igen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maj3gabe von Gesetz und Recht durch die voll­ziehende Gewalt und die Rechtsprechung. " Das Umweltziel umfaBt daher Bestre­bungen, bestehende Umweltschaden zu vermindem und zu beseitigen, Schaden abzuwehren, Risiken fUr Menschen, Tiere, Pflanzen und Landwirtschaft zu mini­mieren sowie Freiraume fUr die Entwicklung kunftiger Generationen an Lebewesen zu erhalten und zu erweitem.

1.4.4 Wirtschaftspolitische Ziele in der Europaischen Union

Der EG-Vertrag enthalt in der Fassung des Vertrags von Amsterdam aus dem Jahr 1997 wirtschaftspolitische Zieivorstellungen fUr aIle Mitgliedstaaten der Euro­pais chen Union, die zum einen hOherrangiges Recht als nationale Vorschriften dar­steIlen, und die zum anderen nicht vo1lig deckungsgleich sind mit dem oben erlau­terten Zielkatalog des nur in Deutschland existierenden Stabilitlitsgesetzes. Dies ist wichtig fUr die Interpretation der Wertigkeit volkswirtschaftlicher Ziele insgesamt, auch wenn es eine Reihe von Uberschneidungen zwischen europaischen und deut­schen und dabei auch historisch uberholte Zielvorstellungen gibt.

Der EG-Vertrag enthalt in Art. 4, Abs. 3 u.a. die Forderung nach gesunden Offentlichen Finanzen. Diese werden in Art. 104, Abs. 1 als Vermeidung iiber­ma6iger Offentlicher Defizite umschrieben. Die Maastricht-Vertrage (Art. 121, Abs. 1 EG-Vertrag) haben hierzu ebenfalls Aussagen gemacht und beispielsweise "eine auf Dauer tragbare Finanzlage der o.ffentlichen Hand ... " postuliert. Diese noch recht allgemeinen Formulierungen sind durch den Europaischen Stabilitats­und Wachstumspakt aus 1997 konkretisiert worden. Der Pakt besteht aus zwei Verordnungen des Ministerrats und aus einer EntschlieBung des Europaischen

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Rats. Er enthiilt zunachst Bestimmungen zum Verfahren bei einem iibermaBigen Defizit, wobei insbesondere Sanktionsmechanismen flir die davon betroffenen Staaten vorgesehen sind. Der Pakt verpflichtet die Mitgliedstaaten aber auch, be­reits vorbeugend Programme zur gegenwartigen und zukiinftigen Finanzentwick­lung vorzulegen. Diese solIen als mittelfristiges Ziel einen nahezu ausgeglichenen Haushalt oder sogar einen HaushaltsiiberschuO ausweisen, bzw. einen Anpas­sungspfad auf dieses Ziel hin erkennen lassen.

Das Ziel der gesunden Offentlichen Finanzen ist ein in der Tat neues und zusatzliches Ziel fUr die Mitgliedstaaten der Europaischen Union. Es ist wohl aus drei Grunden in den EG-Vertrag und die zwischenzeitlichen Vereinbarungen auf­genommen worden. Zum einen solIen die gesunden Finanzen die Stabilitat der gemeinsamen Wahrung unterstiitzen. Zum anderen ist angesichts der demogra­phischen Entwicklung in den Volkswirtschaften in Europa eine Konsolidierung der affentlichen Haushalte dringend, damit auch kiinftighin noch ein hohes Leistungs­niveau der Versorgung mit offentlichen Giitem erreicht werden kann. Es kommt drittens hinzu, daB die friiher vertretene Meinung, wonach von Staatsdefiziten eine positive Wirkung auf die Wirtschaftsentwicklung ausgehen kanne, von wirt­schaftswissenschaftlich Informierten nicht mehr geteilt wird.

Der EG-Vertrag enthalt daruber hinaus volkswirtschaftliche Ziele, die er eindeutiger oder von der wirtschaftspolitischen Verantwortlichkeit her zutreffen­der festlegt als das Stabilitatsgesetz. So ist das Ziel der Preisstabilitat mehrfach genannt, zugleich aber auch in Art. 105 der Institution als Aufgabe zugewiesen, die einen EinfluB darauf hat, namlich der Europaischen Zentralbank (EZB), bzw. dem System der Europaischen Zentralbanken (ESZB). Die marktwirtschaftliche Rah­menordnung flir den WirtschaftsprozeB wird in Art. 98 mit folgender Formulie­rung deutlich gefordert: "Die Mitgliedstaaten und die Gemeinschafi handeln im Einklang mit dem Grundsatz einer ofJenen Marktwirtschafi mitfreiem Wettbewerb, wodurch ein ejjizienter Einsatz der Ressourcen gefordert wird ... " SchlieJ31ich ist auch das Umweltziel im EG-Vertrag eindeutiger und verstandlicher formuliert als im Grundgesetz. So lautet Art. 174, Abs. 1: " Die Umweltpolitik der Gemeinschafi tragt zur Verfolgung der nachstehenden Ziele bei: - Erhaltung und Schutz der Umwelt sowie Verbesserung ihrer Qualitat; - Schutz der menschlichen Gesundheit;

- umsichtige und rationelle Verwendung der natiirlichen Ressourcen; - Forderung von Maj3nahmen auf internationaler Ebene zur Bewaltigung re-

gionaler oder globaler Umweltprobleme. " Der EG-Vertrag enthiilt im iibrigen das Wachstumsziel ohne die im Stabili­

tatsgesetz enthaltene Qualifizierung "stetig" (Art. 2). Auch das Ziel des hohen Be­schiiftigungsniveaus findet sich in Art. 2 und Art. 127, ohne allerdings einen di­rekten Zusammenhang zwischen dies em Ziel und finanzpolitischen MaBnahmen des Staates zu postulieren.

In der Nachfolge des Vertrags von Amsterdam hat der Europaische Rat sich auBerdem zu einem makrookonomischen Policy-Mix bekannt, wonach wesentli­che Ziele je separaten Institutionen als Aufgabenstellung zugeordnet werden. Die

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Haushaltskonsolidierung ist demnach eine Aufgabe der offentlichen Haushalte selbst. FUr die Preisstabilitat hat die Geldpolitik der EZB Sorge zu tragen. Beim Beschliftigungsziel wird eine zumindest teilweise Verantwortlichkeit der Sozial­partner gesehen.

1.4.5 Zielbeziehungen

Volkswirtschaftliche Ziele stehen nieht unverbunden nebeneinander. Sie konnen sich gegenseitig f6rdem, d.h. sie sind dann komplementar, wie z.B. das Ziel des Wirtschaftswachstums und das Beschliftigungsziel. Es kann aber auch gegenseitige Behinderungen zwischen den Zielen geben, dann handelt es sich urn konkurrie­rende oder substitutive Ziele. Ein Beispiel hierfUr ist die zumindest kurzfristig bestehende Gegenlaufigkeit zwischen dem Umwelt- und dem Wachstumsziel. Eine Konkurrenz der Ziele besteht zwischen einigen Vorstellungen des Stabilitatsgeset­zes und dem EG-Vertrag. Das Stabilitatsgesetz ist fur viele Wirtschaftspolitiker die Basis fur die Ausweitung des Staatsanteils uber steigende Staatsverschuldung ge­wesen. Die Vereinbarungen von Maastricht hingegen fordem im direkten Gegen­satz hierzu "eine auf Dauer tragbare Finanzlage der offentlichen Hand ... ohne ubermaJ3iges Dejizit. "(Art. 121, Abs. 1 EG-Vertrag). Wenn schlieBlich die Zieler­reichung bei einem Ziel ein anderes nicht beeinfluBt, liegt Zielneutralitat vor. Bei­spielsweise durfte zwischen dem Grad der Preisstabilitat und dem Umweltziel Neu­tralitat bestehen.

Welche Abhangigkeiten zwischen den volkswirtschaftlichen Zielen vorl ie­gen, ergibt sich nicht aus den Zielen selbst und ist keine Eigenschaft der Ziele. Die jeweilige gegenseitige Beeinflussung laJ3t sich nur aus einer systematischen ma­krookonomisehen Analyse erkennen. Eine solche Analyse hat u.a. den Fragen nachzugehen inwieweit das Ziel der Preisstabilitat mit dem Ziel der hohen Beschlif­tigung in Konflikt steht oder nicht. Sie hat zu klaren, ob es Kollisionen gibt zwi­schen der Preisstabilitat und dem Wirtschaftswachstum, bzw. zwischen dem Ziel der Umweltverbesserung und der Beschaftigung. Wie beeinfluBt schlieBlich eine Konsolidierung der Offentlichen Haushalte die Ziele Wachstum, Beschliftigung und Preisstabilitat?

Zu den Zeiten des Stabilitatsgesetzes waren insbesondere die wirtschaftstheo­retisch weniger Informierten der Auffassung, daB die vier Ziele des Zielkatalogs in einem weitgehend substitutiven Verhliltnis zueinander stUnden. Dies hat sich bei AuBenstehenden zur Vorstellung verdichtet, daB vielfach unuberwindbare Gegen­satze zwischen den Zielen vorlagen und man deshalb Kompromisse suchen musse, etwa derart "eher eine hOhere Inflationsrate, wenn damit hahere Beschliftigung oder hOheres Wirtschaftswachstum erreichbar sind." Viele Wirtschaftspolitiker sind diesem Denkmuster noch verhaftet. Gleichwohl zeigt eine vollstandigere und aktuellere wirtschaftstheoretische Analyse, daB die fiiiher postulierten Antinomien nicht bestehen oder zumindest nicht immer bestehen mussen. Insoweit verhalten sich die Ziele Preisstabilitat, Wachstum und Beschaftigung weitgehend neutral zueinander.

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Die Zusammenhllnge zwischen den volkswirtschaftlichen Zielen sind im Sta­bilitatsgesetz noch dadurch vennengt worden, daB fUr ihre Erreichung grundsiitz­lich wirtschafts- und finanzpolitische MaBnahmen von Bund und Landem einzu­setzen sind (§ 1 Stabilitatsgesetz). Diese Instrumente mussen aber keinesfalls zur Zielerreichung beitragen. So hat z.B. die nationale Finanzpolitik keinen EinfluB auf das Ziel Preisniveaustabilitat, da Bund und Lander nicht die Geldmengenent­wicklung bestimmen. Aus heutiger Sicht ist darnber hinaus fUr die Preisstabilitiit ausschlieBlich die Europaische Zentralbank zustandig. FOr das Ziel des hohen Be­schiiftigungsstandes wird man auch nicht die nationale Finanzpolitik als vorrangig verantwortlich ansehen konnen. Dieses Ziel kann vielmehr vomehmlich nur von den Tarifparteien und den Handelnden auf dem Arbeitsmarkt beeinfluBt werden. Unzureichende Wirkungsanalysen und inadaquate wirtschaftswissenschaftliche Hypothesen aus der Zeit des Stabilitatsgesetzes konnen durchaus Instrumente na­helegen, die von den angestrebten Zielen wegfUhren.

Der EG-Vertrag venneidet einige dieser Unzulanglichkeiten, insbesondere durch den systematischeren Mitteleinsatz fUr spezifische Ziele, der im Policy-Mix zum Ausdruck kommt. Der EG-Vertrag unterstellt aber weiterhin, daB staatIiche Wirtschaftspolitik wesentIiche volkswirtschaftliche Ziele erreichen kann, ohne daB die Beeinflussungsmoglichkeiten in der Tat immer deutlich sind. Das Problem besteht dann nicht in unvereinbaren Zielen, sondem in unzureichenden Mitteln staatIicher Wirtschaftspolitik.