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EIN KUNSTMAGAZIN Nr. 8 PICASSO FEBRUAR 2016 4 190171 006003 01 6 EURO

PICASSO - Amazon S3...BLAU erscheint in der Axel Springer Mediahouse Berlin GmbH, Mehringdamm 33, 10961 Berlin +49 30 3088188–222 Nr. 8, Februar 2016 Verkaufspreis: 6,00 Euro inkl

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Nr. 8 / Februar 2016

PICASSO

EIN KUNSTMAGAZIN

Nr. 8

PICASSO

FEBRUAR 2016

4 1

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01

6 EURO

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Manchmal kommt das Glück per E-Mail. Bei uns war es Ende November so weit. Absender: Bernard Ruiz-Picasso. Betreff : Sketchbook, La Californie. Im Anhang eine zu unterzeichnende Vertraulichkeits-erklärung sowie ein Video, in dem das Skizzenbuch seines Großvaters in slow motion durchgeblättert wurde – das Buch, das Picasso vor nun genau 60 Jahren begann.

Wir wollten eine Zeitreise machen, zurück ins Cannes der 50er-Jahre, als der größte Maler des 20. Jahr hun-derts auf dem Gipfel seines Ruhmes steht und in seiner La Californie ge-nannten Prachtvilla Freunde, Sammler, Museumsdirek toren und die Welt-presse empfängt. Wir wollten noch einmal versuchen zu verstehen, wie er dachte, was ihn antrieb, wie er war – und das, solange es noch Zeitzeugen gibt, die uns davon erzählen können. Das Skizzenbuch aus dem Privatbesitz seines Enkels, so viel war klar, würde als Zeitmaschine dienen. Und auch der Reiseleiter stand schnell fest: Sir John Richardson, Picassos enger Freund in jenen Jahren und Autor der bis jetzt dreibändigen und 2.000 Seiten starken Jahrhundertbiografi e A Life of Picasso. Allein: Würde er, der im Februar 92 Jahre alt wird und damit so alt wie Picasso, die Strapazen auf sich nehmen?

„Sicher“, sagte er wenig später am Telefon. Nur dass er vorher noch mit seiner Freundin Gloria von Thurn und Taxis Weihnachten auf Schloss St. Emmeram feiern wolle und danach Silvester in Wien mit einem anderen guten Freund, Scheich Hamad bin Abdullah Al Thani von Katar. Kurz und gut: Am 6. Januar sei er zurück in New York und bereit für das Interview. 11 bis 13 Uhr, Fifth Avenue, Ecke Fifteenth – „Bis dahin frohe Festtage!“ Ich will nicht vorgreifen, aber aus den zwei Stunden wurden zwei Tage. Mit einigen längeren Unterbrechungen („Meine Verlegerin kommt zum Lunch. Danach ruhe ich und freu mich auf Ihre Rückkehr um vier!“)

und noch mehr, stets äußerst unter-haltsamen Abschweifungen („Oh, wie sehr ich die New Yorker Kunstwelt verachte!“).

John Richardson ist 17, als er in einer Londoner Galerie Grafi ken von Picasso klaut, 23, als er den engli-schen Kubismus-Sammler Douglas Cooper kennenlernt und 28, als er mit ihm das Château de Castille bei Avignon bezieht und endgültig ins Herz des Universums Picasso vorstößt. Fast 70 Jahre nach seiner ersten Begegnung mit dem Meister sitzt er hellwach vor einem und sagt: „Ich bin noch immer besessen von ihm. Picasso zu treff en war das Glück meines Lebens.“

Ich hoff e, liebe Leser, Sie verzeihen uns, dass wir für das Skizzenbuch und die Erinnerungen Sir Johns den kompletten Hauptteil dieser Ausgabe freigeräumt haben. Wer Glück hat, sollte es auskosten.

Picassos Skizzenbuch aus dem Privatbesitz seines Enkels, so viel war klar, würde uns als Zeitmaschine dienen. Und auch der Reiseleiter stand schnell fest: Sir John Richardson“

AUFTAKT

CORNELIUS TITTEL

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INHALT

8 CONTRIBUTORS / IMPRESSUM

11 ESSAY Augen auf bei der Partnerwahl

16 DIE SCHNELLSTEN SKULPTUREN DER WELT

18 BLITZSCHLAG Gabriele Quandt

20 UM DIE ECKE Lower East Side, New York

30 DICHTER DRAN Nora Gomringer

APÉRO

EIN KUNSTMAGAZINNr. 8 / Februar 2016

Jemand, der diese geistige Entwicklung macht, diese Sprünge, der landet normaler weise in der Psychiatrie. Nicht so Picasso“

PABLO PICASSOTitelblatt des Skizzenbuchs Carnet 1133, mit China-Tinte geschrieben: „La Californie 9.3.56. – 17.6.56.“ In Blockschrift: „Croquis Dessin“,„Papeterie Rontani,5 rue Alexandre Mari, Nice“

AM 9. MÄRZ 1956 BEGINNT PICASSO EIN SKIZZENBUCH. 60 JAHRE SPÄTER IST

ES IN BLAU ZU SEHEN. SEIN BIOGRAF SIR JOHN RICHARDSON

ERINNERT SICH

s. 32

DAS BUCH PICASSO

EINE BEGEGNUNG MIT JOSH KLINE, DER NEW YORKS KUNSTSZENE MIT DETOX-SHAKES

UND SILIKON ZU LEIBE RÜCKT

s. 26WIE FUKUSHIMA JAPANS BERÜHMTESTEN

KÜNSTLER EXPLODIEREN LIESS

s. 24

OUTGESOURCED

MURAKAMIS ATOMIUM

— SIR JOHN RICHARDSON

Von oben im U

hrzeigersinn: PICASSO

beim Skizzenzeichnen, 1971. T

AKASH

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ry of a Universe, 2005, G

oldblatt auf FR

P-Plastik, 451 × 268 ×

303 cm

JOSH

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Creative H

ands (Detail), 2013, 10 pigm

entierte Silikonhände auf Ladenregalen m

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D-Beleuchtung, 93 ×

66 × 39 cm

57 INTERVIEW Künstlernachlässe

60 WERTSACHEN Was uns gefällt

62 GRAND PRIX Die Kunstmarkt-Kolumne

63 BILDNACHWEISE

64 BLAU KALENDER Unsere Termine im Februar

66 DER AUGENBLICK Lars Tunbjörk

ENCORE

PARIS MARAIS PARIS PANTIN SALZBURG

TONY CRAGG PARIS PANTIN

MÄRZ – JUNI 2016ROPAC.NET

SCULPTURES

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Bernard RUIZ-PICASSOEs ist ja nicht so, als hätte der Name Picasso nur Glück gebracht. Im Gegenteil – schon mancher Nach-komme bezeichnete ihn als Fluch. Nicht so Bernard Ruiz-Picasso, Sohn von Pablos einzigem ehelichen Sohn Paulo. Gemeinsam mit seiner Frau

Almine leitet Bernard die Stiftung FABA, verleiht Werke aus der größten privaten Picasso-Sammlung der Welt, konzipiert Ausstel-lungen, unterstützt die Forschung. Und gibt BLAU das größte Geschenk überhaupt: eines der raren, sagenumwobenen, nur wenigen Eingeweihten bekannten Skizzenbücher seines Groß-vaters. BLAU salutiert und sagt: „Merci Bernard.“ (Seite 32)

Nora GOMRINGER

„Hallo und Guten Tag!“ Freundli-cher Empfang auf der Website der Lyrikerin. Da macht man doch gerne die elektronischen Türen auf. Und dann die Warnung: „Vorsicht! Nora Gomringer könnte Sie amü-sieren, irritieren, aus den richtigen

Gründen zum Weinen bringen! Ist alles schon vorgekommen.“ Die 1980 geborene Tochter des Schweizer Sprachartisten Eugen Gomringer wechselt gerne die Rollen. Sie schreibt Gedichte, tritt als Rezitatorin auf und leitet das Künstlerhaus in Bamberg. 2015 hat sie den renommierten Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagen-furt gewonnen. Für BLAU hat sie sich von einer Textilarbeit der rumänischen Künstlerin Ana Botezatu anregen lassen. (Seite 30)

Lily BRETTWer ihre Bücher kennt, kennt sie: Kaum jemand beschreibt New York so zärtlich, witzig und neurotisch wie Lily Brett, egal ob es ums Altern, Angst oder Angemotztwerden geht. Die Melancholie, die in ihren Texten mitschwingt, hat mit ihrer Biografi e

zu tun: Ihre Eltern heirateten im Getto von Lodz und trafen sich nach Auschwitz wieder. Geboren wurde Brett 1946 in einem bayrischen Auff anglager. Sie wuchs in Australien auf und begann mit 19 für ein Rockmagazin zu schreiben. Für BLAU spaziert sie durch die Lower East Side – nach vielen Jahren in SoHo lebt sie dort seit einem Jahr mit ihrem Mann, dem Maler David Rankin. „Es fühlt sich an, als wären wir schon ewig hier.“ (Seite 20)

CONTRIBUTORSIMPRESSUM

RedaktionCHEFREDAKTEURCornelius Tittel (V. i. S. d. P.)

MANAGING EDITOR Helen Speitler

STELLV. CHEFREDAKTEURIN Swantje Karich

ART DIRECTIONMike Meiré

Meiré und Meiré: Philipp Blombach, Marie Wocher

TEXTCHEFHans-Joachim Müller

BILDREDAKTIONIsolde Berger (Ltg.), Jana Hallberg

REDAKTIONGesine Borcherdt, Dr. Christiane Hoff mans (NRW)

SCHLUSSREDAKTION Karola Handwerker, Max G. Okupski

REDAKTIONSASSISTENZ Manuel Wischnewski

Autoren dieser AusgabeLily Brett, Nora Gomringer, Ulf Poschardt, Alan Posener, Gregor Quack, Melanie Walz (Übersetzung), Marcus Woeller, Ulf Erdmann Ziegler

Fotografen dieser AusgabeYves Borgwardt, Emmanuel Crooy, Wolfgang Günzel, Andy Kania, Frida Sterenberg, Christian Werner

Sitz der Redaktion BLAUKurfürstendamm 213, 10719 Berlin +49 30 3088188–400redaktion@blau–magazin.de

BLAU erscheint in der Axel Springer Mediahouse Berlin GmbH, Mehringdamm 33, 10961 Berlin +49 30 3088188–222

Nr. 8, Februar 2016Verkaufspreis: 6,00 Euro inkl. 7 % MwSt.

Abonnement und HeftbestellungJahresabonnement: 48,00 Euro

Abonnenten-Service BLAUPostfach 10 03 3120002 Hamburg+49 40 46860 [email protected]

VerlagGESCHÄFTSFÜHRERJan Bayer, Petra Kalb

SalesANZEIGENLEITUNGEva Dahlke, (V. i. S. d. P. ), [email protected]

HERSTELLUNGOlaf Hopf

DIGITALE VORSTUFEImage- und AdMediapool

DRUCKFirmengruppe APPL, a ppl druck GmbH

Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 2vom 01.01.2016. Copyright 2016, Axel Springer Mediahouse GmbH

Axel Springer Mediahouse Berlin GmbH, Mehringdamm 33, 10961 Berlin, deren alleinige Gesellschafterin die Axel Springer SE, Berlin, ist. Aktionäre der Axel Springer SE, die mehr als 25 vom Hundert des Aktienkapitals besitzen: Axel Springer Gesellschaft für Publizistik GmbH & Co.,Axel-Springer-Straße 65, 10969 Berlin, deren persönlich haftende Gesellschafterin die AS Publizistik GmbH, Berlin, und deren Kommanditisten die Friede Springer GmbH & Co. KG, Berlin, Herr Axel Sven Springer, Journalist, München und Frau Ariane Melanie Springer, München, sind. Persönlich haftende Gesellschafte-rin der Friede Springer GmbH & Co. KG ist die Friede Springer Verwaltungs GmbH, Berlin, einzige Kommanditistin Frau Dr. h. c. Friede Springer, Berlin. Aufsichtsrat der Axel Springer SE: Dr. Giuseppe Vita (Vorsitzender), Dr. h. c. Friede Springer (stellvertretende Vorsitzende), Oliver Heine, Rudolf Knepper, Lothar Lanz, Dr. Nicola Leibinger-Kammüller, Prof. Dr. Wolf Lepenies, Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Reitzle.

18. – 21. Februar 2016

Klassische Moderne und Gegenwartskunst

Messe Karlsruhe | www.art-karlsruhe.de

KARLSRUHE

GALERIE EVA PRESENHUBERMAAG AREALZAHNRADSTR. 21, CH-8005 ZURICHTEL: +41 (0) 43 444 70 50 / FAX: +41 (0) 43 444 70 60OPENING HOURS: TUE-FRI 10-6, SAT 11-5

LÖWENBRÄU AREALLIMMATSTR. 270, CH-8005 ZURICHTEL: +41 (0) 44 515 78 50 / FAX: +41 (0) 43 444 70 60OPENING HOURS: TUE-FRI 11-6, SAT 11-5

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ANGELA BULLOCHFEBRUARY 20 TO APRIL 2, 2016

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CARROLL DUNHAMAPRIL 16 TO MAY 21, 2016

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Th omas StruthNature & Politics4. März – 29. Mai 2016

Tomi UngererINCOGNITO18. März – 16. Mai 2016

Rodin – Giacometti | Pollock – Twombly | Rothko – Serra …Sammlung Looser im Museum Folkwang. Dialoge29. April – 30. Oktober 2016

Katharina Fritsch13. Mai – 30. Oktober 2016

Peter KeetmanGestaltete WeltEin fotografi sches Lebenswerk3. Juni – 31. Juli 2016

Richard DeaconDrawings 1968 – 201626. August – 13. November 2016

Dancing with MyselfSelbstporträt und Selbsterfi ndung. Werke aus der Sammlung Pinault7. Oktober 2016 – 15. Januar 2017

Das rebellische BildSituation 1980: Die Kreuzberger „Werkstatt für Photographie“ und die junge Folkwang-Szene 9. Dezember 2016 – 19. Februar 2017

Museumsplatz 1, 45128 Essen, www.museum-folkwang.de

Museum FolkwangHighlights 2016

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APÉRO

Saudi-Arabien baut die kühnsten Städte – und

terrorisiert seine Künstler. Von Alan Posener

E in Autobahnschild, wie wir es auch in Europa kennen. Es weist den Weg nach Mekka, der heiligen Stadt

der Moslems in Saudi-Arabien. Doch die drei Autobahnspuren, die zum schwar-zen Kubus der Kaaba führen, sind nur für Muslime befahrbar. Nicht-Muslime müssen die Autobahn verlassen, wie weiland DDR-Bürger die Transitautobahn vor den Toren zum goldenen Westen. Abdulnasser Gharems Road to Makkah bildet das Straßenschild nur ab. Und macht es damit zum absurden Kunstwerk, das auf die absurden Zustände in einem absurden Staat verweist.

Gharem gehört zur jungen Generation saudischer Künstler. Dazu gehört auch Ahmed Mater, der in seinen Illuminations Röntgenporträts in traditionelle Schmuck-bordüren montiert, um das im wahabiti-schen Islam geltende strenge Verbot der Porträtmalerei zugleich zu umgehen und zu entlarven. Mater fotografi ert auch Eisen-späne, die sich im Magnetfeld eines quadra-tischen Eisenstücks anordnen. Seine Magnetism-Reihe sieht aus wie Luftaufnah-men der Pilger, die in Mekka die Kaaba umrunden. Ist das Werk affi rmativ oder subversiv? Feiert es die Urkraft der Religion oder stellt es die Pilger als willenlose Objekte dar? In Saudi-Arabien ist man als Künstler gut beraten, nicht zu deutlich zu werden.

Das musste der Künstler und Dichter Ashraf Fayadh erfahren. Bis vor zwei Jahren galt der Sohn palästinensischer Flüchtlinge als Aushängeschild eines weltzugewandten Saudi-Arabien, kuratierte Ausstellungen mit saudischen Künstlern und den saudischen Auftritt auf der Biennale in Venedig. Wegen eines vor acht Jahren in Beirut veröff entlich-ten Gedichtbands wurde Fayadh verhaftet und zum Tode verurteilt. „Abfall vom Glauben“ lautet der Vorwurf. Beweisstücke sind Zeilen wie diese: „Dir fehlen Regen-tropfen, die den Rest deiner Vergangenheit abwaschen und dich von dem befreien könnten, was du Frömmigkeit nanntest … von dem Herzen, das der Liebe fähig ist und des Spiels und der Auseinandersetzung mit deinem obszönen Rückzug von jener wabbeligen Religion, jenem falschen Tansil, jenen falschen Göttern, die ihren Stolz verloren hatten …“

„Tansil“, das arabische Wort für Off enbarung, wird von muslimischen Teenagern oft als Code für einen unfreiwil-ligen Samenerguss benutzt. Dass die direkt vom Herrscherhaus kontrollierte Religions-polizei meint, an Fayadh ein Exempel statuieren zu müssen, ist auch eine Off en-barung, ein Tansil, das die Nervosität im Königreich bloßlegt. So reagiert ein Herodes auf das Wirken Johannes des Täufers, aber kein moderner Staat im Zeitalter des Internets.

Doch – apropos Internet – auch Raif Muhammad Badawi, der seit 2008 seinen Blog Die Liberalen Saudi-Arabiens betreibt, wird Opfer dieser Nervosität: Weil er angeblich Muslime, Christen, Juden und Atheisten als gleichwertig bezeichnet habe, wurde er gemäß einem 2014 in Kraft getretenen Anti-Terror-Gesetz wegen „Beleidigung des Islam“ zu zehn Jahren Haft und 1.000 Peitschenhieben verurteilt, einer in Raten von 50 Hieben verabreichten Todesstrafe.

Da sind das Schwert und die Gewehre menschlicher, mit denen zum Auftakt des neuen Jahres 47 Regimegegner hinge-richtet wurden. Die meisten waren Terroristen wie der Al-Qaida-Kämpfer Adel al-Dhubaiti. Unter den Hingerichteten war jedoch auch der schiitische Geistliche Scheich Nimr al-Nimr. Der war zwar kaum jener Friedensengel, als der er von den Theokraten im Iran dargestellt wird. Als junger Mann studierte al-Nimr bei den iranischen Mullahs Theologie und Revolu-tion und befürwortete nach seiner Rückkehr den Abfall des mehrheitlich von Schiiten bewohnten Ostens vom Königreich. Der Gewalt allerdings schwor er ab. Doch wie bei Badawi und Fayadh reicht es in Saudi-Arabien, subversive Gedanken zu äußern, um dem Henker überantwortet zu werden.

Die Existenz einer verbotenen Stadt wie Mekka, einer despotischen Herrscher-dynastie, einer willfährigen Justiz, die nach der brutalstmöglichen Auslegung der Scharia urteilt, einer Religionspolizei, die nicht nur verbotenen Gedichten nachspürt, sondern darauf achtet, dass Frauen nicht Auto fahren, sich bedecken und keine Beziehungen zu Männern außerhalb ihrer Familie unterhalten – das klingt alles nach

AUGEN AUF BEI DER

PARTNER-WAHL

ESSAY

AHMED MATERDiabetic Illuminations Ottoman Waqf, 2010

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APÉRO

Mittelalter. Doch ist Saudi-Arabien ein in jeder Hinsicht junger Staat.

Die Herrscherfamilie geht zurück auf Scheich Muhammad Ibn Saud, der im 18. Jahrhundert einen Aufstand gegen das Osmanische Reich organisierte. Saud verbündete sich mit einem puritanischen Prediger namens Muhammad Ibn Abd al-Wahhab. Ihre fanatischen Anhänger terrorisierten die moderaten Muslime der arabischen Halb insel, zerstörten ihre Heiligtümer, eroberten Mekka und Medina, griff en den Irak an und etablierten schließ-lich um 1744 einen fundamental-islami-schen Staat, den die Osmanen erst 1818 zerschlagen konnten. Muhammad wurde in Istanbul geköpft, die Familie Saud ins Exil geschickt, Arabien der Familie Al-Raschid und Mekka wieder der Ober aufsicht der traditionell gemäßigten Haschemiten unterstellt.

1902 eroberte ein Nachkomme Muhammads, Abd al-Aziz Ibn Saud, mit einer winzigen Beduinenarmee den alten Familiensitz Riad. Die von den Raschids unterdrückten Anhänger Wahhabs – die Wahabiten – formte er zu einer militärisch-religiösen Legion: die Ikhwan, was so viel heißt wie Bruderschaft. Nachdem die Westmächte das Osmanische Reich im Ersten Weltkrieg zerschlagen hatten, konnte Ibn Saud mit der fanatischen Bruderschaft bis 1924 die ganze arabische Halbinsel überrennen; anschließend richtete er unter den Ikhwan ein Blutbad an und erklärte sich 1932 zum König des Gebiets, das fortan Saudi-Arabien hieß. 1933 wurde dort Öl entdeckt. Seither ruhte die Macht der Familie auf drei Säulen: dem Bündnis mit dem wahabitischen Klerus, der brutalen Repression und dem Öl. Das schwarze Gold machte Saudi-Arabien zum unverzichtbaren Verbündeten des Westens im Kampf zuerst gegen Hitler-Deutschland, dann gegen die kommunistische Sowjetunion; und es ermöglichte dem Herrscherhaus, seine Untergebenen zu bestechen.

Ein Staat, der keine Steuern eintreiben muss, sondern Geschenke verteilen kann, muss auch auf die Meinung der Bürger kaum Rücksicht nehmen. Wem es im Königreich nicht gefällt, der kann ja gehen. Viele saudische Bürger studieren denn auch im Ausland; fast die Hälfte kehrt dem

Königreich permanent den Rücken. Wer aber – etwa an der Universität Prinzessin Nora Bint Abdul Rahman, der größten Frauenuniversität der Welt – studieren will, genießt nicht nur ein üppiges Stipendium, sondern kann sich über ein Apartment freuen, das mit eigenem Fitness- und Wellnessbereich eher an ein Luxushotel denn an ein Studentenheim erinnert.

Es wäre falsch zu sagen, dass Saudi-Arabien zwischen Tradition und Moderne laviert. Denn die Tradition bedeutet den Herrschenden nichts. Für die Wahabiten sind die über die Jahrhunderte akkumu-lierten Schichten islamischer Volksfröm-migkeit, Gelehrsamkeit, Bräuche, Schreine, Kunst und Architektur größtenteils Aus-druck eines verwerfl ichen Götzenkults. Der Wahabismus ist permanente Gegenwart und Reinheit der Religion. Das Herrscher-haus wiederum will alle vermeintlichen Vorzüge der Moderne übernehmen, ohne ihren Geist zu absorbieren. Nirgendwo wird diese Geschichtslosigkeit deutlicher als in den Städten, die zu einem Disneyland der Moderne wurden. Ganze Quartiere aus traditionellen Lehmbauten mit engen Gassen wurden abgeräumt, um autoge-rechte Albträume aus Stahl, Glas und Beton zu errichten, die nur mithilfe aufgedrehter Klimaanlagen bewohnbar sind.

Die ganze Riege der modernen Archi-tektur, von Gerkan Marg und Partner aus Deutschland über den Amerikaner Minoru Yamasaki, der das erste World Trade Center entwarf, bis hin zur unvermeidlichen Zaha Hadid wurden eingekauft, um Städte, Flughäfen, Bürohoch häuser, Museen oder Verkehrsbauten zu errichten. Neuerdings machen auch einheimische Architekten von sich reden, etwa Abdulelah Alharbi, dessen kühner Entwurf für das Guggenheim-

Museum in Jeddah GMP, Hadid und Co. alt aussehen lässt.

So also sieht unser wichtigster Verbün-deter in der arabischen Welt aus. Schön ist das nicht – und in letzter Zeit mehren sich die Stimmen, die dieses Bündnis infrage stellen. Was, fragen einige, unter-scheidet denn Saudi-Arabien von den Terroristen des Islamischen Staats? Warum sollen wir in der regionalen Auseinander-setzung zwischen dem schiitischen Gottes-staat im Iran und der wahabitischen Monarchie in Riad, deren Rivalität sich mittlerweile in blutigen Bürgerkriegen von Riad bis zum Jemen äußert, überhaupt Partei ergreifen? Die kurze Antwort lautet: weil die Saudis zwar Schurken, aber unsere Schurken sind. Sie hielten treu zum Westen, fi nanzierten die Mudschaheddin, die in Afghanistan die Sowjets schlugen, und fl uteten den Markt mit Öl, was zum Absturz der Ölpreise führte und letztlich die Sowjetunion zum Einsturz brachte. Und das tun sie auch jetzt, was dem Westen in seiner Auseinandersetzung mit Wladimir Putins russischem Imperialismus hilft.

Neben diesem realpolitischen – also zynischen – Argument gilt: Das Haus Saud wollte nie mehr als seine eigene Herrschaft im Land sichern. Zwar mag man den Export des Wahabismus durch Koranschu-len und Wohltätigkeitsvereine mit Sorge betrachten, aber erstens war uns dieser Export durchaus recht, als es gegen die atheistische Sowjetunion ging; und zweitens verbinden die Saudis diesen Export mit einem umfassenden – manche sagen: vorbildlichen – Antiterrorprogramm. Dazu gehört ein Dschihadisten-Rehabilitations-Zentrum bei Riad, in dem die Insassen von Theologen und Psychologen vom Weg des Terrorismus abgebracht werden. Die Erfolge sollen beeindruckend sein. So arbeitet Osama bin Ladens früherer Sprengstoff experte heute als Uhrmacher. Gleichzeitig bildet die Sanftmut gegenüber diesen verlorenen Söhnen des Islam einen merkwürdigen Gegensatz zur Brutalität gegenüber Ashraf Fayadh und Raif Badawi. Es wäre selbstmörderisch, wollte der Westen auf die Zusammenarbeit mit den Saudis verzichten. Aber weil das so ist, sind Fayadh und Badawi auch unsere Gefangenen.

Die Tradition bedeutet den Herrschenden nichts.

Sie wollen alle Vorzüge der Moderne übernehmen,

ohne ihren Geist zu absorbieren

ARTCURIAL THE FRENCH AUCTION HOUSE

VERANSTALTUNGSKALENDER2016 First Semester

AUSSTELLUNGEN

3. - 5. FEBRUAR

Les passions modérées :Das Auge von Pierre Hebey

17. - 20. MAY

Spring Selection

EXPERTENTAGEUNSERE EXPERTEN BERATEN SIE GERNE UNVERBINDLICH UND UNENTGELTLICH.FÜR VERTRAULICHE EXPERTISEN STEHEN WIR IHNEN GERNE NACH EINER TERMINLICHENABSPRACHE ZUR VERFÜGUNG.

2. FEBRUAR

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3. FEBRUAR

Gemälde und Zeichnungen Alter Meister und des 19. Jahrhunderts

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ImpressionistenModerneZeitgenössische Kunst

5. FEBRUAR

Möbel und Kunstgewerbe

Kontakt : Vera-Maria SchneiderTel. +49 89 1891 3987Galeriestrasse 2b80539 Mü[email protected]

Niki de SAINT PHALLENanaAm 7. Dezember 2015 für 961 500 € in Paris zugeschlagen

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APÉRO

Ein Drei-Sterne-Tipp. Grässlin, St. Geor-gen im Schwarzwald. Ist unter Kunst-freunden etwa so, wie wenn der Gourmet

verrät, dass er bei Wohlfahrt in der Traube Tonbach in Baiersbronn speist. Mutter Anna hütet die Sammlung zum deutschen Informel der 50er-Jahre. Bärbel hat ihre Galerie in Frankfurt. Karola leitet das Mumok-Museum in Wien. Sabine sorgt sich um die Gastronomie im St. Georgener Privatmuseum. Thomas ist ganz in seinem ökologischen Echtwald-Projekt aufge-gangen. Eine Vorzeige-Familie mit einer gemeinsam erworbenen Sammlung, die die Kunst der 80er- und 90er-Jahre geradezu exem plarisch repräsentiert. Nun ist auch das Geschichte. Thomas Grässlin hat seinen Anteil an der Familiensammlung abgezogen.

Seit er mit seiner Lebensgefährtin Nanette Hagstotz alle Kraft auf die künstlerische Re-Urwaldisierung heimischer Wälder wirft, hat er sich sichtlich zurückgezogen. „Wir haben“, sagt er, „die Sammlung einver-nehmlich neu strukturiert. Sie ist so umfang-reich, dass der Museumsbetrieb in St. Georgen in gewohnter Form weiterlaufen wird.“ Die drei Schwestern wollen sich nicht ent mutigen lassen. Nach Thomas’ Ausstieg „werden wir die Sammlung gemein-sam weiterführen“, so versprechen sie. Zum zehnjährigen Bestehen des Kunstraums Grässlin im März ist in St. Georgen neben einer Heimo-Zobernig-Präsentation eine Überblicksausstellung zum Thema Malerei mit Werken aus den 80er-Jahren bis in die Gegenwart geplant. MÜ

AB JETZT FRAUENSACHE

RASSISMUS

W enn die Grenzen unserer Sprache die Grenzen unserer Welt bedeuten, wie Ludwig

Wittgenstein behauptete, dann hat das Amsterdamer Rijksmuseum soeben ein neues Terrain erobert. Es eliminierte rund 300 Bezeichnungen von Titeln historischer Gemälde, die heute offi ziell als diskriminierend gelten: „Neger“, „Eskimo“, „Indianer“, „Hottentotten“ und „Zwerg“ sind aus der Ausstellung verschwunden, auch „exotisch“ wird entfernt. Aus Jan Mostaerts Porträt eines Mohren, 1520–1530, wurde Porträt eines afrikanischen Mannes. Das Publikum soll sich der Illusion hingeben, die damaligen Maler hätten ein so lockeres Verhältnis zu andersfarbigen Modellen gehabt, wie das zumindest für einen kleinen Teil der Weltbevölke-rung im 21. Jahrhundert gilt. „Wir wollen ja auch nicht, dass ein Museum im Ausland eine Madonna als ‚Käse-kopf-Frau mit Käsekopf-Kind‘ betitelt“ heißt es von Museumsseite. Dass so Jahrhunderte der Kunstgeschichte samt Kolonialvergangenheit mit einem linguistischen Einheitsduktus überpinselt werden, könnten böse Zungen auch als Geschichtstilgung bezeichnen. Und wenn man schon dabei ist: Wie wäre es mit schwarzen Balken über käsigen Brüsten? GB

JAN MOSTAERT Porträt eines afrikanischen Mannes, 1520–1530

NEUES, ALTES, BLAUES

APÉRO

Da waren sie noch zu fünft. Die Sammlung Grässlin wird in Zukunft ohne Thomas auskommen müssen

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APÉRO

Alte Grotesken, neuer Glanz

E in Ästhet hat in der U-Bahn ziemlich zu leiden. Vor allem auf den Bahnsteigen. Beim Anblick hässlich-hirnrissiger Werbeta-feln stellt sich stumpfe Langeweile, nervöse Aggressivität

oder tiefer Frust ein, weil man mit der Zielgruppe nun auch noch in einen Waggon muss. In Düsseldorf ändert sich das jetzt: Die U-Bahnfahrt wird zum Ausstellungsbesuch. Am 21. Februar eröff net die Wehrhahn-Linie, deren sechs Stationen von je einem Künstler – Heike Klussmann, Ralf Brög, Ursula Damm, Manuel Franke, Enne Haehnle und Thomas Stricker – gestaltet wurden.

Werbung gibt es nicht. Fahrgäste treff en auf eine Raumstation mit 3D-Sternenhimmeln, LED-Wände mit Wesen, die aus Bewe-gungen von Passanten entstehen und abstrakte Allover-Malerei. Die Betonarchitektur hat das Büro Netzwerkarchitek-ten entwickelt. Das Leiden hat ein Ende – sechs Stationen lang. GB

So nah, so gut

TUNNELBLICK

Als vor beinahe 100 Jahren der Boden unter den Füßen römischer Bauarbeiter absinkt, gibt er eines dieser typischen Geheimnisse der Stadt frei. 2000 Jahre alte Gewölbe, zwölf Meter tief unter der Via Prenestina im Süd osten Roms: eine Basilika, wohl erbaut von einer vorchristli-chen Kultgemeinde und in den Wirren der Ewigen Stadt verschüttet und vergessen. 1917 jedenfalls schauen die Bauarbeiter des modernen Roms verdutzt ins antike

Dunkel ihrer Stadt: In der Höhe der Haupthalle ziehen sich zarte Stuckbänder an den Decken entlang, den Boden bedeckt ein Mosaik. In den letzten Monaten wurden die Räume aufwendig restauriert: Schwämme tupften über tiefrote Farbfl ä-chen, Skalpelle schälten am Steinwerk. Die Zeit aber war ungewöhnlich milde – Fresken und Stuck reliefs haben sich in ihrem Versteck

gut gehalten. Die Unsichtbarkeit ist also der Preis, den manche Orte für ihr Überdauern zahlen. Bis zum 26. Juni ist die Basilika für Besucher geöffnet. Infos unter www.coopculture.it. MW

MANUEL FRANKE hat die U-Bahn am Graf-Adolf-Platz in Düsseldorf gestaltet

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APÉRO

MAGISCHES KLEBEN AUF DER FAHRBAHN: DER FERRARI 575 M

ULF POSCHARDT

KOMFORT UND HÄRTE

D ie Zeit der großvolumi-gen Zwölfzylinder geht zu Ende. Sie gelten

in Zeiten ökologischer Panik-verliebtheit als Ritter der Apokalypse. Wer einmal einen Zwölfzylinder von Ferrari gefahren hat, weiß warum: Die Gran Turismos schlucken Benzin, als wäre ein Loch im Tank. Der 575 M, mit dem Kosenamen Maranello verse-hen, ist keine Ausnahme. Offi ziell genehmigt er sich in

der Stadt 36 Liter Hochoktaniges. Auf der anderen Seite hat dieses wunderschöne Fahrzeug in der Stadt auch nichts verloren, es schreit nach Autobahnen. Tempo-30-Zonen entwür-digen die Grandezza dieser breiten Flunder mit den

Haifi schkiemen. Kaum ein Autoentwurf der

späten 90er-Jahre ist so gut gealtert wie der

Maranello, der 1996

als 550 vorgestellt und 2002 mit mehr Hubraum und PS als 575 M weitergebaut wurde. Die Preise für den zwei sitzigen GT steigen steil an. Als „Daytona“ von morgen haben ihn Samm-ler für sich entdeckt, und da kaum mehr als 3.000 Stück des Pininfarina-Meisterentwurfs produziert wurden, überragt die Nachfrage das Angebot.

Es ist weniger die Brachia-lität der 515 PS mit knapp sechs Litern Hubraum aus zwölf Zylindern, die betört, als vielmehr die lässige Souveränität der Leistungsentfaltung. Die unaufgeregte Wucht der Beschleunigung, das magische Kleben auf der Fahrbahn auch bei Tempo 300, die einzig-artige Mischung aus Komfort und sportlicher Härte beim Fahrwerk. Waren Ferraris noch Anfang der 90er-Jahre zum Teil mies wie der 348 oder der 400i verarbeitet, so gehören die Maranellos zu den ersten preußischen Produkten aus der Emilia-Romagna. Luca Cordero di Montezemolo, der 1991

bestellte Ferrari-Chef, wusste, dass die italienischen Diven gegen die schwäbische Konkur-renz nur eine Chance hatten, wenn deren Schönheit bei Werkstattbesuchen nicht bitter bezahlt werden musste.

Maranello-Besitzer haben feuchte Augen, wenn sie über längere Reisen mit ihrem GT erzählen. Der natürliche Impuls beim Erwerb eines 575 M ist es, die Ehefrau einzupacken und zwei Koff er von Hermès in den Bug und damit von Ham-burg, München oder Köln nach Paris ins Hotel Meurice zu reisen, weil dieses Auto eines der letzten Zeugnisse jener auto-mobilen Hochkultur ist, die ein moralisch grundierter Zeitgeist mit grünem Überbau tot trampeln wird. Ein Maranello ist Widerstand in vollendeter Schönheit, so, wie der tote Marat bei Jacques-Louis David. Rasen gegen die Konterrevo-lution der Technikfeinde.

O-TON DIE SCHNELLSTEN SKULPTUREN DER WELT

Rasen gegen die Konterrevolution derTechnikfeinde: Die 90er-Jahre sind zurück, wenn

auch nur in Kleinst-aufl age

Julia Grosse und Yvette Mutumba kuratieren den Focus der Armory Show in New York (3. – 6. März)

„Der Focus der Armory Show hebt jährlich die Kunstszenen bestimmter Regionen hervor. Wir betiteln ihn African Per-spectives. Warum? Weil es so etwas wie ‚Kunst aus Afrika‘ nicht gibt. Eine Performance-künstlerin aus Nairobi und ein Bildhauer aus Accra haben nichts gemein. Dennoch drückt man beiden das Label ‚African Artist‘ auf. Als sei Afrika, ein Kontinent mit 54 Ländern, ein Dorf. Wir haben nun 14 Gale-rien von Lagos bis London ein-geladen, Solopräsentationen junger zeitgenössischer Künst-ler aus Afrika auf der Armory Show zu zeigen. Auch haben wir eine Auftragskünstlerin (commissioned artist) nomi-niert: Kapwani Kiwanga wird das Erscheinungs-bild der gesamten Mes-se durch ihre Arbeiten prägen. Neben einem Symposium gibt es On-site-Projekte, unter an-derem mit dem Sound-künstler Emeka Og-boh. Bei der letzten Biennale von Venedig beschallte er einen Turm mit der Deutschlandhym-ne, gesungen in zehn afrikanischen Sprachen.“

DAN HALTER Patterns of Migration,

2015

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APÉRO

Aber es hat mich sehr fasziniert, dass zwei Leute vollkommen unterschiedliche Sachen in einem Bild entdecken konnten.

Das hat mir das Fenster geöff net zu moderner Kunst. Ich begriff , dass es nicht darum geht, ob ich sie schön fi nde oder nicht, sondern dass sie einem Raum gibt, in dem sich ganz verschiedene Dinge öff nen können. Das hat mir gut gefallen. Daraufhin bin ich zu den anderen Baumeister-Bildern gegangen und habe geschaut, ob ich darin auch etwas sehe. Ich fragte auch meine Schwestern, was sie davon halten, ja eigent-lich fragte ich jeden in unserem Esszimmer, was er in dem Bild sehen würde. Das hat mir viel Spaß gemacht. Und um Kunst anzusehen, wollte ich als Jugendliche immer wieder nach

Frankfurt ins Städel, auch weil das die einzige Gelegenheit war, alleine mit der S-Bahn zu fahren.

Heute hängt das Bild in unserem Familienbüro in Bad Homburg, es gehört uns Schwestern gemeinsam. Die anderen beiden Bilder von Baumeister befi nden sich auch dort. Wenn wir uns die Köpfe heißreden, sitzen wir unter ihnen. Von den Bildern, auf die ich persönlichen Zugriff habe, ist aber das aus dem Esszimmer nach wie vor das wichtigste in meinem Leben. Warum mein Vater überhaupt moderne Kunst gekauft hat, weiß ich nicht – er ist gestorben, als ich 14 war. Viele wesentliche Fragen konnten wir da nicht mehr klären.

„ICH SAH ALLES MÖGLICHE“

GABRIELE QUANDT, Vorsitzende im Verein der Freunde der Nationalgalerie,

fotografiert von ANDY K ANIA

WILLI BAUMEISTER Komposition, 1947

BLITZSCHLAG

Es ist ein Augenblick der Gewissheit: Dieses Kunstwerk trifft mich im Kern. Gabriele Quandt über ein Bild von

Willi Baumeister, das ihr im Esszimmer ihrer Kindheit das Fenster zur modernen Kunst öffnete

Bei uns zu Hause in Bad Homburg hatten wir drei Bilder von Willi

Baumeister, die mein Vater Anfang der 60er-Jahre gekauft hatte. Eines davon hing im Esszimmer. Ich schaute immer darauf, wenn ich auf dem ungeliebten Essen herumkaute.

Als ich zehn oder elf Jahre alt war, fragte ich meinen Vater, der selten da war, was abstrakt ist. Warum malt man nicht Bilder, auf denen man etwas Schönes sieht? Er erklärte mir, dass man in ein abstraktes Bild alles Mögliche hineindenken kann. Man bekommt eben nicht vorgeschrieben, was man sieht, es wird einem selber überlassen. Dann hat er mich gefragt, was ich auf dem Bild sehe. Und ich sah alles Mögliche: ein Äff chen, das auf einem Stein am Feuer sitzt, aus dem Rauch steigen Dinge empor, und ich stellte mir vor, dass das Gedanken und Wünsche sind. Mein Vater hat das so stehen lassen. Er erzählte dann, dass er etwas anderes sehe. Er sagte nicht genau was, außer dass es mit Ruinen zu tun habe, was ich nun wieder gar nicht verstehen konnte.

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APÉRO

Jede Stadt hat ihre Mikrokosmen, wir stellen sie vor. In New York schlendern wir mit der Schriftstellerin Lily Brett von der Henry Street zum Seward Park, treffen die Kinder der Boheme und lassen uns von chinesischen Ziehnudeln hypnotisieren

LOWER EAST SIDENEW YORK

UM DIE ECKE

Nach 25 Jahren in SoHo sind mein Mann und ich umgezogen. In die Lower East Side. Die Vorstellung

umzuziehen, machte mich nervös. Vieles macht mich nervös. Niemand würde mich je mit einem Zen-Buddhisten verwechseln.

Obwohl das SoHo, das wir verlassen haben, nichts mehr mit dem SoHo gemein hatte, in das wir gezogen waren, und obwohl ich mir nicht hätte träumen lassen, gegen-über einer Chanel-Boutique und um die Ecke von Tiff any und Konsorten zu woh-nen, fürchtete ich mich vor dem Umzug.

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APÉRO

Aber umziehen mussten wir. Und wir haben es getan.

Mein Mann hat ein men-schenfreundliches Naturell. Er umarmt andere Leute

wortwörtlich. Menschen, die er eben erst kennengelernt hat, nimmt er in die Arme. Wäre er ein Labrador, würde er allen die Hand lecken. Mein Mann hat sich am ersten Tag, den wir in der Lower East Side ver-brachten, in das Viertel verliebt. Wie glück-lich er dort ist, hat mich nicht überrascht. Er fühlt sich fast überall zu Hause. Und er ver-liebt sich schnell. In Umgebungen, sollte ich hinzufügen. Nicht in andere Frauen.

Was mich tatsächlich erschreckt hat, war der Umstand, wie glücklich auch ich in der neuen Umgebung war. Bis auf den Tag, an dem ich meinen Mann kennenlernte, habe ich mich noch nie Hals über Kopf verliebt. Und auf einmal war ich in die Lower East Side verliebt. Ohne Wenn und Aber.

Die Lower East Side, vor allem das Südende der Lower East Side, ist eines der letzten weitgehend unentdeckten Gebiete

von Manhattan. Es verblüff t mich, wie viele erfahrene New Yorker diesen Teil Manhat-tans nicht kennen. New Yorker, die sich etwas darauf zugute halten, alles über diese Stadt zu wissen, und die unerschrockene Erforscher neuer Restaurants, neuer Kunst-galerien und neuer Gegenden sind, sehen mich ratlos an, wenn ich ihnen erzähle, wie gut es mir in der Lower East Side gefällt.

New York City ist die am dichtesten besiedelte und die kulturell vielfältigste Stadt der Vereinigten Staaten. Hier gibt es irische, italienische, deutsche, russische, jüdische, puerto-ricanische und chinesische Einwoh-ner. Wir haben hier die größte afroamerika-nische Gemeinschaft des ganzen Landes und die größte indische Population der ganzen westlichen Welt. Wir haben die größte asiati-sche Bevölkerungsgruppe in Amerika und darüber hinaus Menschen aus der Dominika-nischen Republik, aus Jamaika, aus Guyana, Mexiko, Ecuador, Haiti, Trinidad und Tobago, aus Kolumbien und aus El Salvador. Die Stadt ist eine der kulturell durchmisch-testen Städte der Welt.

AM NABEL DER WELTWO DAS LEBEN LANGSAMER LÄUFT, SIND AUCH DIE KÜNSTLER UND GALERIEN WIE RAWSON PROJECTS UND REGINA REX (OBEN LINKS) ZIEMLICH BODENSTÄNDIG. GLEICH HINTER DER MANHATTAN BRIDGE BEGINNT BROOKLYN

Im Alltagsleben haben wir in vielen Bereichen miteinander zu tun, doch die Viel-falt endet dort, wo unsere Haustür beginnt. In der Lower East Side ist das nicht so. Die Lower East Side ist multikulturell. Und sie ist multigenerationell und sozioökonomisch vielseitig. Die Vielseitgkeit kann man auf der Straße sehen. Wir haben Menschen aus allen Schichten. Hier gibt es Arme, Reiche, Alte und Junge. Hier leben Menschen in allen Far-ben, in allen Formen und Größen. Wir beten zu verschiedenen Göttern oder zu keinem Gott.

Niemand hat es eilig, die Leute lachen auf der Straße, gehen gelassen und unterhal-ten sich dabei. Alles wirkt so normal. Und ist dennoch nie langweilig. Die Gegend hat etwas Pulsierendes, Lebendiges, Verschrobe-nes, eine Ausstrahlung von Ruhe und verhält-nismäßig wenig Verkehr.

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APÉRO

ALLES DURCHEINANDERZWISCHEN BASKETBALL IM SEWARD PARK UND ENTZUG MIT CHINESISCHER MEDIZIN DARF DIE KUNST GERNE BUNT SEIN: DIE GALERISTIN CAROLINE TILLEARD (RECHTS UNTEN) MACHT IHRE DINNER MITTEN IN DER AUSSTELLUNG. BEI STÉFAN JONOT (RECHTS OBEN) VOM RESTAURANT LES ENFANTS DE BOHÈME IST FAST JEDER KELLNER AUCH KÜNSTLER

Mir gefällt das spannungsgeladene Ambiente mancher Straßen. Die Graffi tis, die Imbisse, die unrenovierten und herunter-gekommenen alten Gebäude, Geschäfte und Lagerhäuser. Diese spannende Atmosphäre verbindet sich mit einer Atmosphäre des Anti-Establishments. Das sieht man an den Hipsters, die hier leben, und an den Schil-dern. Das Schild an der Tür von Cheeky Sandwiches in der Orchard Street besagt: „Öff ungszeiten: von ziemlich früh bis ziem-lich spät (bis auf Weiteres).“

Diese Spannungsgeladenheit birgt Mög-lichkeiten. Möglichkeiten von Veränderun-gen. Zeichen solcher Veränderungen machen sich jeden Tag bemerkbar. Jede Woche scheint eine neue Kunstgalerie zu eröff nen. Es gibt schon so viele Kunstgalerien. Und viele haben sich ungewöhnliche Orte ausge-sucht. Rawson Projects und Regina Rex aus der Madison Street haben sich im Souterrain eines Miethauses mit leicht heruntergekom-mener Fassade und einem Schild, das den Notausgang bei Feuer anzeigt, angesiedelt.

Ramiken Crucible befi ndet sich am Ende einer Sackgasse an der

Grand Street hinter einem Spirituosenladen.Endless Editions in der Henry Street

mit eklektischen und interessanten Projekten organisieren Online-Workshops und stellen Kunst aus. In einem Kellerraum, dessen Türen sich von unten nach oben hin zum Gehsteig hin aufklappen lassen. Der Eingang führt über eine verrostete und gefährlich aus-sehende Wendeltreppe hinunter. Das ist die Wendeltreppe meiner Albträume. Ich kann sie nicht einmal ansehen, ohne dass es mir schwindelig wird. Glücklicherweise geht es nicht allen so. Die Galerie scheint sehr gut besucht zu sein.

Die Galerien in der Lower East Side machen den Eindruck, als wären sie Teil der Nachbarschaft, der Gemeinschaft. Sie haben nicht das kühle Ambiente viel zu vieler der großen und unpersönlichen Galerien in Chelsea. Sie sind von dem Leben um sie herum nicht abgesondert und entfernt. Sie sind Teil unserer Lebenskraft.

Caroline Tilleard von Cuevas Tilleard Projects in der Henry Street hat sich ganz

off en über die Galerie geäußert, die sie mit ihrer Partnerin Anna Maria Cuevas 2014 eröff net hat. „Wir wollten eine weniger förm-liche Galerieatmosphäre schaff en, in der sich junge Künstler wohlfühlen können“, sagte sie. „Die Lower East Side ist die Gegend, in der sich alle jungen Galerien ansiedeln. Eli-täre und furchteinfl ößende Galerien wie in Chelsea haben wir uns hier nicht gewünscht. Wir wollten an einem Ort leben, wo man kommen und die Künstler kennenlernen kann. Hierher kommen viele Künstler, um zu sehen, was die anderen machen. Bei großen Eröff nungen gibt es immer ein Abendessen in der Galerie, wo junge Sammler eingeladen sind oder Leute, die sich mit uns über Kunst unterhalten, ohne bisher etwas gekauft zu haben, und sie unterhalten sich mit dem Künstler. Das ist eine sehr schöne Atmo-sphäre.“

Die Restaurants und Cafés sind vom gleichen Geist der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft geprägt. Es gibt zahllose Res-taurants und Cafés. Das Spektrum reicht von dem teuren und erstklassigen Chinalokal Mission am East Broadway über den einfa-chen und authentischen Spanier El Castillo in der Madison Street bis zu dem sehr billi-gen und winzig kleinen Lam Zhou, das eben-falls am East Broadway liegt. Im Lam Zhou habe ich zugesehen, wie ein Teigklumpen in

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APÉRO

FOTOS: FRIDA STERENBERGILLUSTRATION: KRISTINA POSSELTÜBERSETZUNG: MELANIE WALZ

die Länge gezogen und wie ein Lasso zu Ziehnudeln geworfen wurde, während an einem kleinen Tisch Hunderte von Teig-klößchen geformt wurden. Das hat etwas Hypnotisches.

Mein Lieblings-restaurant in New York ist das Les Enfants de Bohème in der Henry Street. Sobald ich das Les Enfants de Bohème betrete, bin ich glücklich und fühle mich zu Hause. Der Inhaber Stéfan Jonot hat eine eigene Theorie über Räumlichkeiten. Ihm zufolge ziehen Räume die Leute an, für die sie geschaff en sind. Wenn das stimmt, dann wäre es die Erklärung, warum ich im Les Enfants de Bohème esse. Regelmäßig.

Das Essen ist köstlich, die Atmosphäre ist typisch Lower East Side, sehr ent-spannt und sehr intellektuell. Alle Mit-

arbeiter des Lokals sprechen mehrere Spra-chen und haben mehrere Berufe. Michelange ist Dokumentarfi lmer, Hypnotherapeut und Kellner. Ich habe ihn über die Herkunft des Begriff s „Kollaboration“ räsonnieren hören und darüber, dass Künstler ihren eigentli-chen Lohn im Schaff en ihrer Werke sehen sollten, statt auf fi nanziellen Erfolg zu schie-len. Und ich weiß, wie unglücklich es ihn macht, wenn das Lieblingsgericht eines Stammkunden nicht auf der Karte steht.

In der Lower East Side unterhalten wir uns gerne darüber, welches Glück wir haben, hier zu leben. Neulich sprach ich darüber mit dem Juwelier Ray Griffi ths, der ein Atelier an der Fifth Avenue hat und seit 14 Jahren in der Lower East Side wohnt. „Die Gegend kommt einem vor wie Manhattan in den Fünfzigern“, sagte er. „Hier gibt es Familien, die seit 50, 70, 100 Jahren in diesem Viertel

leben. Ich wohne ganz nahe am Fluss. Im Handumdrehen bin ich am East River, den ich liebe. Und in warmen Sommernächten kann man um ein Uhr nachts im Park alte Knaben Schach und Karten spielen sehen.“

Dieser Park ist der Seward Park. Er umfasst mehr als einen Hektar Land. Im Seward Park ist immer etwas los. Es gibt Tai-Chi-Unterricht, spielende Kinder, arbeitende Erwachsene, Sport treibende Erwachsene, lernende Studenten und übende Musiker.

Die bunte Mischung aus Alt und Jung, Neuankömmlingen und Alteingesessenen, und die Vielfalt der Sprachen liebe ich ganz besonders an diesem Viertel. Letzte Woche war ich zum Einkaufen in dem Supermarkt um die Ecke. In Supermärkten verliere ich schnell die Übersicht. Mein Orientierungs-vermögen tendiert gegen null. Wer mich nach dem Weg fragt, hat Pech. Ich bin gerne hilfsbereit. Zahllose Touristen habe ich schon in die falsche Richtung geschickt.

In dem Supermarkt um die Ecke arbei-ten hauptsächlich spanischsprachige Ange-stellte. Ich wollte Brot kaufen. Eine Frau, die gerade Regale einräumte, fragte ich nach der Brotabteilung. Sie nickte, lief los und kam mit einem Einkaufswagen voller Hühnerteile zurück. Sie waren im Sonderangebot. „Brot?“, sagte ich fragend. Sie ließ die Hüh-nerschenkel fallen, die sie in der Hand hielt, und griff nach Hühnerbrüsten. Ich schüttelte den Kopf. Sie bot mir Hühnerfl ügel an. Viele Hühnerfl ügel. Mittlerweile machte ich ver-mutlich einen gequälten Eindruck. Sie grub tiefer in den Hühnerteilen und bot mir zehn Hühnerbeine für drei Dollar an. Dann lief ich mit meinen Hühnerbeinen nach Hause. Ich kam an sieben riesengroßen runden Nudelpackungen vorbei, die auf dem Geh-steig lagen. Ich war versucht, mich zu bedie-nen. Die Nudeln hätten hervorragend als Beilage zu den Hühnerbeinen gepasst. Aber die Packungen waren zu groß. Außerdem habe ich nicht mehr gestohlen, seit ich als Zehnjährige beim Ladendiebstahl erwischt wurde.

Bei einem kleinen 99-Cent-Laden, an dem ich vorbeikam, kaufte ich ein Spanisch-lehrbuch für Anfänger.

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Niederkirchnerstraße 7, 10963 Berlin T +49 30 25486 0

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Martin-Gropius-BauBerliner Festspiele

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12. März bis 6. Juni 2016

Günter Brus Störungszonen

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Takashi Murakami, geboren 1962, ist Japans berühmtester Künstler. Seine Arbeit mixt Pop, Mode und japanische

Fankultur. Er selbst spricht von superfl at, kollaboriert mit jungen Künstlern, Musikern und Marken, produziert Filme und Animationen. Sein Bild The 500 Arhats (2012), 100 Meter lang und drei Meter hoch, entstand als Reaktion auf die Katas trophe von Fukushima. Es zeigt 500 erleuchtete Buddha-Schüler in einer apokalyptischen Ästhetik, die alles auf den Kopf stellt, wofür Murakami sonst weltweit gefeiert, in Japan allerdings verachtet wird. Seine Schau im Mori Art Museum in Tokio ist die erste Einzelausstellung in seiner Heimat seit 14 Jahren. Sie kreist um spirituelle Erleuchtung, die Kraft der Natur und die Conditio humana in einer feindlichen Lebens-wirklichkeit. Inspiriert sind die 500 Arhats von dem gleichnamigen Gemälde von Kano Kazunobu (1816 – 1863): Der malte seine Buddha-Schüler 1855, als ein starkes Erdbeben Tokio erschütterte. BLAU sprach mit Murakami über die Folgen Fukushimas für seine Kunst – und das Japan von heute.

Herr Murakami, Sie sind Japans bekanntes-ter Künstler. Nach 14 Jahren ohne instituti-onelle Ausstellung dort zeigt das Mori Art Museum Ihre neuen Werke. Wieso hat es so lange gedauert?— Ich denke, das steht symbolisch dafür, wie sehr ich in Japan gehasst werde. Diese Ausstellung kam nur deshalb zustande, weil die Mori Building Company mich zuvor ausgewählt hat, mit ihr an ihrem Markenauftritt zu arbeiten und wir eine langfristige Beziehung miteinander haben. Trotzdem nehme ich an, dass ich nach dieser Ausstellung zu meinen Lebzeiten keine weitere Einzelpräsentation mehr in einem japanischen Museum haben werde.

Wie hat sich Ihr Land seit dem Tsunami im März 2011 verändert – und wie hat sich dieses Ereignis auf Ihre Arbeit ausgewirkt?— Japan bewegt sich momentan nach rechts. Nun ja, ich glaube, das gilt wohl für einen Großteil der Welt. Aber so oder so lässt die Regierung um Nichtigkeiten herum ihre Muskeln spielen. Die Art und

Bunte Blumen, poppige Monster, teure Handtaschen – Takashi Murakamis Kunst war bisher erst auf den zweiten Blick böse. In Tokio zeigt er nun seine Welt nach dem Supergau

INTERVIEW

FUKUSHIMA HAT ALLES VERÄNDERT

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Weise, wie das passiert, ähnelt der Militär-regierung des Tokugawa-Shogunats kurz vor ihrem Kollaps vor 150 Jahren. Es wird eine wie auch immer geartete Revolution geben, bevor diese Regierung zusammen-bricht. Damals kam sie in Form der Meiji-Restauration, die Japan den Weg zur Verwestlichung geebnet hat. Ich habe immer versucht, ein Selbstporträt von Japan und seinen Schwächen zu zeichnen. Deshalb weisen meine Arbeiten gerade eine versteckte Düsterheit auf. Damit einher

geht das Bedürfnis, diese unveränderbare Situation, die Stimmung allgemeiner Mutlosigkeit, die das Japan von heute erfasst hat, aus vollem Halse wegzulachen.

Inwiefern hat Fukushima Ihr Leben beeinfl usst? — Wer heute in Tokio lebt, muss sich eingestehen, zukünftig hohen Dosen von Radioaktivität ausgesetzt zu sein. Wer nicht in Tokio lebt, kann sich kaum vorstellen, was für ein immenses Umden-

ken das erfordert. Ich glaube, die Menschen außerhalb Japans sind sich viel eher bewusst, wie gefährlich das Essen hier in den letzten fünf Jahren gewesen ist.

Die 500 Arhats sind im Gegensatz zu Ihren früheren Bildern alles andere als mangaähnlich oder niedlich. Wie genau kam es zur dieser dunkleren Ästhetik? — Waren meine früheren Arbeiten ausschließlich niedlich? Das wäre

natürlich enttäuschend. Gleichzeitig fi nde ich es überraschend, dass die Arhat-Arbeiten

TAK ASHI MURAK AMIOben: The 500 Arhats (BLUE Dragon), 2012,

Installationsansicht Mori Art Museum, Tokio, 2015

dunkel wirken sollen. Für mich sind sie ein Versuch, diese Art von kraftvoller, spiritueller Energie von Zen-Malereien zu evozieren. Ich kann verstehen, wenn man in ihnen eine gewisse Unnahbarkeit ausmacht, aber dass sie „dunkel“ wirken sollen, kommt für mich etwas unerwartet.

Wenn Sie von Ihrer Erfahrung mit dem japanischen Publikum ausgehen: Glauben Sie, Ihre Kunst wird an der Einstellung zu der Politik Ihres Landes etwas verändern?— Ich habe keinerlei Ehrgeiz in dieser Richtung. Ich bin nur ein Maler ohne prakti-sche Fähigkeiten. Ich werde niemals von Nutzen für die Allgemeinheit sein. Ich lasse lediglich die Dinge, die ich denke und fühle, in Bilder und Skulpturen einfl ießen.

INTERVIEW: GESINE BORCHERDT

TAKASHI MURAKAMI: THE 500 ARHATS, BIS 6. MÄRZ IM MORI ART MUSEUM, TOKIO

TAKASHI MURAKAMI’S SUPERFLAT COLLECTION – FROM SH HAKU AND ROSANJIN TO ANSELM KIEFER, 30. JANUAR – 3. APRIL IM YOKOHAMA MUSEUM OF ART, YOKOHAMA, JAPAN

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APÉRO

In den 3D-gedruckten Installationen des Josh Kline scheint noch einmal die Möglichkeit einer politischen Kunst auf. Eine Begegnung mit der Gallionsfi gur des kritisch gebliebenen New York

In der Kunstwelt von New York City war es sein Jahr, 2015, das Jahr von Josh Kline. Als die Kunstkritiker sich im

Frühling letzten Jahres darauf einigten, die Neueröff nung des Whitney Museums als einen Glücksfall für die örtliche Museums-welt zu bejubeln, da erwähnten viele Artikel nicht nur den schicken Neubau oder die Riesenleinwände wohlbekannter Maler-helden, sondern auch ein fl iederfarbenes Wägelchen, von dem man auf den ersten Blick glauben konnte, die morgendliche Putzkolonnen hätten es in einer Galerieecke vergessen. In Wirklichkeit handelte es sich bei dem müllsackbewehrten Gefährt um Josh Klines Cost of Living (Aleyda) aus dem gleichen Jahr.

Wenn das Whitney solche Werke sammelt, so die Kritikerhoff nung, dann entwickeln die New Yorker Museen nach

„AM ENDE BIN ICH WOHL EIN POPULIST“

PORTRÄT

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APÉRO

Jahren wirtschaftsfi nanzierter Partylaune vielleicht wirklich wieder so etwas wie ein politisches Gewissen.

Die politische Sprengkraft des eigent-lich eher unscheinbaren Wagens verbirgt sich in der Ladung. Neben säuberlich sortierten Bürsten und Schwämmchen liegt eine körperlose Hand. Ihre Finger ver-krampfen sich so eng um den Abzug einer Fleckenwasser-Sprühfl asche, dass Werk-zeug und Benutzer nicht mehr zu unterschei-den sind. Ein geisterhaft bleicher Frauen-kopf liegt auf der mittleren Ablage. Die früh ergrauten Haare sind schmucklos zurück-gebunden, der müde Blick geht ins Leere. Darüber nochmals Fleckenwasser und noch ein Kopf, doch hier hat sich der Werbeaufdruck der Flasche bereits weit über das Gesicht ausgebreitet. Arbeit und Arbeitnehmer verschmelzen. Der Mensch wird zur Mensch-Maschine.

Inmitten des Eröff nungsspektakels erinnerte Cost of Living feierlustige Vernissa-gen-Gäste an all die outgesourcten Reini-gungskräfte, Küchenhilfen und Aufpasser, die man bei solchen Gelegenheiten gerne vergisst. Klines Skulptur war in der Ausstel-lung ein leises, aber wirksames Zeichen dafür, dass so mancher junge Künstler in New York auch heute noch genauso politisch denkt, wie es hier vor 50 oder 60 Jahren einmal jeder Künstler tat.

Kline gibt gerne zu, dass es sich manchmal seltsam anfühlt, in der relativen Bequemlichkeit New Yorks politische Kunst zu machen: „Jeder weiß, dass es in unserem Land vielen schlechter geht, als es ihnen gehen müsste. Aber es fällt schwer, politisch zu denken, wenn im eigenen Stadtviertel immer neue Yogastudios jedes Zeichen von Armut verdrängen.“ Kline will der Gegenwart dabei helfen, sich selbst ernst zu nehmen. Der bisher vielleicht publikumswirksamste Versuch war Skittles – eine Arbeit die er vor zwei Jahren mitten auf der New Yorker High Line zeigte. Hier, in einem Stadtteil, der wie kein anderer für die gnadenlos schnelle Gentrifi zierung steht, stellte er einen grell leuchtenden Getränkeautomaten auf, gefüllt mit den glei-chen Plastikfl äschchen, in denen die Fitnessclubs der Nachbarschaft horrend teure Grünkohl-Saftkuren und Detox-Shakes verkaufen. Nur wer genauer hin-

schaute, erkannte, was es mit den Säften auf sich hatte. Gefüllt waren die Flaschen mit all dem Wohlstands- oder Armutsmüll, den modernes Leben wirklich verursacht: Kombucha, Agavendicksaft und American-Apparel-Kleidung für die Hipsterhochburg Williamsburg; Champagner, Dollarscheine und Lachskaviar für die Wall Street Broker.

Bei aller Direktheit der Werke hält Josh Kline nicht viel von erhobenen Zeige-fi ngern. Wie viele New Yorker Künstler

weiß er aus eigener Erfahrung, wie es ist, wenn sich die persönliche und die pro-fessionelle Identität irgendwann nicht mehr auseinanderhalten lassen. Im Gespräch wirkt er jünger als seine 36 Jahre. Nein, fotografi eren lassen möchte er sich nicht, doch in seiner Ecke der New Yorker Kunstwelt erkennt ihn ohnehin jeder schon von Weitem an der in den Nacken geschobenen Baseball-Mütze und dem lauten Lachen.

COST OF LIVING (ALEYDA), 3D-DRUCKSKULPTUREN AUS GIPS, INKJET-TINTE UND CYANOACRYLAT, HAUSMEISTERWAGEN, LED-LICHT, 103 × 91 × 50 CM. Links: HOPE AND CHANGE (DETAIL), 2015, INSTALLATION 2015, TRIENNIALE: SURROUND AUDIENCE, NEW MUSEUM, NEW YORK

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Dass Kline für manche zum Repräsen-tanten einer jungen, von neuen Technolo-gien begeisterten Szene geworden ist, liegt auch an seinem ungewöhnlichen Werde-gang. Kurz nach dem Abschluss der Film School in seiner Heimatstadt Philadelphia zog er 2002 nach New York. Kaum angekommen stellte er fest, dass er so kurz nach 9/11 nirgendwo einen passenden Job fi nden würde, und so schlug er sich für anderthalb Jahre mit Gelegenheitsarbeiten und Praktika durch. Bei einem seiner Assistentenjobs verstand er sich so gut mit seinen Kollegen und Vorgesetzten, dass ihn die New Yorker Videokunstinstitution Electronic Arts Intermix zum Kurator ernannte – eine Position, die er ganze zehn Jahre innehatte, auch noch, als er sich die Ateliermiete schon mit der eigenen Kunst fi nanzieren konnte.

Es war am Anfang nicht leicht gewesen, sich einen Namen zu machen. Als er 2009 in einem leer stehenden Ladenlo-

kal eine Ausstellung mit den Werken einiger Freunde organisierte, nannte er sie mit resigniertem Humor Nobodies New

York. Heute werden die dort versammelten Künstler fast alle von der Galerie 47 Canal vertreten, die zu den erfolgreichsten in der jungen Lower East Side gehört. Was die Gruppe damals vereinte, erinnert sich Kline, war die allgemeine Ratlosigkeit nach dem Börsencrash 2008 und eine gewisse Genervtheit angesichts des Bad-Boy-Geha-bes der damals in New York gerade ange-sagten Großformat-Maler. Klines Umfeld interessierte sich mehr für die Zukunft als fürs Ringen mit der Kunst geschichte, eher für neue Medien als für die Mythen des terpentinverseuchten Maler ateliers.

Die in dieser Zeit innerhalb und außerhalb der Kunstwelt geknüpften Bekanntschaften und die miteinander geteilten Zukunftssorgen wurden schnell zu Klines künstlerischem Rohmaterial. Für eine Installation, die 2012 im Kasseler Fridericianum ausgestellt war, machte er Silikonabgüsse von den Händen seiner Freunde, die sich so krampfhaft an Arbeits-werkzeuge (iPhones, Blackberrys) klam-merten, dass man die Verlustangst in der Muskelspannung zu erkennen glaubte.

Zu den Aufgaben des Porträts gehört nach allgemeinem Verständnis, die einzig-

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APÉRO

FREEDOM, 2015. INSTALLATIONSANSICHT MODERN ART OXFORD. Links: SKITTLES (DETAIL), 2014, KÜHLSCHRANK, LICHTBOX, FLASCHEN MIT FLÜSSIGKEIT. IM AUFTRAG VON FRIENDS OF THE HIGH LINE.

aus allen Richtungen. Die so entstandene Bildermasse schweißte anschließend ein befreundeter IT-Techniker zu einem einzigen, dreidimensionalen Computer-modell zusammen. Zur Skulptur wird das Ganze erst im letzten Schritt, wenn Kline die digitalen Dateien mit Hilfe von 3D-Druckern aus der virtuellen in die reale Welt befördert. Kline selber hält solche Fragen letztlich für technischen Kleinkram.

Doch man kann sich natürlich trotzdem fragen, was es für eine Skulptur bedeutet, dass sie hauptsächlich am Computer entworfen wurde. Als das Whitney Cost of

Living (Aleyda) in seine Sammlung aufnahm, da gehörte zum physischen Objekt auch eine riesige 3D-Datei und ein Vertrag, der vorschreibt, die mit der Zeit verblassenden Druckstücke bei Bedarf zu ersetzen – und zwar immer mithilfe des aktuell leistungs-fähigsten 3D-Druckers.

In seiner Zeit als Kurator hat Kline gelernt, dass frühe Videokunst aus den Siebzigern im Laufe der Jahre immer schlechter aussieht. Für seine eigene Arbeit dreht er die Sache daher schlichtweg um:

artige und unverwechselbare Persönlichkeit des Dargestellten einzufangen. Kline hat in den letzten Jahren in den verschiedensten Medien und Formaten gearbeitet und ist doch immer wieder zurückgekehrt zur Frage, wie man noch Porträts machen kann in einer Stadt, in der eben jene unverwechsel-bare Persönlichkeit für immer mehr Menschen in Bergen von Überstunden verschwindet. Was hat sich geändert zwischen den frühen Silikonhänden und Cost of Living im Whitney? Nicht viel, sagt Kline, aber irgendwie auch alles.

Wo zu Beginn vor allem der eigene, aus Teilnehmern der sogenannten Kreativ-wirtschaft bestehende Freundeskreis das Material lieferte, da geht es nun um einen zwar ungleich größeren, aber manchmal erschreckend ähnlichen Wirtschaftszweig. Arbeiten wie Cost of Living behandeln das Fußvolk des supply chain management; Reini-gungskräfte und FedEx-Paketboten mit zeitfressenden Mindestlohnjobs; der Teil der Gesellschaft also, den man in Amerika „the working poor“ nennt.

Für den Wagen im Whitney freundete sich Kline mit dem Reinigungspersonal eines großen New Yorker Hotels an –

vor allem Frauen aus Lateinamerika. Eine von ihnen, Aleyda, erklärte sich bereit, ihm in voller Arbeitsmontur Modell zu stehen. Um später ein dreidimensionales Bild zu bekommen, fotografi erte Kline sie mit einer hochaufl ösenden Kamera hunderte Male

„Immer, wenn meine Arbeit in der Zukunft erneuert werden muss, wird sie ein bisschen besser aussehen, weil die Qualität von 3D-Drucken immer weiter zunehmen wird.“

Nur wenige Monate vor der Whitney-Eröff nung hatte bereits ein anderes Werk von Kline für Gesprächsstoff gesorgt. Anlässlich der Triennale im New Museum hatte Kline die größte Galerie des Muse-ums mit einem Rudel mannsgroßer Teletub-bies bestückt. In police riot gear starrten sie den Besuchern entgegen, während sich auf ihren Bauchbildschirmen ehemalige NYPD-Polizisten durch die Twitterfeeds politi-scher Aktivisten wühlen. Schattenspen-dende Bäume stellen sich auf den zweiten Blick als Handy-Sendemasten heraus. Bei den seltsamen Früchten an ihren Ästen handelt es sich um Kreditkarten. Für New Yorker, deren Erinnerung an die Polizeitak-tiken gegen Occupy Wall Street ebenso frisch war wie die Trauer um den von weißen Polizeibeamten erwürgten Afroamerikaner Eric Garner, ergab die Kombination aus drolligen Kindercharakteren und Polizei-staatssymbolik einen schwerverdaulichen Albtraum-Cocktail. Im schummrigen Licht der Galerie werden die sonst so fröhlich blubbernden Babyfernsehstars zu Ideal-bewohnern eines futuristischen Polizei-staats. Vier genetisch manipulierte Kind-wesen, denen Ortungsantennen und ruhigstellende Unterhaltungselektronik bereits implantiert sind.

Fragt man Kline nach seinem manch-mal fast altmodisch wirkenden Interesse an klassisch linken Themen wie Arbeitswelt oder Polizeigewalt, kann er sich schnell in Rage reden. Natürlich sei es als Künstler seine Aufgabe, ein Bild seiner eigenen amerikanischen Gegenwart zu zeichnen – und natürlich gehörten da die Erinnerun-gen an Polizeigewalt genauso dazu wie die Allgegenwart entwürdigender Akkordjobs. „Nichts interessiert mich mehr, als Kunst zu machen, die neben einer Kunstelite auch ganz normale Leute anspricht. Am Ende bin ich wohl vor allem ein Populist.“ Als er die Überraschung bemerkt, die seine Selbstbeschreibung auslöst, grinst er: „Soll ich das böse Wort noch mal sagen? Kein Problem: Po-pu-list!“

Natürlich sei es als Künstler seine Aufgabe, ein Bild seiner eigenen amerikanischen Gegenwart zu zeichnen

TEXT: GREGOR QUACK

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APÉRO

DICHTER DRAN

WONDER GIRLS

TRAVEL

Was für Energien werden frei, wenn die Sprachkunst auf die Bildkunst triff t? Für BLAU hören Lyriker auf den Klang der Kunst. Nora Gom-ringer, Jahrgang 1980, stickt „morgenbang“ und „Abend-sang“ und „Seufzerklang“.

Nora GOMRINGER

Inspiriert von

Ana Botezatu

Zart bist du, mein Deckchen.Es bewegt sich auf direin buntes Volk der Träumerauf einer Lichtung,in einem Wald, in einem Tal?

Gekauft aus Sehnsucht,weil Kreuzstich, Perlgarn,Miniaturen ständig versprechen,mit mir Spiel im Blickzu führen, Wort zu halten.

Ich bin das Füchslein, ich rennmit Silberkrallen, ich bin der Bärund blicke irritiert.Töten, töten und dannden Planeten unterwerfen,das piepst die kleine Delegation.

Und dann gibt’s Jackpotpunktescore!Der Fliegenpilz, Waldsteher,männleinstumm, mantelum!Dingdingdingdingdingding!Musst dich nur im Blick verdingen.

Und über allem ein Gott,so viel ex-Näh-machina!(Die zarte Hand der Künstlerin,die nenn ich so.)

Und bei allem Trubel gegenseitigenAuslöschens ist das Deckchenzart. Bist zart, so zart, mein Deckchen.Bist wie alle Kriegsschauplätze nachden Schlachten. Bist morgenbang,bist Abendsang, bist Seufzerklang.Und bist auch Wahnsinnskicherndurch den Stich hindurch.

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Die Liebe, der Spott, das allesfressende Auge: Am 9. März 1956 beginnt PICASSO ein Skizzenbuch. In den Haupt rollen: seine letzte Frau Jacqueline und das Atelier in der Villa La Californie.Genau 60 Jahre später ist das Buch in BLAU zu sehen. Und sein Biograf Sir John Richardson erinnert sich an die Jahre mit dem Meister

Seiten seines Lebens

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CARNET 1133, 9. MÄRZ – 17 JUNI 1956, China-Tinte, Bleistift, Graphitmine, Kohle, Kreide und Gouache auf Velinpapier,

42 × 33 cm, spiralgebundenes Skizzenbuch mit 22 Zeichnungen — SIR JOHN RICHARDSON

Es war eine glückliche Zeit für Picasso. Jacqueline Roque war die neue Frau an seiner Seite. Er war verrückt nach ihr, sie war verrückt nach ihm. Und unterwürfi g war sie bis zur Selbstaufgabe“

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Sir John, im März 1956, als Picasso das Skizzenbuch beginnt, das wir in BLAU dokumentieren, sind Sie 32 Jahre alt, leben auf einem Schloss in der Provence und gehören zum engsten Kreis um Picasso. Wie muss man sich diese Tage vor genau 60 Jahren vorstellen?— Für mich war es eine traumhafte Zeit. Ich lebte gemeinsam mit Douglas Cooper auf Château de Castille in der Nähe von Avignon, an den Wänden die damals mit Abstand wichtigste Sammlung kubistischer Meisterwerke – was für mich als jungen Kunsthistoriker die beste Schule bedeutete, die ich mir hätte vorstellen können. Hinzu kam, dass von den vier Künstlern, die Douglas gesammelt hatte, nur einer gestorben war.

Juan Gris.— Richtig. Die anderen gehörten zu unserem Freundeskreis und wohnten mehr oder weniger in der Nähe. Fernand Léger hatte kurz nach unserem Einzug in Castille das große Treppenhaus mit seinem Wandgemälde Les Trapézistes verziert, mit Georges Braque verbrachte ich lange Nachmittage im Gespräch über sein Werk. Doch am häufi gsten trafen wir Picasso. Entweder kam er nach Castille, um mit uns zum Stierkampf zu gehen und dann meist mit seiner Entourage zum Abendessen zu bleiben. Oder wir fuhren nach Cannes und besuchten ihn in La Californie.

Wo die Skizzen entstanden, die vor uns liegen. — Es war eine glückliche Zeit für Picasso. Jacqueline Roque war die neue Frau an seiner Seite. Sie war unsterblich verliebt in ihn, er war verrückt nach ihr. Die ersten vier Skizzen zeigen Jacqueline. Und sie sind insofern ungewöhnlich, als dass er sie off ensichtlich gemalt hat, während sie vor ihm saß. Nicht, dass sie ihm explizit Modell gesessen hätte – ich vermute, er hat sie gezeichnet, während

sie mit ihm zu Tisch saß, vielleicht am Ende eines gemeinsamen Essens. Man darf nicht vergessen, dass fast alle Gemälde, die seine Frauen zeigen, entstanden sind, ohne dass sie Modell gesessen hätten. Sie waren im Hintergrund präsent, kamen vielleicht zwischen-durch ins Atelier, um etwas zu bringen. Aber hier, bei diesen ersten vier Skizzen, hat er Jacqueline vor sich. Er fängt vier völlig ver-schiedene Ausdrücke von ihr ein.

Was war Jacqueline für ein Mensch?— Ich mochte sie. Allerdings war sie Picasso gegenüber bis zur Selbstaufgabe unterwürfi g.

Erinnern Sie sich an Ihre erste Begegnung mit ihr?— Nun, in Vallauris, wo Picasso vor Cannes gewohnt hatte, half sie dem Ehepaar Ramié in ihrer

Keramikwerkstatt, die hauptsächlich damit beschäftigt war, Picasso-Keramiken in großen Aufl agen herzustellen. Wir trafen sie dort bei unseren Besuchen, wir wussten, dass sie geschieden war und eine kleine Tochter hatte. Aber erst, nachdem Picasso von Françoise Gilot verlassen worden war, begann sie auch jenseits der Werkstatt in Picassos Leben aufzutauchen. Picassos Suche nach einer neuen Gefährtin begann und es wurde ein Schauspiel, das ich aus nächster Nähe erleben durfte.

Bitte erzählen Sie uns davon. — Eines Tages, es muss 1954 gewesen sein, Picasso hatte gerade mit uns und seiner Entourage einen Stierkampf besucht und war über Nacht mit Cocteau und den anderen im Château de Castille geblieben, bat er uns, ihn nach Perpignan zu begleiten. Graf de Lazerme, der das schönste Stadt-Palais in Perpignan bewohnte und ein Verehrer Picassos war, hatte ihn für ein paar Tage eingeladen.

Sir John Richardson, fotografi ert von François Halard. Wenn er gerade nicht am vierten Band seiner Picasso-Biografi e

arbeitet, kuratiert der 91-jährige Kritiker der New York Review of Books und frühere USA-Chef von Christie´s Ausstellungen für Gagosian

SIRJOHN RICHARDSON

im Gespräch mit Cornelius Tittel

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Und da Picasso schon länger ein Auge auf Paule, die junge und unwerfend schöne Frau des Grafen geworfen hatte, sagte er zu. Graf Lazerme war unglaublich stolz, Picasso und seine Freunde als Gäste begrüßen zu dürfen, auch wenn der prominenteste Hausgast ganz off ensicht-lich mit seiner Frau schlief. Um die Sache noch komplizierter zu machen, hatte Picasso zwei weitere Frauen in seiner Reisegesellschaft, die beide als neue Lebens-gefährtin in Frage kamen. Da war Jacqueline, deren Hingabe er auch jenseits der Keramikwerkstatt zu testen gewillt war. Und Rosita, die schöne, an eine Zigeu-nerin erinnernde Tochter seines verstorbe-nen Freundes Manolo Hugué …

… eines nicht sonderlich bedeutenden katalanischen Bildhauers, mit dem Picasso 40 Jahre vorher viel Zeit verbracht hatte.— Exakt. Und Manolos Witwe hatte sich in den Kopf gesetzt, ihre Tochter an Picasso zu verkuppeln und nutzte den Ausfl ug, um sie in Stellung zu bringen. Picasso schien die Spannung zwischen den drei Frauen zu genießen. Dass drei derart attraktive, junge Frauen mehr oder weniger off ensiv um ihn buhlten, machte ihm, dem über 70-Jährigen ganz off ensichtlich gute Laune. Mir kam es vor wie in einem klassischen Theaterstück – wir alle warteten nur darauf, wem der Held den Apfel geben würde.

Jacqueline.— Zuerst sah es nicht danach aus. Am zweiten oder dritten Tag befahl er ihr, zurück nach Vallauris zu fahren. Er habe genug von ihr. Doch Jacqueline stoppte alle 50 Kilometer und rief bei den Lazermes an, ließ sich Picasso geben und fl ehte ihn an, zurückkeh-ren zu dürfen. Sie drohte sogar, sich umzubringen. Ich weiß nicht, nach wie viel Kilometern Picasso das Gefühl hatte, Jacqueline habe die Probe bestanden. Jedenfalls erklärte er ihr, dass, wenn sie gewillt sei, ihr ganzes Leben ihm zu widmen, dass sie dann, nur dann zurückkehren dürfe.

Danach wurden Sie unzertrennlich.— Und zogen nach Cannes, in die Villa Californie. Die Tuschezeich-nungen, in denen die Augen einer Frau immer größer werden und mit dem Bild vor ihr verschmelzen, zeigen den großen Saal, in dem Picasso Gäste empfi ng. Es ist das Fenster, das hier keinen Zweifel zulässt. Und der Schaukelstuhl, der das wichtigste Möbel darstellte. Ihn fi nden wir auch auf vielen Fotografi en aus diesen Tagen.

Wie sah der Alltag in La Californie aus?— Wenn Picasso malte, herrschte eine angespannte Atmosphäre. Wenn er gerade nicht an etwas Wichtigem arbeitete, war es lockerer, er empfi ng Freunde zum Lunch. Vor dem Haus versammelten sich

regelmäßig Fans und Bittsteller, die auf eine Audienz hoff ten. Der Concierge kam dann und überbrachte Picasso die Botschaften. Da war der Fotograf mit bester Empfehlung von Cocteau – „Lasst ihn rein“, war Picassos Kommentar. Da war der Schweizer Journalist, der ein Interview wollte – „Auf keinen Fall.“ Da war der alte, aber langweilige Freund – „Warum nicht?“ Und ich erinnere mich an zwei schwedische Mädchen, die in einer Fernseh-sendung namens „Wir machen ihre Träume wahr“ den großen Preis gewonnen hatten und nun wollte man ihnen den Traum ihres Lebens erfüllen, und der war, Picasso zu treff en.

Und?— Picasso ließ sie wegschicken. Er habe nicht vor, zum ersten Preis in einer TV-Sendung zu werden. Aber er liebte es, all die Geschenke seiner Verehrer aufzumachen. Ob es Boomerangs waren oder ein aus einem Elefantenfuß gemachter Papierkorb, alles kam irgendwo im Haus unter. Die Blumensträuße wurden einfach in die Regale gestellt, wie Picasso forderte: stets ohne Wasser. Und dort trockneten sie dann vor sich hin. Je absurder die Geschenke, desto erfreuter war er meist. Ein Rolle Klopapier mit Geldscheinen bedruckt hatte es ihm besonders angetan. Und in diesem Wirrwarr, zwischen peruanischen Masken und einem alten Panettone, den die Mäuse angeknabbert hatten und der nun aussah wie ein Modell des Kolosseums, standen seine Bilder und die berühmte bronzene Katzenskulptur, die er als Hocker benutzte.

Sie sagten es bereits: glückliche Zeiten.— Und für Jacqueline immens anstrengende. Sie schmiss diesen großen Haushalt mit wenig Hilfe und musste dabei regelmäßig bis spät in die Nacht wach bleiben, weil er dann arbeitete. Er brauchte sie unentwegt.

Paulo Picasso, Pablo Picasso, Jacqueline Roque, Paulos Frau Christine, John Richardson, Jean Cocteau und Douglas Cooper auf dem Weg zum Stierkampf in Arles, 1957

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Pablo Picasso und Jacqueline Roque tanzen, hinter ihnen die Badenden am Strand von La Garoupe, 1957

Sie tat, was er damals in Perpignan gefordert hatte.— Das tat sie. Sie opferte sich ihm regelrecht. Es muss 1959 gewesen sein, da hätte Jacqueline sich dringend einer Operation unterzie-hen müssen, einer dieser Frauen-Operationen. Doch sie schob es immer weiter auf, weil Picasso meinte, nicht auf sie verzichten zu können. Eines Abends kamen sie zu uns zum Dinner. Ich öff nete die Tür und da stand Picasso mit einer kreidebleichen Jacqueline. Picasso war off ensichtlich bewusst, wie seine Freundin aussah, denn er sagte etwas wie: „Es scheint, als ginge ich heute mit einer Leiche aus“, übergab sie mir und ging hinein. Ich brachte Jacqueline in mein Zimmer und redete auf sie ein, dass sie unbedingt die Operation machen müsse. Und sie sagte: „Picasso will nicht mit einer Eunuchin leben.“ Erst als sie wenig später in seinem Studio kollabierte, wurde sie ins Krankenhaus gebracht. Nachdem sie entlassen wurde, hatten wir Lunch in ihrem Zimmer, am Fuße ihres Bettes.

Eine Märtyrerin.— Sie sagen es. Jahre später erst, nach Picassos Tod und kurz bevor sie sich das Leben nahm, hat mir Jacqueline eine Erklärung für sein Verhalten geliefert. Sie verriet mir ein Geheimnis, von dem Picasso nur seinen Frauen erzählt hatte, eine Geschichte, die mir später auch Dora Maar bestätigte. Als Picasso 14 Jahre alt ist, erkrankt seine kleine Schwester Conchita an Diphtherie. Picasso schwört zu Gott, nie mehr zu malen und zu zeichnen, wenn seine Schwester die Krankheit übersteht. Doch schon bald bricht er seinen Schwur, er malt erneut – und seine Schwester stirbt. Das erklärt auch seine lebenslange Identifi kation mit dem Minotaur. Die Frauen in seinem Leben, so war Picasso nach diesem Schicksals-schlag überzeugt, müsse er auf dem Altar seiner Kunst opfern. Es ist dieser gebrochene Schwur, der beispielsweise seine wichtigste Grafi k, Minotauromachie, erst verständlich macht, in der er 40 Jahre nach ihrem Tod Conchita mit einer Flamme in der Hand ins Zentrum der Szenerie stellt und diese beleuchten lässt. Ebenso wissen wir heute, dass er während der Arbeit an der Minotauromachie ein Bild in einem für die Periode völlig untypischen Stil aus seinen ganz frühen Tagen malt. Es zeigt seine Mutter, die Conchita als Baby in ihren Armen hält, zwischen ihr und dem Vater stehen der

kleine Pablo und seine Schwester Lola. Ein Gemälde als Exorzis-mus. Erst als er damit fertig war, konnte er weiter an Minotauromachie arbeiten.

Sie haben inzwischen drei Bände ihres Picasso-Buches veröffentlicht, fast 2.000 Seiten, auf denen Sie minutiös sein Leben aufrollen. Einerseits wird die bemerkenswerteste Künstler-Biografi e überhaupt gefeiert. Andererseits stößt Ihr Ansatz, das Werk Picassos über eine detaillierte biografi sche Spurensuche zu erklären, auf Ablehnung unter den meisten Kunsthistorikern, die heute den Diskurs über moderne Kunst prägen. Als kürzlich der postmarxis tische Star-Theo-retiker T. J. Clark sein Buch Picasso and Truth veröffentlichte, konnte man auf der Rückseite des Buches lesen, dass dieses Buch endlich die biografi schen und psychologischen Traktate der letzten Jahrzehnte ersetze, ja sie obsolet mache.— Das war ein Zitat von Rosalind Krauss, die tatsächlich Genera-tionen von Kunsthistorikern entscheidend geprägt hat.

Und, was empfi nden Sie, wenn sie so etwas lesen?— Nun, ich danke Rosalind Krauss jede Nacht in meinen Gebeten, dass mir in den letzten 30 Jahren das ganze Feld Picasso quasi überlassen wurde. Die Art, wie früher Kunstgeschichte betrieben wurde, als Geschichtsschreibung, Sichtung der Quellen, unnach-giebige Archivarbeit, das alles gibt es kaum noch. Wenn Sie heute als Student über ein Bild von van Gogh schreiben und das Paar Schuhe auf dem Bild erwähnen, wird sie ihr Professor wahrschein-lich fragen, woher sie wissen, dass es wirklich ein Paar ist.

Der vierte Band, an dem sie gerade arbeiten, wird die Jahre 1933 bis 1945 behandeln. Verraten Sie uns, was genau Sie in diesem Moment beschäftigt?— Seit Tagen beschäftige ich mich mit dem Bild La Suppliante, einem sehr kleinen Bild, das am 18. Dezember 1937 entstand und das anders ist als die anderen Werke zu dieser Zeit. Es ist ein im wahrsten Sinne des Wortes außergewöhnliches Bild.

Weshalb?— Nun, es zeigt Dora Maar, vor Rage geradezu entstellt. Wir wissen, das Picasso und Dora Maar eine Krise haben, Dora ist in Paris, Picasso auf dem Lande, wo er sich in die Arme seiner Geliebten Marie-Thérèse wirft und ein Porträt nach dem anderen von ihr malt. Dora muss das gefühlt haben. Eine Woche vor Weihnachten kommt es zur Wiedervereinigung mit Dora. Diese kann nicht gut verlaufen sein, wenn wir uns dieses Bild anschauen. Ob das anstehende Fest ihren latenten christlichen Glauben getriggert hat? Das würde Picassos Vision von ihr als kreischender Marquise im Look des 17. Jahrhunderts erklären, inspiriert von Velázquez’ Infanta oder auch von einem prie-dieu, einem gepolsterten Gebets-hocker. Andere Hinweise liefern die Füße, einer nackt, der andere diabolisch behuft. Sowie die Brüste, von denen eine aus dem Korsett herausquillt. Das Bild ist für mich prophetisch insofern, als es Dora Maars Nervenzusammenbruch vorwegnimmt sowie ihre Wandlung zu einer reaktionären Katholikin. Picasso muss sehr wütend auf sie gewesen sein. Also malt er dieses furchterregende Bild.

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Meine Bilder sind mein Tagebuch, hat er gesagt.— Hat er. Doch wenn es nur so einfach wäre! Er hat den Strand und Badende auch mitten im Winter gemalt, nicht weil er da war, sondern weil er den Strand, die Sonne, die Badenden vermisst hat. Er malt Dora als diese furchterregende Frau, gleichzeitig steht diese Frau für alles, was er an den Marquesas hasst, den religiösen Grand Dames der spanischen Gesellschaft, die Franco unterstüt-zen und den Bürgerkrieg. Es gibt bei Picasso immer Bedeutungs-schichten, die sich überlagern. Nur selten ist es so einfach, wie es sein Tagebuch-Zitat verspricht. Oft ist von dem sehr Richtigen, was man über Picasso oder ein Bild von ihm sagen kann, eben auch das Gegenteil wahr. Meine Mission ist es, die verschiedenen Bedeutungsebenen freizulegen. Zu zeigen, was sie mit der Geschichte und Politik zur Entstehungszeit zu tun haben und mit seinem privaten Leben. Manchmal muss man dafür ein extrem detailliertes Wissen über dieses Leben haben, manchmal reicht eine Art philosophisches Gefühl dafür, was ihn angetrieben haben mag.

Picasso hat fast alles in seinem Leben datiert. Nicht nur Bilder und Zeichnungen, auch Zettel, die er Jacqueline oder Freunden zuschiebt. In einem Gespräch mit Brassaï hat er gesagt: „Man muss es auch wissen, wann, warum, wie und unter welchen Bedingungen der Künstler sie schuf. Es wird sicher eines Tages eine Wissenschaft geben, vielleicht wird man sie die Wissenschaft vom Menschen nennen, die sich mit dem schöpferischen Menschen befasst, um neue Erkenntnisse über den Menschen im Allgemei-nen zu gewinnen. Ich denke oft an diese Wissenschaft und es ist mir wichtig, der Nachwelt eine möglichst vollständige Dokumentation zu hinterlassen.“ Es scheint, als hätte er Ihre Arbeit erleichtern wollen.— Ich glaube eher, er hat es für sich selbst gemacht. Mit dem Abstand der Jahre hatte er teilweise keine Ahnung mehr, wie er zu einem bestimmten Ergebnis, einer neuen Idee gekommen war. Doch wenn er eine Reihe von Zeichnungen vor sich hatte, die datiert waren, konnte er zurückschauen und nachvollziehen, wie sich 40 oder 60 Jahre zuvor seine Vision verändert hat, wie die Bilder entstanden sind. Deshalb sind die Skizzenbücher auch so unge-mein wichtig.

165 davon sind in seinem Nachlass gefunden worden.— Das erste von 1895, das letzte von 1967, viele davon 100 Seiten stark. Stellen Sie sich vor, Sie würden diese in einem Rutsch durchblättern. Jemand, der diese geistige Entwicklung macht, diese Sprünge, der landet normalerweise in der Psychiatrie. Nicht so Picasso.

Fällt Ihnen irgendein anderer Künstler des 20. Jahrhunderts ein, über den sie so lange hätten forschen können?— Nein. Ich habe auch eine Braque-Biografi e geschrieben, aber damit war ich schnell fertig. Vielleicht hatte Braque neben seiner Frau eine Geliebte, einmal nur, aber selbst das ist nicht mit Sicher-heit überliefert.

1964 veröffentlichten Sie Ihren ersten Text für die New York Review of Books, für die Sie heute noch schreiben. Es war ausgerechnet

ein harter Verriss des Buches Life with Picasso von Françoise Gilot, der Vorgängerin von Jacqueline. Ein Buch, das Picasso zu verhin-dern versucht hatte.

— Nun, ich habe sowohl meinen Verriss als auch ihr Buch vor Kurzem wieder gelesen, weil ich für Gagosian in New York eine große Ausstellung zu Picasso und Gilot kuratiert habe. Sagen wir so: Ich bin nicht stolz auf den Verriss. Das Buch ist wichtiger und treff ender, als ich es damals wahrhaben wollte.

Ich frage danach, weil Ihre Kritik aus heutiger Sicht wie ein Freund-schaftsdienst wirkt. Und Picasso verlangte von seinen Freunden absolute Gefolgschaft. War es Ihnen möglich, Picasso zu kritisieren, ihm Kontra zu geben?— Ich hätte im Traum nicht daran gedacht, Picasso zu kritisieren.

Ihr Lebensgefährte Douglas Cooper hat es getan.— Wir waren zu diesem Zeitpunkt nicht mehr liiert und ich weiß auch nicht, ob ich es „kritisieren“ nennen würde. Und das Ganze hat ein sehr hässliches Ende genommen. So sehr, dass sich Douglas aus gekränkter Ehre öff entlich gegen Picasso wendet und über seine letzte Ausstellung zu Lebzeiten schreibt, es seien unzusammenhängende Schmierereien eines rasenden Greises im Vorzimmer des Todes.

Was war dem vorangegangen?— Es muss in den späten 60er-Jahren gewesen sein, ich lebte damals schon in New York. Douglas ging zu Picasso, um ihn zu über-zeugen, dass er seine unehelichen Kinder adoptieren und damit zu legitimen Erben machen solle. Außer Paulo, seinem ersten Sohn, waren ja alle Kinder unehelich. Vielleicht hatte sich Douglas von Françoise und ihren Kindern Claude und Paloma als Emissär einspannen lassen, ich weiß es nicht. Auf jeden Fall explodierte Picasso. Das Ganze gehe ihn, Douglas, nichts an, schrie er und warf ihn raus. Jacqueline erzählte mir von diesem Abend: Als Picasso mehr als deutlich gemacht hatte, dass er seinen alten

John Richardson, Douglas Cooper und Pablo Picasso beim Lunch in La Californie, fotografi ert von der bettlägerigen Jacqueline

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REVUE

Freund nie wieder sehen wolle, begleitete Jacqueline Douglas aus dem Haus, die Treppe hinunter. Es gab viele Stufen und Douglas brach auf jeder zusammen, weinte und fl ehte darum, zurück zu Picasso zu dürfen. Aber Jacqueline sagte nur: „Nein, es ist vorbei, du hast eine große Dummheit begangen.“

Was war so schlimm an Coopers Initiative?— Nun, jeder, der Picasso besser kannte, wusste von seiner pani-schen Angst vor dem Tod. Picasso hatte kein Testament gemacht, er lehnte das ab. Seine unehelichen Kinder zu legitimieren, hätte nichts anderes bedeutet, als die Tatsache anzuerkennen, dass er, der nun auf die 90 zuging, nicht mehr lange leben würde. Es wäre einem Testament gleichgekommen.   

Douglas Cooper hatte an ein Tabu gerührt.— Picassos Angst vor dem Tod war seinem Umfeld so bewusst, dass es teilweise fast komische Züge annahm. Ich erinnere mich an einen Lunch, es muss zu der Zeit gewesen sein, als das Skizzenbuch entstand. Eine russische Frau war zu Gast, ich weiß nicht mehr, wer sie war oder was sie wollte, ich weiß nur noch, dass sie extrem langweilig war und dabei sehr viel redete. Sie hörte gar nicht mehr auf und Picasso schlief ein, sein Kopf war gesenkt und man hörte ein leichtes Schnarchen, was die Frau nicht davon abhielt, immer weiterzureden. Hinter Picasso war eine Wand mit vielen Vogelkäfi gen und während er schlief und die Frau redete, fi el ein Kanarienvogel tot von der Stange. Jacqueline war sehr besorgt, dass Picasso den toten Vogel entdecken könnte, also wurde er leise entsorgt und der Fahrer wurde in die Stadt geschickt, um einen möglichst ähnlich aussehenden Ersatzvogel zu besorgen, der schon 20 Minuten später in den leeren Käfi g gesetzt wurde. Als Picasso erwachte, waren alle Vögel wieder vollzählig und wir sehr erleichtert. Der tote Vogel hätte ihn schwer beunruhigt, er hätte ihn als böses Omen gesehen.

Werner Spies hat in seinem Essay Malen gegen die Zeit darauf hingewiesen, dass Picasso nur zu Beginn seiner Karriere Selbst-porträts gemalt habe und dann erst wieder ganz zum Schluss, in den letzten Monaten seines Lebens. Der Grund: seine Angst vor dem Tod.— Picasso erfährt 1918 vom Tod seines Freundes Apollinaire. Die Nachricht wird ihm überbracht, während er sich gerade rasiert und in den Spiegel schaut. Danach gibt es tatsächlich keine Selbst-porträts mehr.

Sie selbst sind nicht abergläubisch?— Weshalb?

Weil Sie im Februar 92 Jahre alt werden und damit so alt wie Picasso, als er starb.— Ich bin überhaupt nicht abergläubisch. Und nein, ich habe nicht vor, bald abzutreten. Mir geht es gut, ich habe fantastische Mitarbeiter, ich wüsste nicht, warum wir nicht weitermachen und Dinge erledigt bekommen sollten. Den vierten Band werden

wir schaff en, es gibt noch immer ungesichtetes Material. Nur den fünften, letzten Band muss vielleicht doch jemand anderes übernehmen.

Wenn Sie noch einmal in das Skizzenbuch schauen und an das Jahr 1956 zurückdenken …— … dann fällt mir auf, dass wir, seine Freunde, nicht ahnten, was ihn damals neben privaten Dingen am meisten beschäftigt haben muss. 1956 ist das Jahr, in dem Picasso tatsächlich mit Franco verhandelt. Franco schickt einen ersten Emissär, den Picasso als Gesprächspartner ablehnt. Dann einen zweiten, nicht so eng mit dem Regime verstrickten. Den akzeptiert Picasso. Wir wissen das alles, weil eine Mitarbeiterin von mir die Akten im spanischen Außenministerium gefunden hat. Eine Akte hieß „Picasso“, die andere „Picasso und der Kommunismus“.

Was will Picasso vom Franco-Regime?— Er will eine Retrospektive. Seine Sehnsucht nach seiner Heimat Spanien, die er seit Jahrzehnten nicht besucht hat, ist so groß, dass er von einer triumphalen Rückkehr träumt. Picasso ist so getrieben, dass er, der bekennende Kommunist, mit den Faschis-ten verhandelt.

Über eine Retrospektive, die nie stattfi nden wird.— Die Verhandlungen sind streng geheim und man einigt sich vorher darauf, dass, falls irgendetwas durchsickern sollte, beide Seiten behaupten, es habe niemals Gespräche gegeben. Es sickert aber durch. Und damit hat sich die Retrospektive erledigt. Jacqueline, die ihre Augen niederschlägt, der Schaukel-stuhl in La Californie, ein Käfer, der eine Pfl anze hochklettert – von der Spannung, den Nerven, die diese Verhandlungen Picasso gekostet haben mussten, sehen wir nichts in seinem Skizzenbuch. Und noch etwas fällt mir auf. Wie sehr die Darstellung von Jaime Sabartés aus dem Rahmen fällt. Wie derb und komisch das Bild ist – eine Karikatur seines langjährigen Sekretärs, der auf den Boden pinkelt, während ein anderer, mir unbekannter Mann auf dem Klo sitzt.

Sie konnten Sabartés nicht leiden.— Nein. Das, was seine Gegenwart erträglich machte, war, dass Picasso ihn gerade, weil er so fanatisch loyal war, immer wieder mit teilweise recht grausamen Scherzen testete. Sabartés war dafür bekannt, ins Studio zurückzukehren, wenn Picasso es verlassen hatte. Er durchwühlte dann den Mülleimer – angeblich, damit Mülldiebe, die es auf Picassos verworfene Zeichnungen abgese-hen hatte, keine Beute machen konnten. Eines Abends erklärte Picasso, er werde Sabartés eine kleine Lektion erteilen. Er schüttete den Mülleimer aus, platzierte ganz unten am Boden einen Zettel und bedeckt ihn mit dem Müll.

Was stand auf dem Zettel?— Sabartés, du bist ein Idiot.

Sir John, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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ENCORE

Sie war Deutschlands jüngste Richterin, heute betreut sie den Nachlass von Hans Arp. Jetzt hat Loretta Würtenberger einBuch über Künstler-nachlässe geschrieben

ENCOREKÜNSTLERNACHLÄSSE —

GRAND PRIX — WERTSACHEN —

AUKTIONEN — BLAU K ALENDER

— DER AUGENBLICK

ALLE VÄTER STERBEN, NUR NICHT DIESER“

Das Geschäft mit toten Künstlern boomt. Fast jede Woche erreichen uns E-Mails großer Galerien, die

einen neuen Künstlernachlass vertreten. Loretta Würtenberger, deren Firma Fine Art Partners vier Nachlässe betreut, hat die Erben von Donald Judd, Max Beckmann oder Robert Mapplethorpe gefragt, wie man tote Künstler lebendig hält. Entstanden ist ein Ratgeber – und das weltweit erste Institute for Artist Estates.

Frau Würtenberger, ein Künstler stirbt, die Kinder erben seinen Nachlass. Was bedeutet das für die Kunst – und was für die Kinder? — Es gibt einen berühmten Satz, ich glaube, er bezog sich auf Thomas Mann: „Alle Väter sterben, nur nicht dieser.“ Es ist ein großer Schatten, den ein Künstler auf das Leben seiner Kinder werfen kann – von Anfang an muss sich das Kind die Liebe des Vaters oder der Mutter mit der Kunst teilen. Das gilt sogar generations-

übergreifend. Mayen Beckmann, Enkelin von Max Beckmann, drückte es so aus: „Wenn man mit seinen Gemälden groß geworden ist, ist man bis zum 20. Lebens-jahr auf jeden Fall ‚gebrainwashed‘, sodass man im Grunde nur durch die Bilder sehen kann.“ Zu der psychologischen Herausforderung kommt aber auch eine fachliche. Viele Künstler verdrängen ihre eigene Sterblichkeit und hinterlassen alles unter dem Motto „nach mir die Sintfl ut“. Geerbt wird dann nicht nur Kunst, sondern auch immense Verantwortung. Die wenigsten Kinder sind Kunstprofi s. Sie haben keine Ansprechpartner. Künst-lernachlässe sind also eine heikle Angele-genheit – und bisher gab es kein Regelwerk zum Umgang damit.

Ihr Buch über das Management von Künst-lernachlässen, das im kommenden Frühjahr erscheinen wird, soll das nun ändern. Wie lautet Ihre Grundregel für erfolgreiche Nachlassarbeit?— Jede Generation von Kuratoren, Wissen-schaftlern und Sammlern muss einen eigenen, frischen Blick auf das Werk werfen können. Um ein Werk posthum lebendig zu halten, müssen alle drei Säulen gestützt werden: die Museumswelt, die akademische Welt und der Markt.

Wieso braucht ein Nachlass eine Galerie? Ist es nicht wichtiger, das Werk in Museen zu zeigen?— Eine gute Galerie ist ebenso wichtig wie regelmäßige Museumsausstellungen! Die

LORETTA WÜRTENBERGER fotografiert von CHRISTIAN WERNER

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ENCORE

meisten Nachlässe sind reich an Kunst aber arm an Mitteln. Sie müssen sich selbst fi nanzieren. In den USA ist es normal, dass Nachlässe auch verkaufen. In Europa hat man da immer noch moralische Vorbe-halte – dabei ist die behutsame Positionie-rung eines wichtigen Künstlernachlasses auch deshalb wichtig, damit nicht nur immer wieder dieselben Blockbuster aus dem Lager geholt werden. Es geht darum, das Werk für Sammler und Museen aufzufächern und auch Nebenaspekte oder das Früh- und Spätwerk zu würdigen. Kein Künstler, der nicht am Markt anerkannt ist, wird auf Dauer große Museumsausstellun-gen haben. Und nur das, was ausgestellt ist, wird auch akademisch bearbeitet.

Für das Buch haben Sie mit den Erben von Donald Judd, Robert Mapplethorpe, Robert Rauschenberg, Max Beckmann und anderen gesprochen. Was haben sie gemeinsam, außer dem großen Schatten? — Sie alle verbindet ein immenses Bedürf-nis nach Austausch. Als ich Donald Judds Tochter Rainer erzählte, mit wem ich sonst noch spreche, rief sie: „Die will ich auch alle treff en!“ Mich hat diese Begegnung sehr bewegt: Da saß eine immens intelligente Frau vor mir, Mitte 40, und man merkte ihr immer noch das junge Mädchen an, das in diese Rolle der Ver walterin des Erbes ihres Vaters geschmissen wurde. Diese Divergenz aus emotionaler Fragilität und intellektueller Durchdringung, aus Abgrenzung und Umarmung ihrer Aufgabe fand ich zutiefst beeindruckend.

Das klingt, als hätte sie keine Wahl gehabt. — Ja, man muss sich das vorstellen: Ein Kind ist gerade auf dem Weg in ein eigenes Leben, da stirbt der Vater und hinterlässt einem diese irre Aufgabe. Rainer war damals sehr jung, 24 Jahre alt. Sie und ihr Bruder Flavin waren für diese Aufgabe vorgesehen, aber sonst gab es kaum Instruktionen. So ist es meistens. Die Frage, ob eine gute Nachlassverwaltung klappt, entscheidet oft das Talent der Familie. Als ich Rainer fragte, welchen Rat sie anderen Künstlerkindern geben würde, sagte sie: Finde einen Mentor und sprich mit so vielen Leuten wie möglich!

Sie haben gerade das erste Institut für Künstlernachlässe gegründet – eine bisher einmalige Anlaufstelle in diesem Bereich. Was bezwecken Sie damit? — Ich verstehe es als Plattform, die drei Dinge tun soll: Erstens, Akademiker für das Thema zu gewinnen – wir wollen ein Archiv für Nachlassforschung aufbauen. Zweitens, Vernetzung – also einen Ort zu bieten, wo sich Erben austauschen können. Drittens: Beratung und Betreuung von Nachlässen. In allen drei Gebieten wollen wir ständig Steine ins Wasser werfen – die Ringe müssen selbst entstehen, aber wir setzen die Impulse.

In Ihrer Firma Fine Art Partners betreuen Sie vier Nachlässe, darunter den von Hans Arp, der bis vor einigen Jahren mit dem Skandal um posthume Güsse für Schlagzei-len sorgte. Der Name Arp stand für Unge-reimtheiten, heute vertritt ihn die Galerie Hauser & Wirth. Wie ist diese Neubewer-tung gelungen?— Unsere Firma unterstützt Galerien bei der Finanzierung ihres Sekundärmarkt-geschäftes. Weil wir so eine gute Übersicht über den Kunstmarkt haben, fragte uns die Arp-Stiftung vor fünf Jahren, ob wir eine Strategie entwickeln würden, mit der man das Vertrauen in das Werk Arps wiederherstellen könnte. Uns war klar, dass das Thema Arp nur wieder auf die Beine gestellt werden kann, wenn die Stiftung die Archive öff nen und Transparenz in die Frage der posthumen Güsse bringen würde. Also rieten wir als Erstes zu einem Werkverzeichnis durch unabhängige Wissen-schaftler. Danach zog die Stiftung in ein Schaulager nach Berlin. Heute konzentriert sich der Nachlass hauptsächlich auf die Vergabe von Stipendien an Akademiker, organisiert Tagungen und initiiert Ausstellun-gen – so wurde Arp rehabilitiert und die Galerien bekamen wieder Vertrauen.

Was kann passieren, wenn die Familie denkbar untalentiert ist für diese Aufgabe?— Schlimmstenfalls ein Desaster, wie im Fall von Oskar Schlemmer. Dort haben Streitigkeiten über Dekaden verhindert, dass das Werk weiterhin spannend rezipiert wird. Einer der Enkel nutzte das Eigentum des Urheberrechts dazu, jede Aktivität zu boykottieren. Er stimmte etwa bei der Katalogproduktion von Ausstellungen dem Abdruck der Arbeiten nicht zu. So verging Museumsleuten die Lust, etwas über Schlemmer zu machen, ebenso wie Doktoranden, weil ihnen keine Reproduk-tionsgenehmigung der Bilder erteilt wurde. Als vor drei Jahren das Urheberrecht frei wurde, gab es sofort große Retrospektiven und einen Markt. Aber über sieben Dekaden ist praktisch nichts passiert!

Wie kann ein Künstler so etwas im Vorfeld verhindern?— Franz West ist hier wohl aktuell das prominenteste Beispiel: Kurz vor seinem Tod im Juli 2012 gründete er eine Stiftung. Seine Familie partizipiert daran zwar fi nanziell, hat aber keinen Einfl uss auf den Umgang mit seinem Werk. Als Vorstand wurde ein Anwalt eingesetzt. Gut möglich, dass West sich an dem Bildhauer Bartolo-meo Cavaceppi orientierte, der mit seinem Tod 1799 seinen Nachlass der Accademia di San Luca vermachte. Seine Familie erhielt eine regelmäßige Geldsumme, doch kein einziges Wohnhaus, Möbelstück oder Kunstwerk.

FRANZ WEST in Chicago, 2000

PHILIPPE VANDENBERG No Title, 2009

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ENCORE

Was haben Sie vom Beispiel Arp gelernt? — Etwas ganz Banales: Selbst der aner-kannteste Künstler stirbt einen zweiten Tod, wenn sein Nachlass nicht gut gema-naged wird. Arp genoss die letzten 15 Lebensjahre eine erstaunliche Anerken-nung. Er hatte fast jedes Jahr eine Einzel-ausstellung und erhielt 1954 den Großen Preis für Plastik auf der Biennale von Venedig. 1966 stirbt er auf dem Zenit seines Ruhms und hinterlässt sein Werk einer sehr tüchtigen Witwe, Marguerite Hagenbach-Arp, die ihn auch schon zu Lebzeiten gemanagt hat. Sie führt sein Werk hervorragend weiter, es gibt Einzel-ausstellungen wie 1969 die Guggenheim-Retrospektive. Dann erkrankt Marguerite und überführt den Nachlass in eine Stiftung, die von Johannes Wasmuth geführt wird. Mitte der 90er-Jahre stirbt sie. Man kann genau nachverfolgen, wie Arps Motor, der bis zu Marguerites Krankheit sehr gut lief, immer schwächer wird. Bis in die 2000er gibt es nur noch drei große Museumsausstellungen, kaum noch Doktor-arbeiten und fast keine relevanten Publikationen.

Und dann kam die Sache mit den post-humen Güssen … — Ja, von rund 1.600 Bronzeskulpturen waren circa 36 nicht in Ordnung. Das Problem war nicht, dass nach Arps Tod nicht weiter gegossen werden durfte, sondern dass die Stiftung gelinde gesagt über das Ziel hinausgeschossen ist und nicht nur die fünfte, sondern auch eine sechste und siebte Skulptur gegossen hat. Es ist tragisch: Arp befand sich auf Augenhöhe mit Max Ernst, Henry Moore und Joan Miró, er galt als Titan der Bildhauerei des 20. Jahrhunderts – doch ohne den geölten Motor fängt selbst so ein anerkanntes Werk an, aus der Mode und sogar in Misskredit zu fallen.

Wie ist das bei Künstlern, die nicht so bekannt sind? Haben die überhaupt eine Chance, nach ihrem Tod in neuem Licht wahrge-nommen zu werden? — Natürlich gibt es Nachlässe, die dafür nicht die besten Voraussetzungen haben. Zum Beispiel Philippe Vandenberg. Der war einmal der Polke von Belgien und sehr

anerkannt, aber Mitte der 80er-Jahre hat er mit dem Kunstmarkt radikal gebrochen und alles zurückgezogen. Er starb 2009 und hinterließ drei Kinder. Und die machten alles richtig. Als Erstes schlossen sie das Atelier für ein Jahr, um herauszu-fi nden, was sie wollten – für das Werk, für sich persönlich und fi nanziell. Dann wurde alles sehr solide aufgestellt, das Atelier wurde wieder geöff net und zu einem lebendigen Ort gemacht. Hauser & Wirth vertritt heute Philippe Vandenberg, der Sammler Harald Falckenberg hat ihn ausgestellt: Es gibt eine Renaissance der Wahrnehmung.

Dabei scheint das Thema ja hochemotional zu sein.— Ja, sobald man sich mit Nachlässen befasst, werden die Geschichten meist sehr berührend. Es geht um Familienkonzep-tion. Nehmen Sie Francesca Woodman, die sich mit 22 Jahren umgebracht hat. Um ihren Nachlass kümmern sich die Eltern, es gibt einen hinreißenden Film über sie. Die beiden im Gespräch zu sehen, wie sie ihr Kind weiter pfl egen und in die Welt bringen – das Ganze erscheint wie die Re-Inszenierung einer Kindheit!

Die Nachlasspfl ege als Lebensinhalt …— Tja, Rainer Judd sagte es so: „Wir waren dazu bestimmt. Als Donald Judds Kinder hätten wir nie etwas anderes tun können als das Richtige, für ihn und seine Welt.“ Oder Charlotte Berend Corinth, die Witwe des deutschen Impressionisten Lovis Corinth. Sie sprach von einem „inneren Schwur, mein Leben Dir so lange und so weit zu weihen, wie es nach allen Richtun-gen hin notwendig ist, um hier alles zu erhalten, was Dein Lebenswerk ausgemacht hat“. Ihr Sohn Thomas war nicht minder engagiert, sammelte jede Meldung über seinen Vater und gab sogar Postkarten mit seinen Werken heraus. Als er 1988 starb, vermerkte seine Schwester Wilhelmine nüchtern: „Auf mir allein liegt nun die volle Verantwortung, für alles zu sorgen. Nur das ist noch meine Aufgabe!“ Auf die Spitze getrieben hat es wohl Nina Kandinsky. Sie ließ in ihrer Gegenwart keine anderen Gesprächsthemen zu als über ihren Mann …

Welcher Künstler hat denn noch zu Lebzei-ten seinen Nachlass auf so gute Beine gestellt, dass alle Beteiligten glücklich sind?— Robert Mapplethorpe, der wusste, dass er an den Folgen von AIDS sterben würde. Mithilfe des Rechtsanwalts Michael Ward Stout legte er gemeinsam mit seinem Lebensgefährten Sam Wagstaff im Vorfeld fest, wohin das Geld fl ießen sollte: in die AIDS-Forschung und Unterstüt-zung von Fotografi e. Mit über 200 Millio-nen Dollar Vermögen hat der Nachlass unfassbar Wirtschaftliches geleistet! Mapplethorpe hat zahlreiche Editionen noch vor seinem Tod ausführen lassen, damit der Estate später ausreichend Kunst hat, mit der er arbeiten kann.

Das klingt nach Überproduktion …— Nein, die Fülle der Arbeiten bedeutete viel Verkauf, aber keine Überfl utung, sodass der Wert weiterhin gesteigert wird. Das Archiv wurde inzwischen ans Getty Research Institute übergeben, dem besten Ort für konservatorische Rahmen-bedingungen und akademische Aufarbei-tung. Heute steht Stout vor der Frage, ob die Bestände verkauft werden sollten. Der Erlös ginge dann an Organisationen mit den Zielen, die dem Künstler so wichtig waren.

FRANCESCA WOODMAN Untitled, New York, 1979

INTERVIEW: GESINE BORCHERDT

DER KÜNSTLERNACHLASS. HANDBUCH FÜR KÜNSTLER, IHRE ERBEN UND NACHLASSVERWALTER ERSCHEINT IM MAI 2016 IM HATJE CANTZ VERLAG

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Was uns gefällt: Highlights und Abseitiges aus dem Angebot

des Kunsthandels

WERTSACHEN

Er hat sie alle vor seiner mitfühlenden, mitdenken-den Kamera gehabt, die namhaften Künstler von Beuys bis

Baselitz, die Politiker der Bonner Republik. Er hat den Mauerbau erlebt und den amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy bei seinem Deutschland-Besuch begleitet. Guido Mangold war der Fotojournalist der 60er- und 70er-Jahre. Und von Quick über Playboy, Stern bis zu GEO haben sie alle von seinen Reportagen

gelebt. Als seine Aktaufnahmen von Uschi Obermaier in twen erschienen, war ihre Karriere als Topmodel gesichert. Und legendär sind die Bilder, die der inzwischen 82-jährige Fotokünstler 1963 vom Staatsbegräb-nis nach der Kennedy-Ermordung mitbrachte. In einer großen Verkaufsausstellung ist ein Überblick über das Werk bei Ketterer in Berlin zu sehen. MÜ

Auktion Nachkriegs- und

Gegenwartskunst

11. Februar bei Bonhams in London

„Man sieht nur, was man weiß“

12. Februar – 1. MaiAusstellung Guido Mangold

bei Ketterer in Berlin

Eigentlich sollte er nur am Magen operiert werden. Doch als Woody Allen in seiner Science-Fiction-Parodie Der Schläfer von 1973 wieder aufwacht, ist nichts mehr, wie es war. Er hat 200 Jahre eingefrostet durchgeschlafen. Man wohnt in Betonskulpturen. Liebe wird mithilfe von Apparaten gemacht. Die Welt wird von einem Diktator beherrscht. Und Woody Allen soll dem Widerstand helfen, eine Revolution anzuzetteln. Willkommen im Space-Age! Zur futuristischen Ausstat-tung der irren Persifl age gehörte auch der Video Capsule 3100R: Der 1972 von JVC Yokohama entwor-fene Hybrid aus Fernseher und Radio mit einklappbarem Bildschirm brachte genau die richtige Mischung aus

exaltiertem Design und technoidem Funktiona-lismus für das spektakuläre Filmset mit. Heute ist die Zukunft längst da und die Videokapsel wirkt wie eine verspielte Skulptur aus vergange-ner Zeit. In einer Sonderauktion bietet das Auktionshaus Quittenbaum nun ein gut erhaltenes Gerät zum Schätzpreis von 600 bis 800 Euro an – und rund 100 andere Objekte aus berühmten Kinofi lmen. WOE

Sie sah sich in der großen plastischen Tradition, die die Figur aus dem 19. ins 20. Jahrhundert hinübergerettet

hat. Und bei all den verwegenen Körperkonstruktionen hat sich das Werk der französischen Bildhauerin Germaine Richier nie in die Abstraktion entfernt. In eigenwilliger Auslegung der expressiv surrealen Zeichen hat die Künstlerin ihre Figuren bis aufs Skelett abmagern lassen oder aus Tier- und Menschenteilen

Mischwesen synthetisiert, die sehr einsam und sehr markant in der Formengeschichte der Moderne verblieben

sind. Wie gestrandete Nixen thronen Richiers hagere Gestalten auf den Zinnen des Picasso-

Museums in Antibes. Eine sechs köpfige Pferde-Bronze aus dem Spätwerk

(1954–56) kommt bei Bonhams zur Auktion. Schätzung:

260.000 –390.000 Euro. MÜ

ZEUGE MIT DER

KAMERA

Kopfstark

KÜNSTLERNACHLÄSSE —

WERTSACHEN — AUKTIONEN

— GRAND PRIX — BLAU K ALENDER —

DER AUGENBLICK

SPACEAGE

Design meets Movie

23. Februar 2016 bei Quittenbaum in München

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ENCORE

Brafa Art Fair, Brüssel

bis 31. Januar bei Frank Landau, Frankfurt/M.,

Galerie Dierking, Zürich

Auktion zeitgenössische Kunst

10.–11. Februar bei Sotheby’s in London

Recycling ist ein großes Thema in der zeitgenössischen Architektur. Dass man nicht nur Baustoffe wiederverwenden kann, sondern auch ganze Häuser, hat der französische Architekt Jean Prouvé schon in den 40er-Jahren vorgemacht. Wie man die vielen Flücht-linge, die zurzeit nach Europa kommen, unterbringen kann, ist eine Herausforderung auch an die aktuelle Stadtplanung. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich für Prouvé ganz ähnliche Fragen gestellt. Wie kann man wohnungslose Menschen schnell und kostengünstig unterbringen? Für die französische Regierung konstru-ierte er ein Holzhaus aus Fertigteilen, das in einem Tag aufgebaut werden konnte. Ebenso schnell konnte das Modell 6×6 an anderer

Stelle wieder errichtet werden. Es existieren von Prouvés Häusern nicht mehr viele. Eines bietet Frank Landau gemeinsam mit der Galerie Dierking zum

Preis von 900.000 Euro auf der Kunstmesse Brafa in Brüssel an. WOE

Wer heute mit Blumensträußen Rekordpreise am Kunstmarkt landen will, muss entweder van Gogh heißen oder Jeff Koons. Denkt man. Und dann wäre da noch Adrian Ghenie. Der 38-jährige Rumäne zählt zu den teuersten Malern seiner Generation, ist in Sammlungen vom MOCA Los Angeles bis zum S.M.A.K. in Gent vertreten. Bürgerliche Motive wie Porträts, Stillleben und Interieurs verwandelt er in Bacon-artige Albtraum-Szenarien, sodass einen selbst ein Bild wie The Sunfl owers in 1937 (2014) in eine Sinnkrise stürzen kann. Bei Sotheby’s ist die Großleinwand von fast drei mal drei Metern auf 400.000 bis 600.000 Pfund taxiert. GB

PRE-FAB

Nature morte

noch Adrian Ghenie. Der38 j h i

dreBIS 31. JAN. BRAFA ART FAIR IN BRÜSSEL

Kunst von der Antike bis zur Gegenwart und Antiquitäten

11.–14. FEB. ART ROTTERDAM Gegenwartskunst

18.–21. FEB. ART KARLSRUHE Klassische Moderne bis zur Gegenwartskunst

24.–28. FEB. ARCO MADRID Klassische Moderne bis zur Gegenwartskunst

3.–6. MÄRZ THE ARMORY SHOW IN NEW YORK

Klassische Moderne bis zur Gegenwartskunst

11.–20. MÄRZ TEFAF IN MAASTRICHT

Kunst von der Antike bis zur Gegenwart und Antiquitäten

16.–19. MÄRZ ART DUBAI Gegenwartskunst

19.–28. MÄRZ ART & ANTIQUE IN SALZBURG Kunst, Antiquitäten, Design

24.–26. MÄRZ ART BASEL HONG KONG Gegenwartskunst

30. MÄRZ – 4. APR. SALON DU DESSIN IN PARIS Zeichnungen von Alten Meistern bis zur Gegenwart

14.–17. APR. ART COLOGNE Klassische Moderne bis zur Gegenwartskunst

22.–24. APR. ART BRUSSELS Gegenwartskunst

5.–8. MAI FRIEZE IN NEW YORK Gegenwartskunst

16.–19. JUNI ART BASEL Klassische Moderne bis zur Gegenwartskunst

30. JUNI – 6. JULI MASTERPIECE IN LONDON Kunst, Antiquitäten und Design

2./3. FEB. CHRISTIE’S IN LONDON Impressionismus und Moderne

3./4. FEB. SOTHEBY’S IN LONDON Impressionismus und Moderne

4. FEB. BONHAMS IN LONDON Impressionismus und Moderne

9./10. FEB. PHILLIPS IN LONDON 20. Jahrhundert und Gegenwart

10./11. FEB. SOTHEBY’S IN LONDON Gegenwartskunst

11. FEB. BONHAMS IN LONDON Nachkriegs- und Gegenwartskunst

11./12. FEB. CHRISTIE’S IN LONDON Nachkriegs- und Gegenwartskunst

17./18. FEB. CHRISTIE’S IN NEW YORK Fotografi e

23. – 25. FEB. QUITTENBAUM IN MÜNCHEN Design, Murano-Glas

AUKTIONENEINE AUSWAHL der BLAU REDAKTION

MESSENvon JANUAR bis JULI

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D ie Kunst war nie anspruchsvoll. Sie brauchte keine aufregende Architektur, um richtig gesehen zu werden. Licht, Raum, Wände, Ende. Ein weißer, fensterloser, kontextfreier Raum, der White Cube, war jahrzehntelang das Ideal. Marcel Duchamp aber hatte schon

1942 den Besuchern einer Surrealismus-Ausstellung gezeigt, wie wenig solche Zusammenhang-freie Präsentation von Kunst erreicht. Mit seinem Fadenwebspiel Sixteen Miles of String hat er in New York den Weg zu den Bildern durchkreuzt, versperrt und auch noch Kinder mitgebracht, die in dem Raum mit Bällen für Lärm sorgten. In den folgenden Jahrzehnten haben die Künstler überall in Europa und Amerika den fetischisierten weißen Ausstellungsraum verstellt, als seien sie pubertierende Jugend-liche, die sich an ihren strengen Eltern abarbeiten müssten. Ausgerechnet auf ihre Angriff e folgte ein beispielloser Boom: Immer mehr Museen entstanden. Immer mehr Galerien für immer mehr Kunst. Aber Ruhe ist in die Diskussion um den Ort der Kunst nie wirklich gekommen. In der Zwischenzeit fragen sich auch Galeristen, wie die Galerie der Zukunft aussehen könnte. Schicken wir uns nicht Bilder nur noch als JPEG hin und her und schauen uns Ausstellungen in virtuellen Instagram-Welten an? Unterdessen eröff nen viele neue Kunsthandlungen, ziehen um, expandieren. Im vergangenen Jahr lud die Gagosian Gallery in ihre dritte Londoner Galerie – jetzt in Mayfair. Hauser & Wirth eröff nen im März ihre zweite Dependance in Los Angeles in einer Kornmühle. Wer mit Kunst spielen will, braucht auch im digitalen Zeitalter einen realen Raum. Und es gibt ja durchaus Beispiele, wie Galerie-architektur im 21. Jahrhundert aussehen kann, wenn man an die dunkle Kirche von Johann König in Berlin denkt. Oder an das lichte Gebäude von Capitain Petzel, die 2008 ins ehemalige „Kunst im Heim“-Gebäude der DDR auf der Karl-Marx-Allee in Berlin zogen. Oder an den Chipperfi eld-Bau der Galerie CFA. Auch Sprüth Magers eröff nen eine neue Dependance in Los Angeles Ende Februar in einem Gebäude am Wilshire Boulevard aus den späten 60er-Jahren, entworfen vom Architekten William L. Pereira. Der Glaskubus wirkt wie eine minimalisierte Korallenwabe. „Mal fast ohne Wände für Skulpturen, dann wiederum mit Wänden, die aber das Tageslicht nicht aussperren. Die Ausstel-lungsräume bieten viele Möglichkeiten zum Spielen“, schwärmt die Galeristin Philomene Magers. Sie und Monika Sprüth haben einen Preis für ihre neue Galerie gewonnen, den Design Award 2016, den das MagazinWallpaper vergibt. Der Titel der Auszeichnung lässt aufhorchen: Best New Gallery. Die beste neue Galerie? Wie sähe wohl die beste neue Galerie aus, wenn man nicht schon in ein bestehendes Gebäude einziehen müsste? Wie ein verschnörkeltes Labyrinth, in dem man in jedem Raum auf neue unbekannte Augmented-Reality-Kunstformen triff t? Marcel Duchamp wäre gewiss etwas eingefallen.

BEST NEW GALLERY

MARCEL DUCHAMPS INSTALLATION SIXTEEN MILES OF STRING IN DER AUSSTELLUNG FIRST PAPERS OF SURREALISM, 1942 IN NEW YORK

SWANTJE KARICH

Wie Galerien heute

Räumen für die Kunst des

nach neuen

21. Jahr-hunderts

suchen

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BILDNACHWEISE

Nr. 8 / Februar 2016

Titel: © FABA. Foto: Marc Domage. Editorial: S. 5: Foto: Yves Borgwardt für BLAU. Inhalt: S. 6 o. Foto: Ullstein Bild. S. 6. l.: Courtesy Josh Kline and 47 Canal, New York. Foto: Achim Hatzius. S. 6 r.: Courtesy Gagosian Gallery, New York. © 2005 – 2015 Takashi Murakami/Kaikai Kiki Co., Ltd. All Rights Reserved. Contributors: S. 8 o.: Foto: Ullstein Bild. S. 8 M.: Foto: Marcel Nöcker. S. 8 u.: Foto: Frida Steren-berg. Essay: S. 11: Courtesy of Ahmed Mater. Apéro: S. 14 l. : Foto: Jörg Potschaske. S. 14 r.: © Rijksmuseum, Amsterdam. S. 15 o.: Foto: Chris Warde-Jones. S. 15 u.: Foto: Jörg Hempel. O-Ton: S. 16 l. o.: Courtesy of Benjamin Renter. S. 16 u.: Cour-tesy Dan Halter and WHATIFTHEWORLD. Schnellste Skulpturen: S. 16 o. .r.: Foto: Ferrari. Blitzschlag: S. 18 o.: Andy Kania für BLAU/www.brigitta-horvat.com. S. 18 u.: Foto: Wolfgang Günzel für BLAU. Um die Ecke New York: S: 20: Illustration: Kristina Posselt für BLAU. S. 21 – 23: Fotos: Frida Sterenberg für BLAU. Takashi Murakami: S. 24/25: © 2012 Takashi Murakami/Kaikai Kiki Co., Ltd. All Rights Reserved. Foto: Takayama Kozo. Courtesy Mori Art Muse-um Tokyo. S. 25 u.: Foto: Okazumi Chika. Josh Kline: S. 26, S. 27: Courtesy the artist and 47 Canal, New York. Foto: Joerg Lohse. S. 28: Courtesy the artist and 47 Canal, New York. Foto: Yuko Torihara. S. 29: Foto: Courtesy the artist and 47 Canal, New York. Foto: Ben Westoby. Dichter dran: S. 30: Foto und Courtesy Ana Botezatu. Picassos Skizzenbuch: S. 33 – 49: © FABA. Fotos: Marc Domage. Ti-tel der Picasso-Zeichnungen: Zeichnung 1: S. 33: „Portrait de Jacqueline“, Bleistift. Datiert und nummeriert oben links: „9.3.56/I“. Zeichnung 2: S. 34: „Portrait de Jacqueline“, Koh-le, Kreide und Bleistift. Datiert und nummeriert oben rechts: „9.3.56/II“. Zeichnung 3: S. 35: „Portrait de Jacqueline“, Krei-de und Bleistift. Datiert und nummeriert oben rechts: „9.3.56/III“. Zeichnung 4: S. 37: „Portrait de Jacqueline“, Krei-de und Bleistift. Datiert und nummeriert unten links: „9.3.56/IV“. Zeichnung 5: S. 39: „L’atelier“, China-Tinte. Datiert und nummeriert unten rechts: „7.6.56/I“. Zeichnung 6: S. 40 o.:

„L’atelier“, China-Tinte. Datiert und nummeriert oben links: „7.6.56/II“. Zeichnung 7: S. 40 M.: „L’atelier“, China-Tinte. Da-tiert und nummeriert oben links: „7.6.56/III“. Zeichnung  8: S. 40 u.: „L’atelier“, China-Tinte. Datiert und nummeriert un-ten rechts: „7.6.56/IV“. Zeichnung 9: S. 41 o.: „L’atelier“, Chi-na-Tinte. Datiert und nummeriert oben links: „7.6.56/V“. Zeichnung  10: S. 41 M.: „L’atelier“, China-Tinte. Datiert und nummeriert oben links: „7.6.56/VI“. Zeichnung  11: S. 41 u.: „L’atelier“, China-Tinte. Datiert und nummeriert oben links: „7.6.56/VII“. Zeichnung 12: S. 43: „L’atelier“, China-Tinte. Da-tiert und nummeriert oben rechts: „7.6.56/VIII“. Zeich-nung 13: S. 44 o.: „Etude de mains“, Bleistift und China-Tinte. Datiert und nummeriert oben rechts: „11.6.56/I“. Zeich-nung 14: S. 44 M.: „Etude de mains“, Bleistift und China-Tinte. Datiert und nummeriert oben rechts: „11.6.56/II“. Zeich-nung 15: S. 44 u.: „Profi l de Jacqueline“, Graphitmine. Zeich-nung 16: S. 45 o.: „Plante“, China-Tinte. Datiert und numme-riert oben links: „17.6.56/I“. Zeichnung 17: S. 45 u.: „Plante et insecte“, China-Tinte. Datiert und nummeriert oben links: „17.6.56/II“. Zeichnung  18: S. 46 o.: „Plante et insecte“: Tu-schezeichnung mit China-Tinte. Datiert und nummeriert un-ten links: „17.6.56/IX“. Zeichnung 19: S. 46 u.: „Plante et insec-te“: Tuschezeichnung mit China-Tinte. Datiert und nummeriert unten links: „17.6.56/XI“. Zeichnung 20: S. 47 o.: „Caricature de Jaime Sabartés (Retour de Bruxelles)“, Chi-na-Tinte und Gouache. Datiert und nummeriert oben links: „17.6.56/XII“. Zeichnung 21: S. 47 u.: „Plante et insecte“, Tu-schezeichnung mit China-Tinte. Datiert und nummeriert oben rechts: „17.6.56/XIII“. Zeichnung  22: S. 49: „Plante et insecte“, Tuschezeichnung mit China-Tinte. Datiert und num-meriert oben links: „17.6.56/XIV“. Interview Sir John Richardson: S. 50: Foto: François Halard. S. 51, S. 52: © Da-vid Douglas Duncan. Courtesy Kunstmuseum Pablo Picas-so Münster. S. 53: Foto Jacqueline Roque. Courtesy Archiv Sir John Richardson. S. 55: Foto: Edward Quinn, © ed-wardquinn.com. Interview Loretta Würtenberger: S: 57:

Foto: Christian Werner für BLAU. S. 58: Foto: bpk-Images. S. 59: © George and Betty Woodman, Moderna Museet Collection. Wertsachen: S. 60 l.: Courtesy Bonhams. S. 60 r. o.: Courtesy Quittenbaum. S. 60 r. u.: Courtesy Kette-rer. S. 61 o: Courtesy Sotheby’s. S. 61 u.: Foto: Emmanuel Crooy. Kolumne: S. 62: Foto: John D. Schiff . Gift of Jacque-line, Paul and Peter Matisse in memory of their mother Ale-xia Duchamp. Courtesy Philadelphia Museum of Art. Ka-lender: S. 64 l. o.: Städel Museum, Frankfurt am Main. Foto: Städel Museum-ARTOTHEK. S. 64 M. o., S. 64 M. u. l.: Kunst-haus Zürich. S. 64 M. u. r.: Privatbesitz. S. 64 r.: Courtesy the artists and Galerie Isabella Bortolozzi, Berlin. S. 65 o.: Mus-sels: The Museum of Modern Art, New York. Partial gift of Daled Collection and partial purchase through the genero-sity of Maja Oeri and Hans Bodenmann, Sue and Edgar Wachenheimm III, Marlene Hess and James D. Zirin, Agnes Gund, Marie Josée and Henry R. Kravis, and Jerry I. Speyer and Katherine G. Farley, 2011. ©Estate of Marcel Broodtha-ers/Artist Rights Society (ARS), New York/SABAM, Brus-sels. S. 65 o.: French Fries: Private Collection, New York. © 2015 Estate of Marcel Broodthaers/Artist Rights Society (ARS), New York/SABAM, Brussels. S. 65 u.: The Museum of Modern Art, New York. Fractional and promised gift of Jo Carole and Ronald S. Lauder, 1992. ©2015 Estate of Marcel Broodthaers/Artist Rights Society (ARS), New York/SA-BAM, Brussels. S. 65 M.: Louisiana Museum of Modern Art. S. 65 r. o. : Courtesy the artist, Zagreb. Foto: Boris Cvjetano-vic. S. 65 r. u.: Courtesy of t he artist and Andrew Kreps Gal-lery, New York. Der Augenblick: S. 66: ©Lars Tunbjörk/Agence Vu/Laif

VG Bild-Kunst , Bonn 2016

Willi Baumeister, Marcel Broodthaers, Marcel Duchamp, John Heartfi eld, Hannah Höch, Pablo Picasso, Germaine Richier, Philippe Vandenberg, Jean-Pierre Yvaral

Page 33: PICASSO - Amazon S3...BLAU erscheint in der Axel Springer Mediahouse Berlin GmbH, Mehringdamm 33, 10961 Berlin +49 30 3088188–222 Nr. 8, Februar 2016 Verkaufspreis: 6,00 Euro inkl

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DER AUGENBLICKBLAU

K ALENDERUnsere TERMINE im Februar

Für die Humanisten am Florentiner Hof der Medici war es undenkbar, dass das freie Denken, das sie mit so viel künstlerischer Fantasie und Erkenntnissen über das Individuum erkämpft hatten, einmal aus der schicklichen Form geraten könnte. Aber es dauerte nicht lange, da erstarb sie wieder, die Faszination an den Formeln, die man der Antike abgeschaut hatte. Die Maler des 16. Jahrhunderts ließen die Muskeln anschwel-len, ihre Körper bogen und krümmten sich. Auf Maß folgte Maßlosigkeit, aus Geist wurde Stil, die Maniera. Die Ausstellung des Frankfurter Städel beschreibt mit Bronzino, Pontormo, Andrea del Sarto oder Vasari den Stimmungswandel einer fl orentiner Epoche, in dem die Handschrift des Künstlers wichtiger wurde als die Regeln, auf die sich das Jahrhundert zuvor geeinigt hatte. mü

„Und morgen wird ganz Zürich davon reden.“ Schon im Eröff -nungsmanifest vom Juli 1916 prophezeiten die Dadaisten Großes. Und behielten damit mehr als recht. Dada wucherte rasend schnell zur weltweiten Bewegung. Chaos, Unsinn und die Lust am abseitigen Humor waren mitten im Ersten Weltkrieg die Absage an den Wahnsinn der sich selbst zerstörenden bürgerlichen Welt des 19. Jahrhunderts. Zum 100. Geburtstag will Zürich nun an diese Sprengkraft erinnern. So vermittelt das Landesmuseum mit Sophie Taeuber-Arps bunten Kostümen und den Traumzeichnungen von Max Ernst eine Idee von der ästhetischen Spannbreite und

intellektuellen Schubkraft des Dadaismus. Das Kunsthaus widmet sich unterdes-

sen einem nie vollendeten Buchprojekt von Tristan Tzara, der sich 1921 aus aller Welt Kunstwerke und Texte zuschicken ließ. Für die Ausstellung fi nden die über

200 Versatzstücke nun erstmals in ihrem verworrenen

Gefüge zueinander. Beide Aus stellungen sind Teil des breiten Jubiläums programms, zu dem auch

die Manifesta gehört. Und wieder spricht ganz Zürich über Dada. MW

ARS VIVA, GFZK LEIPZIG

20.02. – 22.05.2016

MANIERA STÄDEL MUSEUM, FRANKFURT AM MAIN 24.02. – 05.06.2016

DA

DA

Mit dem Ars-Viva-Preis ist es wie bei Hase und Igel: Er ist meist schon vorher da. So erhielt ihn 2014 James Richards, bevor er mit dem Turner-Preis nominiert wurde. Letztes Jahr war Flaka Haliti dran, kurz darauf vertrat sie den Kosovo auf der Biennale von Venedig. Seit 1953 zeichnet der Kultur-kreis des BDI jährlich drei junge Künstler aus, mit 5.000 Euro Preisgeld und drei Ausstellungen. Neben Haliti zeigen nun Hanne Lippard und das Duo Calla Henkel & Max Pitegoff

Arbeiten, die sich im Bereich der Kommunikation und Performance bewegen: Kindheitserinnerungen, bürokratische Wendungen, SMS-Texte und Theater-möbel nehmen einen Alltag ins Visier, in dem Kommunika-tion Selbstzweck geworden ist. GB

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e in Rot (Francesca Salviati?), um

1533

Links: HANNAH HÖCH Die

Dada-Mühle, 1920.

Rechts: SOPHIE TAEUBER-ARP Porträt Hans Arp,

1918.Oben: JOHN

HEARTFIELD Doppelporträt Baader / Haus-

mann, um1910 / 20

Landesmuseum Zürich, 05.02. – 28.03.2016 Kunsthaus Zürich, 05.02. – 01.05.2016

CALLA HENKEL & MAX PITEGOFF Joe (new theater), 2012

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ENCORE

Die Anfänge reichen zurück in die Zeit des Bauhauses, wo schon Oskar Schlemmer mit den kubischen Kostümen seiner kreiselnden Figurinen ein Spektakel aufführte, dass es den Zuschauer ganz flimmrig vor Augen wurde. Seinen Nachfolgern, die sich in den 60er-Jahren unter dem Markennamen Op-Art zusammentaten, ging es um nichts anderes. Auch sie nutzten die eigentümlichen

Schwächen unseres Sehens und erzeugten mit abstrakt geometrischen Farbmustern die Illusion von Bewegung. Wenn man so will, eine Kunst der optischen Täuschung, die sich nicht wirklich ver-braucht. Noch heute steht man vor den Werken von Bridget Riley und ihrer Kollegen Victor Vasarely, Almir Mavignier oder Jesús Rafael Soto und der alte Zauber funktioniert noch immer. Wer’s nicht glaubt, kann sich im Louisiana Museum von der Eye attack der Op-Art überzeugen. MÜ

FLUIDITYKunstverein in Hamburg

30.01. – 10.04.2016

EYE ATTACK

LOUISIANA MUSEUM,

HUMBLEBAEK

04.02. – 05.06.2016

Marcel Broodthaers (1924–1976) hatte nicht viel Zeit. Erst mit 40 Jahren beschloss der Belgier, kein Dichter mehr zu sein, sondern bildender Künstler: Er versiegelte seinen letzten Gedichtband Pense-Bête mit Gips – und hatte so seine erste Skulptur. Es ist dieser subversive Esprit, der sein Werk die nächsten zwölf Jahre bis zu seinem Tod umhüllt. Was dabei entsteht, verändert die Kunstgeschichte: Broodthaers macht das Museum zum Thema seiner Kunst – als Ort in der Gesellschaft, in dem Dinge definiert, kategorisiert und ausgestellt werden. 1968 gründet er in seiner Wohnung ein eigenes Museum mit poetisch-humorvollen Installationen aus Vitrinen mit Pflanzen, Bildern, Fotografien, Waffen und ausge-stopften Tieren. Die einzelnen Objekte versieht er mit der Aufschrift „Dies ist kein Kunstwerk“: eine dialektische Anspielung auf das berühmte Bild Dies ist keine Pfeife seines Landsmannes René Magritte.

Solche Grundsatzfragen an die Kunst wirft Broodthaers

immer wieder in den Raum, stellt ihre Sinnproduktion und die Diskrepanz zwischen Bild, Wort und Bedeutung heraus, wobei er zugleich ihre Vermarktungs stragien entlarvt. Bis heute entzieht sich sein Werk jeder kunsthistorischen Einord-nung. Als Künstler in den 80er-Jahren anfangen, sich mit

Archiven, Sammlungen und dem Kontext zu befassen, in dem Kunst präsentiert wird, hat Broodthaers längst die wichtigs-ten Gedanken dazu formuliert. Das MoMA zeigt nun seine große Retrospektive. GB

Herzlichen Glück-wunsch! Seit 50 Jahren gibt es Kunst, die es eigentlich nicht gibt – oder vielmehr, die man nicht sieht. Als Erste beleuchtete die berühmte Kunsthistorikerin Lucy R. Lippard dieses Phänomen 1973 in ihrem legendären Essay Six Years – The dematerialization of the art object from 1966 to 1972. Der Gedanke, dass Kunst kein Resultat zeigen muss, sondern genauso gut Ideen und Kon-zepte vorstellen kann, richtete sich damals gegen Kommerz und Institutionen. In einer hyperver-

netzten Welt erscheint er jedoch aktueller als je zuvor. Heute refl ektieren Künstler das Flüchtige nicht mehr unbedingt als Gegenbewe-gung zum kom-merziellen Kunst-objekt, sondern als Tendenz in unserer unver-bindlichen Gesellschaft. Der Kunstverein Hamburg widmet sich dem Fluiden mit Arbeiten von Darren Bader, Jason Dodge, Maria Eichhorn, Pierre Huyghe, Lee Lozano und Mladen Stilinovi .

MARCEL BROODTHAERS

MoMA, New York14.02. – 15.05.2016

JEAN-PIERRE YVARAL Forme ambique mobius, 1970

White cabinet and white table, 1965

DARREN BADER

Goat as a microprocessor

that vomits blood to grow basil, o. J. Oben: MLADEN

STILINOVIĆAn artist who cannot speak English is no artist, 1992gb

Mussels w

ith white sauce, 1967

French Fries, 1966

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ENCORE

IN VOLLER FAHRT

Eine Fotografi e und ihr Mythos

LARS TUNBJÖRKAus der Serie Vinter, Schweden, Stockholm 2006, Cibachrome-Print

DER AUGENBLICK Entscheidende Erfi ndun-gen der Moderne aber sind Aussparung und Abstraktion. Die Fotografi e hat diese Verfahren parallel zu anderen Kunstformen entdeckt, sich lange aufgehalten mit Schatten und Unschärfen, bildschönen Vagheiten – zurzeit fortgesetzt in digitalem Pointillismus, bestens geeignet für die Jahres-gabe des Kunstvereins.

Der schwedische Fotograf Tunbjörk aber wollte woanders hin. Er schneidet in die Wirklich-keit wie in einen Eisblock, aus dem überraschenderweise eine erkennbare Form entsteht. Dieses Bild, obwohl es Vorläu-fer hat, handelt nur sehr bedingt von Menschen und Straßen. Es benennt stattdessen äußerst kühl einen bestimmten Zustand, der als Sieg der Technik über die Natur beschrieben werden könnte. Banaler gesprochen verdichtet er die Erfahrung des Autofahrens unter TÜV-siche-ren Bedingungen. Dass „Insas-sen im Fahrgastraum“ dies als Zustand der Behaglichkeit empfi nden, weiß der Fotograf natürlich auch. Gezeigt wird aber das Gegenteil, der blanke Mythos, das Unaufhaltsame der industriell-technischen Welt.

Bis ins Stockholmer Moderna Museet hat er es gebracht mit diesem Zyklus im Herbst 2007. Tunbjörk war ein getriebener Fotograf, immer dran am Entlegenen, Schrillen und Grotesken, aber nicht, wenn es von anderen zum Schauen inszeniert wurde. Sein sezierender Blick galt dem Alltag. Mit nur 59 Jahren ist Tunbjörk im vergangenen Jahr an einem Herzinfarkt gestor-ben, gestoppt in voller Fahrt.

Schweden im Winter bleibt ein herrliches Klischee. Das nordische Bilderbuch

aber hat den Schweden Lars Tunbjörk nie interessiert. Was er beobachtete, war eine weit fortgeschrittene Industriegesell-schaft, superpraktisch aufge-stellt: gut motorisiert, beschil-dert, beleuchtet und selbst-verständlich „vernetzt“. Um so schriller sieht das alles aus, wenn man den Blitz draufhält, in den Häusern und in der Natur. Eine solche fotografi sche Passion gibt sich weder familienfreund-

ULF ERDMANN ZIEGLER

lich noch patriotisch. Dafür zeigt sie Dinge, die man sonst selten zu sehen bekommt.

Aus Tunbjörks Zyklus Vinter entnehmen wir ein Bild von außergewöhnlicher Gewöhnlich-keit. Eilig von Schnee befreit, ist das silberne Fahrzeug unterwegs auf einer Straße mit bereits gefrorenem Untergrund. Auf den vorderen Sitzen ein Paar, angegurtet beide. Unwillkürlich sieht man die Außenspiegel als Zeichen einer ehelichen Symme-trie. Und viel mehr ist auf diesem Bild in der Tat nicht zu sehen.

Man kann sich natürlich noch mehr ausmalen: dass die beiden allein im Auto sind oder auf dem Rücksitz Kinder; dass sie ein kostbares Geschenk in den Händen hält oder etwas Dringendes für das Krankenhaus. Dass die beiden sprechen oder schweigen – und so weiter. Überhaupt, viele Menschen glauben, dass „Fotos Geschichten erzählen“, und es spricht wirklich nichts dagegen, Bildern eine Narra-tion zu entnehmen oder sie ihnen anzudichten.

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ERSCHEINT AM 27. FEBRUAR 2016

IN DER WELT UND DANACH IM

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Lucio Fontana, Concetto spaziale, Attesa, 1968, erzielter Preis € 1.071.400

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