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Politik und Gesellschaft des Nahen Ostens Herausgegeben von Martin Beck, Odense, Dänemark Cilja Harders, Berlin, Deutschland Annette Jünemann, Hamburg, Deutschland Stephan Stetter, Neubiberg, Deutschland

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Politik und Gesellschaft des Nahen Ostens

Herausgegeben vonMartin Beck, Odense, DänemarkCilja Harders, Berlin, DeutschlandAnnette Jünemann, Hamburg, DeutschlandStephan Stetter, Neubiberg, Deutschland

Herausgegeben vonMartin Beck ist Professor für gegenwartsbezogene Nahost-Studien an derUniversity of Southern Denmark in Odense, Dänemark.

Cilja Harders ist Professorin für Politikwissenschaft und Leiterin der„Arbeitsstelle Politik des Vorderen Orients“ am Otto-Suhr-Institut fürPolitikwissenschaft der Freien Universität Berlin, Deutschland.

Annette Jünemann ist Professorin für Politikwissenschaft am Institut fürInternationale Politik der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg, Deutschland.

Stephan Stetter ist Professor für Internationale Politik und Konfl iktforschungan der Universität der Bundeswehr München, Neubiberg, Deutschland.

Die Reihe „Politik und Gesellschaft des Nahen Ostens“ beschäft igt sich mit aktuel-len Entwicklungen und Umbrüchen im Nahen Osten – einer Region, die von ho-her globaler Bedeutung ist und deren Dynamiken insbesondere auch auf Europa ausstrahlen. Konfl ikt und Kooperation etwa im Rahmen der euro-mediterranen Partnerschaft , der Nahostkonfl ikt, energiepolitische Fragen, Umweltprobleme, Migration, Islam und Islamismus sowie Autoritarismus und Transformation sind wichtige Stichworte. Der Schwerpunkt liegt auf politikwissenschaft lichen Werken, die die gesamte theoretische Breite des Faches abdecken, berücksichtigt werden aber auch Beiträge aus anderen sozialwissenschaft lichen Disziplinen, die relevante politische Zusammenhänge behandeln.

Tanja Scheiterbauer

Islam, Islamismus und Geschlecht in der Türkei

Perspektiven der sozialenBewegungsforschung

Tanja ScheiterbauerGoethe-Universität Frankfurt am MainDeutschland

ISBN 978-3-658-02395-9 ISBN 978-3-658-02396-6 (eBook)DOI 10.1007/978-3-658-02396-6

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio-nalbibliografi e; detaillierte bibliografi sche Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.deabrufb ar.

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Vorwort und Dank

Nicht erst die jüngsten Massendemonstrationen gegen die Regierung von Minis­terpräsident Erdogan im Frühjahr/Sommer 2013 machen die Notwendigkeit über das Nachdenken des Verhältnisses von Religion, Zivilgesellschaft, Geschlecht und Demokratisierung in der Türkei allzu deutlich. Derzeitige Analysen der Si­tuation in der Türkei sind durchzogen von der polarisierten Wahrnehmung der stattfindenden gesellschaftlichen Konflikte und Wandlungsprozesse entlang der Linien Islam(ismus) versus Säkularismus. Der hier vorliegende Band möchte zu einer Verkomplizierung dieser binären Perspektive beitragen, indem er den Ach­sen verschiedener Macht- und Herrschaftsverhältnisse nachgeht und nach den Handlungsmöglichkeiten sozialer Akteur_innen fragt.

Bei dem Band handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im Februar 2010 am Fachbereich Gesellschaftswissenschaf­ten der Goethe-Universität Frankfurt a. M. eingereicht habe. Da diese Arbeit -wie wahrscheinlich viele andere - nicht einsam und allein an meinem Schreib­tisch entstanden ist, gilt es an dieser Stelle jenen zu danken, die zu ihrem Werden beigetragen haben.

Dem DFG-Graduiertenkolleg Öjfentlichkeiten und Geschlechterverhältnis­se. Dimensionen von Erfahrung sei neben der finanziellen Förderung auch für die Möglichkeit der gemeinsamen Denkarbeit zu danken: allen beteiligten Profes­sorinnen für ihre unermüdliche Lust am Diskutieren über Texte, über Arbeiten und Konzepte. In besonderer Weise gebührt dabei meinen beiden Doktormüttern Ute Gerhard und Uta Ruppert Dank. Ich hatte das Glück mit beiden auch darü­ber hinaus an Forschungsprojekten arbeiten und Unschätzbares über das wissen­schaftliche Arbeiten und Denken von ihnen lernen zu können. Den Stipendiatin­nen Anil AI-Reholz, Celine Camus, Sarah EIsuni, Eva Sänger, Hoda Salah, Uta Schirmer und Annika Taxer danke ich nicht nur für die bereichernden Diskussio­nen, sondern auch für ihre Freundschaften und ihre vielseitigen Unterstützungen.

Der Forschungswerkstatt interpretative Sozialforschung, Biographie und Geschlecht sei für die gemeinsame manchmal mühsame, aber auch freudige Zu­sammenarbeit gedankt, die für das Gelingen der Interpretation der Interviews so dringlich war.

6 Vorwort und Dank

Die Auszeichnung meiner Dissertation mit dem Cornelia Goethe Preis 2010, für den ich dem Förderkreis der Cornelia Goethe Centrums danken möchte, habe ich als wunderbare Würdigung für das Wagnis Promotion wahrgenommen.

Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des VS Verlags sei nicht nur für die Möglichkeit der Publikation gedankt, sondern auch für ihre anhaltende Geduld bei der Fertigstellung des Manuskripts.

Den Herausgeber_innen der Reihe "Politik und Gesellschaft des Nahen Os­tens" Martin Beck, Cilja Harders, Annette Jüuemann und Stephan Stetter bin ich für die Möglichkeit in selbiger erscheinen zu können zu Dank verpflichtet.

Auchjene Menschen sind zu nennen, die meinen Alltag begleitet haben, ihn in so mancher Ausnahmesituation lebbar gemacht haben und mich unermüdlich unterstützt haben.

Meinen Eltern, Anita und Winfried Esser, die nie einen Zweifel daran ge­lassen haben, dass sie meine Entscheidungen für richtig halten, auch wenn ihnen das nicht immer leicht gefallen ist. Martin Lehmann sei dafür gedankt, dass er mich gerade in der Endphase der Promotion darin bestärkt hat, den eingeschla­genen Weg weiter zu verfolgen und Zweifel am eigenen Arbeiten - zumindest für eine Weile - in Zaum zu halten. Malte Meyer ist für seine unschätzbare Hilfe sowie für seine kritischen und klugen Kommentare beim FertigstelIen der Arbeit zu danken. Marcus Meier, dem mein ganz besonderer Dank gilt, weil mit ihm ge­meinsames Leben, Arbeiten und wissenschaftliches (Nach-)Denken möglich war.

Schließlich möchte ich mich auch bei den Menschen bedanken, denen ich in der Türkei begegnet bin. Nicht nur bei meinen InterviewpartuerInnen, die ihre Erfahrungen und ihr Wissen so großzügig mit mir geteilt haben. Erst ihre Bereit­schaft, mir dies anzuvertrauen, hat diese Arbeit ermöglicht. Mein Dank gilt auch Nalan Özdemir und Mithat Sancer, die mich in der Türkei mit so vielen Menschen bekannt gemacht haben, mich bei der Suche nach Antworten unterstützt haben und den Aufenthalt in der Türkei durch ihre Freundschaft zu einer unschätzba­ren Erfahrung für mein Leben gemacht haben.

Inhalt

Vorwort und Dank ............................................................................................ 5

Einleitung .......................................................................................................... 9

1. Islamismusforschung und soziale Bewegungsforschung ....................... 17

1.1 Islamismus: Leitfragen und Perspektiven der Forschung .................. 17

1.2 Islamismus als religiös motivierter Aktivismus? Ansätze der Sozialen Bewegungsfurschung ............................................................ 41

1.3 Islamismus als soziale Bewegung: Konturen einer analytischen Annäherung ......................................................................................... 57

2. Religion und Staat in der Türkei ............................................................. 67

2.1 Der Islam zwischen Nationalismus und Laizismus: Zu einem ambivalenten Verhältnis im Zeichen des kemalistischen Nation-Building ............................................................................................... 69

2.2 Türkische Frauen als politische Akteurinnen oder symbolische Ikonen des Zivilisationswechsels? Nation-Building und Geschlechterverhältnisse .................................................................... 73

2.3 Islam national? Zu den Konstitntionsbedingungen des Islamismus in den 1980er-Jahren ........................................................ 77

2.3.1 Verschiebungen im ökonomischen und politischen Feld nach dem Militärputsch 1980 ................................................... 78

2.3.2 Gesellschaftliche Restrukturierungen als neue Gelegenheiten und Chancen für religiöse Akteurinnen ........... 82

2.4 Die Refah PartlSl zwischen Graswurzelaktivismus und Marktliberalismus ............................................................................... 93

2.5 Der "stille Putsch" 1997: Zur Rekonfiguration des tiirkischen Laizismus ............................................................................................ 98

8 Inhw!

2.6 Die Folgen der Militärintervention von 1997 für die Neufurmierung der islamistischen Bewegung ................................. 101

2.7 Die AKP als Botin einer ,nach-kemalistischen' Ära? ...................... 103

3. Die islamistische Frauenbewegung in der Türkei ............................... 111

3.1 Feldzugang und Methode .................................................................. 113

3.2 Politikziele und Handlungsfeider ...................................................... 117

3.3 Organisations- und Aktionsformen .................................................. 118

3.4 Islamistische Kritiken am kernalistischen Laizismus ...................... 130

3.5 Strategien für einen Systemwandel .................................................. 137

3.6 Die Geschlechterordnung und ihre bewegungsinternen Thematisierungsweisen ..................................................................... 140

3.7 Traditioneller versus moderner Islam: Religion im Prozess kollektiver Identitätskonstruktion ..................................................... 149

3.8 Neue Handlungsräume durch islamische Wissensproduktion? ....... 154

3.9 Kopftuchpolitiken ............................................................................. 163

3.10 Von der ,gerechten Ordnung' zu Menschenrechten und Demokratie? Zum Wechselverhältnis von Framing-Prozessen und gesellschaftlichen Kontextstrukturen ........................................ 177

3.11 Islamistischer Aktivismus und Feminismus: Zwischen solidarischer Bezugna1tme und Abgrenzung ................................... 180

Schlussbemerkungen .................................................................................... 191

Literatur .......................................................................................................... 199

Einleitung

Das Auftreten verschleierter Musliminnen in der Öffentlichkeit ist das markan­teste Symbol rUr die islamistische Durchdringung von Alltag und Politik in der Türkei. Die Demonstrationen von Studentinnen gegen das Kopftuchverbot an tiir­kischen Universitäten, die Verbreitung islamistischer Frauenzeitschriften sowie die Entstehung zahlreicher islamistischer Frauenorganisationen und - gruppen sind Indizien für die Präsenz und die politische Gestaltungskraft einer islamisti­schen Frauenbewegung. Derweil wird in Politik, Medien und Wissenschaft um die Interpretation der politischen und religiösen Bedeutung des Islamismus im All­gemeinen sowie des Kopftuchs im Besonderen gerungen. Bis Mitte der 1990er­Jahre war in der Forschung über Islamismus die Tendenz vorherrschend, diesen als die islamische Variante einer fundamentalistischen, anti-demokratischen und frauenfeindlichen Bewegung zu deuten. Kopftuch tragende Frauen erschienen in diesen Debatten zum einen als Opfer islamistischer Kontrollpolitiken und das Kopftuch selbst als das zentrale Symbol der dem Islam vermeintlich inhärenten, Frauen unterdrückenden Praktiken. Zum anderen wurden Islamistinnen - wenn es um die Erklärung ihrer freiwilligen Partizipation in diesen Bewegungen ging - als Mitläuferinnen dieser Bewegungen betrachtet, weshalb es gelte, sie von ih­rem falschen Bewusstsein zu befreien. Erst dadurch würden sie bef""ahigt, sich ge­gen ihre eigene Unterdrückung zur Wehr zu setzen.

Demgegenüber wurden die Weichen in den Studien der Frauen- und Ge­schlechterforschung der späten 1990er Jahre scheinbar umgestellt: Islamistische Frauenbewegungen treten nunmehr als neue politische Akteurinnen auf, die ihren Zugang zur politischen Bühne einfordern. Die Schleier bzw. Kopftuch tragenden Frauen werden als selbstbewusste autonome Subjekte identifiziert, die sich durch ihre eigenwillige und eigenständige Interpretation der religiösen Quellen neue Handlungsräume und - möglichkeiten erschließen. In den Politiken und Prakti­ken islamistischer (Frauen-)Bewegungen drücke sich die Suche nach einer authen­tischen Identität aus, die sich gegen die universalisierende und - im Hinblick auf die Staaten des Trikont - ausschließende Dynamik der (westlichen) Moderne zu wehren sucht (vgl. Samandi 1997). Das Kopf tuch könne demnach nicht mehr als Selbstunterwerfung unter die Normierungen einer traditionalistischen Religion

10 Einleitung

interpretiert werden, sondern müsse als Zeichen einer modernen, weiblichen Iden­titätspolitik und als Bestandteil einer modemen islamischen Lebensweise konzi­piert werden, die einen dritten Weg jenseits der dichotomen Chiffrierung "tradi­tionell/rückständig" versus "westlich/fortschrittlich" eröffne (vgl. Ilyasoglu 1994).

Diese jüngsten theoretischen Suchbewegungen bieten nicht nur deshalb neue Erkenntnisse, weil sie nach den Subjektivierungsweisen und Identitätspolitiken religiöser Frauen fragen und dabei ältere Ansätze überwinden, die in der orienta­listischen Lesart der unterdrückten, Kopftuch tragenden Muslimin gefangen blie­ben. Sie knüpfen darüber hinaus an ein neueres Forschungsgebiet an, in dem der Bedentung islamistischer Bewegungen als zivilgesellschaftlicher Kraft nachge­gangen wird (vgl. u. a. Hawthorne 2004; Ibrahim 2000). Islamistische Bewegun­gen werden in diesem Zusammenhang als Teil des ,Booms' sich organisierender zivilgesellschaftlicher Kräfte erachtet, die sich in den letzten zwei Jahrzehnten in den islamisch geprägten Staaten Nordafrikas und des Nahen und Mittleren Ostens herausgebildet haben. Während sich die mediale Öffentlichkeit im Wes­ten in ihrer Berichterstattung insbesondere auf die militante Gewalt und die ille­galen Untergrundorganisationen islamistischer Bewegungen konzentriert, wird dem nicht-militanten Großteil dieser Bewegungen wenig Aufmerksamkeit zu­teil. Gefragt wurde deshalb, inwiefern islamistische Bewegungen in den Staaten des Nahen und Mittleren Osten als gesellschaftliche Kräfte gelten konnten, die durch ihre Opposition zu den autokratischen Machthabern und durch ihre Dis­tanz zu den als korrupt erachteten politischen Parteien eine Öffnung des politi­schen Systems erwirken könnten.

In den jüngsten Umbrüchen in Nahost und Nordafrika seit Anfang 2011 ha­ben reformorientierte islamistische Gruppierungen durchaus eine Rolle gespielt - wenn auch medial wenig sichtbar oder hörbar -, indem sie sich in den verschie­denen Oppositionsbewegungen engagiert haben (vgl. Rosiny 2012).

Die Ursachen för die derzeitige Stärke islamistischer Parteien in den Über­gangsregierungen wie z. B. in Tunesien und Ägypten sind nicht nur darauf zu­rückzuführen, dass diese Parteien die von den autoritären Regimen unerfüllten normativen Forderungen nach Partizipation, Wohlfahrt und Gerechtigkeit immer wieder aufgegriffen und islamisch ausgedeutet haben (vgl. a. a. 0.: 5). Zudem ha­ben sich aus den Aktivitäten der verschiedenen islamistischen Gruppierungen und Bewegungen in den Ländern der Region sehr heterogene und nicht immer mitei­nanderverbundene zivilgesellschaftliche Netzwerke entwickelt, die Sozialarbeit, Bildung und Wirtschaftsförderung dort anbieten und mit islamischen Werten ver­bunden haben, wo sich die Staaten in den 1980er und 1990er aus ihrer wohlfahrts­staatlichen Rolle zurückgezogen haben (vgl. Bayat 2005: 898).

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In den Studien der Frauen- und Geschlechterforschung wird zwar betont, dass säkulare Feministinnen der Region der Vorstellung skeptisch bis ablehnend gegenüber stehen, islamistische Bewegungen könnten zum Prozess der Demokra­tisierung beitragen. Dennoch tendieren neuere Arbeiten in Anlehnung an oben angeführte Forschungen über islamistische Identitätspolitiken auch dazu, isla­mistische Frauenbewegungen als neue Form eines autochthonen Feminismus zu bewerten (vgl. u. a. Badran 2002).

Doch auch wenn hier neue Lesarten für die Partizipation von Frauen in isla­mistischen Bewegungen vorgeschlagen werden, wird die Entstehung des Mobili­sierungspotentials von Frauen weiterhin lediglich als Reaktion auf strukturelle -mit Entwertung und Statusverlust verbundene - oder kulturelle - mit Zerstörung des traditionell religiösen Milieus einhergehende -Modemisierungsprozesse in­terpretiert. Demnach sei der islamistische Protest als Ausdruck und als Ventil von Exklusions- und Depravierungserfahrungen zu verstehen, die sich fundamental auf die Konstruktion und Konstituierung der Geschlechterverhältnisse auswirk­ten: Die Retraditionalisierung der Geschlechterverhältoisse habe die Funktion, die durch den rapiden sozialen Wandel hervorgerufenen Formen der Desintegra­tion zu kompensieren (vgl. Kreile 1999).

Am Beispiel der Türkei soll im Rahmen dieser Arbeit nun gezeigt werden, dass strukturelle Umbrüche und gesellschaftliche Transformationsprozesse zwar als notwendige Bedingungen für die Entstehung islamistischer Bewegungen gelten können, diese aber nicht hinlänglich begründen. Gerade aus einer geschlechtssen­siblen Betrachtungsweise gelingt es in diesem Bezugsrahmen kaum, die spezifi­schen Problemlagen von Frauen und die konfiikthaften Formen geschlechtsspe­zifischer Vergesellschaftung, die sich in islamistischem Aktivismus ausdrücken (können), zu berücksichtigen.

Der Islam wird in diesen Erklärungsmodellen entweder als kulturelle Textur der gesellschaftlichen Verhältoisse der Länder Nordaftikas und des Nahen und Mittleren Osten gedeutet, die dann reaktiviert wird, wenn Prozesse der Moder­nisierung und Entwicklung fehlschlagen. Oder es wird von einer Ideologisierung und Politisierung des Islam ausgegangen, der seiner religiösen und sozialen We­senhaftigkeit entkleidet und als Instrument der Indoktrinierung missbraucht wird. Beide Varianten verkürzen die Bedeutung von Religion in sozialen Bewegungen auf ein unveränderbares Überbauphänomen, das unberührt bleibt von sozialen Prozessen. Der Islam wird dabei auf einen essentiellen Korpus von Aussagen re­duziert, der das Handeln und die normativen Orientierungen von MuslimInnen determiniert.

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Um aber der Bedeutung von Religion in sozialen Bewegungen nachzugehen, müssen - so die Ausgangsthese der hier vorliegenden Arbeit - die vielfältigen und heterogenen Formen der lrulturellen Bearbeitung des Islam in deu Blick genom­men und die politischen Kämpfe um deren hegemoniale Deutungsweise untersucht werden. Daraus erwachsen entscheidende Verschiebungen für die Frage nach der Konstituierung und Konstruktion von Geschlecht und Geschlechterverhältnissen in islamistischen Frauenbewegungen und durch sie: Geht es in einem Großteil der Studien darum, ob der Islam überhaupt ein emanzipatorisches Potential für das Projekt der Geschlechtergleichheit und - gerechtigkeit aufzuweisen hat und wie dieses ausfindig gemacht werden kann, steht in der hier vorgeschlagenen Vorge­hensweise die Frage im Zentrum der Analyse, wie und in welchen Formen sich islamistische Frauenbewegungen herrschenden Geschlechterverhältnissen wider­setzen bzw. an ihrer Herstellung und Reproduktion partizipieren.

Die vorliegende Stndie möchte die komplexen Wechselwirkungen von Isla­mismus und Geschlechterverhältnissen sichtbar machen und bewegt sich deshalb auch theoretisch im Schnittfeld von Islamwissenschaft, sozialwissenschaftlicher Bewegungsforschung und Geschlechterforschung. Zwar gibt es mittlerweile eini­ge Arbeiten über islamistische Bewegungen, die sich an der sozialen Bewegungs­forschung orientieren (vgl. u. a. Göle 1995; Wiktorowicz 2004b; Yavuz 2003; Ba­yat 2005; Bayat 2007). Die bisher gebauten Brücken über die wissenschaftliche Kluft zwischen Islamwissenschaft und sozialer Bewegungsforschung können aber bestenfalls als Rohbauten bezeichnet werden. AsefBayat, der diesen Brü­ckenbau bisher wohl am weitesten gettieben hat, heisst die bisherigen Versuche sehr willkommen, auch wenn sie in seinen Augen die Tendenz aufweisen, sich der Instrumente der Bewegungsforschung eher zu bedienen, als sich mit diesen kritisch auseinander zu setzen und diese weiter zu entwickeln (vgl. Bayat 2005: 2). Gesellt sich zudem die Frage nach Geschlecht und Geschlechterverhältnis­sen in islamistischen Bewegung hinzu, bietet das bisherige Gerüst kaum begeh­bare Übergänge.

Die Arbeit beginnt deshalb in Kapitel I mit der Suche nach einem begriff­lichen und kategorialen Rahmen für eine geschlechterkritische Analyse islamis­tischer Frauenbewegungen. Dabei werde ich im ersten Teil des Kapitels das in der Islamismusforschung vorherrschende Verständnis von Islamismus diskutie­ren, das jenen Arbeiten zugrunde liegt, die sich der Frage nach den Entstehungs­ursachen islamistischer Bewegungen sowie der Frage nach der politisch neuen Bedeutung dieser sozialen Akteurinnen widmen. Angelegt wird dabei eine Art doppelter Suchfilter, der diese Arbeiten zum einen danach durchsieht, wie die Rolle und Funktion des Islam in der bisherigen Forschung über Islamismus kon-

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zipiert wurde und zum anderen, inwiefern diese Arbeiten geschlechterkritische Erklärungsmodelle zur Verfügung stellen, um die Partizipation von Frauen in islamistischen Bewegungen zu deuten. Der zweite Teil des Kapitels verf"ährt in ähnlicher Weise und fragt nach den Anschlussstellen der Islamismusforschung an die soziale Bewegungsforschung. Auch hier gilt es, die Ansätze dahingehend zu durchleuchten, wie das Verhältnis von Religion und sozialer Bewegung ge­fasst werden kann. Besonderes Augenmerk soll hierbei auf jene feministischen Ansätze gelegt werden, die versuchen, die bisherigen konzeptionellen und theo­retischen Verkürzungen der male-stream Bewegungsforschung zu benennen und !Ur die Analyse von Frauenbewegungen weiterzuentwickeln. Herausgearbeitet wird dabei, dass die länderspezifischen, durch staatliche Politiken konstitnier­ten Kontextstrukturen einen systematischen Bezugspunkt für das Verständnis der Entstehungszusammenhänge und Verlaufsformen von Frauenbewegungen darstellen. Zudem gewährt der Blick auf das politische System auch einen Aus­blick auf das konstitntive Wechselverhältnis von Staat, Islam und Geschlechter­verhältnissen.

Aufbauend auf dem bisher entwickelten begrifflichen und theoretischen Ins­trumentarium soll in den folgenden Kapiteln 2 und 3 diese Wechselbeziehung im konkreten Fall der Türkei nachgezeichnet werden. Das Kapitel 2 folgt den Spuren, die das Verhältnis von Laizismus, Staat und Islam inklusive seiner geschlechts­spezifischen Einschreibungen seit der Gründung der Republik hinterlassen hat. Entlang dieser Rekonstruktion soll verdeutlicht werden, dass der mit der Grün­dung der tiirkischen Republik in die staatliche Verfasstheit eingelassene Laizis­mus nicht als statischer und historisch unveränderlicher Ausschluss von Religi­on sowie von religiösen Kräften aus Öffentlichkeit und Politik zu betrachten ist. Gerade die nach dem Militärputsch 1980 vollzogenen politischen und ökonomi­schen Transformationsprozesse sind als Neubestimmung des Verhältnisses von Religion und Staat zu begreifen, in dessen Folge islamistischen AkteurInnen er­weiterte öffentliche Handlungsräume eingeräumt wurden. Die Herausbildung des Islamismus als sozialer Bewegung kann also - so das Argument dieses Kapitels - nicht modernisierungstheoretisch auf eine "Wiederkehr des Religiösen" redu­ziert werden. Vielmehr ist die politische Dimension dieser Prozesse dahingehend zu untersuchen, ob staatliche Politik den Islam selbst in den Dienst genommen hat, um bestehende Herrschaftsverhältnisse aufrecht zu erhalten. Inwiefern sind im Zuge dessen auch Strukturen und Räume für das kollektive Handeln islamis­tischer Akteurinnen entstanden? Aufgelöst wird aus dieser Perspektive auch die dichotomisierte Gegenüberstellung des säkularen tiirkischen Staates als Wegbe­reiter der Frauenemanzipation auf der einen Seite und des Islamismus als Inbegriff

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eines islamischen Patriarchats. Gefragt wird stattdessen nach den geschlechts­spezifischen Konfiiktlinien, die diese (politisch regulierten) Transformationspro­zesse hervorgebracht haben und danach, wie diese innerhalb der islamistischen Frauenbewegung artikuliert werden.

Aufbauend auf den empirischen Daten, die während mehrerer Forschungs­aufenthalte in der Türkei gesammelt werden konnten, unternimmt das Kapitel 3 den Versuch, die Organisationsformen, Handlungsfelder und Politikziele der is­lamistischen Frauenbewegung theoriegeleitet zu veranschaulichen. Als Materi­albasis hierfür dienen leitfadenorientierte Expertinneninterviews, die mit Akti­vistinnen verschiedener islamistischer Frauenorganisationen und - gruppen in Istanbul und in Ankara geführt wurden. Das Kapitel will dabei zum einen Ein­blick in die verschiedenen Aktions- und Organisationsformen der wichtigsten is­lamistischen Frauengruppen vermitteln. Zum anderen sollen in der Heterogenität dieser Bewegung die verschiedenen Diskurs- und Handlungsfelder sichtbar wer­den. Dabei gilt es zum einen zu fragen, inwiefern Geschlecht und Religion als ge­sellschaftliche Konfiiktlinien diskutiert und verhandelt werden und welche Hand­lungsstrategien demgegenüber entworfen werden. Bezogen auf das begriffliche Instrumentarium der sozialen Bewegungsforschung soll die Rolle von Religion und Geschlecht im Prozess der Herstellung einer kollektiven Identität untersucht werden. Zugleich unternimmt das Kapitel den Versuch, die diskursiven Weiter­entwicklungen innerhalb der Bewegung zu rekonstrnieren. Dies geschieht anhand von zwei zentralen Handlungsfeldem der islamistischen Frauenbewegung: Dem Kampf gegen das Kopftuchverbot sowie den Auseinandersetzungen um den Fe­minismus. Es wird aufzuzeigen sein, wie sich der in Kapitel 2 geschilderte Wan­del gesellschaftlicher Kontextstrukturen auf die Debatten und Strategien der Be­wegung ausgewirkt hat und welchen Einfluss jene auf die Aushandlungsformen von Geschlecht und Ialam haben.

Bereits die Vielfalt der in Medien und Wissenschaft verwendeten Begriffe wie "islamischer Fundamentalismus", "Integrismus", "politischer Islam", "isla­misches Wiedererwachen", "islamische Renaissance", ,,(Re-)Islamisierung" oder in jüngster Zeit "Jihadismus", "Salafismus" etc. machen deutlich, wie kontrovers das Phänomen religiös motivierter politischer Partizipation in Wissenschaft und Medien diskutiert wird. Trotz der inzwischen jahrzehntenIangen Debatten und der Fülle an Studien über Islamismus in der MENA-Region1, scheint weiterhin soviel Unsicherheit zu bestehen, dass grundlegende Fragen noch nicht geklärt

Ich übernehme hier den in der amerikanischen Forschung gebräuchlichen Begriff MENA­Region (Middle East and North Africa), der die Länder des Nahen Ostens, Nordafrikas und die Türkei umfasst.

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werden konnten: In welchem Zusammenhang stehen gesellschaftlicher Wandel und Islamismus in diesen Ländern? Ist der Islamismus als eine Blockierung der Transfurmationsprozesse zu verstehen oder eher als Transfurmationspotential? Handelt es sich dabei um religiöse Bewegungen oder um soziale Bewegungen in islamischem Gewand? Stellen islamistische Bewegungen einen spezifisch religi­ösen Typus sozialer Bewegungen dar?