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Praeteritopraesentia Revisa von C. Soeteman Von jeher sind die Präteritopräsentia eine Glanznummer unserer historischen Grammatik gewesen. Die indoeuropäische Dreiteilung nach dem Aspekt derVergangenheitstempora Imperfektum,Perfektum und Aoristus war in den germanischen Sprachen als solche unter gegangen, auch die Formen des Imperfektums waren untergegangen und eine Kontamination von Perfektum und Aoristus hatte das eine nach Aktionsart undifferenzierte starke Präteritum der germanischen Sprachen ergeben. Die Ansicht Jacob Grimms und der Jung grammatiker, daß dieses eigentlich nur ein Perfektum sei mit ver schieden zu beurteilenden, zum Teil gemeingermanischen, zum Teil erst südgermanischen Störungen, ist in unserem Jahrhundert be sonders durch Sverdrup jener wohl richtigen Erkenntnis von dem Kompromiß zwischen perfektischen und aoristischen Formen inner halb des germanischen Präteritums gewichen. Aber in den Präterito präsentia hatte sich das indoeuropäische Perfektum in Reinkultur erhalten - weshalb gelegentlich denn auch der Name Perfektoprä- sentia ausdrücklich vorgezogen wird, so von Mossé in seinem ,Manuel de la Langue Gotique' („On dit aussi, mais à tort, verbes ,prétérito-présents‘ “). Sogar die Form auf -t der 2. Person Einzahl - im starken Präteritum des Südgermanischen gefallen als ein Opfer entweder der Aoristitis oder der Konjunktivitis - hatte sich hier behauptet, und in FoiSa, Fouffla, FoiSe; wait, waist, wait; ich weiß, du weißt, er weiß, wie in deren Schwundstufenpluralformen, feierten die ausnahmslosen Lautgesetze einen ihrer schönsten Triumphe. Aber auch die Aspektlehre fand sich glänzend bestätigt. „Le parfait i.-e.“, sagen Jolivet und Mossé in ihrem ,Manuel de l’Allemand du Moyen Age', „indiquait l’état résultant de l’achèvement complet 137

Praeteritopraesentia Revisa - OPUS 4 · entweder der Aoristitis oder der Konjunktivitis - hatte sich hier behauptet, und in FoiSa, Fouffla, FoiSe; wait, waist, wait; ich weiß, du

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Praeteritopraesentia Revisa

von C. Soeteman

Von jeher sind die Präteritopräsentia eine Glanznummer unserer historischen Grammatik gewesen. Die indoeuropäische Dreiteilung nach dem Aspekt derVergangenheitstempora Imperfektum,Perfektum und Aoristus war in den germanischen Sprachen als solche unter­gegangen, auch die Formen des Imperfektums waren untergegangen und eine Kontamination von Perfektum und Aoristus hatte das eine nach Aktionsart undifferenzierte starke Präteritum der germanischen Sprachen ergeben. Die Ansicht Jacob Grimms und der Jung­grammatiker, daß dieses eigentlich nur ein Perfektum sei mit ver­schieden zu beurteilenden, zum Teil gemeingermanischen, zum Teil erst südgermanischen Störungen, ist in unserem Jahrhundert be­sonders durch Sverdrup jener wohl richtigen Erkenntnis von dem Kompromiß zwischen perfektischen und aoristischen Formen inner­halb des germanischen Präteritums gewichen. Aber in den Präterito­präsentia hatte sich das indoeuropäische Perfektum in Reinkultur erhalten - weshalb gelegentlich denn auch der Name Perfektoprä- sentia ausdrücklich vorgezogen wird, so von Mossé in seinem ,Manuel de la Langue Gotique' („On dit aussi, mais à tort, verbes ,prétérito-présents‘ “). Sogar die Form auf - t der 2. Person Einzahl - im starken Präteritum des Südgermanischen gefallen als ein Opfer entweder der Aoristitis oder der Konjunktivitis - hatte sich hier behauptet, und in FoiSa, Fouffla, FoiSe; wait, waist, wait; ich weiß, du weißt, er weiß, wie in deren Schwundstufenpluralformen, feierten die ausnahmslosen Lautgesetze einen ihrer schönsten Triumphe. Aber auch die Aspektlehre fand sich glänzend bestätigt. „Le parfait i.-e.“, sagen Jolivet und Mossé in ihrem ,Manuel de l’Allemand du Moyen Age', „indiquait l’état résultant de l ’achèvement complet

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d’une action, donc un état présent.“ Die etymologische Identität mit lat. videre erlaubte es dann, die Grundbedeutung von wait ohne die geringste Unsicherheit zu bestimmen als ,ich befinde mich im Zustande des Gesehenhabens“, was, eine optimistische Anthropologie vorausgesetzt, zu der Bedeutung ,ich weiß“ führen mußte. Der Name Präterito- bzw. Perfektopräsentia hat lange als zutreffend und unantastbar gegolten; er befindet sich in der letzten Zeit, um im Stile unseres Themas zu bleiben, „im Zustande des Kritisiertseins“ . Nicht daß S. Gutenbrunners Frage „Läßt sich der Ausdruck .Präteritopräsentia“ verdeutschen?“ (Archiv 111, 1960) etwa durch wissenschaftliche Kritik eingegeben worden wäre. Wohl behauptet auch er: „Besser würde man sagen ,Perfektopräsentia“, denn das starke Präteritum ist ein altes Perfektum. Aber unhandlich ist auch dieser Ausdruck - ,Präteritopräsentia“ freilich ist zungen­brechend. Zur Erholung des Vortragenden wie des Hörers wäre eine Verdeutschung willkommen, die die Möglichkeit öffnet, den Aus­druck zu variieren.“ Da er selber es nun an jedem auch nur halbwegs tragfähigen Vorschlag fehlen läßt, so hoffe ich selber, meinen Vor­trag beendet zu haben, bevor ich Ihre Ohren ermüdet oder gar meine Zunge gebrochen haben sollte. Dem ist wohl auch nicht abzuhelfen durch Übertragung des Ausdrucks, den die niederländische Schul­grammatik für Präteritopräsentia verwendet: Verba met opgeschoven verleden tijd, mit aufgeschobener oder aufgerückter Vergangenheit oder Vergangenheitsform; man könnte sich zur Not noch vorstellen mit zurückgezogener Vergangenheitsform. Aber solange wir unsere Auffassung von diesen Zeitwörtern nicht ändern, wird wohl auch ihre Benennung eine unter den vielen unheilbaren, aber relativ harm­losen Krankheiten unseres Faches bleiben.Wir kehren zu dem fraglichen perfektischen Charakter der in Rede stehenden Verben zurück. Da ist allerdings das Zeitwort wissen das dankbarste Demonstrationsexemplar unter den im ganzen gar nicht so einförmigen und eindeutigen Präteritopräsentia. Verhalten sich doch wait-witum vollkommen parallel zu bait-bitum. Ja, das sonst überall dem Untergang verfallene Präsens blieb neben den Vergangen­heitsformen wait-witum unversehrt bewahrt in got. fraweitan und inweitan, strafend bzw. verehrend anblicken, ahd. wî\an,farwî^an, mhd. verwiegen, nhd. etymologiefremd auf weisen bezogen zu verweisen mit stimmhaftem s. Im Niederländischen schützte das ja unverschobene t die alte Form und lautet das übliche Verb für ,einem etwas vor­

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werfen' immer noch verwijten. Ja, das Simplex wißen ist noch durchaus lebendig, und aan iemand iets wißen bedeutet Jemandem die Schuld an etwas zuschreiben', besonders mit sachlichem „Dativobjekt“, wobei, weil das Niederländische ja keine Kasus kennt, dieses in der Um­schreibung mit der Präposition aan erscheint: aan welke omstandigheid (oder: waaraan) is f i jn fa len te wißen ? ,welchem Umstand (nicht: woran! gefährliche Übersetzungsklippel) ist sein Versagen zuzu­schreiben?' Dieses?«//«/, dessen Grundbedeutung anseben, nämlich inbe­schuldigender Absicht, und dessen Identität mit lat. videre uns nunmehr wieder erinnerlich sind, bildet in Übereinstimmung mit der starken Ver­balklasse, wozu es gehört, die Vergangenheitsform weet: wjten-weet, wie bijten (beissen)-iw/, welches ik w eethovaonym ist m it ik w e e t - , ich weiß'. Damit liefert das Niederländische noch zusätzliches und schlagendes Material zur vergleichenden Morphologie der Präteritopräsentia. Außer bei wissen ist sonst von dem untergegangenen Präsens be­kanntlich nirgends mehr die Rede, was die vielfach angestrebte Einordnung der Präteritopräsentia in das starke Verbalsystem erheblich erschwert. Diese Einordnung ist ja eines der Themen, welche die historische Grammatik bei den Präteritopräsentia zu behandeln pflegte: wissen 1. Klasse, dürfen 3. Klasse usw. Ein zweites ist ihre bedrohte Existenz. Ihre für das Urgermanische anzusetzende Anzahl hat sich allmählich verringert. Die gotischen lais und man kommen im Deutschen nicht vor, ganah und aib nur noch in althoch­deutschen Resten, touc-tugen undgan-gunnen haben sich neuhochdeutsch ganz der regelmäßigen Flexion angeschlossen, tar-turren ist aus dem Hochdeutschen verschwunden und im Niederländischen verschmol­zen mit darf-diirfen, was da das ganz regelmäßige Zeitwort durven ergeben hat, das von tunen die Bedeutung ,wagen' und das neben durfde gelegentlich vorkommende Imperfekt ik dorst ,ich wagte' übernommen hat. Die Präsensmerkmale der Präteritopräsentia zeigen im Niederländischen nur noch drei der ursprünglichen Gruppe: ■gal-fidlen, kan-kunnen, mag-mogen. Gegenüber den Verlusten stellt das Zeitwort wollen im Südgermanischen einen Zuwachs dar, der formaliter - und modaliter, worüber noch zu sprechen sein wird - interessant genug ist. Seine 2. Person Einzahl lautet du wilt von Williram bis Mörike; bei letzterem ist die Form gesichert durch den Reim in dem bekannten Gebet:

Herr! schicke, was du willt, Ich bin vergnügt, daß beidesEin Liebes oder Leides; Aus deinen Händen quillt.

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Aber dieses - t beruht ja nicht auf lautgesetzlicher Entwicklung, sondern ist ein Resultat der Symbiose von wollen mit den Präterito- präsentia, welche gerade durch das legitime Fehlen des t in der 3. Person Einzahl wie in der 3. Person Mehrzahl gefördert sein wird. Die ,neugebildeten' schwachen Imperfektformen, wie wesse, wisse, wiste, wüste, dann durfte und all die andern, lassen wir als Formen hier zwar außer Betracht, aber wir wollen das Vorhandensein dieser Ver­gangenheitsformen keineswegs verdunkeln, besonders weil es gerade neuerdings eine Rolle gespielt hat in einer Kritik an der Darstellung der Präteritopräsentia in beschreibenden, also synchronischen Grammatiken.Mein Leidener Kollege, der Niederlandist Stutterheim, geht von den richtigen Voraussetzungen aus, es sei erstens „kein wissenschaftlicher Bericht über Sprachveränderungen möglich, wenn wir nicht rein synchronische Beschreibungen einer Anzahl Sprachphasen haben“ ; auch eine tote Sprache müsse „völlig synchronischdargestelltwerden, - also so, wie sie war, als sie gesprochen wurde, ohne sie mit anderen Sprachen zu vergleichen (oder) von einer früheren Sprachphase auszugehen“. Zweitens pflichtet er dem Vorwurf bei, den die post- Saussuresche Linguistik der historischen Grammatik des 19. Jahr­hunderts gemacht hat, dem Vorwurf einer ,atomistischen‘ Betrach­tungsweise nämlich, wobei „die Entwicklung der Laute als selb­ständiger Entitäten beschrieben wird, ohne daß man auf das System Rücksicht nimmt, in dem sie fungieren“. Mir selbst ist immer, als brauche man im Gedicht „Das Knie“ von Morgenstern nur Knie durch Kant zu ersetzen, um das strukturalistische Bedenken gegen dieses atomistische Verfahren blitzartig beleuchtet zu sehen: Ein Kaut geb t einsam durch die Welt. Er ist ein Kaut, sonst nichts ! Stutterheim hat schon mindestens zweimal auf die Hartnäckigkeit veralteter An­schauungen oder doch Terminologien in zeitgenössischer Sprach- beschreibung aufmerksam gemacht, einmal in englischer Sprache in der Zeitschrift Lingua (IX, 1960): „Structuralism and Reconstruction“, einmal deutsch in dem von ihm gehaltenen Hauptreferat des Amster­damer Germanistenkongresses 1965: „Diachronische Traditionen in synchronischen Grammatiken“. Schon das seinem erstgenannten Aufsatz vorangestellte „Summary“ fängt mit den Worten an: „In tliis article an attempt is made at a purely synchronic description of the Primitive Germanic verbs, in which the use of such diachronically coloured terms as ,preterite-present‘ and ,aorist-present' is avoided“,

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welches Bekenntnis sieben Seiten weiter die Form eines ,ceterum censeo‘ annimmt: „One thing is certain: the term ,preterite-present‘ will have to disappear from the descriptions of the Germanie lan- guages and of Primitive Germanic“ . Natürlich hat er recht, und zwar aus einem viel stichhaltigeren Motiv, als Gutenbrunner es hatte. Hören wir seinen deutschen Text, da wo er, übrigens mit dem größten Respekt, über Sprachhistoriker und Komparatisten spricht: „Im Prinzip kann man an der Berechtigung ihrer Wissenschaft un­möglich zweifeln. Sie abstrahieren jedoch manchmal von der Sprach- erfahrung der Sprechenden, auch dann, wenn es für ihre wissen­schaftliche Arbeit nicht notwendig ist und - genau betrachtet - in keiner Weise verteidigt werden kann. Ich denke hier an ihre Neigung, den Ursprung und das Wesen eines Sprachelements oder eines Sprachphänomens völlig miteinander zu identifizieren. Diese Identifikation wird manchmal explizite, manchmal implizite formu­liert. In einer Reihe von Fällen ist es dem Leser nicht klar, ob diese Identifikation beabsichtigt ist oder nicht. Diese Fälle sind die gefähr­lichsten.“Also Identifikation und Vermischung von Ursprung und Wesen. Stutterheim stellt fest, daß Mossé in seinem offensichtlichen Be­streben nach einer synchronischen Darstellung der gotischen Grammatik gerade bei den Präteritopräsentia versagt. Schon die Bezeichnung Perfecto-(oder Pr.-)präsentia sei ein Diachronismus, und vollends in ihrer Definition als „verbes qui ont la forme d’un parfait i.-e. et la valeur sémantique d’un présent“ sei „das Vorhanden­sein historisch-komparatistischer Elemente evident. Gotische Verben haben ja gotische Formen und keine indoeuropäischen, und im Gotischen gibt es kein Perfekt.“ Ursprung und Wesen werden zu Unrecht identifiziert. Ernst Ebbinghaus’ 18 Jahre später er­schienene Gotische Grammatik (1960) definiert sie richtiger als „primäre Verba, welche Form und Flexion eines starken Präteritums aber Präsensbedeutung haben“. Hier wird über das Indoeuropäische nichts gesagt, und mit dem Ausdruck „Präteritum“ bleiben wir innerhalb der Sprache, die beschrieben werden soll. Dann fragt Stutterheim aber weiter, ob es eigentlich wohl einen Sinn habe, zu sagen, daß ein Verb Präsensbedeutung hat. „Wir sind daran gewöhnt“, schreibt er, „ein Verb dadurch zu bezeichnen, daß wir den Infinitiv oder die 1. Person Singular Präsens angeben. Aber ein Verb ist mehr. Es ist ein ganzer Komplex von Formen, oder besser: ein

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ganzer Komplex formal-semantischer Einheiten. Nicht ein Verb, sondern das Präsens eines Verbs hat Präsensbedeutung. So kann man auch nicht einem Verb eine Präterital- oder eine Perfektform zuer­kennen“, und er formuliert dann selber: „Präteritopräsentia sind Verben, deren Präsens eine Form hat, die mit der Form des Präteri­tums der starken Verben übereinstimmt.“ Damit wäre jeder Ver­gleich mit einer früheren Sprachphase oder mit einer anderen Sprache beseitigt und nur das gotische Präsens wait-w itum neben das gotische Präteritum bait-b itum gestellt. „Indessen“, so fährt Stutterheim noch fort, und das scheint mir das Entscheidende an seinen Ausführungen zu sein, „sind wait und bait nun dann formal gleich, wenn wir von der Funktion absehen und ,Form‘ also im nicht-linguistischen Sinn ver­stehen. Es ist der Form bait eigentümlich, daß ihr die Präsensform beita gegenübersteht, und es ist der Form wait eigentümlich, daß ihr die Präteritalform wissa gegenübersteht. Das Wort wait, diese formal­semantische Einheit, ist nicht nur der Bedeutung nach, sondern auch der Form nach Präsens“, und er präzisiert etwas weiter noch: „In dem Moment, in dem dasjenige, was erst ein Perfekt war, als Präsens einem Präteritum gegenübersteht, verliert es alle, auch alle formalen Eigen­schaften eines Perfekts.“ Und noch aus dem englischen Aufsatz :„In the Germanic languages (however) a so-called preterite-present is not the preterite of an existing verb in those languages. And it has a present because it has a preterite. If we ascribe to such a verb a preterite- form in the present, we abstract from the meanings, forgetting that where language is concerned, ,form‘ and ,meaning“ are correla­tive notions.“ Es schien mir interessant genug, dieses Kriterium von der funktionalen Opposition liier noch einmal ausdrücklich zu berück­sichtigen.Aber nun zur Gegenwartssprache, wobei ich mich fast ganz auf das Deutsche beschränke; für das Niederländische ist noch auf van Haeringen zu verweisen, Nieuwe Taalgids 1950, für die skandina­vischen Sprachen auf Hammerich (Zs. f. deutsche Wortforschung, N. F. 1, 1960). Die sieben schwachen Verben können, dürfen, mögen, müssen, sollen, wollen, wissen unterscheiden sich in zwei Formen ihres Präsens Indikativ (gegenüber drei im Mittelhochdeutschen) von allen anderen deutschen Verben, nämlich in der 1. und 3. Person Einzahl, die hier niemals eine Endung aufweisen können (ich mag, er m ag) . Für die 3. Person ist dieser Unterschied noch strikter als für die 1., die ja auch sonst nicht selten endungslos ist. Sodann (ich m a g -

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wir mögen usw): Faßt man die vokalische Opposition zwischen Prä­sens Einzahl einerseits und Infinitiv und Präsens Mehrzahl anderer­seits als Charakteristikum, so macht sollen nicht mit; oder (mögen, mochte, gemocht) die zwischen Infinitiv einerseits und Imperfekt und 2. Partizip andererseits, den Rückumlaut also, so sollen und wollen nicht. Diese beiden, sollen und wollen, stellen sich auch in Konjunktiv Imperfekt umlautlos zu den regelmäßigen Zeitwörtern, während die andern fünf sich zusammenfinden mit: hätte und würde, dächte und brächte, mit kennte, nennte, brennte und rennte. Der defektive Imperativ schließlich würde uns auf das Gebiet der Semantik führen; denn nicht durch das morphologische System werden Imperativbildungen bei mindestens fünf der genannten Verben verhindert. Aber man kann nun einmal schwerlich jemandem zumuten, er möge etwas können oder dürfen oder mögen oder müssen oder sollen; zur Not noch wohl, er möge sich entschließen, etwas zu wollen, bzw. er möge etwas zur Kenntnis nehmen oder wissen. Ich glaube, bei einer Form­beschreibung der deutschen Verben müßte man diesen Punkt ganz verschweigen, es sei denn, wir bekämen im Anschluß an die Be­standsaufnahme der Nominalflexion in der zeitgenössischen Lite­ratursprache, wie sie Herr Ljungerud durchgeführt hat, auch noch eine der Verbalflexion. Ich prophezeie, daß sich dabei auch von wollen der Imperativ, abgesehen etwa von Faust-Zitaten, als non­existent heraussteilen würde, und der von wissen, abgesehen etwa von Schiller-Zitaten, als kaum-existent. Aber immerhin dürften unsere sieben dieses Fehlen der Imperativs mit einer Anzahl anderer Verben teilen und deshalb nicht durch eben dieses negative Merkmal zu­sammengehalten werden.Wir werfen noch einen Blick auf drei zeitgenössische Darstellungen des Neuhochdeutschen, um zu sehen, wie die ,sogenannten' Prä- teritopräsentia darin behandelt werden. Der Ausdruck ,sogenannte' Präteritopräsentia erscheint ganz richtig in der seit 1959 so zuver­lässigen Duden-Grammatik, da, wo unsere Verben zuerst ihren Platz in der Aufzählung unregelmäßiger Verben finden; allerdings muß dann aber ihre eigentliche Behandlung als für eine beschreibende Grammatik unbefriedigend bezeichnet werden. Ich zitiere den Abschnitt (Nr. 157) vollständig. „Das Präsens der Modalverben können, dürfen, sollen, mögen, müssen und das Vollverb (statt: und des Vollverbs) wissen (kann, darf, soll, mag, muß, weiß) ist eigentlich ein früheres, in Vergessenheit geratenes starkes Präteritum.“ Das ist

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zumindest unglücklich gesagt: „eigentlich“ und „in Vergessenheit geraten“ sind hier fehl am Platze. Und zudem ist eine B esch re ib un g der Formen zu verlangen, kein Versuch zu einer Erklärung: nicht der Formen und noch viel weniger des historischen Namens. Ich fahre fort im Anschluß an „ein früheres in Vergessenheit geratenes starkes Präteritum“ : „dessen neue Vergangenheitsformen schwach beugten (konnte usw.).“ „Neu“ ist ein diachronischer Begriff, und statt „beugten“ ist aus demselben Grunde ,beugen' zu lesen, und ebenso im folgenden: „Dazu t r i t t (statt ¡trat") auch ein schwach gebeugtes 2. Partizip (cgekonnt usw.).“ Der folgende Satz frustriert dann das oben so glücklich befundene Wörtchen „sogenannt“ aus der ein­leitenden Aufzählung: „Diese Verben heißen desh a lb Präterito- präsentia.“ Mir scheint, die historisierende Darstellung wäre zu ersetzen durch eine Beschreibung des heutigen Formenbestands, in der der nunmehr noch unvermittelt folgende Schlußsatz des Ab­schnittes seinen logischen Platz haben würde: „Im Präsens unter­scheiden sich bei können, dürfen, mögen und bei wissen Einzahl und Mehrzahl in ihrem Stammvokal: ich kann, aber wir können usw.“ Aber außerdem noch: Wo ist das Zeitwort wollen geblieben? Hat es nicht dieselben Merkmale wie die aufgezählten? Es wird zu Unrecht an einer anderen Stelle behandelt, wo über es mitgeteilt wird, es seien nur seine „Personalformen des Singular im Präsens Indikativ unregelmäßig: ich will, dn willst, er w ill“ . Das gilt aber zumindest auch für ich soll, du sollst, er soll, und der Wissende wittert eine diachro­nische Tradition in dieser sonst so erfreulich synchronischen „Gram­matik der deutschen Gegenwartssprache“ .Vor vier Jahren erschien Hennig Brinkmanns „Deutsche Sprache“. Das Buch ist keine Grammatik, aber immerhin eine Darstellung der deutschen Gegenwartssprache, die unter einem bestimmten Blick­winkel unternommen worden ist, nämlich dem der Leistung der in der Sprache ausgeprägten Gestaltunterschiede. Dieser Zugriff ist den hier und heute in Rede stehenden Zeitwörtern auf eine Einbuße zu stehen gekommen, so daß sich ihrer auch hier nur sechs zusammen­finden. Ich zitiere aus dem Abschnitt „Die Bedeutung der inneren Flexion“ : „Nur bei einer Gruppe geht Eigentümlichkeit im Formen­system mit einer inhaltlichen Sonderstellung zusammen: bei den Modalverben.“ Da mußte also e in Verb, das dieselbe Eigentümlich­keit im Formensystem aufweist, geopfert werden: das Zeitwort wissen; es kommt, soviel ich sehe, im ganzen Buch nicht vor. Selbst­

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verständlich gibt das Beisammensein sämtlicher Modalhilfsverba in der Gruppe der sogenannten Präteritopräsentia zu denken, um so mehr als ihr semantisches System ein so eng verwobenes ist, wie es die Dänen Hammerich und Gunnar Bech, der Ostdeutsche Klaus Welke, aber ja auch Hennig Brinkmann so eindrucksvoll dargestellt haben. Es scheint mir übrigens für die synchronische Sprach- beschreibung wenig gewonnen durch Brinkmanns Einteilung der Präteritopräsentia nach ihren Präsensvokalen, die an die Stelle von deren historischer Zuweisung zu Ablautreihen treten soll. Er hat die starken Verben nach vier charakteristischen Vokalen im P rä te r itu m aufgeteilt: a, o, i und u, augenscheinlich alle sowohl kurz wie lang, das sagt er nicht genau, und stellt dann zu seinen Modalverben fest, daß sie sich im P räsens jenen vier P rä te r ita l- reihen zuordnen: kann, darf, mag etwa wie rann, warf, gab ; soll wie schwoll; w ill wie gin g; muß wie wuchs oder wusch, er hat aber versäumt, Beispiele von starken Präterita mit kurzem u zu geben; er nennt nur fuh r und schlug. Diese Zuordnung muß vom synchronisch beschrei­benden Standpunkt als unangemessen erscheinen, und nur der Wissende wittert wiederum das Erbe der Vergangenheit. Aber, wie gesagt, die sogenannten Präteritopräsentia in Zukunft auf der Basis ihrer syntaktischen Valenz zusammenzunehmen, ist sicher näherer Erwägung wert, wie denn auch Brinkmann, nachdem er die allen gemeinsame Verbindung mit einem Infinitiv erwähnt hat, fort­fährt: „Einer morphologischen und syntaktischen Gemeinsamkeit entspricht eine Gemeinsamkeit des Inhalts: diese Verben sagen, welche Einstellung zu dem verbalen Prozeß für das grammatische Subjekt gilt.“ Allein, dann verdient noch wissen, das einzige lexika­lische Vollverb der Gruppe, unsere zusätzliche Sorge.Auch Johannes Erbens „Abriß“, der uns und unseren älteren Studenten vor acht Jahren so hochwillkommen war und so wohl­tuend modern schien und der noch heute (in der 8. Auflage) als ein Meisterwurf des Forschers und des Lehrers gerühmt zu werden verdient, will „Gestalt und Leistung“ des Gegenwartsdeutsch dar­stellen. Von der Geschichte konnte und wollte der Verfasser dabei nicht loskommen, wodurch manche diachronischen Traditionen in seinem Werk nachklingen. So nennt auch er die zweimal mit, aber sonst ohne Gänsefüßchen eingeführten Präteritopräsentia „Ver­ben, welche Präterital-(Vergangenheits-)Formen mit Präsens-(Ge- genwarts-)Bedeutung haben“, und er gibt zweitens für die Fest-

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Stellung: „Ein- und Mehrzahlformen s ta rk e r Verben werden auch noch vereinzelt durch die verschiedene Ablautstufe des Stammvokals voneinander abgehoben“, als Beispiele nicht nur ward-wurden, sondern auch das P räsens der meisten ,Präteritopräsentien‘ ; und hätte er drittens mit Vermeidung des diachronisch verwendeten Begriffs „Ablaut“ von „Vokalwechsel“ gesprochen, so hätte er die vier Beispiele mit historisch einwandfreiem Ablaut noch um w ill- wollen und m iß-m üssen ergänzen können, wie es recht gewesen wäre. Auch bei Erben fallen die Präteritopräsentia schließlich mit den Modalhilfsverben zusammen, wo er schreibt: „Am deutlichsten abgehoben erscheinen die ( . . . ) Konjunktivformen ( . . . ) der Prä- teritopräsenüen, die daher - natürlich auch auf Grund ihrer Bedeu­tung - eine immer wichtigere Rolle als ,Modalverben“ spielen.

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Die ,sogenannten“ Präteritopräsentia beanspruchen besonders im Hinblick auf ihre syntaktische Valenz in zunehmendem Maße die Aufmerksamkeit gerade der modernen Grammatik. Sie sind kein beliebiges Relikt, kein historisches Kuriosum, sondern spielen eine lebende Rolle unter den Ausdrucksmöglichkeiten der Gegenwarts­sprache. Sie bilden zudem ein Thema, das diachronischer und syn- chronischer Behandlung Raum läßt. Ich habe diese Gelegenheit ergriffen, habe aber zugleich betonen wollen, daß die Grenze zwischen beiden Behandlungsweisen scharf im Auge behalten werden soll und daß auch terminologische Sauberkeit hier, wie überall, not tut. Wer dieser Ergänzung der Synchronie durch die Diachronie und der Diachronie durch die Synchronie zustimmt, der möge mir für meinen Vortrag danken mit den zitierten Mörike-Versen:

Ich bin vergnügt, daß beides Aus deinen Händen quillt.

’LiteraturH. G. Fiedler, Two Problems of the German Preterite-Present Verbs, MLR XXIII, 1928, S. 188ff.C. B. van Haeringen, De hoofdvormen van het Nederlandse werkwoord, Nieuwe Taalgids 1950.G. Bech, Grundzüge der semantischen Entwicklungsgeschichte der hoch­deutschen Modalverba (Det Kongelige Danske Videnskabernes Selskab, Historisk-filologiske Meddelelser, bind 32, nr. 6), Kopenhagen 1951.

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S. Gutenbrunner, Läßt sich der Ausdruck „Praeteritopraesentia“ ver­deutschen?, Archiv, 111. Jg., 196. Bd., 1960, S. 327.L. L. Hammerich, Uber die Modalverba der neugermanischen Sprachen (mit besonderer Berücksichtigung des Dänischen), Zfd Wortforschung 16, 1960, H. 3, S. 47ff.C. F. P. Stutterheim, Structuralism and Reconstruction, Lingua, Vol. IX, 1960; vgl. den Kongreßbericht: Bern 1966.G. S. Scur, Über den Umlaut der deutschen Modalverben, Neuphilolo­gische Mitteilungen LXII, 1961, S. 206ff.David R. McLintock, Die umgelauteten Praeteritopraesentia und der Synkretismus im deutschen Verbalsystem, PBB Tüb. 83, 1961/62, S. 271 ff. R. Wisniewski, Die Bildung des schwachen Präteritums und die primären Berührungseffekte, PBB Tüb. 85, 1963, S. lff.Klaus Welke, Untersuchungen der Modalverben in der deutschen Sprache der Gegenwart. Ein Beitrag zur Erforschung funktionaler und syntak­tischer Beziehungen. Diss. Humboldt-Universität 1963. Akademie-Verlag Berlin 1965.

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