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Prof. Dr. Reinhard Singer Humboldt – Universität zu Berlin Anglo-German Law Programme: King‘s College London 19./20. März Die Haftung für unerlaubte Handlungen (§§ 823 ff. BGB)

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Prof. Dr. Reinhard Singer Humboldt – Universität zu Berlin

Anglo-German Law Programme: King‘s College London 19./20. März

Die Haftung für unerlaubte Handlungen (§§ 823 ff. BGB)

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Die Haftung für unerlaubte Handlungen: Inhalt (1)

§ 1 Überblick

I. Funktion des Deliktsrechts

II. Grundgedanke der gesetzlichen Regelung

1. Deliktsrecht als Abgrenzung von Güter- und Freiheitssphären

2. Das Prinzip der Einstandspflicht für verschuldetes Unrecht

3. Das System der drei „kleinen“ Generalklauseln

III. Der „Aufbau“ der deliktsrechtlichen Haftung

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Die Haftung für unerlaubte Handlungen: Inhalt (2)

§ 2 Die Verletzung von Rechten und Rechtsgütern gem. § 823 I BGB

I. Die nach § 823 I BGB geschützten Güter und Rechte und ihr Schutzbereich

1. Leben, Körper und Gesundheit2. Freiheit3. Eigentum4. Die Verletzung eines „sonstigen Rechts“

a) Gewerbebetriebb) Allgemeines Persönlichkeitsrecht

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Die Haftung für unerlaubte Handlungen: Inhalt (3)

II. Die allgemeinen Voraussetzungen der Deliktshaftung1. Tun und Unterlassen2. Rechtswidrigkeit3. Verschulden4. Kausalität

a) Haftungsbegründende und haftungsausfüllende Kausalitätb) Äquivalenz

c) Adäquanzd) Schutzzweck der Norme) Haftung für Folgeschäden

§ 3 Haftung für vermutetes Verschulden (Produzentenhaftung)§ 4 Gefährdungshaftung

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§ 1 Überblick (1)

I. Funktion des Deliktsrechts

1. Funktion des Deliktsrechts:

Schutz bestimmter Rechtsgüter (Körper, Gesundheit, Leben usw.) und Ausgleich von Nachteilen

2. Gegensatz: Bereicherungsrecht:

dient Abschöpfen von ungerechtfertigten Vorteilen.

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§ 1 Überblick (2)

II. Grundgedanken der gesetzlichen Regelung

1. Deliktsrecht als Abgrenzung von Güter- und Freiheitssphären

Nicht jeder, der Ursache für einen Schaden gesetzt hat, sollte für verursachten Schaden verantwortlich sein.

Bsp.: Automobilhersteller setzt zwar Ursache für Schäden, die durch das von ihm hergestellte Auto entstehen, aber eine Haftung für Unfallschäden ist nur gerechtfertigt, wenn Hersteller Pflichten verletzt hat (§ 823 I) oder das Produkt fehlerhaft ist (§ 1 ProdHG).

arg.: Gewährleistung von Handlungsfreiheit und wirtschaftlicher Dynamik (Risikobereitschaft)

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§ 1 Überblick (3)

2. Prinzip der Einstandspflicht für verschuldetes Unrecht

Das deutsche Deliktsrecht ist geprägt durch den römisch-rechtlichen Grundsatz „casum sentit dominus“: für zufällig erlittene Schäden muss jeder selbst einstehen (allgemeines Lebensrisiko).

Haftung eines anderen setzt Zurechnung voraus; wichtigster Zurechnungsgrund ist das Verschulden (§§ 823 I, II 2 und 826 BGB).

Bloße „Gefährlichkeit“ des Verhaltens (z.B. Fahrradfahrens) reicht für Zurechnung nicht aus; Gefährdungshaftung zwar im Vordringen -

Bsp.: Tierhalter (§ 833), Kfz-Halter (§ 7 StVG), Produzenten (ProdHaftG), § 1 UmwhaftG; § 32 GentechnikG usw. -,

aber kein allgemeines Prinzip!

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3. Drei "kleine"Generalklauseln des BGB

§ 823 I § 823 II § 826Rechtsgüter: Schutzgesetze: Rechtsethisches MinimumLeben, Gesundheit, klar definierteEigentum, Freiheit, Verhaltens- erkennbar und vermeidbarsonstiges Recht pflichten

nicht: Vermögen (StrafR, UWG, StVO) hier:Vermögen geschützt

Legitimation: Legitimation: Schutzwürdigkeit Klarheit, Ver-der Rechtsgüter; letzung erkenn-Verletzung er- bar und vermeid- kennbar und barvermeidbar

hier: Vermögen geschützt

Konsequenz: Absage an reinen Vermögensschutz; Gewährleistung von Handlungsfreiheit

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§ 823 Schadensersatzpflicht

(1) Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet.

(2) Die gleiche Verpflichtung trifft denjenigen, welcher gegen ein den Schutz eines anderen bezweckendes Gesetz verstößt. Ist nach dem Inhalt des Gesetzes ein Verstoß gegen dieses auch ohne Verschulden möglich, so tritt die Ersatzpflicht nur im Falle des Verschuldens ein.

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§ 826 Sittenwidrige vorsätzliche Schädigung

Wer in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise einem anderen vorsätzlich Schaden zufügt, ist dem anderen zum Ersatz des Schadens verpflichtet.

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§ 1 Überblick (4)

4. Wichtige Konsequenz aus dem System des deutschen Deliktsrechts:

Kein genereller Schutz des Vermögens oder der Handlungsfreiheit.

Beispiel: Passant erkundigt sich nach dem Weg zu einem Bürogebäude; S erteilt versehentlich falsche Auskunft

Keine Verletzung eines Rechtsguts (§ 823 I), Schutzgesetzes (§ 823 II) und keine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung (§ 826 BGB).

Auch keine rechtsgeschäftsähnliche Haftung; Auskunft reine Gefälligkeit (vgl. § 675 II BGB).

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§ 675 Entgeltliche Geschäftsbesorgung

(1) Auf einen Dienstvertrag oder einen Werkvertrag, der eine Geschäftsbesorgung zum Gegenstand hat, finden, soweit in diesem Untertitel nichts Abweichendes bestimmt wird, die Vorschriften der §§ 663, 665 bis 670, 672 bis 674 und, wenn dem Verpflichteten das Recht zusteht, ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist zu kündigen, auch die Vorschriften des § 671 Abs. 2 entsprechende Anwendung.

(2) Wer einem anderen einen Rat oder eine Empfehlung erteilt, ist, unbeschadet der sich aus einem Vertragsverhältnis, einer unerlaubten Handlung oder einer sonstigen gesetzlichen Bestimmung ergebenden Verantwortlichkeit, zum Ersatz des aus der Befolgung des Rates oder der Empfehlung entstehenden Schadens nicht verpflichtet.

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Fall 1: Einführung in das System des Deliktsrechts

Roland rast bei strömendem Regen über eine Pflasterstraße in Berlin-Mitte und kann nicht mehr bremsen, als der beliebte Sänger Sahnig vorschriftsmäßig die Straße überquert. Sahnig erleidet eine leichte Gehirnerschütterung, muss vom Arzt behandelt werden und den für den gleichen Tag geplanten Auftritt in der Open-Air-Bühne „Wuhlheide“ absagen.

a) Kann Sahnig von Roland Ersatz der Arztkosten (200 €) und des Verdienstausfalls (5.000 €) verlangen?

b) Das ausgefallene Konzert bedeutet für den Veranstalter Matt einen Geschäftsverlust von 10.000 €. Welche Ansprüche hat er gegen Roland?

Literatur: Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 75 I 3 c.

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Lösung Fall 1:

A. Ansprüche Sahnig gegen Roland (S-R)

I. § 823 I BGB:

1. Rechtsgut: Körper (Faustformel Körper: außen/Gesundheit: innen)

2. Verletzung: Kausalität ( + )

3. Rechtswidrig und schuldhaft (Verstoß gegen § 1 StVO)

4. Rechtsfolge: Schadensersatz§ 249 I: Heilbehandlungskosten 200.- Euro § 252: Verdienstausfall (= entgangener Gewinn) – 5000.- Euro

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II. §§ 7, 18 StVG

1. Rechtsgut: Körper

2. Verletzung: Kausalität

3. Bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs (Betriebsgefahr)

verkehrstechnische Auffassung: auch stehendes Fahrzeug, wenn es verkehrsbeeinflussend ruht

(Bsp.: auf Autobahn abgestellter Sattelschlepper)

4. Rechtsfolge:

a) Haftung des Halters (idR: Eigentümer)b) Schadensersatz (Berechnung siehe oben I)

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§ 7 StVG: Haftung des Halters, Schwarzfahrt

(1) Wird bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs oder eines Anhängers, der dazu bestimmt ist, von einem Kraftfahrzeug mitgeführt zu werden, ein Mensch getötet, der Körper oder die Gesundheit eines Menschen verletzt oder eine Sache beschädigt, so ist der Halter verpflichtet, dem Verletzten den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen.

(2) Die Ersatzpflicht ist ausgeschlossen, wenn der Unfall durch höhere Gewalt verursacht wird.

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§ 18 Ersatzpflicht des Fahrzeugführers

(1) In den Fällen des § 7 Abs. 1 ist auch der Führer des Kraftfahrzeugs oder des Anhängers zum Ersatz des Schadens nach den Vorschriften der §§ 8 bis 15 verpflichtet. Die Ersatzpflicht ist ausgeschlossen, wenn der Schaden nicht durch ein Verschulden des Führers verursacht ist. …

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Halter (§ 7 StVG)

BGHZ 13, 351/354:

„wer das Fahrzeug für eigene Rechnung [nicht nur kurzfristig] in Gebrauch hat und die [tatsächliche] Verfügungsgewalt darüber besitzt, die ein solcher Gebrauch voraussetzt“.

Eigentümer (+)

Mieter oder Entleiher i.d.R. nicht, weil Vermieter für Unterhalt (Reparaturen, Versicherung und dgl. aufkommt)

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B. Ansprüche Matt gegen Roland?

I. § 823 I BGB: Rechtsgut (-)

für reine Vermögensschäden (entgangener Gewinn 10.000 €) muss man nach § 823 I grundsätzlich nicht einstehen, allenfalls nach § 823 II, 826 BGB.

Rechtsgutsverletzung des R (Körper) irrelevant, weil in Bezug darauf M lediglich mittelbar geschädigt ist.

II. Zwischen M und R bestehen auch keine vertraglichen Beziehungen; daher keine Haftung gem. § 280 I

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§ 1 Überblick (5)

5. Wichtige Regel: Der mittelbar Geschädigte hat grundsätzlich keinen Deliktsanspruch gegen den Schädiger.

a) Grundsatz sinnvoll, da sonst Gefahr einer uferlosen Haftung drohte.

Bsp.: Verletzung oder Tötung eines Arbeitnehmers führt zu Vermögensschäden beim Arbeitgeber, u.U. bei den Arbeitskollegen, bei Lieferanten, Gastwirten, im Einzelhandel usw. (vgl. Medicus, Rn. 741).

b) Aber: mittelbare Rechtsgutsverletzungen (im Unterschied zu mittelbaren Vermögensschäden!) sehr wohl ersatzfähig.

Bsp: Bei Tunnelarbeiten stürzt Haus ein und beschädigt vor dem Haus stehende Autos.

Beschädigung der Autos (mittelbare Rechtsgutsverletzung) ersatzfähig.

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III. Der „Aufbau“ der deliktsrechtlichen Haftung (1)

1. Tatbestand: § 823 I BGB

a) Rechtsgut: Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit und Eigentum (nicht Vermögen).

b) Verletzung:

aa) Positives Tun:

Handlung; jedes vom Willen beherrschbare Tun (nicht: vis absoluta, Schlaf; Zuckungen).

Auch unwillkürliche Handlungen, z.B. das versehentliche Umstoßen einer Vase

arg.: hier besteht wenigstens die Möglichkeit der Willenskontrolle (Larenz/Canaris, SchuldR II/2, § 75 II 1 a = S. 361).

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III. Der „Aufbau“ der deliktsrechtlichen Haftung (2)

bb) Unterlassen steht dem positiven Tun gleich, wenn Rechtspflicht zum Handeln besteht, insbesondere sog. Verkehrssicherungspflichten.

Beispiele:

(1) Eröffnung und Duldung von Gefahrenquellen (z.B. Kinderspielplatz, Gaststätte, Weg)

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III. Der „Aufbau“ der deliktsrechtlichen Haftung (2a)

(2) Übernahme einer Aufgabe (Milzbrandfall RGZ 102, 372):

Tierarzt T sollte Milzbrandinfektion bei Rindern bekämpfen und beauftragte den Fleischer F mit der Notschlachtung der Tiere. T hat versäumt, eine offene Wunde des Fleischers zu desinfizieren.

(3) Vorausgegangenes gefährliches Verhalten:

Beispiel: Stiefvater erklärt Kindern, wie man mit einem Luftdruckgewehr umgeht, und überlässt anschließend Kinder sich selbst.

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III. Der „Aufbau“ der deliktsrechtlichen Haftung (3)

b) Haftungsbegründende Kausalität: 3 Kriterien zur Einschränkung der Verantwortung

Äquivalenz (conditio sine qua non)

Adäquanz

Schutzzweck der Norm

Hundegebell führt zu Herzinfarkt; Erfolg extrem unwahrscheinlich; keine Kausalität

Einzelheiten unten Folien 63 ff.

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III. Der „Aufbau“ der deliktsrechtlichen Haftung (4)

2. Rechtswidrigkeit: Rechtsgutsverletzung indiziert grundsätzlich Rechtswidrigkeit.

a) Konsequenz: TB-Verwirklichung ist Unrecht

Rechtswidrigkeit entfällt nur, wenn Rechtsfertigungsgrund (z.B. Einwilligung des Verletzten) besteht.

b) 2 Ausnahmen: Fernwirkungen (mittelbare Rechtsgutsverletzungen) Verkehrssicherungspflichten.

Rechtswidrigkeit muss in diesen (Ausnahme-)Fällen immer positiv festgestellt werden = Pflichtverletzung

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III. Der „Aufbau“ der deliktsrechtlichen Haftung (5)

3. Verschulden:

a) Formen: Vorsatz oder Fahrlässigkeit (§ 823 I BGB)

b) Ausnahmen: Deliktsunfähigkeit

Kindern unter 7 (§ 828 I)

Kinder unter 10 bei Unfällen mit KfZ (§ 828 II – dazu Fall 2)

bei fehlender Einsichtsfähigkeit (§ 828 III - selten)

Bewusstlosigkeit, Geisteskrankheit (§ 827 Satz 1).

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§ 828 BGB Minderjährige

(1) Wer nicht das siebente Lebensjahr vollendet hat, ist für einen Schaden, den er einem anderen zufügt, nicht verantwortlich.

(2) Wer das siebente, aber nicht das zehnte Lebensjahr vollendet hat, ist für den Schaden, den er bei einem Unfall mit einem Kraftfahrzeug, einer Schienenbahn oder einer Schwebebahn einem anderen zufügt, nicht verantwortlich. Dies gilt nicht, wenn er die Verletzung vorsätzlich herbeigeführt hat.

(3) Wer das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, ist, sofern seine Verantwortlichkeit nicht nach Absatz 1 oder 2 ausgeschlossen ist, für den Schaden, den er einem anderen zufügt, nicht verantwortlich, wenn er bei der Begehung der schädigenden Handlung nicht die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht hat.

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Fall 2: Haftung Minderjähriger

Am 12.2. 2010 veranstalteten die damals neun Jahre alten Zwillingsbrüder Siggi und Leo auf der Fahrbahn der Straße Unter den Linden in Berlin ein Wettrennen mit Kickboards. Obgleich Siggi im Umgang mit einem Kickboard geübt war, stürzte er aus Unachtsamkeit. Sein Kickboard prallte gegen den ordnungsgemäß am rechten Straßenrand geparkten PKW von Gerber. Dieser verlangt Ersatz der Reparaturkosten in Höhe von 1904, 16 Euro.

Literatur: BGH NJW 2005, 354; s. ferner BGH NJW-RR 2005, 327; NJW 2005, 356; 2007, 2113; 2008, 147; 2009, 95; Medicus, Schuldrecht II, Rn. 768.

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Lösung Fall 2: Deliktische Haftung Minderjähriger (1)

Ansprüche G – S: § 823 I

I. Rechtsgutsverletzung: Eigentum

II. Tun: (+)

III. Kausalität: Rechtsgutsverletzung äquivalent, adäquat kausal

IV. Rechtswidrigkeit: indiziert

V. Deliktische Verantwortung Minderjähriger

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Lösung Fall 2: Deliktische Haftung Minderjähriger (2)

Haftungsprivileg bei einem Unfall mit einem Kraftfahrzeug § 828 II

a) Kraftfahrzeug: § 1 II StVO: mit Maschinenkraft betriebenes Fahrzeug

b) Unfall: plötzliches von außen auftretendes Ereignis

c) Aber teleologische Reduktion der Norm:

Vorschrift soll Kinder vor typischen Überforderungssituationen im Straßenverkehr schützen, also vor dem Risiko, Geschwindigkeiten und Entfernungen falsch einzuschätzen

BGH: Norm greift daher nicht, wenn sich nicht dieses Risiko verwirklicht haben kann, das ist beim Kick-Board-Fahren der Fall

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Lösung Fall 2: Deliktische Haftung Minderjähriger (3)

c) Kritik: Gesetz abstrakt gefasst: „Unfall mit KfZ“

Teleologische Reduktion führt zu erheblichen Abgrenzungsschwierig-keiten, ob im Einzelfall typische Überforderungssituation vorliegt

aa) BGH NJW 2005, 356: kein Privileg für 9-Jährigen, der mit Fahrrad auf einem Parkplatz zwischen parkenden Autos herumfuhr

bb) Anders BGH NJW 2007, 2113: Fahrradfahrer übersah infolge erhöhter Geschwindigkeit beim Rechtsabbiegen ein in der Straßenmitte korrekt wartendes Fahrzeug, das links abbiegen wollte. Hier bejahte BGH typische Überforderungssituation, da Fahrzeug ein Hindernis bildete, mit dem Kind nicht rechnete.

Nahezu unberechenbare Kasuistik! Besser wäre es, Teilnahme am Verkehr genügen zu lassen; diese Voraussetzung liegt in allen Fällen vor.

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Lösung Fall 2: Deliktische Haftung Minderjähriger (4)

2. Haftungsausschluss wegen fehlender Einsichtsfähigkeit: § 828 III

Maßgebend, ob Kind infolge individueller Verstandesentwicklung fähig ist, das Gefährliche seines Tuns zu erkennen und sich der Verantwortung für die Folgen bewusst zu sein.

Auf Steuerungsfähigkeit = Fähigkeit, sich der Einsicht gemäß zu verhalten, kommt es insoweit nicht an

a) Einsichtsfähigkeit wird vom Gesetzgeber vermutet (§ 828 III = Ausnahme)

aa) Konsequenz: Kind muss fehlende Einsichtsfähigkeit darlegen und beweisen

bb) Bei normal entwickelten Kindern geht Rspr. stets von Einsichtsfähigkeit voraus

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Lösung Fall 2: Deliktische Haftung Minderjähriger (5)

• Ein 7-jähriger weiß, dass beim Fußballspielen in der Nähe von Wohnhäusern Außenlampen beschädigt können (OLG Nürnberg NJW-RR 2006, 1170).

• Kinder im Alter von 8 Jahren müssen in der Lage sein, das Entzünden von Kerzen in einer Scheune als gefährlich zu erkennen (BGH NJW 1984, 1958 – sogar bei geistig etwas zurückgebliebenen Kindern bejaht).

• Vermutung kaum zu widerlegen: Vortrag, dass Kind im Eifer des Wettrennens mit den Kickboards das Ende der Fahrbahn übersehen habe, betrifft nicht Einsichtsfähigkeit, sondern Verschulden:

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Lösung Fall 2: Deliktische Haftung Minderjähriger (6)

b) Verschulden: Gruppenfahrlässigkeit (§ 276 II) – BGH streng

• Kinder im Alter von 9 Jahren wissen, dass sie vorsichtig mit dem Kickboard umgehen müssen und parkende Autos nicht beschädigen dürfen.

• Selbst einem 7-jährigen Jungen wird abverlangt, dass er vorsichtig mit dem Ball umgeht und nicht im Eifer des Spiels einfach drauf los ballern darf (OLG Nürnberg, NJW-RR 2006, 1170 f.)

Ergebnis: S haftet G voll.

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§ 276 BGB Verantwortlichkeit des Schuldners

(1) Der Schuldner hat Vorsatz und Fahrlässigkeit zu vertreten, wenn eine strengere oder mildere Haftung weder bestimmt noch aus dem sonstigen Inhalt des Schuldverhältnisses, insbesondere aus der Übernahme einer Garantie oder eines Beschaffungsrisikos zu entnehmen ist. Die Vorschriften der §§ 827 und 828 finden entsprechende Anwendung.

(2) Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt.

(3) Die Haftung wegen Vorsatzes kann dem Schuldner nicht im Voraus erlassen werden.

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§ 2 Rechte und Rechtsgüter § 823 I

Leben

Tod = Hirntod (med.)

Rechtsfolge: Ersatzmittelbarer Schäden

1.Beerdigungskosten (§ 844 I)

2. Unterhalt für Unterhalts- berechtigte (§ 844 II 1)

§§ 1570 ff, 1601 ff.

Körper, Gesundheit

Faustformel: Körper: außen Gesundheit: innen

Problem: Schädigung des nasciturus(vor der Geburt); arg. § 218 StGB

Wrongful life (Fall 3)

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§ 844 Ersatzansprüche Dritter bei Tötung

(1) Im Falle der Tötung hat der Ersatzpflichtige die Kosten der Beerdigung demjenigen zu ersetzen, welchem die Verpflichtung obliegt, diese Kosten zu tragen.

(2) Stand der Getötete zur Zeit der Verletzung zu einem Dritten in einem Verhältnis, vermöge dessen er diesem gegenüber kraft Gesetzes unterhaltspflichtig war oder unterhaltspflichtig werden konnte, und ist dem Dritten infolge der Tötung das Recht auf den Unterhalt entzogen, so hat der Ersatzpflichtige dem Dritten durch Entrichtung einer Geldrente insoweit Schadensersatz zu leisten, als der Getötete während der mutmaßlichen Dauer seines Lebens zur Gewährung des Unterhalts verpflichtet gewesen sein würde; die Vorschriften des § 843 Abs. 2 bis 4 finden entsprechende Anwendung. Die Ersatzpflicht tritt auch dann ein, wenn der Dritte zur Zeit der Verletzung gezeugt, aber noch nicht geboren war.

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Fall 3: „wrongful life“

K ist gesundheitlich aufs Schwerste beschädigt, weil ihre Mutter M während der ersten Schwangerschaftswochen an Röteln erkrankt war. K und ihre Eltern werfen dem behandelnden Frauenarzt A vor, dass er diese Erkrankung der Mutter nicht erkannt habe, so dass die an sich erwünscht gewesene Schwangerschaft nicht unterbrochen worden sei. A wendet ein, er habe die Schädigung von K nicht verursacht, vielmehr werde ihm ein Verhalten vorgeworfen, dem das Kind sein Leben und seine Rechtsfähigkeit verdanke. Es sei mit der Anerkennung der Menschenwürde nicht zu vereinbaren, das Leben mit einer Behinderung als Schaden zu begreifen. Wie ist zu entscheiden?

Literatur: BGHZ 86, 240; s. ferner BGHZ 129, 178; 151, 133; BGH NJW 2007, 989; Medicus, Schuldrecht AT, Rn. 666 f.; ders., BT Rn. 782; s.a. BVerfG NJW 1993, 1751; 1998, 519.

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Lösung Fall 3: wrongful life (1)

Ansprüche der Mutter:

I. Pflichtverletzung des Behandlungsvertrages gem. §§ 280 I, 611 BGB:

1. Schuldverhältnis M/A: § 611 BGB (Behandlungsvertrag ist Dienst-, nicht Werkvertrag).

2. Pflichtverletzung: Arzt musste Rötelerkrankung der Mutter in der Frühphase der Schwangerschaft erkennen.

Schutzpflichten zugunsten der Mutter (und des Kindes) gem. § 241 II BGB.

3. Verschulden: Vermutung nicht widerlegt

II. Rechtsfolge: Schadensersatz (neben der Leistung)

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§§ 241, 280 I § 280 Schadensersatz wegen Pflichtverletzung

(1) Verletzt der Schuldner eine Pflicht aus dem Schuldverhältnis, so kann der Gläubiger Ersatz des hierdurch entstehenden Schadens verlangen. Dies gilt nicht, wenn der Schuldner die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat….

§ 241 Pflichten aus dem Schuldverhältnis

(1) Kraft des Schuldverhältnisses ist der Gläubiger berechtigt, von dem Schuldner eine Leistung zu fordern. Die Leistung kann auch in einem Unterlassen bestehen.

(2) Das Schuldverhältnis kann nach seinem Inhalt jeden Teil zur Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils verpflichten.

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Lösung Fall 3: wrongful life (2)

Unterhaltsaufwendungen für Kind sind Schaden der Eltern; dieser ist gem. § 249 Abs. 1 BGB zu ersetzen (Naturalrestitution):

Herstellung des Zustandes, wie er ohne das schädigende Ereignis stünde.

Bei rechtlich erlaubter und gebotener Abtreibung wären keine Unterhaltsaufwendungen entstanden.

1. 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts: mit dem staatlichen Schutzauftrag für das menschliche Leben gem. Art. 1 I, 2 I GG sei es nicht vereinbar, die Unterhaltspflicht für ein ungewolltes Kind überhaupt als Schaden zu begreifen (vgl. NJW 1993, 1751, 1764).

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§ 249 Art und Umfang des Schadensersatzes

(1) Wer zum Schadensersatz verpflichtet ist, hat den Zustand herzustellen, der bestehen würde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand nicht eingetreten wäre.

(2) Ist wegen Verletzung einer Person oder wegen Beschädigung einer Sache Schadensersatz zu leisten, so kann der Gläubiger statt der Herstellung den dazu erforderlichen Geldbetrag verlangen….

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GG

Art 1(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen

ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und

unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.

(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.

Art 2(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit

er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.

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Lösung Fall 3: wrongful life (2a)

2. BGHZ 124, 128 (136) widerspricht:

- Es gehe nicht darum, das Kind in seiner Existenz als Schaden zu begreifen, sondern um die gerechte Verteilung von Unterhaltslasten als Folge einer planwidrigen Geburt; diese ist lediglich Tatbestands-voraussetzung für § 280 I BGB

- Begründung des BVerfG sei nicht bindend gem. § 31 BVerfGG („Entscheidungen ... bindend“), weil nicht entscheidungserheblich (zustimmend 1. Senat BVerfG NJW 1998, 519)

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Lösung Fall 3: wrongful life (3)

3. Ablehnend 2. Senat, NJW 1998, 523: Straffreiheit der Abtreibung nach Beratung durch zuständige Stelle setze Rahmenbedingungen voraus; zu diesen gehöre, dass Unterhaltspflichten für ein Kind nicht als Schaden begriffen werde.

4. Stellungnahme: BGH und 1. Senat verdienen m.E. Zustimmung, weil Menschenwürde des Kindes durch Unterhaltsansprüche gegen Arzt nicht in Frage gestellt wird.

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Lösung Fall 3: wrongful life (4)

5. Kein Schadensersatzanspruch besteht allerdings dann, wenn für den Schwangerschaftsabbruch keine medizinische (§ 218a II) oder kriminologische Indikation (§ 218a III) bestanden hat.

a) Frühere embryopathische Indikation wird jetzt weitgehend von medizinischer Indikation erfasst (seelische Gefahren für Mutter jedenfalls bei erheblicher Behinderung, BGH NJW 2002, 2636, 2637)

b) Schwangerschaftsabbruch aufgrund sozialer Indikation ist – im Unterschied zu den Indikationen gem. § 218a II, III StGB - zwar innerhalb bestimmter Fristen straflos (§ 218a I, IV), aber eben rechtswidrig (BGHZ 129, 178, 185; BGH NJW 2002, 886).

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StGB

§ 218 Schwangerschaftsabbruch(1) Wer eine Schwangerschaft abbricht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei

Jahren oder mit Geldstrafe bestraft….

§ 218a Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs(1) Der Tatbestand des § 218 ist nicht verwirklicht, wenn1. die Schwangere den Schwangerschaftsabbruch verlangt und dem Arzt

durch eine Bescheinigung … nachgewiesen hat, daß sie sich mindestens drei Tage vor dem Eingriff hat beraten lassen,

2. der Schwangerschaftsabbruch von einem Arzt vorgenommen wird und3. seit der Empfängnis nicht mehr als zwölf Wochen vergangen sind.

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StGB (Forts.)

(2) Der mit Einwilligung der Schwangeren von einem Arzt vorgenommene Schwangerschaftsabbruch ist nicht rechtswidrig, wenn der Abbruch der Schwangerschaft … nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden, und die Gefahr nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann.

(3) Die Voraussetzungen des Absatzes 2 gelten bei einem Schwangerschaftsabbruch, der mit Einwilligung der Schwangeren von einem Arzt vorgenommen wird, auch als erfüllt, wenn ärztlicher Erkenntnis an der Schwangeren eine rechtswidrige Tat nach den §§ 176 bis 179 des Strafgesetzbuches begangen worden ist …

(4) Die Schwangere ist nicht nach § 218 strafbar, wenn der Schwangerschaftsabbruch nach Beratung (§ 219) von einem Arzt vorgenommen worden ist und seit der Empfängnis nicht mehr als zweiundzwanzig Wochen verstrichen sind. Das Gericht kann von Strafe nach § 218 absehen, wenn die Schwangere sich zur Zeit des Eingriffs in besonderer Bedrängnis befunden hat.

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Lösung Fall 3: wrongful life (5)

Rechtsprechung: Geschädigte kann nicht verlangen, wirtschaftlich so gestellt zu werden, wie sie bei Durchführung eines rechtswidrigen Schwangerschaftsabbruchs stünde.

Bei sozialer Indikation gibt es daher grundsätzlich keinen Schadensersatzanspruch, wohl aber bei embryopathischer.

c) Arzt haftet daher für Unterhalt, wenn er – wie hier – Gefahr der Fehlbildung übersieht; auch hier verlangt allerdings die Rechtsprechung den Nachweis, dass sich Schwangere für den – rechtmäßigen - Abbruch der Schwangerschaft entschieden hätte (BGH NJW 2006, 1660, 1661); Indiz: schwere Missbildung (SV).

Ergebnis: M kann von A Ersatz der Unterhaltsaufwendungen für unerwünschtes Kind verlangen

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Lösung Fall 3: wrongful life (6)

B. Eigene Ansprüche des Kindes:

I. Hier geht es um die Problematik des „wrongful life“.

1. Problem: Kind muss Arzt zum Vorwurf machen, dass er seine eigene Existenz ermöglicht hat (also sein Leben nicht verhindert hat).

2. Bei Röteln liegt embryopathtische Indikation vor, so dass der Abbruch der Schwangerschaft rechtmäßig gewesen wäre (§ 218a II StGB).

3. Schaden kaum darstellbar, weil der Geschädigte bei dem von ihm verlangten Verhalten des Arztes überhaupt nicht existiert hätte.

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Lösung Fall 3: wrongful life (6)

II. BGH: Unwerturteil, das über das Leben eines Behinderten gefällt werden muss, mit Menschenwürde nicht vereinbar.

Menschliches Leben absolut erhaltungswürdig; Urteil über seinen Wert stehe keinem Dritten zu, auch nicht einem Richter.

Gesamtergebnis: Nichtverhinderung von Leben keine Rechtsgutsverletzung i.S.d. § 823 I BGB.

Jedenfalls kein Schaden des Kindes und kein eigener Anspruch.

Aber: Eltern können gesamten Unterhaltsaufwand (nicht nur Mehraufwendungen wegen Behinderung; arg.: Differenztheorie!) als Schaden geltend machen, wenn durch ärztlichen Behandlungsfehler persönliche Familienplanung durchkreuzt wurde (§§ 280 I, 249).

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§ 2 I 2: Rechtsgut: „Freiheit“

a) H.M. „Freiheit“ i.S.d. § 823 I meint nur körperliche Bewegungsfreiheit, nicht allgemeine Handlungsfreiheit;

arg:

- Ranghöhe nicht mit Leben, Gesundheit, Körper und Eigentum vergleichbar.

- sonst wäre nahezu jede beliebige Interessenverletzung (z.B. Stau durch Unfall) bereits durch § 823 Abs. 1 BGB geschützt; Gesetzgeber wollte jedoch nicht allgemeine Generalklausel.

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§ 2 I 2: Rechtsgut: „Freiheit“(2)

b) Beispiel: Steckenbleiben im Stau ist keine Verletzung der „Freiheit“.

körperliche Bewegungsfreiheit nicht betroffen, da man ja aussteigen und zu Fuß weiterlaufen könnte

allgemeine Handlungsfreiheit nicht geschützt.

c) Beispiele für die Einschränkung körperlicher Fortbewegungsfreiheit:

Einsperren in Gebäude; Steckenbleiben im Fahrstuhl, Fesseln usw.

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§ 2 I 3 Rechtsgut: „Eigentum“

a) Typische Eigentumsverletzungen:

Entziehung des Eigentums, Belastung mit einem dinglichen Recht; Veräußerung durch einen Nichtberechtigten an gutgläubigen Dritten

b) Tatsächliche Einwirkung auf die Sache (siehe § 903 BGB)

- Zerstören, Beschädigen, Besitzentzug, Betreten fremder Grundstücke, Schutt abladen

- Löschen von Computerprogrammen, Einschleusen von Viren

- Ablassen von Luft aus Reifen

- „Wildes Plakatieren“ auf Verteilerkästen der Energieversorgungsunternehmen (mindestens Besitzstörung).

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§ 903 Befugnisse des Eigentümers

Der Eigentümer einer Sache kann, soweit nicht das Gesetz oder Rechte Dritter entgegenstehen, mit der Sache nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen. …

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§ 2 I 3 Rechtsgut: „Eigentum“(2)

c) Fleetfall BGHZ 55, 153: Schiffe in Kanal (Fleet) ein- und ausgesperrt

aa) Eingesperrtes Schiff: Nutzung überhaupt nicht mehr möglich; Schiff als Transportmittel völlig ausgeschaltet = Eigentumsverletzung.

bb) Ausgesperrte Schiffe: sind ihrer Eigenschaft als Transportmittel nicht beraubt. kein Eingriff in das Eigentum, sondern bloß Eingriff in den Gemeingebrauch, der kein sonstiges Recht im Sinne von § 823 I ist.

Sonst nahezu unbegrenzte Ersatzfähigkeit reiner Vermögensschäden, weil Eigentum immer zu bestimmten Zwecken eingesetzt wird und diese gestört sein können.

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Fall 4: Allgemeines Persönlichkeitsrecht als „sonstiges Recht“

S ist Herstellerin eines pharmazeutischen Präparats, das nach der Vorstellung weiter Bevölkerungskreise auch der Hebung der sexuellen Potenz dient („Okasa“). Zur Werbung für dieses Mittel hat S ein Plakat mit der Abbildung eines Turnierreiters verbreitet, dem ein Originalphoto des G zugrunde liegt, das auf einem Reitturnier aufgenommen worden ist. Eine Einwilligung zur Verwendung seines Bildes hat G nicht gegeben. G fühlt sich in seinem Persönlichkeitsrecht verletzt und verlangt ein angemessenes Schmerzensgeld. Mit Recht?

Literatur: BGHZ 26, 349; Larenz/Canaris, § 80; Medicus, Schuldrecht II, Rn. 815 ff. – S. ferner BGHZ 128, 1 (Caroline I); 131, 332 (Caroline II); EGMR NJW 2004, 2647; BGH NJW 2007, 689 (Oskar Lafontaine); LG Hamburg, NJW 2007, 691 (Joschka Fischer).

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Lösung Fall 4: Allgemeines Persönlichkeitsrecht (1)

Anspruch aus § 823 I

I. Rechtsgutsverletzung: allgemeines Persönlichkeitsrecht?

Anerkennung seit BGHZ 13, 334 (Schacht-Brief): Begründung – grundrechtlicher Schutz des Persönlichkeitsrechts (Art. 1 I, 2 I GG).

II. Inhalt des Schutzes: Fallgruppen

1. Vom Geschädigten wird ein falsches Bild gezeichnet – Bsp.:

Professor des Völker- und Kirchenrechts wird mit der potenz-fördernden Wirkung der Ginseng-Wurzel in Verbindung gebracht (BGHZ 35, 363)

Veröffentlichung eines frei erfundenen Interviews (BGHZ 128, 1 – Caroline I)

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Lösung Fall 4: Allgemeines Persönlichkeitsrecht (2)

2. Ehrverletzungen (ohnehin über § 823 II BGB i.V.m. § 185 StGB erfasst)

Bsp.: über Fernsehansagerin ist zu lesen, dass sie „wie eine ausgemolkene Ziege aussehe“, bei deren Anblick den Zuschauern „die Milch sauer werde“ (BGHZ 39, 124)

3. Eindringen in fremde Intimsphäre:

Bsp.: Einschleichen in Unternehmen unter falschem Namen (Wallraff – BGHZ 80, 25; BVerfGE 66, 116)

Paparazzi-Fotos von Prominenten (BGHZ 131, 332 – Caroline II; EGMR NJW 2004, 2647)

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Lösung Fall 4: Allgemeines Persönlichkeitsrecht (3)

4. Wirtschaftliche Ausbeutung

Verwendung eines fremden Bildes für Werbung ohne Erlaubnis des Betroffenen [BGH NJW 2007, 689 (Oskar Lafontaine)]:Zwar darf niemand mit fremdem Bild werben. Aber auch im Bereich der Wirtschaftswerbung besteht Recht auf freie Meinungsäußerung, die hier wegen der satirischen Auseinandersetzung mit einem aktuellen politischen Ereignis (Rücktritt Lafontaines) den Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts verdränge.

5. Fallbezogen:Anschein, der Turnierreiter reite für „Okasa“, erweckt ein falsches Bild (Fallgruppe 1)

Ergebnis: Verletzung des APkR

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Lösung Fall 4: Allgemeines Persönlichkeitsrecht (4)

II. Rechtswidrigkeit:

1. Im Allgemeinen „indiziert“; aber beim Persönlichkeitsschutz ist wegen der tatbestandlichen Weite des Rechtes eine Abwägung der Interessen erforderlich

2. Rechtfertigungsgründe:

a) Heimliches Eindringen in Redaktion der Bild-Zeitung kann gerechtfertigt sein, wenn es um die Aufdeckung schwerer Missstände von öffentlicher Bedeutung geht (BGHZ 80, 25, 33 „Wallraff“)

b) Bildnisse aus dem Bereiche der Zeitgeschichte: Rechtfertigung gem. § 23 I Nr. 1 KUGBGHZ 131, 332 Paparazzi-Fotos von Caroline v. M. beim Einkaufen oder Reiten gerechtfertigt; Grenze: Intimbereich (aA EGMR NJW 2004, 2647; s.u. 3b)

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§ 23 KUG

„(1) Ohne die nach § 22 erforderliche Einwilligung dürfen verbreitet und zur Schau gestellt werden:

1. Bildnisse aus dem Bereiche der Zeitgeschichte;2. Bilder, auf denen die Personen nur als Beiwerk neben einer Landschaft

oder sonstigen Örtlichkeit erscheinen;3. Bilder von Versammlungen, Aufzügen und ähnlichen Vorgängen, an

denen die dargestellten Personen teilgenommen haben;4. Bildnisse, die nicht auf Bestellung angefertigt sind, sofern die

Verbreitung oder Schaustellung einem höheren Interesse der Kunst dient.

(2) Die Befugnis erstreckt sich jedoch nicht auf eine Verbreitung und Schaustellung, durch die ein berechtigtes Interesse des Abgebildeten oder, falls dieser verstorben ist, seiner Angehörigen verletzt wird.“

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Lösung Fall 4: Allgemeines Persönlichkeitsrecht (5)

3. § 23 Abs. 2 KUG verbietet Veröffentlichung, wenn berechtigtes Interesse der Person entgegensteht

a) Art. 8 EMRK: „ Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens“.

b) EGMR NJW 2004, 2647: Pressefreiheit geht dem Persönlichkeitsschutz nur vor, wenn Bericht oder Fotos einen Beitrag zu einer Diskussion in einer demokratischen Gesellschaft leistet und Personen des politischen Lebens bei Wahrnehmung von Amtsgeschäften betreffen, nicht jedoch bei Berichterstattung über Einzelheiten des Privatlebens einer Person, die keine öffentlichen Aufgaben wahrnimmt

Konsequenz: Paparazzi-Fotos von Caroline beim Einkaufen auf dem Markt oder beim Reiten genauso verboten wie Aufnahmen mit Freund in der verborgenen Atmosphäre eines Lokals (enger BGHZ 131, 332, 341).

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Lösung Fall 4: Allgemeines Persönlichkeitsrecht (6)

4. Vorsatz oder Fahrlässigkeit

5. Rechtsfolgen:

a) Widerruf unwahrer Tatsachenbehauptungen: §§ 823 I, 1004 BGB analog (BGHZ 128, 1 – Caroline I): frei erfundenes Interview

b) Unterlassung von Verletzungen für die Zukunft (§ 1004 BGB).

c) Schmerzensgeld (§ 253 II): § 253 II nennt zwar nicht ausdrücklich Verletzung des APkR, aber dennoch Entschädigung gerechtfertigt und geboten, weil sonst Persönlichkeit nicht effektiv geschützt wäre (BVerfGE 34, 269)

Fallbezogen: G kann verlangen, dass S künftig Werbung mit seinem Foto unterlässt und hat Anspruch auf angemessenes Schmerzensgeld

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§ 1004 Beseitigungs- und Unterlassungsanspruch

(1) Wird das Eigentum in anderer Weise als durch Entziehung oder Vorenthaltung des Besitzes beeinträchtigt, so kann der Eigentümer von dem Störer die Beseitigung der Beeinträchtigung verlangen. Sind weitere Beeinträchtigungen zu besorgen, so kann der Eigentümer auf Unterlassung klagen.

(2) Der Anspruch ist ausgeschlossen, wenn der Eigentümer zur Duldung verpflichtet ist.

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§ 253 Immaterieller Schaden

(1) Wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, kann Entschädigung in Geld nur in den durch das Gesetz bestimmten Fällen gefordert werden.

(2) Ist wegen einer Verletzung des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung Schadensersatz zu leisten, kann auch wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine billige Entschädigung in Geld gefordert werden.

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Fall 5: Gewerbebetrieb als „sonstiges Recht“(1)

Bei Baggerarbeiten auf einem Privatgrundstück hat der bei der Firma Sanft angestellte Baggerführer Axel fahrlässig das im Eigentum des Energieversorgungsunternehmens V stehende Stromkabel beschädigt. Daraufhin stand der Betrieb der Firma Gallus für 27 Minuten still und erlitt einen Vermögensschaden infolge des Produktionsausfalls in Höhe von 10.000.- Euro.

Wie ist die Rechtslage, wenn die Firma Gallus eine Brüterei betreibt und die in den elektrischen Öfen liegenden, schon angebrüteten Eier infolge des Stromausfalls verderben.

Literatur: BGHZ 29, 65; 41, 123; 66, 388; Medicus, BR Rn. 612.

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Fall 5: Gewerbebetrieb als „sonstiges Recht“(2)

Schadensersatz G – V:

Anspruchsgrundlage: § 823 I BGB

I. Rechtsgut: Eigentum?

1. BGH verneint grundsätzlich Schadensersatz für Produktionsausfall, weil (und sofern) es sich um reine Vermögensschäden handelt.

Ersatzfähig seien nur unmittelbare und betriebsbezogene Eingriffe (final gegen das Unternehmen gerichtete Beeinträchtigungen); daran fehlt es bei unabsichtlichen Eingriffen

Bedenken: bei vollständiger Aufhebung der Nutzungsmöglichkeit der Produktionsanlagen liegt wohl doch Eigentumsverletzung vor.

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Fall 5: Gewerbebetrieb als „sonstiges Recht“(3)

2. Rechtsgutsverletzung auch nach BGH, wenn Stromkabelbeschädigung Sachen des Geschädigten zerstört.

Bsp.: Stromkabel versorgt Hühnerfarm und zerstört Bruteier (Eigentum des G)

Ergebnis: Je nach Fall Eigentumsverletzung; kein Eingriff in Gewerbebetrieb

II. Bsp. für betriebsbezogene Eingriffe in Gewerbebetrieb:

Blockade des Springer-Verlags, um Auslieferung der Bildzeitung zu verhindern (BGHZ 59, 30 – im Anschluss an Attentat auf Rudi Dutschke)

Unberechtigte Schutzrechtsverwarnung (BGHZ 164, 1; 165, 311): S verlangt von G unberechtigt, dass dieser Kennzeichen-, Marken- oder Wettbewerbsrecht beachtet.

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§ 2 II Allgemeine Voraussetzungen der deliktischen Haftung

1. Tun und Unterlassen (Folien 18, 19; Verkehrssicherungspflichten)

2. Rechtswidrigkeit (Folie 21; indiziert; Ausnahmen: Fernwirkungen, Unterlassen)

3. Verschulden (Folien 22 ff: Vorsatz, Fahrlässigkeit, Deliktsfähigkeit)

4. Kausalität: Äquivalnz, Adäquanz, Schutzzweck der Norm (dazu sogleich)

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zu 4. Kausalität und die Zurechnung der Folgeschäden (1)

1. Haftungsbegründende und haftungsausfüllende Kausalität

Aufbau:

I. Tatbestand: 1. Rechtsgut:

a) Verletzung (Handlung, Unterlassen)b) Kausalität = haftungsbegründende Kausalität Äquivalenz, Adäquanz, Schutzzweck der Norm

2. Rechtswidrigkeit, Schuld

II. Rechtsfolge: Schaden, haftungsausfüllende Kausalität, Mitverschulden

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4. Kausalität und die Zurechnung der Folgeschäden (2)

2. Probleme der Kausalität:

a) Äquivalenztheorie (= alle Bedingungen gleichwertig) Äquivalent kausale Rechtsgutsverletzung begeht auch, wer mittelbare Rechtsgutsverletzungen verursacht:

Bsp.: wer Unfallopfer so verletzt, dass es ins Krankenhaus eingeliefert werden muss, und sich Opfer dort zufällig mit Legionellen ansteckt und an den Folgen der Infektion schließlich verstirbt, haftet auch für die mittelbaren Folgen der Rechtsgutsverletzung

b) Adäquanztheorie:

Versuch einer Einschränkung für solche Erfolge, die vom Standpunkt eines erfahrenen (optimalen) Betrachters völlig unwahrscheinlich sind.

Bsp.: Hundegebell führt zu Herzinfarkt; Erfolg extrem unwahrscheinlich

Kritik: Adäquanztheorie kaum justiziabel: was ist völlig unwahrscheinlich?

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4. Kausalität und die Zurechnung der Folgeschäden (3)

c) Lehre vom sog. Rechtswidrigkeitszusammenhang oder Schutzzweck der Norm:

Schweinefall (BGHZ 115, 84): Schweine des Bauern B werden durch Verkehrsunfall an naheliegender Straßenkreuzung so erschreckt, dass sie verenden

Silberfuchs-Fall RGZ 158, 35: Silberfüchse des Pelztierzüchters P werden durch Linien-Flugzeuge der Luftverkehrsgesellschaft S erschreckt und verenden

Schäden durch Lärm liegen wohl nicht außerhalb des Schutzzwecks der Gefährdungshaftung nach dem StVG bzw. LuftVG, aber Zurechnung scheitert daran, dass wesentliche Ursache in den Zuchtbedingungen der Tiere lag

Gegenbeispiel: OLG Schleswig NJW 1989, 1937: Herzinfarkt durch Tiefflug eines militärischen Düsenflugzeugs ersatzfähig

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4. Kausalität und die Zurechnung der Folgeschäden (4)

3. Die Problematik des Eingreifens Dritter in den Kausalzusammenhang

a) Beispiel 1: Unfallfahrer wird mit Blaulicht ins Krankenhaus transportiert; das Transportfahrzeug wird in einen zweiten Unfall verwickelt, bei dem das Unfallopfer noch schwerer verletzt wird.

Haftet Erstschädiger auch für die spätere Rechtsgutsverletzung durch den zweiten Unfall?

Lösung: Grundsätzlich keine Unterbrechung des Kausalzusammenhangs beim Eingreifen Dritter (alle Bedingungen gleichwertig).

Erstursache auch beim Hinzutreten einer Zweitursache i.d.R. adäquat kausal.

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4. Kausalität und die Zurechnung der Folgeschäden (5)

b) Allenfalls könnte Schutzzweckzusammenhang fehlen:

Nach h.M. kommt es darauf an, ob Zweitursache noch in einem inneren Zusammenhang mit der Erstursache steht oder das Schadensrisiko des Ersteingriffs bereits gänzlich abgeklungen ist, so dass Zweitursache wie ein Zufall erscheint.

Bsp. 1 - BGH NJW 1989, 767: innerer Zusammenhang zwischen fehlerhafter Erstversorgung eines Fingerbruchs (unzureichende Fixierung) einerseits und Folgeschäden durch nachfolgende Korrektur-Operationen, bei denen Beugesehne des Fingers durchtrennt wurde, und Hepatitis-Infektion während des Klinikaufenthalts andererseits (+).

Bsp. 2 (BGH NJW 1988, 58): Kraftfahrer, der zu schnell in Nebelbank einfährt, dort ein Fahrzeug streift und anschließend mit 12 km/h auf der rechten Spur verkehrsgerecht weiterfährt, haftet nicht für einen Auffahrunfall durch ein nachfolgendes Fahrzeug (-).

arg.: Risiken durch früheren Verkehrsverstoß bereits abgeklungen; Auffahrunfall war „Zufall“.

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§ 3 Die Haftung aus vermutetem Verschulden (1)

1. Grundprinzip: Beweiserleichterung

a) Allgemeiner Grundsatz: Geschädigter muss grundsätzlich alle Anspruchsvoraussetzungen beweisen.

b) Beweiserleichterungen: Verschulden wird vermutet bei

- Haftung für Verrichtungsgehilfen (§ 831 BGB)- Haftung des Aufsichtspflichtigen (§ 832 BGB)- Haftung des Nutztierhalters (§ 833 S.2 BGB)- Haftung des Fahrzeugführers (§ 18 StVG)

c) Im folgenden Beschränkung auf § 831 (wichtig wegen Produzentenhaftung)

Haftung knüpft nicht an ein Verschulden des Verrichtungsgehilfen an - es genügt dessen rechtswidrige unerlaubte Handlung (= Tatbestand der §§ 823 ff) - , sondern an ein Auswahl- und Aufsichtsverschulden des Geschäftsherrn.

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§ 831 Haftung für den Verrichtungsgehilfen

(1) Wer einen anderen zu einer Verrichtung bestellt, ist zum Ersatz des Schadens verpflichtet, den der andere in Ausführung der Verrichtung einem Dritten widerrechtlich zufügt. Die Ersatzpflicht tritt nicht ein, wenn der Geschäftsherr bei der Auswahl der bestellten Person und, sofern er Vorrichtungen oder Gerätschaften zu beschaffen oder die Ausführung der Verrichtung zu leiten hat, bei der Beschaffung oder der Leitung die im Verkehr erforderliche Sorgfalt beobachtet oder wenn der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt entstanden sein würde….

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§ 3 Die Haftung aus vermutetem Verschulden (2)

2. Haftung für Verrichtungsgehilfen (§ 831)

a) Auswahl- und Aufsichtsverschulden wird vermutet.

Konsequenz: Geschäftsherr muss sich gem. § 831 I 2 entlasten (sog. Exkulpationsbeweis), indem er beweist, dass ihm bei Auswahl und Aufsicht kein Verschulden unterlaufen ist.

§ 831 I 2 ist negatives Tatbestandsmerkmal („die Ersatzpflicht tritt nicht ein ...“)

b) Begründung:

Geschäftsherr „näher dran“ als der Geschädigte, das Risiko der Unaufklärbarkeit zu tragen (Beweislast).

Korrespondenz von Vorteil und Risiko: Geschäftsherr setzt Gehilfen im eigenen Interesse ein; muss daher auch für deren Versagen einstehen.

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§ 3 Die Haftung aus vermutetem Verschulden (3)

c) Verrichtungsgehilfe:

Verrichtungsgehilfe: nur weisungsabhängige und in den Organisationsbereich des Geschäftsherrn eingegliederte Personen, also im Regelfall Arbeitnehmer.

Keine Verrichtungsgehilfen: selbständige Handwerker und Unternehmer; für diese haftet man nur im Rahmen eines bestehenden Schuldverhältnisses (§ 278 BGB).

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d) Unterschiede vertragliche - deliktische Haftung bei Hilfspersonen § 278

- Zurechnungsnorm - Haftung für selbständige

Hilfspersonen (Erfüllungsgehilfen)

- Voraussetzung: Schuldverhältnis (Pflichtverletzung, Verschulden HP)

- kein Entlastungsbeweis- Ersatz von Vermögensschäden- Schmerzensgeld (§ 253 II)

§ 831- Selbständige Anspruchsgrundlage- Haftung für unselbständige

Hilfspersonen (Verrichtungsgehilfen = Arbeitnehmer, sozial abhängig, weisungsgebunden)

- Voraussetzung: rechtswidrige unerlaubte Handlung HP; kein Schuldverhältnis

- Entlastungsbeweis (Auswahl und Aufsicht)

- i.d.R. Rechtsgutsverletzung- Schmerzensgeld (§ 253 II)

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§ 278 Verantwortlichkeit des Schuldners für Dritte

Der Schuldner hat ein Verschulden seines gesetzlichen Vertreters und der Personen, deren er sich zur Erfüllung seiner Verbindlichkeit bedient, in gleichem Umfang zu vertreten wie eigenes Verschulden. Die Vorschrift des § 276 Abs. 3 findet keine Anwendung.

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Fall 6: Produzentenhaftung

Tierarzt Adler wurde vom Landwirt Lamm beauftragt, seine Hühner gegen „Hühnerpest“ zu impfen. Nach drei Tagen brach dennoch die „Hühnerpest“ aus, an der sämtliche Hühner des Lamm zugrunde gingen (Schaden 25.000 €). Es stellte sich heraus, dass das verwendete Serum, das Adler beim Hersteller des Impfstoffes, Hase, bezogen hatte, durch eine bakterielle Verunreinigung wieder aktiv geworden ist. Wie es zu der Verunreinigung gekommen ist, blieb bis zuletzt ungeklärt. Lamm verklagt sowohl Adler als auch Hase auf Schadensersatz und meint, diese müssten ihre Schuldlosigkeit beweisen. Wie ist die Rechtslage?

Literatur: BGHZ 51, 91; Medicus, SchuldR II, Rn. 99 - 112; ders., BR Rn. 650 - 650 i.

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Lösung Fall 6: Produzentenhaftung (1)

A 611 L

? Hühnerpest

433

H (Serum)

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Lösung Fall 6: Produzentenhaftung (2)

A. Ansprüche L gegen A

I. Vertragliche Ansprüche? §§ 280 I, 611 BGB

1. Schuldverhältnis A/L: Arztvertrag ist in der Regel Dienstvertrag

arg.: geschuldet ist nicht Erfolg (Gesundheit); menschlicher Organismus zu kompliziert, als dass Arzt Erfolgsgarantie übernehmen könnte.

Gilt auch beim Tierarzt und bei der Impfung.

2. Objektive Pflichtverletzung: Verwendung eines verunreinigten Serums = Schlechtleistung (§ 280 I +)

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Lösung Fall 6: Produzentenhaftung (3)

3. Verschulden (§ 280 I 2):

a) Zwischenerwerber (Händler, Verwender) haben keine eigene Untersuchungs- und Prüfungspflicht der von ihnen weiterveräußerten bzw. verwendeten Produkte.

• Grund: unzumutbar, häufig auch technisch nicht möglich, gelieferte Ware zu untersuchen. Arzt muss sich darauf verlassen können, dass das gekaufte Serum in Ordnung ist.

• Verkäufer, der die Ware eines Herstellers lediglich vertreibt, hat mangelhafte Lieferung regelmäßig nicht zu vertreten (keine Untersuchungspflicht)

• Im Einzelfall auch Untersuchungspflicht beim spezialisierten Fachhandel (BGH NJW 2004, 2301; 2006, 1589: Importeur einer in China hergestellten Tapetenkleistermaschine ist verpflichtet, diese beim Inverkehrbringen auf ihre Verkehrssicherheit zu untersuchen).

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Lösung Fall 6: Produzentenhaftung (4)

b) Einstehen für Verschulden des Herstellers (§ 278 BGB) ?

§ 278 setzt voraus, dass Hersteller im Pflichtenkreis des Tierarztes tätig wurde.

Tierarzt schuldet jedoch nicht Herstellung des Serums, Hersteller gehört also nicht zum Pflichtenkreis des Arztes (-); sonst würde Zwischenerwerber auf Umwegen doch zu umfangreichen Überprüfungen genötigt.

II. Ansprüche nach § 831:

Hersteller H nicht Verrichtungsgehilfe des A. (-)

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Lösung Fall 6: Produzentenhaftung (5)

B. In Betracht kommen also nur Ansprüche L gegen H:

I. Vertragliche Ansprüche

1. Zwischen Hersteller H und Letztabnehmer L bestehen in der Regel keine vertraglichen Beziehungen.

Werbung beinhaltet kein Angebot auf Vertragsschluss, sondern erweitert allenfalls Sachmängelhaftung des Verkäufers gem. § 434 I 3 BGB

2. Garantieerklärungen:

kein Anhaltspunkt (-)

i.d.R. ohnehin beschränkt auf Mängelbeseitigung, keine Einstandspflicht für Mangelfolgeschäden

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Lösung Fall 6: Produzentenhaftung (6)

3. Einbeziehung des L in den Schutzbereich des Kaufvertrages zwischen Hersteller und Käufer (Arzt):

a) Einbeziehung in den Schutzbereich möglich, aber geschützter Personenkreis beschränkt:

i.d.R. muss Vertragsgläubiger für „Wohl und Wehe“ des Dritten verantwortlich sein: enge Verwandte, Partner nichtehelicher Lebensgemeinschaft, Mieter, Arbeitnehmer

im Verhältnis zwischen Verkäufer und Käufer besteht regelmäßig keine Pflicht zur personenrechtlichen Sorge

b) Fallbezogen: Verhältnis Tierarzt und Dienstberechtigter (Landwirt) wie Verkäufer /Käufer (fehlt personenrechtlicher Einschlag)

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Lösung Fall 6: Produzentenhaftung (7)

4. Drittschadensliquidation:

bei einer zufälligen Schadensverlagerung ist Vertragspartner berechtigt, Drittschaden geltend zu machen (Bsp.: obligatorische Gefahrentlastung gem. § 447 BGB).

BGH lehnt ab, da Schaden typischerweise bei L eintritt und nicht – zufällig – bei L statt bei A (BGHZ 51, 91, 95)

Ergebnis: L hat gegen H keine vertraglichen Ansprüche.

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Lösung Fall 6: Produzentenhaftung (8)

II. Deliktische Ansprüche: § 823 I

1. Tatbestand

a) Rechtsgut: Eigentum des L

b) Verletzungshandlung: Produktion von verunreinigtem Serum

c) Kausalität: Verletzung ist äquivalent und adäquat kausal; sie liegt auch im Rahmen des Schutzzwecks der verletzten Norm

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Lösung Fall 6: Produzentenhaftung (9)

2. Rechtswidrigkeit:

bei mittelbaren Rechtsgutsverletzungen muss Rechtswidrigkeit positiv festgestellt werden; umfangreiche Rechtsprechung zu Verkehrssicherungspflichten des Herstellers von Produkten:

a) Hersteller haftet für:

- Konstruktionsfehler- Produktions- oder Fabrikationsfehler- Instruktionsfehler

b) Außerdem treffen ihn- Produktbeobachtungspflicht sowie- Überprüfungs- und Befundsicherungspflicht

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Lösung Fall 6: Produzentenhaftung (10)

aa) Konstruktionsfehler (Beispiel: A-Klasse; Schwerpunkt zu hoch; ganze Serie fiel durch „Elch-Test“)

bb) Produktions- oder Fabrikationsfehler: Konstruktion an sich einwandfrei, aber einzelne Stücke sind mangelhaft, z.B. weil eine Schraube bei der Endmontage nicht richtig angezogen wurde („Montagsauto“; sog. Ausreißer).

cc) Instruktionsfehler: Hier ist das Produkt einwandfrei, aber der Verbraucher wird nicht hinreichend über Gefahren aufgeklärt.

Beispiel: Milupa-Kindertee (BGHZ 116, 60 ff.: verursacht schwere Kariesschäden, wenn es den Kindern zum „Dauernuckeln“ überlassen wird.

Grund: Hintere Schneidezähne werden umspült, dadurch kaum Speichelfluss, dadurch können Bakterien ungestört arbeiten.

Aufklärender Hinweis auf Gefahren des Dauernuckelns in der Zubereitungs-anleitung genügt nicht, da diese von den meisten Müttern nicht mehr gelesen wird; sie wissen, wie man Tee zubereitet.

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Lösung Fall 6: Produzentenhaftung (10)

dd) Produktbeobachtungspflicht:

Selbst wenn Produkt nach dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik einwandfrei ist, besteht Pflicht zur Produktbeobachtung, um auf sich später zeigende Fehler zu reagieren.

Honda-Fall (BGHZ 99, 167):

Pflicht zur Marktbeobachtung umfasst auch die Gefahren aus der Kombination des eigenen Produkts (Honda-Motorrad) mit Produkten anderer Hersteller (Lenkverkleidung)

Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Produkte anderer Hersteller in größerem Umfang auf den Markt kommen und sich Anzeichen ergeben, dass bei hohen Geschwindigkeiten die Maschine unsicher wird.

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Lösung Fall 6: Produzentenhaftung (11)

ee) Überprüfungs- und Befundsicherungspflicht

Bsp. Limonadeflaschen (BGHZ 104, 323):

Hersteller muss Mehrwegflaschen nicht nur auf Berstsicherheit testen, sondern auch die lückenlose Kontrolle jeder Flasche dokumentieren (Befundsicherungspflicht)

Grund: Beweisprobleme bei Schäden dürfen nicht zu Lasten des Geschädigten gehen.

Hersteller muss daher Beweise sichern, um beweisen zu können, dass Haarrisse bei einzelnen Flaschen nicht auf Produktionsfehlern, sondern auf Transportschäden nach dem Inverkehrbringen (Zwischenhändler) verursacht wurden.

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Lösung Fall 6: Produzentenhaftung (12)

c) Fallbezogen: u.U. Fabrikationsfehler, aber man weiß nicht, wie die bakterielle Verunreinigung zustande gekommen ist.

Es stellt sich daher die Frage nach der Beweislast:

Grundsatz: Geschädigter trägt Beweislast für Tatbestand der unerlaubten Handlung (VSP)

Geschädigter aber in Beweisnot, da er keinen Einblick in die Abläufe und Interna eines Betriebes hat

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Lösung Fall 6: Produzentenhaftung (13)

d) Rechtsprechung verteilt daher Beweislast wie folgt:

aa) Der Geschädigte muss beweisen:

Fehler des Produkts

Rechtsgutsverletzung

Fehler stammt aus dem Gefahrenbereich des Herstellers (Kausalität).

bb) Hersteller muss beweisen:

Keine Verkehrspflichtverletzung und kein Verschulden.

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Lösung Fall 6: Produzentenhaftung (14)

(1) Für den Entlastungsbeweis gelten außerordentlich strenge Anforderungen:

Hersteller muss darlegen und beweisen:

- worauf der Fehler beruht, - dass dieser nicht auf der schlechten Auswahl oder Beaufsichtigung

der Verrichtungsgehilfen beruht (§ 831 I 2), - auch nicht auf einem Organisationsverschulden (§ 823 I).

(2) Beweis kaum zu führen, so dass im Ergebnis die Produzentenhaftung auf eine Gefährdungshaftung hinausläuft.

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Lösung Fall 6: Produzentenhaftung (15)

(3) Im konkreten Fall konnte H den Beweis nicht führen:

SVst. stellte fest, dass Herstellungsmethoden „verbesserungs-bedürftig“ seien, insbesondere das Abfüllen des Serums „per Hand“

Deshalb genügte es nicht, dass sich H für sämtliche Verrichtungsgehilfen und die Leiterin der Virus-Abteilung entlastete (§ 831 I 2).

Ergebnis: H haftete gem. § 823 I wegen ungenügender Organisation des Herstellungsprozesses.

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Lösung Fall 6: Produzentenhaftung (16)

III. Ansprüche nach dem Produkthaftungsgesetz

1. Für Sachschäden haftet Hersteller nur, wenn fehlerhaftes Produkt seiner Art nach gewöhnlich für den privaten Ge- oder Verbrauch bestimmt und hierzu von dem Geschädigten hauptsächlich verwendet worden ist (§ 1 I 2 ProdHaftG):

Landwirt L kein Endverbraucher, sondern Unternehmer (-)

2. Produkthaftung aufgrund anderer Vorschriften bleibt unberührt (§ 15 II ProdHaftG), so dass Rechtsprechung des BGH zur Produkthaftung nach wie vor gilt.

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§ 4 Gefährdungshaftung (1)

I. Anwendungsbereich und Grundgedanken

1. Gefährdungshaftung ist nicht in einer Generalklausel geregelt, sondern in zahlreichen Spezialnormen:

- § 7 StVG: Kfz (seit 1908)- § 833 BGB (Tierhalter)- § 33 LuftVG (Luftfahrzeuge seit 1922)- §§ 25 ff AtomG (Kernenergie)- § 1 UmweltHG (Nr. 28 Schönfelder; für Einwirkungen auf die Umwelt)- § 84 AMG (für Arzneimittel)- § 1 ProdHaftG (Produktfehler)- HaftpflG (Schwebebahnen, Strom- und Rohrleitungen)

Gesamtanalogie für ähnlich gefährliche Sachen oder Aktivitäten, z.B Schusswaffen oder Schlepplifte?Nein! „Enumerationsprinzip“; Gesetzgeber wollte und will keine umfassende Generalklausel für jedes gefährliche Tun!

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§ 4 Gefährdungshaftung (2)

2. Grundgedanken der Gefährdungshaftung:

a) Haftung für gefährliches Tun oder Unterhaltung einer Gefahrenquelle

b) Zurechnungsgründe:

Verursachung einer erhöhten Gefahr und/oder ihre abstrakte Beherrschbarkeit

Korrespondenz von Vorteil und Risiko.

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§ 4 Gefährdungshaftung (3)

II. Tierhalterhaftung (§ 833 S. 1 BGB)

1. Tier: jedes Lebewesen, das weder Mensch noch Pflanze ist

a) Mikroorganismen, Bakterien, Viren?

b) Haftung für Ansteckung mit Grippeviren?

Medicus SR II, Rn. 871 f.: Mikroorganismen sind durchaus Tiere, aber der Erkrankte ist nicht „Tierhalter“ (nur derjenige, der Tier willentlich annimmt, nutzt und „beherrscht“).

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§ 4 Gefährdungshaftung (4)

c) Grippekranker: weder Tierhalter-, noch Verschuldenshaftung

arg.: wer Grippekranken begegnet, kann „Ansteckung“ ausweichen

außerdem Kausalität fraglich: Infektion mit Viren beruht auf Gründen, die auch bei einem selbst liegen (Stress, zu wenig Bewegung, Sitzen in trockener Luft, Rauchen, zu wenig Sport).

2. Verwirklichung der spezifischen Tiergefahr:

a) Durch Erfordernis spezifischen Tiergefahr (selten verneint)

Katze als Wurfgeschoß ist Produkt der Lehrbuchphantasie

Zur typischen Tiergefahr gehört es dagegen, dass Tiere wegen ihrer „Unvernunft“ irgendwo hinlaufen, sich hinlegen und Hindernisse bilden

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§ 4 Gefährdungshaftung (5)

b) Auch Haftung für mittelbare Schäden (Hund hetzt Schafe auf Fahrbahn bzw. ICE-Trasse; vgl. OLG München, VersR 1984, 1095)

Haftung des Schäfers (spektakulärer ICE-Unfall 2006/7): bei Nutztieren Entlastungsbeweis möglich (§ 833 s. 2)

c) Zurechnung scheitert aber wegen fehlenden Schutzzweck-zusammenhangs, wenn selbstschädigende Reaktion vernünftigerweise nicht veranlasst war:

wenn jemand durch das Bellen eines Hundes oder als Zeuge einer Hunderauferei einen Herzinfarkt erleidet (Karlsruhe VersR 1993, 614).

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Fall 7: Tierhalterhaftung (§ 833 BGB) (1)

Swantje und Gesine hatten ihre Pferde in einem Reitstall in R untergebracht. Nachdem sich herausstellt, dass Gesines Pferd erkrankt war, stellte ihr Swantje ihr eigenes Pferd für die Reitstunde zur Verfügung. Da das Pferd lustlos ging, forderte der Reitlehrer Gesine auf, die Gerte einzusetzen. Daraufhin buckelte das Pferd und warf Gesine ab. Diese wurde schwer verletzt und verlangt daraufhin Schadensersatz und Schmerzensgeld von Swantje als Tierhalterin. Mit Recht?

Literatur: BGH NJW 1992, 2474; Larenz/Canaris, § 84 II; Medicus, SchuldR II, Rn. 870 ff.

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Fall 7: Tierhalterhaftung (§ 833 BGB) (2)

Ansprüche G/S:

A. § 823 I:

I. Rechtsgutsverletzung: Körper

II. Kausalität: Überlassen des Pferdes durch S adäquat äquivalent kausal

III. Rechtswidrigkeit: grds. indiziert, aber nicht bei mittelbaren Rechtsgutverletzungen.

Hier: erst das Reiten und die Ermunterung durch die Reitgerte führten zum Unfall

Folge: S müsste Pflichtverletzung vorzuwerfen sein (-)

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Fall 7: Tierhalterhaftung (§ 833 BGB) (3)

IV. Verschulden der S: kein Anhaltspunkt (-)

B. § 833 Satz 1 Tierhalterhaftung

I. Rechtsgutsverletzung: Körper, Gesundheit: ( + )

II. Durch ein „Tier“ ( + )

Kausalität setzt Verwirklichung der spezifischen Tiergefahr voraus:

Buckeln (+)

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Fall 7: Tierhalterhaftung (§ 833 BGB) (4)

III. Tierhalter:

wer die Bestimmungsmacht über das Tier hat,

aus eigenem Interesse für die Kosten des Tieres aufkommt und

das wirtschaftliche Risiko des Verlustes trägt (BGH NJW-RR 1988, 655, 656)

i.d.R. der Eigentümer (= S)

[Exkurs: KfZ-Halter: nicht Mieter, wohl aber Leasing-Nehmer]

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Fall 7: Tierhalterhaftung (§ 833 BGB) (5)

IV. § 833 Satz 2 BGB: Einschränkung der Gefährdungshaftung bei Haus- und Nutztieren (Entlastungsbeweis)

1. Haustiere: Katze, Hund, Kanarienvogel

Gegensatz wilde Tiere (Raubtiere, Singvögel, Damwild, Meerschweinchen, Fische...)

2. Nutztiere: die dem Beruf (Polizeihund; Jagdhund des Försters), der Erwerbstätigkeit (Landwirt) oder dem Unterhalt des Tierhalters (Blindenhund) dienen

Gegensatz Luxustier

Fallbezogen: Pferd der S = Luxustier, weil ideellen Zwecken dienend

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Fall 7: Tierhalterhaftung (§ 833 BGB) (6)

V. Bedenken:

1. Freiwillige Selbstgefährdung der G

a) Sinn und Zweck der Gefährdungshaftung: passt nicht!

arg.: Wer sich freiwillig der Gefahr aussetzt, kann ausweichen

Halter nicht „näher dran“, für die Tiergefahr einzustehen, als der Geschädigte.

b) Parallele zu § 8 Nr. 2 StVG: keine Gefährdungshaftung gegenüber dem Fahrer (früher § 8a StVG a.F. bei unentgeltlicher Personenbeförderung keine Haftung gegenüber Insassen).

Grundgedanke - bei freiwilliger Selbstgefährdung keine Gefährdungshaftung - verallgemeinerungsfähig

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Fall 7: Tierhalterhaftung (§ 833 BGB) (7)

c) Haftungserleichterung analog § 599 BGB: Grundgedanke - Haftungserleichterung bei bloßen Gefälligkeiten

2. BGHZ NJW 1992, 2474:

a) keine Analogie zu §§ 8, 8 a StVG; arg.: Ausnahmevorschriften eng auszulegen (Kritik: dennoch Einzelanalogie zulässig; Art. 3 GG – nur Gesamtanalogie verboten).

b) Keine Analogie zu § 599 BGB: Haftungsbeschränkung bei bloßen Gefälligkeiten (außer § 599 vgl. noch §§ 521, 690) kein allgemeines Prinzip (vgl. §§ 662, 680).

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Fall 7: Tierhalterhaftung (§ 833 BGB) (8)

c) Lösung BGH: Mitverschulden der G gem. § 254

aa) Verletzung von Sorgfaltspflichten durch G im eigenen Interesse (z.B. Pferd gereizt oder Reiten ohne Reiterfahrung); BGH lässt offen

bb) G haftet als Tieraufseher für vermutetes Verschulden (§ 834 S. 1). G hat als Reiterin die Führung der Aufsicht über das Tier übernommen (§ 834 Satz 1 BGB)

Vermutung nicht widerlegt, da zur Entlastung nichts vorgetragen war

Folge: Mitverantwortung gem. §§ 834 S. 1, 254 I BGB

Ergebnis: Schadensteilung 50 : 50