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Von der Paulskirche on der Paulskirche on der Paulskirche on der Paulskirche on der Paulskirche bis zum bis zum bis zum bis zum bis zum Ende des Kaiserreichs Ende des Kaiserreichs Ende des Kaiserreichs Ende des Kaiserreichs Ende des Kaiserreichs Eine 5-teilige Vortragsreihe der Volkshochschule Kamen-Bönen mit Dr. Janine Teuppenhayn Naturwissenschaften, Technik, Frauengeschichte Christian Frieling Geschichte, Literatur Hans-Jürgen Kistner Musik Frank Scheidemann Kunst, Architektur Manfred von Horadam Philosophie, Kirchengeschichte im Herbstsemester 2004 Volkshochschule Kamen-Bönen Am Geist 1 59174 Kamen Telefon: 02307 - 9 24 20 50-55 Projekt „Zeitenwende“:

Projekt „Zeitenwende“ · 2015. 6. 12. · Evolutionstheorie die zweite große Kränkung der Menschheit darstellt. Die erste war das „koper-nikani-sche Welt-bild“, das die

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  • VVVVVon der Paulskircheon der Paulskircheon der Paulskircheon der Paulskircheon der Paulskirchebis zumbis zumbis zumbis zumbis zumEnde des KaiserreichsEnde des KaiserreichsEnde des KaiserreichsEnde des KaiserreichsEnde des Kaiserreichs

    Eine 5-teilige Vortragsreihe derVolkshochschule Kamen-Bönen

    mitDr. Janine Teuppenhayn Naturwissenschaften, Technik,

    FrauengeschichteChristian Frieling Geschichte, LiteraturHans-Jürgen Kistner MusikFrank Scheidemann Kunst, ArchitekturManfred von Horadam Philosophie, Kirchengeschichte

    im Herbstsemester 2004

    Volkshochschule Kamen-BönenAm Geist 1

    59174 KamenTelefon: 02307 - 9 24 20 50-55

    Projekt „Zeitenwende“:

  • ...bis zum Ende des Kaiserreichs

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    Unser letztes Projekt „Zeitenwende“vor einem Jahr war der Romantik ge-widmet, die die letzte große Kultur-Epoche Europas darstellt, die Dichtungund Philosophie, Kunst, Wissenschaftund Musik gleichermaßen umfasste.Oft wird sie, ausgehend von Rousseau,der jede Form von Kultur als „Perver-tierung des Ursprünglichen“ ansah unddeshalb sein „Zurück zur Natur“ formu-lierte, als Gegenströmung zur Aufklä-rung, Französischen Revolution undKlassik interpretiert. Jetzt standen nichtmehr die als „kalt“ empfundene Ratio-nalität der Aufklärung, sondern Subjek-tivität, Empfindsamkeit, Irrationalismusund Unbewusstes im Mittelpunkt.

    Denn die hehren Freiheitsideale vonAufklärung und Revolution hielten derWirklichkeit nicht stand: Die Menschenlebten nun in einer Welt, die entzaubertund radikal umgestaltet wurde, die Ra-tionalität durchdrang die letzten Ge-heimnisse, es entstand die Vorstellung,mit Hilfe von Vernunft und Technik „al-les machen“ zu können.In den Fabriken, in Städten und aufdem Land herrschte unbeschreiblichesElend, große Teile der Bevölkerungwurden als Folge der wirtschaftlichenund sozialen Umgestaltung entwurzeltund aus ihren sozialen und kulturellenBindungen gerissen.

    So waren Zweifel, aber auch Verzweif-lung zentrale Elemente der Romantik.Das Innere des Menschen wurde jetztder Raum für Freiheit und Selbst-verwirklichung, nachdem sich gezeigthatte, dass der äußere es nicht war.

    Als Gegen-Entwurf zur Realität schufendie Romantiker ihre Welt, in der derMensch nicht auf eine Funktion redu-ziert, sondern das Individuum für sichgeachtet und erneut (wie in der Re-naissance) hemmungslos glorifiziertwurde, Bewusstes und Unbewussteseine Einheit bildeten.Der Romantik haftete ein gewisserHang zu Mystizismus, religiöserSchwärmerei und Mittelalterkult an. Diedamalige Zeit wurde unübersichtlich,veränderte sich rasch, weshalb dieRomantiker gedanklich „zur guten altenZeit“ zurückkehrten, indem sie dieHeroisierung des Mittelalters mit seinerklar strukturierten Gesellschaft betrie-ben. Ihre kultisch wirkende Verehrungdes einfachen, harten, aber sinnvollenLebens in Einklang mit der Natur führtezur Erfindung des „edlen Wilden“ undzur Idealisierung des bäuerlichen Land-lebens. All das hat der Epoche den Rufeiner wirklichkeitsleugnenden, welt-flüchtenden Bewegung eingebracht.Aus dieser Rückwendung in mythischeVorzeiten, die Ablehnung von Moder-

    nisierung und Großstadt sowie dieVerklärung des Bauern ziehen Kritikerheute immer wieder eine direkte Linievon der Romantik zum Nationalsozia-lismus, der sich auch aus roman-tischen Versatzstücken seine Ideologiezusammenzimmerte. Dem sich inEuropa ausbildenden, damals nochemanzipatorischen Nationalbewusst-sein verliehen die Romantiker einenfast religiös-kultischen Charakter, derspäter viele Anknüpfungspunkte füreine reaktionäre Politik bot.

    So wurde die Welt mythisiert undästhetisiert, oder auch, wie bei HeinrichHeine, ironisiert, um dem Zweifel, demLeiden der Persönlichkeit an der realenWelt, zu entgehen.Der romantische Versuch, dem aufklä-rerischen Vernunftkonzept mit Intuition,Phantasie und Mystischem zu begeg-nen und es letztlich zu überwinden,quittierten die Aufklärer mit Hohn undSpott. Das, was die Aufklärer verhöhn-ten, machten die Romantiker zum Zen-trum ihrer Gedanken: das Dunkle, dasMittelalterliche, die Phantasterei, dasGeheimnisvolle, Mythische, Klerikale,Volkstümliche, die Sagen und Erzäh-lungen, die Sehnsucht nach Einheit mitdem Weltganzen und nach fernen Kul-turen. Das häufig Fragmentarisch-bruchstückhafte, das der Romantik

    „Von der Paulskirche biszum Ende des Kaiserreichs“

    heißt das nunmehr 5. Projekt „Zeiten-wende“. Auch hier verfolgen wir wie-

    der die Frage: Wie kommt es zu einer „neuen Zeit“, in der „mit einem Mal“ anders gemalt, gebaut, geschriebenund musiziert wird, in der sich neues Denken in Philosophie und Wissenschaft Bahn bricht?

    Nach den vorausgegangenen Projekten (Renaissance; Barock; Aufklärung und Revolution 1789; Romantikund Revolutionsjahr 1848) beschäftigen uns nun Kunst und Kultur, Politik und Philosophie, Musik und Litera-tur der Zeit von 1848 bis zum Ende des 1. Weltkrieges.

    Diese Zeit war geprägt durch rasche Industrialisierung, das Erstarken von Bürgertum und sozialistischer Ar-beiterbewegung, den Deutsch-Französischen Krieg, die Schaffung des Deutschen Reiches, Bismarcks Sozial-politik und sein „Kulturkampf“ gegen die „Ultramontanen“, aber auch durch den Amerikanischen Bürgerkrieg.Und schließlich: Imperialismus und Kolonialismus drückten der Politik ihren Stempel auf - und führten die Weltin die Katastrophe des 1. Weltkrieges.

    Als Zeitgenossen begegnen uns u.a. in der Literatur Theodor Fontane, in den Wissenschaften Charles Darwin,Louis Pasteur, Robert Koch, in Kunst und Architektur Lovis Korinth, Wassily Kandinsky oder Walter Gropiusund in der Musik u.a. Richard Wagner, in der Philosophie Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche undschließlich auch Papst Pius IX., der auf dem 1. Vatikanischen Konzil das „päpstliche Unfehlbarkeits-Dogma“durchsetzte und damit die Krise der Kirche verschärfte... - und auch die „Frauenfrage“ harrte ihrer Lösung...

    1. Abend: Rückblick und Ausblick

  • Von der Paulskirche...

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    anhaftet, lässt sich wohl auch als Indizdafür deuten, dass die angestrebte Ein-heit von Religion, Philosophie undstaatlicher Ordnung, wie sie in verklär-ter Vergangenheit bestanden habensoll, bereits für diese Künstlergenera-tion kaum noch darstellbar war. So wardenn auch die Vergötterung des Ichsund der eigenen Originalität durch dieRomantiker auf die Gesellschaft nichtübertragbar, sondern an die Persondes jeweiligen Schöpfers gebunden.Das musste diese in die Isolation derselbst geschaffenen Vereinsamung bishin zu Schwermut, Weltschmerz undfrühem Tod führen.

    Die Romantik kann man also als eineEpoche begreifen, auf der schon derSchatten der kapitalistischen Umwäl-zung lag, der die Vermassung undAnonymisierung großer Volksteile undeben nicht Originalität und Individualitätverlangte. Dies wurde von den geisti-gen Eliten als zerstörerische Gefahrwahrgenommen und vereinte sie poli-tisch, philosophisch und künstlerisch inihrer Abwehr der neuen Zeit.

    Ob die Romantik nun als radikalerBruch mit der Aufklärung angesehenwird, als Gegenströmung zur Moderni-sierung, oder als Pendant der Aufklä-rung, als „reflexive Aufklärung“ – sietrug bei allen, die sich in der intellektu-ellen Zwangsjacke der Aufklärung oderin den Krallen fremder Mächte gefan-gen fühlten, folgende grundsätzlicheZüge:• ein radikaler Erkenntniswechsel

    vom „Logos“, also dem Geist/Ver-stand, zum „Mythos“, woraus dieBetonung des Gefühls, das intuitiveVerstehen als Quelle des Wissensfolgte;

    • eine Wiederverzauberung der Naturals Reaktion auf die Folgen der wis-senschaftlichen Durchdringung derWelt und der industriellen Revolu-tion. Romantiker fühlten sich zuRousseaus: „Zurück zur Natur!“ hin-gezogen, woraus sich Flucht vor derZivilisation und Idealisierung deseinfachen ländlichen Lebens ergab;

    • daraus wiederum folgte die Ideali-sierung und Verehrung des „edlenWilden“, der, so der Zeitgeist, in

    paradiesischen Gegenden der Weltseiner Natur, anders als man selbst,noch folge, woraus sich weiterer An-lass für umfassende Zivilisations-kritik ergab;

    • die Anhängerschaft zur Naturphilo-sophie, die die Grundüberzeugun-gen der jüdisch-christlichen Religionherauszufordern begann;

    • die Überhöhung des Nationalen alsetwas Absolutes, ein quasi heiligerImperativ, der höchste Opfer wertsei, woraus sich die Suche nachden nationalen Wurzeln und derHinwendung zum idealisierten Mit-telalter ergab;

    • das große Gewicht, dass der Kunstfür die menschliche Erkenntnis bei-gelegt wurde und das in der Vereh-rung des Genie-Ideals gipfelte.

    Doch der Romantik war nur ein kurzesBlühen beschieden – schon nach demersten Drittel des 19. Jahrhundert be-gann sich eine Strömung machtvolldurchzusetzen, die mit den Begriffen„Realismus“, „Naturalismus“ oderauch „Materialismus“ bezeichnet wird.Die Begriffe zeigen schon an, dass esauf unterschiedlichen Gebieten um dieWirklichkeit ging – um das, was durchdie Sinne beobachtbar und wahrnehm-bar die Wirklichkeit von Mensch undNatur ausmache.Diese Auffassung, die sich im gesam-ten gesellschaftlichen Leben, in Kunst,Wissenschaften und Philosophie zeig-te, grenzte sich scharf von allem Über-natürlichen ab, das man als Illusion, als„unwirklich“ ansah.

    Stellvertretend für diese Richtung ste-hen drei Persönlichkeiten: 1. DavidFriedrich Strauß oder Ludwig Feuer-bach (1804-1872), die in ihren Schrif-

    ten „DasLeben Jesu“(1835) und„Das Wesendes Chri-stentums“(1840) derReligionjeglichenRealitäts-gehalt ab-sprachenund sie alsErfindungdes Men-schen inter-

    pretierten. Diese Schriften hatten wiekaum andere Bücher des 19. Jhrdts.

    eine ungeheure Wirkungen. Sie stelltenden Endpunkt einer langen Geschichtedar, mittels rationaler und empirischerBegründungen die Existenz Gottesnachzuweisen (so genannte Theodi-zees). Rückblickend wird deutlich, dassder Versuch, Gottes Existenz rationalzu beweisen, bereits von dem Gefühlgeprägt war, die „Wahrheit des Glau-bens“, Gott selbst, verloren zu haben.Die Vernunft, kühle und abwägendeGedanken und Beweisführungen soll-ten also herbeiführen, was man bereitsverloren hatte: die Kraft zur religiösenErfahrung, zum religiösen Gefühl.Deshalb blähte sich das Wissen auf –und musste beim Glauben, der keinerBegründung bedarf, versagen, was jaschon Kant ausgeführt hatte.

    Die Säkularisierung war seit der Fran-zösischen Revolution nicht mehr aufzu-halten und schlug sich im 19. Jhrdt. imBewusstsein großer Teile des Volkesnieder.Folgerichtig hatte in SchopenhauersPhilosophie Gott keinen Platz mehrund Friedrich Nietzsche wird wenigspäter gar den „Tod Gottes“ verkünden.

    Dann ist da 2. Charles Darwin, dessenEvolutionstheorie die zweite großeKränkung der Menschheit darstellt. Die

    erstewar das„koper-nikani-scheWelt-bild“,das dieErde zueinemunbe-deuten-denSternuntervielen

    anderen machte. Die zweite, die„darwinsche“, stellte den Menschenmitten in die Natur, mit der er dochnach eigenem Empfinden wenig ge-mein hatte. Diese Natur, so Darwin, seigeprägt vom Kampf der Arten umsÜberleben, und nur die könnten sichdurchsetzen, die sich ihrer Umwelt ambesten angepassten. Der Mensch - einTeil der Natur, ein Produkt ihrer Ent-wicklung - diese Lehre stieß sich heftigmit der kirchlichen Vorstellung, wonachdie Natur eine unveränderbare Schöp-

    David Friedrich Strauß(1808-1874)

    Charles Darwin (1809-1882)

  • ...bis zum Ende des Kaiserreichs

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    fung Gottes, der Mensch ihre „Krone“seien.Und schließlich 3. auch Karl Marx, dermit seinem dialektischen und histori-

    schen Materialismus ausführte, dass1.der Kampf der Klassen die Geschich-te beherrsche, 2. die jeweils herrschen-den Gedanken wesentlich die Gedan-ken der Herrschenden und lediglichverschleierter Ausdruck ökonomischer(„realer“) Interessen seien.Der Materialismus als philosophischeRichtung, für die die Materie, die objek-tive, außerhalb des Bewusstseins exi-stierende Wirklichkeit das Primäre undBestimmende ist, wurde zur vorherr-schenden Strömung bis zur Schwelledes 20. Jhrdts.

    Damit verbunden war, dass nach denHöhenflügen der Philosophie währenddes Deutschen Idealismus, der die Ro-mantik wesentlich prägte, der Menschseine dort gewonnene Größe verlor.War der Mensch im Deutschen Idea-lismus z.B. bei Fichte durch sein „Ich“noch der Schöpfer der ganzen Weltund großartig in seinen Fähigkeiten,wurde er nun, mit dem enormen Fort-schritt der Naturwissenschaften, derSäkularisierung, dem Leerräumen desHimmels durch Aufklärung und moder-nes Wissen, in der zweiten Hälfte des19. Jahrhunderts klein gemacht:

    Kennzeichnend dafür ist die Redewen-dung: „Der Mensch ist nichts anderesals…“ – und je nachdem, was man nunins Auge fasste, wurde ergänzt z.B.„ein aufrecht gehender Affe“, „ein biolo-gisch-chemischer Apparat“, „das, waser arbeitet“ usw..

    Die Welt und mit ihr der Mensch wur-den auf gesetzmäßige Abläufe vonMaterieteilchen, die Umwandlung vonEnergien, selbst das Denken des Men-schen auf chemisch-physikalischeGehirnvorgänge reduziert.

    Es zählte nur, was sich zählen ließ unddas Maß aller Dinge war das Messen.So ist es auch kein Wunder, dass inder Philosophie mit Schopenhauer undNietzsche zwei folgenreiche Denkerauftreten, die die Vernunft dem blindenWillen der Natur unterordneten, wobeider eine diesen Willen verneinte, wäh-rend der andere ihn bejahte.

    Der Mensch – lediglich ein Rädchen imGetriebe von Natur, Staat, Betrieb undGesellschaft.

    Gegen Ende des Jahrhunderts hattesich im wilhelminischen Reich der Un-tertan als Beispiel für gelungene An-passung an die Umwelt herausgebildet– so verstand man Darwins Evolutions-theorie eben auch. Getragen wurdedies alles durch die Vorstellung, dasssich alle Dinge, selbst das Leben aufelementare Teile herunter analysierenlassen – und man so hinter das „Be-triebsgeheimnis“ der Natur komme.Und wenn man herausfinde, wie dasalles gemacht ist, könne man es auchnachmachen – man sah die Welt unterNützlichkeitsaspekten und wegen derrasanten Fortschritte in Naturwissen-schaft und Technik sehr optimistisch.Hatte Kant noch geschrieben: „ZweiDinge erfüllen das Gemüt mit immerzunehmender Bewunderung und Ehr-furcht: der gestirnte Himmel über mirund das moralische Gesetz in mir“, sodiente Wissen nun dazu, gesellschaftli-chen Aufstieg zu ermöglichen, sichgegen jede Art von „Illusion“ und Täu-schung resistent zu machen:Wer etwas weiß, dem kann man nichtsmehr vormachen – das Beeindrucken-de am Wissen wurde, dass man sichnicht mehr, auch nicht imKantschen Sinne, beeindruk-ken zu lassen brauchte.„Wissen ist Macht“ – dasSchlagwort der Epoche.

    Dieses Denken hatte in dergesellschaftlichen Entwick-lung seine Basis: Das Materi-elle, Ökonomische gewannimmer mehr an Bedeutung,die Vorstellung, man könnemit Hilfe von Wissenschaftund Technik alles machen,

    wurde beherrschend. Man muss sichdabei heute klar machen, dass großeTeile unseres Wissens über den sub-atomaren, atomaren, molekularen undzellulären Aufbau der Welt, der Evolu-tionsgedanke in der Kosmologie, in denGesellschaftswissenschaften, der Geo-logie oder Biologie, bereits am Endedes 19. Jahrhunderts bestand, wennauch noch nicht so exakt und umfang-reich wie heute. Ebenso wurde ein gro-ßer Teil der heutigen technischen Er-rungenschaften wie Eisenbahn, Auto,Fahrrad, Flugzeug, elektrischer Strom,Telefon, Telegraph oder Fotografie im19. Jhrdt. entwickelt - kein Wunderalso, dass der Fortschrittsoptimismusungebrochen und die Vorstellung: „al-les ist machbar“, beherrschend war.Das 19. Jahrhundert war daher auchein Jahrhundert großer gesellschaftli-cher Erschütterungen und Umwäl-zungen, ohne die es diese Entwicklun-gen nicht hätte geben können:Der Kapitalismus wurde zur alles be-herrschenden Wirtschaftsform, dasBürgertum zur stärksten gesellschaft-lichen Macht, dessen ökonomischeKraft in krassem Missverhältnis zur po-litischen Macht stand. Durch die Schaf-fung der Nationalstaaten bildeten sichauch jeweils zentrale Regierungs-apparate, einheitliches Recht, geregel-te Verwaltung und nationale Wirt-schaftsräume mit einheitlichen Maßen,Gewichten und Währungen aus, dieihrerseits Industrie, Handel und Gewer-be mit entsprechender Infrastrukturvorantrieben. Die Entwicklung dampf-und später stromgetriebener Maschi-nen führte durch deren Energiebedarfzur Abholzung großer Teile der Wälder

    Karl Marx (1818-1883)

    AEG, Berlin, um 1912 - eine Stadt in der Stadt

  • Von der Paulskirche...

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    Europas, zur Veränderung ganzerLandschaften, zur Bildung von Bal-lungsräumen, in denen in FabrikenWaren in Massenproduktion herge-stellt wurden. Für diese Produktionwurden Menschmassen gebraucht, dienichts mehr außer ihrer Arbeitskraftbesaßen und aus denen sich eine neueKlasse bildete: das Proletariat.Wer ihm angehörte, obMann, Frau oder Kindfristete sein Leben untererbärmlichen, men-schenunwürdigenArbeits- und Lebensbe-dingungen – das Lebenwar zumeist kurz undfreudlos. Hungersnöte,politische Unterdrük-kung und Verfolgungtrieben Hunderttausendezur Auswanderung. Esformierte sich mit demZiel der sozialistischenRevolution die Arbeiter-bewegung, die jedochgegen Ende des Jahr-hunderts in ihrer Mehr-heit auf soziale und poli-tische Reformen setzte. Die Arbeiterbe-wegung wurde in ihren unterschiedli-chen politischen Ausrichtungen, Partei-en, Vereinen und Gewerkschaften trotzVerfolgung, wie mit dem „Sozialisten-gesetz“ unter Bismarck, zur mächtig-sten politischen Kraft bis weit in das 20.Jahrhundert hinein.

    Mit Sozialismus, Wissenschaft undNationalstaat einher ging der Macht-verfall der Kirche und des Glaubens.

    In weiten Teilen der Bevölkerung fandder Glaube keinen Rückhalt mehr, ausdem staatlichen Leben wurden die Kir-chen immer stärker herausgedrängt.Während die katholische Kirche ihrengeistigen und daraus folgend auch ih-ren weltlichen Machtanspruch universalvertrat und ihr Zentrum in Rom besaß,bestanden die Nationalstaaten inner-halb von Grenzen. Sie definierten sichnicht mehr „christlich“, sondern bürger-lich-„zivil“, beriefen sich auf rational-bürgerliches und nicht mehr göttlichesRecht und vollzogen so die Trennungvon Staat und Kirche. Die Päpste ihrer-

    seits taten vieles dazu, dass die katho-lische Kirche als reaktionär, fortschritts-feindlich und machtversessen angegrif-fen werden konnte, was in Deutschlandzu einem mehrjährigen „Kulturkampf“führte. So gerieten die Kirchen in einenZwei-Fronten-Krieg, einerseits umMacht und Einfluss im bürgerlichenStaat, andererseits im Kampf um dieKöpfe der Menschen, die mit immerneuen wissenschaftlichen und politi-schen Positionen konfrontiert wurden,die den bisherigen religiösen Gewiss-heiten widersprachen.Schließlich kam um die Jahrhundert-

    wende eine ei-genartige Stim-mung auf, diediesen seelenlo-sen Materialis-mus, die kalteÖkonomi-sierung des Le-bens überwin-den wollte:

    Angeregt durchSchopenhauer,aber vor allemNietzsche, be-kam das Wort„Leben“ einenneuen, geheim-nisvollen Klang.In diesen Begriff

    passte alles hinein: Seele, Geist, Natur,Sein, Dynamik, Kreativität.Es entstand die „Lebensphilosophie“,die erneut ein Aufstand gegen die Ra-tionalität, das Kleinmachen des Men-schen gegenüber den objektiven Mäch-ten der Wirklichkeit darstellte.„Leben“ wurde zur Parole der aufkom-menden Jugendbewegung, des Ju-gendstils, der Neuromantik, derReformpädagogik und des Wandervo-gel.

    War Jugend vorher ein Karrierenach-teil, dem man mit Bartwuchsmitteln,„Vatermörder“ und altväterlichen Geh-röcken sowie der unvermeidlichen Bril-le als Statussymbol begegnete, wurdeJugend jetzt als das Vitale, Ungestümeund Aufbruchhafte begriffen. Nun wares das Alter, das sich rechtfertigenmusste, weil es im Verdacht stand, ab-gestorben und erstarrt zu sein.Die ganze wilhelminische Kultur desScheins, in der Marmor kein Marmor,sondern Holz mit imitierter Marmor-oberfläche war, Antikes nicht alt, son-dern Modernes auf antik getrimmt war,

    dieser ganze so genannte „Historis-mus“ wurde mit der Frage konfrontiert:Lebt dieses Leben noch?Von den jugendlichen Bewegungenwurde dies eindeutig verneint.Kein Wunder, dass gerade unter derJugend im Jahr 1914 die Kriegs-begeisterung so groß war – im Krieg,so eine weit verbreitete Vorstellung,lebe sich das Vitale, Großartige, Hel-denhafte aus und könne sich bewäh-ren. Im Graben sollte eine Gemein-schaft hergestellt werden, die die Ge-sellschaft nicht darstellte, weil sie durchKonvention, Macht, Untertanentum,Schein und Erstarrung geknebelt war.Die Natur, wusste man seit Darwin,formt und zerbricht Existenzen, derKrieg sollte Gleiches leisten – hier soll-te in einer Ausnahmesituation das Vita-le, Heroische machtvoll triumphieren.

    Die Ernüchterung angesichts der apo-kalyptischen Material- und Menschen-schlachten folgte auf dem Fuße - hierwar der Mensch nicht heroisch, son-dern schrumpfte auf ein erbärmlichesMaß an bloßem Überlebenswillen...

    Schließlich ging noch eine Hoffnungunter: Die nationalen Befreiungsbe-wegungen hatten geglaubt, dassdurch die Befriedigung der Einheits-und Unabhängigkeitswünsche ein Zeit-alter des Friedens anbrechen würde.

    Doch das Gegenteil trat ein: Im letztenDrittel des Jahrhunderts nahmen natio-nale Rivalität und wirtschaftliche Kon-kurrenz enorm zu, in deren gegenseiti-ger Aufschaukelung nationale Vorur-teile immer größeren Anklang fanden:das „sittenlose Frankreich“, die „polni-sche Wirtschaft“, das „tatarische Russ-land“. In diesem Klima, in dem Nach-barvölker zu bedrohlichen Feinden, gar„Erbfeinden“ wurden, gedieh der Anti-semitismus vortrefflich, der seineWurzeln auch im Jahrhunderte altenchristlichen Antisemitismus hatte.

    Einer seiner wüstesten Vertreter warder Hofprediger Adolf Stoecker. SeineAnhänger fand er besonders in Bevöl-kerungsschichten, die sich von der ra-santen sozial-ökonomischen Entwick-lung überrollt fühlten und einen Sün-denbock für ihre eigene Situation such-ten. Dieser Sozialneid wurde mit rassi-stischen Theorien bemäntelt. Die weitverbreiteten Schriften eines Paul deLagarde (1827-1891) oder von RichardWagners Schwiegersohn, HoustonStewart Chamberlain (1855-1927),

    Arbeiterwohnung, Berlin um 1900

  • ...bis zum Ende des Kaiserreichs

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    führten die Unterschiede zwischen Völ-kern und Kulturen auf biologisch-rassi-sche Unterschiede zurück, erklärtensie in dumpfem Sozialdarwinismus alsofür „naturgegeben“.Man gewöhnte sich an den Gedanken,dass der Fortbestand und Aufstieg dereigenen Nation letztlich nur durch dieZusammenfassung aller Kräfte deseigenen Volkes gesichert werden kön-ne. Das um sich greifende Freund-

    Feind-Klischee ließ die Nation als eineSchicksals-, Schutz- und Kampf-gemeinschaft erscheinen, die in per-manentem Ringen um Selbstbehaup-tung keine Abtrünnigen, ja nicht einmalAußenseiter dulden könne.In den „nationalen Kreisen“, wie dem„Alldeutschen Verband“ stand jede Op-position im Verdacht, das Vaterland zu

    Ein deutscher Reckeschwingt in dumpfemAusländer- und Judenhassdie Peitsche:„Deutschland den Deut-schen“ (um 1900)

    gefährden.Der Nationalismus entwickelte sich zueiner Ideologie, die die bestehendeOrdnung um jeden Preis erhalten woll-te, Opposition und Konflikt als Übel an-sah, die für den nationalen Machtstaatlebensbedrohlich seien. Die starke Be-tonung der Kriegs- und Kampfbereit-schaft führte zu einer Militarisierungdes gesamten Lebens. Ein verbisse-ner Rüstungswettlauf setzte ein und

    gewann bald eineEigendynamik, diedie gesamte Gesell-schaft in den Griffnahm – der deut-sche Militarismuswurde sprichwörtlich:

    Ohne „gedient“ zuhaben, war man einNichts, das Idealbilddes Untertans wurdeder Offizier, selbstKinder steckten inMatrosenanzügen.

    Die Anforderungen an die eigene mili-tärische Sicherheit steigerten sich zurKriegspsychose, in der man sich vonFeinden umgeben wähnte, die einemden „Platz an der Sonne“, auf denDeutschland als zu spät gekommenerNation Anspruch erhob, vorenthielten.Die Verschärfung der internationalenGegensätze fand ihren Höhepunkt im

    Imperialismus der großen Staaten.Etwa mit Beginn der 80er Jahre be-gann ein wahrer Wettlauf um die Er-oberung von Kolonien bzw. um dieSicherung von wirtschaftlichem Ein-fluss in solche Regionen, die nochnicht kolonisiert waren.

    1914 kontrollierten die europäischenStaaten ganz Afrika und zusammen mitden USA 84 % der Erde.

    Der Erste Weltkrieg war Folge undKatastrophe des aggressiven Nationa-lismus, Imperialismus und Militarismus.An seinem Ende hatte Europa seineVormachtstellung verloren, die Monar-chie als Regierungsform zumeist abge-dankt, das Bürgertum im Kampf mitsozialistischen Revolutionen die politi-sche Macht in Händen.

    Mit dem 1. Weltkrieg ging das 19. Jahr-hundert endgültig zu Ende – und mitseinem Ende wurde der Keim für diekommende, weit größere Katastropheschon gelegt.

    Biologie, Geologie, Anthropologie: Auf den Spuren der menschlichen Herkunft

    Beginnen möchte ich mit der aufre-gendsten naturwissenschaftlichen The-orie des 19. Jhds. - mit derjenigen, wel-che die Herkunft des Menschen selbstbetrifft.Große Entdeckungen der Naturwissen-schaften hatten den Menschen immerwieder dazu gezwungen, vertraute An-schauungen aufzugeben. Nach denAngriffen seitens der Astronomie(durch Kopernikus) und der Physik(durch Galilei) attackierte nun die Biolo-gie die überlieferten Vorstellungen vomWesen des Menschen und seiner Stel-lung innerhalb der belebten Natur. Ob-wohl Charles Darwin (1809-1882) sei-ne Evolutionstheorie bereits Ende der30-er Jahre ersonnen hatte, zögerte er20 Jahre lang, sie zu veröffentlichen.Als Sohn des begüterten Arztes RobertWaring Darwin studierte er nach Aufga-be eines Medizinstudiums in Edinburgh

    Theologie in Cambridge. Auch hier ließer die Ernsthaftigkeit des Studierensnicht recht erkennen und fand Zer-streuung beim Jagen, Reiten, Botani-sieren und in lustiger Gesellschaft.Der Freundschaft mit seinem Botanik-professor Henslow ist es zu verdanken,dass aus dem desinteressierten Stu-denten schließlich ein leidenschaftli-cher Naturforscher wurde. Henslowwar es auch, der ihm nach bestande-nem Theologiestudium, das Angebotvermittelte, auf einem kleinen Expedi-tionsschiff namens Beagle ohne Be-zahlung als Naturforscher auf einerWeltumsegelung mitzureisen, um vorallem die Küsten Südamerikas zu ver-messen. Die Sitte, auf solchen Schiffeneinen Naturforscher - zumeist auchnoch einen Künstler - mitzuführen, gehtauf Carl von Linné zurück, der – stän-dig auf der Jagd nach Musterexempla-

    ren – seine besten Schüler in alle Her-ren Länder schickte, um unbekannteTiere und Pflanzen zu sammeln. Nach

    Charles Darwin(1809-1882)

  • Von der Paulskirche...

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    der Überwindung einiger Hürden (Ein-wendungen des Vaters, persönlicheVorstellung bei Kapitän Fitz Roy) standDarwins Mitfahrt nichts mehr im Wege.Am 27.12.1831 lichtete im Hafen vonDevonport die Beagle ihren Anker zujener fünfjährigen Reise, die Darwinsweitere Karriere bestimmen sollte.Als er an Bord ging, war er erst 22 Jah-re alt und ein völlig unbekannter Mann.Er zog aus, mit geringen Kenntnisseder Naturgeschichte und, wie er selbstgestand, als Verächter der Geologiesowie noch im Glauben an die Unver-änderlichkeit der Arten. Schon nachwenigen Monaten aber erkannte er inInseln und Riffen, Bergen und Tälern,Seen und Wüsten, dokumentarischeZeugnisse erfolgter Veränderungen derErdoberfläche und begann fortan, mitBegeisterung geologische Beobachtun-gen und erdgeschichtliche Erkenntnis-se zusammenzutragen.

    Die Ursache dieses Sinneswandels lagin der Lektüre eines Buches, das ihmHenslow auf die Reise mitgegebenhatte. Es war der 1. Band der „Princip-les of Geology“ von Charles Lyell.Die Bände 2 und 3 erreichten Darwin inSüdamerika.Im letzten Projekt hatte ich ausführlichüber die wegbereitende, ja ich möchtesogar sagen, bahnbrechende Funktionder Geologie und Paläontologie für dieEvolutionstheorie berichtet. Die neue,aktualistische Betrachtungsweise vonCharles Lyell (1797-1875) und KarlErnst Adolf von Hoff (1771-1837) ließim Gegensatz noch zur Katastrophen-theorie Cuviers keinen Spagat mehrzwischen Wissenschaft und Bibel zu.Das Grundprinzip des Aktualismus(auch Uniformitarismus) besagt, dassgleiche Ursachen zu allen Zeiten glei-che Ergebnisse erzielen, also frühereund heutige Naturvorgänge immergleichartig (uniform) ablaufen.

    Schon Comte de Buffon (1707-1788)hatte die Schöpfung als kontinuierli-ches Drama betrachtet: „Der großeArbeiter der Natur ist die Zeit. Er mar-schiert stets mit gleich bleibendemSchritt und tut nichts sprunghaft, son-dern alles allmählich in Abstufungenund Aufeinanderfolgen; und die zu-

    nächst unmerklichen Veränderungen,die er bewirkt, werden Stück um Stückwahrnehmbar und zeigen sich schließ-lich in Ergebnissen, bei denen keinIrrtum mehr möglich ist.“Die große Bedeutung des Aktualismuslag somit in dem Erkennen eines unge-heuren geologischen Zeitbedarfs, wel-cher nun Raum gab, an eine lang an-dauernde Entwicklung auch organi-schen Lebens zu denken. Warum nurder Erde und nicht der gesamten Natureinschließlich all ihrer Geschöpfe eineeigene Entwicklungsgeschichte zuge-stehen? Bisher herrschte die Vorstel-lung einer großen Daseinskette, einergeordneten Reihe von den niedersten,einfachsten Lebewesen ganz unten zuden höchsten, komplexesten an derSpitze. Doch wurde diese immer nurals Produkt und nicht als Prozess derSchöpfung angesehen. Sie schildertedie Natur räumlich und nicht zeitlich.

    Unter allen Vorläufern, die das Prinzipdes Artenwandels umkreisten, warJean Baptiste de Lamarck (1744 -1829) der erste, der eine begründete

    Evolutions-theorie vor-legte. Er ver-trat in seiner1809 publi-zierten „Philo-sophiezoologique“die Ansicht,dass unterdem Einflussder sich stän-dig wandeln-den Umweltein individuel-

    ler Organismus fähig sei, sich durchAnstrengung neuartigen Lebensbedin-gungen aktiv anzupassen, sich orga-nisch geringfügig zu modifizieren. Dieerworbenen abgewandelten Merkmalewürden auf die Nachkommenschaftweitervererbt, was allmählich zur Ent-wicklung neuer Arten führe. Er illustrier-te seine These am Beispiel der Giraffe:Sie sei im Verlauf zahlreicher Genera-tionen aus einer primitiven Antilopehervorgegangen, die, im Bemühen ih-ren Aktionsradius der Futtersuche zuerweitern, Hals und Beine ständig nachhöher hängenden Blättern gereckt undgestreckt hätte.Lamarck fand zu Lebzeiten kein Gehör.

    Erst Lyell griff seine Ideen wieder auf.Während Lamarck jedoch bereits von

    einem gerichteten Wandel der Artenausgegangen war, machte Lyell seineGleichartigkeit zum starren Prinzip,hielt am Wandel ohne Fortentwicklungund damit an der prinzipiellen Unverän-derlichkeit der Arten fest.

    Zurück zu Charles Darwin. Sensibili-siert durch Lyells Werk, vollzog er nunwährend der ganzen Reise offenenAuges den kontinuierlichen Wandel derErdoberfläche nach (Riff- und Insel-bildungen, Küstenverlagerungen etc.).Am 15.9.1835 erreichte das Schiff dieGalapagos-Inseln, wo Darwins Auf-merksamkeit auf eine nur dort vorkom-mende Gruppe von Vögeln fiel. Es han-delte sich bei allen zweifellos um Fin-ken - aber in mehr als zehn verschie-

    dene Arten aufgespalten, die sich inSchnabelform sowie Ernährungs- undLebensweise stark voneinander unter-schieden. Diese Beobachtung sollte einentscheidender Impuls für seine späte-re Evolutionstheorie werden.Er notierte ins Tagebuch:„Wenn man diese Abstufung und Ver-schiedenartigkeit der Struktur in einerkleinen, nahe untereinander verwand-ten Gruppe von Vögeln sieht, so kannman sich wirklich vorstellen, dass infol-ge einer ursprünglichen Armut an Vö-geln auf diesem Archipel die eine Arthergenommen und zu verschiedenenZwecken modifiziert worden sei.“

    Nach seiner Rückkehr, 1836, publizier-te Darwin nach und nach Arbeiten überdie Geologie Südamerikas, die Entste-hung der Korallenriffe sowie sein fünf-bändiges Reisetagebuch. Parallel dazuhatte er 1837 begonnen, ein Notizbuchanzulegen, in dem er fortan Material inBezug auf den Ursprung der Artensammelte. Er trug Beobachtungen zu-nächst ohne jeglichen theoretischenHintergrund zusammen, insbesondereErfahrungen von Züchtern mit ihrenHaustieren und Pflanzen. Übrigens

    Jean Baptiste de Lamarck (1744-1829)

    Die so genannten „Darwin-Finken“

  • ...bis zum Ende des Kaiserreichs

    7

    schon sein Großvater, Erasmus Dar-win, hatte sich mit theoretischen undpraktischen Fragen der Tier- undPflanzenzucht beschäftigt.

    In seiner Autobiographie schreibtCharles Darwin später: „Ich nahm baldwahr, dass Zuchtwahl der Schlüsselzum Erfolg des Menschen beim Her-vorbringen nützlicher Rassen von Tie-ren und Pflanzen ist. Wie aber Zucht-wahl auf Organismen in der freien Na-tur angewendet werden könne, bliebnoch einige Zeit für mich ein Geheim-nis. Im Oktober 1838, las ich zufällig zumeiner Unterhaltung das Buch vonThomas Robert Malthus (Sozial-forscher, 1766–1834) ‚On the Princip-les of population’, 1798. Der darin er-wähnte überall stattfindende Kampf umdie Existenz, brachte mich auf den Ge-danken, dass unter dem Druck desExistenzkampfes günstige Abänderun-gen dazu neigen, erhalten zu werden,und ungünstige dazu, zerstört zu wer-den. Das Resultat hiervon würde dieBildung neuer Arten sein.“

    Nun hatte Darwin eine Theorie, die erweiter verfolgen konnte; doch ängstlichdarauf bedacht, Vorurteile zu vermei-den, traute er sich nicht einmal Skizzendavon niederzuschreiben. Darwin sam-melte weiterhin alle erreichbaren Fak-ten und schrieb 4 Jahre später einekurze Zusammenfassung seiner Theo-rie für eigene Zwecke nieder, die er1844 auf 230 Seiten erweiterte. Immernoch mit der Befürchtung, durch eineverfrühte Darlegung seiner Ideen „sichSchaden auszusetzen“, wartete er wei-tere 12 Jahre, bis er auf Anraten vonLyell schließlich begann, ein Buch zuverfassen.Doch im Frühsommer 1858 wurdenplötzlich all seine Pläne über den Hau-fen geworfen: Alfred Russel WallacesandteihmvondenMoluk-kenauseinenAuf-satz zumitdemTitel„ÜberdieNei-

    gung der Varietäten, unablässig vondem Originaltypus abzuweichen“, dergenau seine Theorie enthielt. Wallace,aus einer verarmten Familie aus Süd-wales stammend, hatte sich durch be-gieriges Lesen autodidaktisch gebildetund durch langjährige Sammlertätigkeitauf Expeditionen im Amazonasgebietund der malaiischen Inselwelt einenRuf als Naturforscher im Felde erwor-ben. Er war im Alter von 22 Jahrendurch das populäre Buch des Schrift-stellers und Amateurforschers RobertChambers (1802 – 1871) „Vestiges ofthe Natural History of Creation“ (1844)zu der festen Überzeugung bekehrtworden, dass Arten durch einenEvolutionsprozess entstünden undwollte auf seinen Reisen faktische Be-weise dafür sammeln. Seit 1852 hatteauch Wallace ein spezielles „Arten-notizbuch“ geführt und 1855 bereitsden Aufsatz „On the law which hasregulated the introduction of newspecies“ veröffentlicht. Drei Jahre spä-ter brachten ihn neue Beobachtungenin Verbindung mit einer spontanen Er-innerung an das ebenfalls geleseneWerk von Malthus auf den Gedankennatürlicher Zuchtwahl. Er schrieb sofortden besagten Aufsatz nieder und batDarwin in dem Brief, diesen an Lyellweiterzureichen, falls er ihn für neu undinteressant genug befände, was Dar-win gewissenhaft tat, obgleich er natür-lich um sein eigenes mühevolles Pro-dukt der vergangenen 20 Jahre fürch-tete. Lyell, fest entschlossen DarwinsPrioritätenanspruch zu wahren, zu-gleich aber auch Wallace Verdienst alsoriginärem Denker gerecht zu werden,drängte darauf, Abhandlungen beiderAutoren umgehend der Linné-Gesell-schaft in London vorzulegen, was am1. Juli 1858 geschah. Die Resonanzbei den Mitgliedern war praktischegleich Null; weder Darwin nochWallace waren persönlich anwesend.Erst Darwins Buch “On the origin ofspecies by means of natural selection,or the preservation of favoured races inthe struggle of life”, 1859, erregte gro-ßes Aufsehen. Der Leitgedanke war,dass sich die Evolution in zwei Schrit-ten vollzöge: auf eine naturbedingte,zufällige Variation der Arten (individuel-le Variabilität durch spontane Mutation)folge eine Auslese der überlebens-fähigsten Art durch die Umwelt. DiesenSelektionsvorgang nannte er natürlicheZuchtwahl oder „Kampf ums Dasein“(der brit. Philosoph Herbert Spencer

    (1820-1903) wählte später unabhängigvon Darwin den Begriff „survival of thefittest“ = Überleben des Passendsten).Zu Aufsplittungen von Arten komme es,weil die Umweltbedingungen verschie-denenorts unterschiedlich sind und soan einem Ort die eine, am anderen Orteine andere erbliche Varietät überlebt.Die Fachwelt teilte sich bald in eineenthusiastische Anhänger- sowie erbit-terte Gegnerschaft. Ein früher Mitstrei-ter war Darwins Freund, der Arzt undZoologe Thomas Henry Huxley (1825– 1895, Großvater des SchriftstellersAldous), der sich auch in öffentlichenDiskussionen für die neue Theoriestark machte. Darwin selbst hielt sichdiesen fern und lebte zurückgezogenauf seinem Landsitz, nur im Umgangmit seiner Familie und einigen Freun-den. Seine Gesundheit war sehr anfäl-lig. Ein offizielles Amt hat Darwin niebekleidet; auch Vorträge hielt er nicht.In Deutschland fand sich in ErnstHaeckel (1834-1919) ein engagierterVerfechter des Darwinismus, der mit

    tempera-mentvollerAggressivi-tät die neueLehre pro-pagierte.Während inDarwinsBuch derMenschnoch kei-nerlei Er-wähnungfindet, sag-te Haeckelvier Jahrespäter:„Was uns

    Menschen selbst betrifft, so hätten wiralso konsequenterweise, als die höchstorganisierten Wirbeltiere, unsere ural-ten gemeinsamen Vorfahren in affen-ähnlichen Säugetieren, …..“Diese Konsequenz lag nahe, doch fehl-te es Darwin hierfür an ausreichendemBeweismaterial. Haeckel erkannte, wodieses zu finden war: in der verglei-chenden Anatomie und Entwicklungs-geschichte (Embryologie). Haeckel,eigentlich Mediziner, hatte sich früh der

    Alfred Russel Wallace(1823–1913)

    Ernst Haeckel (1834-1919)

  • Von der Paulskirche...

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    Tierwelt des Meeres zugewandt undwurde 1862 durch seine mikroskopi-schen Studien von Radiolarien (mari-nen Einzellern mit Kieselskeletten vonvollendeter Symmetrie und zauberhaf-ter Schönheit) weit bekannt. Seine Un-tersuchungen niederer Tiere trugenEntscheidendes zur Untermauerungder Abstammungslehre bei. Haeckelzeigte, dass - ob Schwamm, Wurm,Weichtier, Stachelhäuter oder Wirbel-tier – alle in ihrer Entwicklung anfangsdasselbe, immer durch den Mechanis-mus des Einstülpens entstandene,Zweizellschicht-Stadium (Gastraea, derHohlraum bildet den primitiven Urdarm)durchlaufen, was er als Zeichen ge-meinsamer Abstammung deutete. Ver-gleichende Studien bei Entwicklungs-stadien höherer Tiere führten Haeckelzur Formulierung des biogenetischenGrundgesetzes: „Jedes einzelne Indi-viduum durchläuft während seiner kur-zen Embryonalentwicklung die Formenwieder, die seine Vorfahren währendder langen Zeit der stammesgeschicht-lichen Entwicklung als Endstadiendurchlaufen haben.“ Heute wird es et-was vor-sichtigerformuliert,doch sindprinzipielleÜberein-stimmun-gen nichtzu überse-hen. Soverschie-den einSchwein,ein Rind,ein Kanin-chen undeinMenschals er-wachsenesExemplar auch sind, in gewissen Ent-wicklungsstadien sind ihre Embryonensich so ähnlich, dass man sie kaumunterscheiden kann. Hinzukommt,dass Organe wie z.B. Kiementaschenangelegt werden, die im Verlauf derEntwicklung wieder verschwinden.Darwin hat seine Theorie nicht genutzt,

    um Stammbäume aufzustellen, d.h.das System der Pflanzen und Tierestammesgeschichtlich zu entwickeln.Dies geschah zum ersten Male durchHaeckel, der durch das Studium derEntwicklungsgeschichte einzelner Ar-ten nun eine Methode besaß, Zusam-menhänge in der Stammesgeschichteaufzuspüren.

    Darwin hielt sich mit der Anwendungseiner Theorie auf den Menschen lan-ge zurück. Erst 1871 in seinem Buch„The descent of man, and selection inrelation to sex“ behauptete er erstmaligdie Abstammung des Menschen voneiner tiefer stehenden Lebensform,was ihn zum Ziel verhöhnender Karika-turen werden ließ. Die Menschen fühl-ten sich vom hohen, weit über der Tier-welt stehenden Podest gestoßen.

    Dies hatte jedoch der englische ArztEdward Tyson (1651-1708) um einigesfrüher bereits getan. Er hatte als erstereinen Schimpansen seziert und diedetaillierte, anatomische Schilderunglegte eindrucksvoll nahe, dass der eng-ste Verwandte des Menschen unterden Tieren und damit das Bindeglied inder Daseinskette zwischen dem Men-schen und der gesamten „niederen“Tierwelt gefunden war. Kaum einerkonnte noch glauben, dass der Menschetwas von der übrigen Natur Geson-

    derteswar. Niezuvorwar einderarteindeuti-ger undöffentli-cherNach-weis derVer-wandt-schaftdes Men-schenmit denTierengeführtworden.

    Selbst Linné bekannte 1735, er könne„den Unterschied zwischen dem Men-schen und dem Schimpansen nichtentdecken.“ „Es ist bemerkenswert“,schloss Linné mit seltener Ironie in sei-ner zwölften Ausgabe, „dass sich derdümmste Affe derart wenig vom klüg-sten Menschen unterscheidet, dass der

    Betrachter der Natur erst noch gefun-den werden muss, der zwischen ihnendie Grenze ziehen kann.“Die Erregung der Öffentlichkeit nachDarwins Publikation ist zu einem nicht

    gerin-genTeilent-stan-den,da-durchdasssienatur-wis-sen-schaft-licheundwelt-

    anschauliche Gesichtspunkte miteinan-der vermengte, was Darwin nie getanhat. „Es liegt etwas Großartiges in die-ser Auffassung, dass das Leben mitseinen mannigfaltigen Kräften vomSchöpfer ursprünglich nur wenigenFormen oder gar nur einer eingehauchtworden ist, und dass während sich un-ser Planet, den fest bestimmten Ge-setzten der Schwerkraft zufolge, imKreise herumbewegt, aus so einfa-chem Anfang sich eine endlose Zahlder schönsten und wunderbarsten For-men entwickelt hat und noch immerentwickelt.“ Wie Geist und Seele in denbiblischen, sog. „Erdenkloß“ gelangtsind, dazu macht die Biologie keineAussage, ihre Evolutionstheorie ist je-doch naturwissenschaftlich vollgültigbewiesen.Die Bestätigung setzte bereits 1856 miteinem Aufsehen erregenden Fund imNeandertal ein. Dem NaturforscherJohann Carl Fuhlrott (1804–1877) istes zu verdanken, dass die von Arbei-tern achtlos ins Tal geworfenen Schä-del- und Skelettteile entdeckt und ge-borgen wurden. Ihre Zugehörigkeitblieb jedoch lange umstritten. Der be-rühmte Anatom Rudolf Virchow hielt siegar für Knochenfragmente einesSchwachsinnigen, was durch die pa-thologischen Merkmale des Schädels(Überaugenwülste, flache Scheitel-höhe, breite Nasenöffnung) hinrei-chend bewiesen werde. Erst als esauch andererorts (Frankreich, Jersey,Belgien, Spanien, Italien) zu vollständi-ger erhaltenen Funden mit immer glei-chen Merkmalen kam, wurde aner-

  • ...bis zum Ende des Kaiserreichs

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    kannt, dass es sich beim Neandertalerum einen Vorfahren des modernenMenschen handelt (Homo sapiensneandertalensis), der vor 80.000-35.000 Jahren im rauen Klima der letz-ten Eiszeit lebte.

    25 Jahre später sollte die Entdeckungeines noch früheren Menschenahnsdurch den holländischen AnatomenEugène Dubois (1858-1940) weitereLücken schließen. Ernst Haeckel hattein seinen auf theoretischen Erwägun-gen basierenden Stammbaum als feh-lendes Bindeglied zwischen Tier undMensch die hypothetische Form Pithe-canthropus alalus (des Sprechens un-fähiger Affenmensch) aufgenommen.Mit einer Entschlossenheit, die derjeni-gen des Archäologen Heinrich Schlie-mann gleichkam, Troja zu entdecken(seit 1870), machte Dubois sich 1884auf die Reise, dieses bedeutsame Bin-deglied des Pithecanthropus zu finden.Seiner Erwägung folgend, dass dieEntwicklung vom Affen zum Menschenin den Tropen, wo noch heute Men-schenaffen leben, sich vollzogen habenmüsse, fuhr er nach Java. Unglaubli-ches wurde wahr: 1891 fand er aufMitteljava ein flaches Schädeldach mitstarken Überaugenwülsten, einen men-schenähnlichen oberen Backenzahnund im Jahr darauf noch einen vollstän-digen, gerade gestreckten Oberschen-kel-Knochen. Letzterer ließ klar erken-nen, dass sich das Geschöpf in aufge-richteter Haltung fortbewegt habenmusste, weshalb Dubois ihn Pithecan-thropus erectus taufte. Auch schlichtJava-Mensch genannt, gilt er als der

    erste klassische Frühmenschenfund,dem ein Alter von 700.000 Jahren zu-zuordnen ist. Dubois´ Veröffentlichung1894 stieß, wie nicht anders zu erwar-ten, auf starken Widerspruch, weshalber sich verbittert zurückzog und seinenFund verbarg.Er starb ohne sich des Ruhmesbewusst geworden zu sein, eines derwichtigsten Glieder der Menschheits-entwicklung entdeckt zu haben.

    Abschließend bleibt nun noch die Klä-rung der Vererbung, die dem österrei-chischen Augustinerpater Johann Gre-gor Mendel (1822-1884) vorbehaltenblieb. Pflanzliche Kreuzungsversuche

    und Berichte über das Auftreten ver-schiedener Kombinationen mütterlicherund väterlicher Merkmale hatte esschon lange vorher gegeben (1717Richard Bradley, 1761 Kölreuter, 1837Karl Friedrich Gärtner). Doch erst Men-del vollzog den entscheidenden Schrittzur quantitativen, exakten Forschung.Er ging sehr planmäßig vor. Er wählteeine Pflanze, an der klare Einzelmerk-male über Generationen hinweg ver-folgt werden konnten, es leicht möglichwar, die Samen jedes Individuums ge-sondert zu sammeln und die - zwecksStatistik - das Arbeiten mit großen Zah-len ermöglichte.

    Von 34 gekauften Erbsensorten, die erdurch zweijährige Kultur zunächst aufihre erbliche Reinheit untersucht hatte,wählte er 22 Sorten für seine insge-samt 355 Kreuzungsversuche aus.Mendels methodischer Fortschritt be-ruhte auf einer Beschränkung der Fra-

    gestellung („geniale Vereinfachung“).Indem er Sorten kreuzte, die sich in nureinem einzigen von insgesamt siebenberücksichtigten Merkmalen (z.B.Blütenfarbe, Samenfarbe, Schoten-form…) unterschieden, war er in derLage, seine eindeutigen Vererbungs-regeln zu finden:

    Während in der 1. Bastardgenerationnur eines der beiden elterlichen Merk-male auftritt, erfolgt in der nächsten, 2.Generation eine Aufspaltung nach demVerhältnis 3:1.

    Das in der 1. Generation nicht aufge-tretene (rezessive) Elternmerkmal istalso nicht verloren, sondern wird nurvon dem anderen (dominanten) Merk-mal verdeckt. Diejenigen Pflanzen mitdem rezessiven Merkmal wieder kom-biniert, ergeben unter sich in der 3.Generation nur ihresgleichen, währenddie mit dem dominanten Merkmal er-neut nach dem Verhältnis 3:1 aufspal-ten.Damit war der Schlüssel der Genetikgefunden. Die Versuche zeigten, dasseinzelne Merkmale nicht notwendigmiteinander gekoppelt sind, sie sich beider Bildung der Befruchtungszellen inden Pollen und Samenanlagen vonein-ander trennen können, um dann unab-hängig voneinander sich nach Zufalls-gesetzen neu zu kombinieren.

    Die Erbstruktur war als etwas erkanntworden, das sich aus einzelnen Erbfak-toren zusammensetzt; der Weg zumBegriff des Gens war offen.Mendels Arbeit von 1866 blieb unbe-achtet und geriet in Vergessenheit, bissie 1902 wieder „ausgegraben“ wurde.Inzwischen hatten auch andere For-scher seine Gesetze nochmals neuentdeckt. Im Jahre 1904 fand dann deramerikanische Biologe Thomas HuntMorgan (1866-1945) bei Laborversu-chen mit Taufliegen heraus, dass Anla-gen auch gekoppelt vererbt werdenkönnen, wenn die betreffenden Geneauf gleichen Chromosomen lokalisiertsind.In der Folgezeit entwickelten die Wis-senschaftler nach und nach immer prä-zisere Genkarten – die Grundlage fürdie moderne Gentechnik.

    Der Neandertaler

    JohannGregorMendel(1822-1884)

  • Von der Paulskirche...

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    Heute möchte ich ihnen die Weiterent-wicklung der Musik bis zum Ende derRomantik vorstellen. Vor einem Jahrhaben wir uns mit dem Ende der Klas-sik und der Formung der Musik der Ro-mantik beschäftigt.

    Die Musik der Romantik wird in vierPhasen eingeteilt:• Frühromantik (1800-30)• Hochromantik, (1830-50) beide

    haben wir vor einem Jahr behandelt,sowie

    • Spätromantik (1850-90) und• Nachromantik (1890-1914), die uns

    beide diesmal interessieren.

    Wir sehen, dass eine eindeutige Zuord-nung immer schwerer fällt.Nach dem Barock fehlen uns ja einheit-liche Bezeichnungen für die kulturellenEpochen. Irgendwie leben wir immernoch in romantischen Vorstellungenvon Musik und ihrer Interpretation,wenn auch nicht alle heutigen Zeitge-nossen. Vor allem ist eines zu beob-achten, dass wir heute fast alle Musik-epochen parallel rezipieren. Und das istsicher eine Bereicherung unserer Zeit.

    In unserem diesmal zu untersuchen-den Zeitraum zwischen 1848 und 1918kommt aber einiges neue hinzu, v. a.die sog. U-Musik.

    Die oft diskutierte Trennung von E- undU-Musik ist ein Kind des 20. Jhs., dieGegensätze deutlich machen soll.In früheren Epochen gab es dieseTrennung nicht. Musik diente immerauch der Unterhaltung. Das gilt garauch für einzelne Werke der geistli-chen Musik.

    Daher erscheint die Trennung zwi-schen E- und U-Musik zweifelhaft. Einmoderner Pop-Song beispielsweisekann von einem jungen Menschen alssehr ernst empfunden werden, wenn erihn mit seinem Gefühlsleben verbindet.Obwohl dies sicher keine Frage des Al-ters des Menschen oder der Musik ist.

    Doch kommen wir nun zur Musik derRomantik selbst. Was waren also dieMerkmale der Veränderungen in derMusik von 1800 bis 1850, was ändertesich danach?

    In die Musik der Romantik wird dieMehrzahl der bereits in der Klassik exi-stierenden Gattungen übernommen.Einige erfahren eine Veränderung, an-dere werden weiterentwickelt. Als neu-artige Erscheinungen im eigentlichenSinne lassen sich so fünf Gattungenbezeichnen:

    1. Das Kunstlied: Aus der Wieder-entdeckung der Volkslieder undüber ihre Bearbeitung zum künstle-rischen Volkslied entwickelte sichschließlich das reine Kunstlied. Inder vergangenen Projektzeit ent-wickelte es sich durch Franz Schu-bert zu einer besonderen Blüte.Wir hatten ein Stück aus der„Schönen Müllerin“ gehört.In der zweiten Hälfte des 19. Jahr-hunderts geht die Entwicklung wei-ter. Hier finden wir v. a. von HugoWolf (1860-1903) und Gustav Mah-ler (1860-1911) eine Vielzahl neuerKunstlieder.

    2. Das Klavierstück: Als Gegenstückzum Kunstlied entstand in derFrühromantik das sog. kleine lyri-sche Klavierstück. Auch das Kla-vier selbst wurde in dieser Zeit zumbevorzugten Instrument der bür-gerlich häuslichen Musikkultur. Ver-treter für den vergangenen Zeit-raum sind Schubert, C. M. v. We-ber, Schumann, Chopin und Men-delssohn. Wir hörten einen Satzaus seinen „Liedern ohne Worte“.In der zweiten Hälfte des 19. Jahr-hunderts schaffen v. a. Liszt undBrahms hervorragende Klavier-stücke und formten damit dieseGattung weiter.

    3. Die sinfonische Dichtung: In derersten Hälfte des 19. Jahrhundertsbildete sie sich als orchestrale Pro-gramm-Musik, die begrifflicherfassbare Inhalte ins Medium derMusik übertrug. Sie ging hervoraus der ebenfalls inhaltlich be-stimmten Konzertouvertüre und dermehrsätzigen Programmsinfonie.Hier machte Ludwig van Beetho-ven mit seiner 6. Sinfonie („Pasto-rale“) den Anfang. Ihre große Zeiterlebt sie allerdings erst ab 1850unter Franz Liszt (1811-1886) und

    Richard Strauss. Zu nennen sindhier „Les Préludes“ und die „Faust-Sinfonie“ von Liszt und die „Alpen-sinfonie“ von Richard Strauss.

    4. Die deutsche romantische Oper:Im zweiten Viertel des 19. Jahrhun-derts entstand aus dem deutschenSingspiel eine deutsche Oper. Sieist gekennzeichnet durch ihre Nähezur Natur und ihren zumeist volks-tümlichen Ton. Das Streben der li-terarischen Romantiker kam in ihrzum Ausdruck und zur Vollendung.Ihre Hauptvertreter sind C. M. v.Weber („Freischütz“) und A. Lort-zing („Zar u. Zimmermann“).Aus beiden Opern hörten wir einigeProben. Lortzing komponierte ko-mische Opern. Aus der komischenOper entsteht im späten 19. Jh. dieOperette durch Jacques Offen-bach.Nach 1850 führt v. a. Richard Wag-ner die Oper weiter zum Musik-drama. Er ist als dessen Schöpferanzusehen. Mit dem „Ring des Ni-belungen“ kommt es zum Höhe-punkt des Musikdramas.Auch in anderen Ländern Europasentwickeln sich neue nationaleOperntraditionen, v. a. in Italien.Wagner wird dabei für viele zumVorbild.

    5. Die Tanzmusik: Aus der Übernah-me des alpenländischen Ländlersentwickelte sich der Walzer, der alsWiener Walzer unter JosephLanner und Johann Strauss, Vateru. Sohn, Weltberühmtheit erlangte.In Frankreich entstand als Gegen-part die Tanzmusik von dem inKöln geborenen Jacques Offen-bach (1819-1880).Der Tanz auf der Bühne, also dasBallett, erlebt noch einmal einenkurzen Höhepunkt. Hier sind v. a.Leo Delibes und TschaikowskisBallettstücke zu nennen.

    Ganz neu entsteht am Ende des 19.Jhs. die bereits erwähnte Unterhal-tungsmusik (U-Musik) als eigenstän-dige Gattung. Zu nennen sind hier v. a.die amerikanischen Entwicklungen wieBlues, Ragtime, Jazz und Musical.Ihre Wurzeln liegen z. T. in der Volks-musik der afroamerikanischen Skla-ven. Das Musical gehört heute zumfesten Bestandteil der Bühnenreper-toires. Ganze Häuser leben von denDauerprogrammen mit hohen Eintritts-preisen.

    Musik der Spät-Romantikab 1850

  • ...bis zum Ende des Kaiserreichs

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    Die Musik wird nun für die breite Mas-se angeboten. Konzerthallen schießengeradezu aus dem Boden. Auch dieMusikkonserve wird in unserem Zeit-raum entwickelt. Thomas Alpha Edisonbaute 1877 den ersten Walzen-Phono-graphen. Die eigentliche Schallplattekommt kurz vor der Jahrhundertwendeauf den Markt. Das Grammophon wirdnach dem 1. Weltkrieg zu einem Ren-ner und ist es mit technischer Weiter-entwicklung bis heute immer noch.

    Da wir insgesamt fünf Abende zur Ver-fügung haben, möchte ich ihnen eineVorschau auf die weiteren Themen ge-ben:

    2. Abend: Instrumental-/Vokalmusik3. Abend: geistliche Musik4. Abend: Oper und Operette5. Abend: Zukunft u. neue Wege,Zwölftonmusik, U-Musik, Blues, Rag-time, Jazz, Musical, nächstes Projekt

    An Musikbeispielen möchte ich ihnenjetzt zwei Stücke vorstellen, die im glei-chen Jahr, nämlich 1918, komponiertwurden, wie sie unterschiedlicher nichtsein können.

    Die Komponisten sind Sergei Prokofiev(1891-1953) und Igor Stravinsky (1882-1971).

    Sie hören aus Prokofievs Sinfonie Nr. 1(Symphony „classic“) den 3. Satz. Esspielt die Academy of St. Martin-in-the-Fields unter Neville Marriner. Prokofievlehnte sich hierbei bewusst an Haydnund die Wiener Klassik an.

    Zum nächsten Beispiel: StravinskysBühnenwerk vom Soldaten, der sichmit dem Teufel einlässt, nimmt Merk-male des epischen Theaters vonBrecht vorweg, reflektiert die Zeitge-schichte und reagiert mit äußerst spar-sam eingesetzten Mitteln auf einedurch Krieg und Revolution obsolet ge-wordene Ästhetik.

    Igor Stravinsky(1882-1971)

    Als Gegenpart hören sie also nun ausStravinskys „Geschichte vom Soldaten“den „Königlichen Marsch“.

    Es spielt das Columbia Symphony Or-chestra unter der Leitung des Kompo-

    nisten ineiner her-vorragen-den Auf-nahme von1961.

    So unter-schiedlichkann Mu-sik amEnde derRomantiksein!

    Die beidenKomposi-tionen, von

    zwei gebürtigen Russen, liegen gerademal fünf Monate auseinander...

    Vor einem Jahr haben wir uns hier in-tensiv mit der deutschen Revolutionvon 1848 und ihrem letztlichen Schei-tern befasst.

    Wenn wir in dieser neuen Reihe denersten Schwerpunkt auf den deutsch-französischen Krieg und die Gründungdes Deutschen Reiches legen, somuss zunächst die Vorgeschichte,also die Zeit von 1848–1870 in den Fo-kus der Betrachtungen gestellt werden.Aus europäischer Sicht bewegt sichhier einiges. Der Niedergang des Os-manischen Reiches weckt vor allem imzaristischen Russland die Neigung, alljene Positionen einzunehmen, die bis-her die Türkei inne gehabt hatte. Insbe-sondere der damit verbundene Besitzder Meerengen am Bosporus und derDardanellen musste allerdings die an-deren Großmächte auf den Plan rufen.Im Krim-Krieg 1853 – 1856 gelang esder Türkei, mithilfe von England, Frank-

    reich und Piemont-Sardinien die russi-sche Expansion abzuwehren.Auch Österreich schlug sich dabei aufdie Seite der Westmächte, da es seineeigenen Ostgebiete auf Dauer gefähr-det sah, griff aber nicht aktiv in denKrieg ein.Das Entstehen einer italienischenNationalbewegung führte 1859 zu einerkurzen kriegerischen Auseinanderset-zung zwischen Österreich auf der ei-nen Seite sowie Piemont-Sardinien undFrankreich auf der anderen Seite.Nach dieser militärischen Auseinander-setzung, die zeigte, dass die kaiserli-chen Truppen nur mangelhaft gerüstetwaren, musste Österreich die Lombar-dei abtreten, blieb aber im BesitzVeneziens. Somit war die italienischeNationalfrage nicht gelöst.England als dritte Großmacht in Euro-pa fokussierte seine Aktivitäten weiter-hin auf die Sicherung seines Kolonial-reiches. Im Mittelpunkt des europäi-

    Deutsch-französischer Krieg und Reichsgründung

    schen Interesses stand die Entwicklungdes Deutschen Bundes.

    Deutschland bildete noch immer einenFlickenteppich aus zahlreichen Klein-und Mittelstaaten und innerhalb diesesBundes fiel nominell Österreich dieFührung zu. In der Realität aber hattesich Preußen bereits von einer Mittel-macht zur europäischen Großmachtentwickelt, die ihren Führungsanspruchinnerhalb des Deutschen Bundes abernicht durchsetzen konnte. Die Klein-und Mittelstaaten waren in ihrer politi-schen Ausrichtung auf keinen der bei-den Antagonisten festgelegt. In den50er und der ersten Hälfte der 60erJahre richteten sie sich flexibel an denjeweiligen außenpolitischen Schwer-punkten, aber auch der innenpoliti-schen Entwicklung aus.

    In Österreich setzte sich nach der ge-scheiterten 48-er Revolution die Reak-tion durch. Der 1848 erst 18jährige Kai-

  • Von der Paulskirche...

    12

    die Aufhebung der Untertänigkeit derBauern weiter verfolgt.

    In Preußen versuchte die Monarchieihre Machtposition nach der Revolutionerneut zu festigen, ohne allerdings vor-revolutionäre Verhältnisse reinstallierenzu können. So blieb der Landtag beste-hen, allerdings lagen die Regierungsbil-dung und das Heereswesen beim Kö-nig. Die Einführung des Dreiklassen-wahlrechts führte zu einem fast völligenAusschluss der breiten Massen an derpolitischen Mitwirkung. Die Bedeutungeiner Wählerstimme war nun an dieSteuerkraft gebunden. Pressezensurund Einschränkung der Selbstverwal-tung in den preußischen Provinzenflankierten die restaurativen Bestrebun-gen.Der preußische König Friedrich-Wil-helm IV. nahm auch die Bestrebungender Paulskirche auf, einen deutschenNationalstaat zu schaffen. Er betrieb

    um 1850 auf politischer Ebene die Bil-dung eines „Deutschen Reiches“ unterpreußischer Führung. Österreich sollteMitglied in einem erweiterten Bund, der„Deutschen Union“, werden und somitdie preußische Vormachtstellung aner-kennen. Österreich war selbstverständ-lich nicht bereit, eine solche Entwick-lung hinzunehmen. Von preußischerSeite wurde daher versucht, sich derUnterstützung Russlands zu versi-chern. Dort bestand jedoch nicht dasgeringste Interesse, die Vormachtstel-lung Preußens zu stützen.

    Die Durchsetzung der preußischen Zie-le wäre also nur mit einem Krieg gegenÖsterreich und Russland zu erreichengewesen und scheiterte daher bereitsim Ansatz. Ähnliche österreichischePläne zur Bildung eines großdeutschenReiches stießen ebenso auf den Wi-derstand des russischen Zaren.

    Was blieb, waren kontinuierliche preu-ßisch-österreichische Spannungen inden nächsten Jahren, ohne dass sichan den Realitäten etwas änderte.1857 übernahm Prinz Wilhelm I. fürseinen schwer erkrankten Bruder stell-vertretend die Regentschaft in Preu-ßen. Von ihm erhofften sich weite Teileder Bevölkerung den Beginn einer neu-en Ära. Und tatsächlich deutete eineKabinettsumbildung einen neuen libe-raleren Kurs an. Auch im preußischenAbgeordnetenhaus stellten nun die li-beralen Kräfte die größte Zahl an Ver-tretern.König Wilhelm I., der 1861 nach demTode Friedrich Wilhelms IV. den Thronbestiegen hatte, brachte ein umstritte-nes Gesetz über die Heeresreformein, was zu einer heftigen Krise führte.Hier war geplant, die seit 1856 gelten-de dreijährige Dienstzeit vorzuschrei-ben. Daneben sollte, festgemacht ander stark gestiegenen Einwohnerzahl,das Feldheer von 40.000 auf 63.000Mann erweitert werden. Im Gegenzugsollte die Landwehr reduziert werden.Deren Schwächung konnten aber dieLiberalen nicht akzeptieren, kamen dieOffiziere der Landwehr doch in der Re-gel aus dem Bürgertum. Der Krone da-gegen kam es gerade darauf an, dasMilitär direkt an den König zu bindenund so zu einem schlagfertigen Instru-ment gegen mögliche Umstürze zu ma-chen.

    Beide Seiten wollten den Konflikt zu-nächst nicht eskalieren lassen.

    Der König zog den Reformentwurf zu-rück, ließ sich aber vom Abgeordneten-haus die Kosten für die Neuorganisati-on bewilligen. Dennoch verstummte dieDiskussion nicht.Im Frühjahr 1862 brachte die Regie-rung die Heeresreform erneut unverän-dert ins Abgeordnetenhaus ein. Die li-beralen Mitglieder des Kabinetts nah-men das als Anlass für ihren Rücktritt.Der König löste daraufhin das Abgeord-netenhaus auf, die Neuwahlen brach-ten aber aus seiner Sicht keinen Erfolg.Trotz massiver Wahlbeeinflussung ob-siegten die Liberalen auf der ganzen Li-nie.Es kam, wie es kommen musste:Das neue Abgeordnetenhaus lehntedie Heeresreform ab und damit auchden gesamten Haushalt des Jahres1863. Damit steckte Preußen in einertiefen Verfassungskrise.Der König war dabei nicht gewillt, demParlament irgendwelche Zugeständnis-se zu machen. Das hätte seinemSelbstverständnis deutlich widerspro-chen. Von konservativer Seite wurde indieser Krise die so genannte „Lücken-Theorie“ vertreten. Diese besagte,dass in einer Situation, in der sich Kro-ne und Abgeordnetenhaus nicht auf einBudget einigen können, die Entschei-dung beim König liege. Denn dieserhabe schließlich die Verfassung erlas-sen und stünde so über der Verfas-sung.Nun musste man allerdings noch je-manden finden, der als Ministerpräsi-dent eine solche eher zweifelhafteRechtsauffassung durchsetzen konnteund wollte.

    Der König fand einen Mann, den erallerdings persönlich zutiefst ablehnte.Es war Otto von Bismarck, der dama-lige preußische Gesandte in Paris.Damit betrat 1862 eher zufällig, näm-lich als letzter Ausweg in einer Notsi-tuation, der Mann die Szene, der überfast vier Jahrzehnte das preußischeGeschick und die Entwicklung desDeutschen Reiches zentral gestaltensollte. Otto von Bismarck wird uns indieser Reihe noch nachhaltig beschäfti-gen. Zu seiner Rolle und auch zu sei-ner Person an anderer Stelle mehr.Der neue Ministerpräsident versuchtezunächst, den Konflikt mit dem Parla-ment zu entschärfen, jedoch ohne Er-folg. So wurde das Jahr 1863 der har-ten Auseinandersetzungen mit erneuterAuflösung des Abgeordnetenhauses

    Friedrich-Wilhelm IV.(1795-1861)

    ser Franz-Joseph I. vermochte ein neo-absolutistisches System zu errichten.Er konnte sich dabei auf die Bürokratie,die Armee und die katholische Kirchestützen. Zensur und politische Unter-drückung flankierten das System. Daspolitische Ziel des Kaisers war dieSchaffung eines einheitlichen monar-chistischen Staates, der die Belastun-gen des Vielvölkerstaates überwindensollte. Um dies zu erreichen, wurdensoziale Ziele der Revolutionszeit wie

  • ...bis zum Ende des Kaiserreichs

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    und verschärfter Pressezensur. DieRegierung machte sich die oben er-wähnte Lückentheorie zu Eigen, Bis-marck vermittelte aber stets den Ein-

    druck, er wür-de das Parla-ment nachträg-lich um eineGenehmigungbitten.In Zeiten in-nenpolitischerKrisen könnenaußenpoliti-sche Faktorenhelfen, ersterein den Hinter-grund treten zu

    lassen. 1863 kommt es in Polen zuAufständen gegen die russischeVorherrschaft. Eine breite Öffentlichkeitin England, Frankreich und den deut-schen Ländern stützt dabei den polni-schen Anspruch auf Souveränität.

    Ganz anders Bismarck: Er befürchtet,dass das polnische Aufbegehren Fol-gen für die preußischen ProvinzenWestpreußen und Posen, aber auchOstpreußen und Schlesien habenkönnte. Daher stellt er sich deutlich andie Seite Russlands. Ohne preußischeUnterstützung allerdings ist das polni-sche Bestreben zum Scheitern verur-teilt. Preußens Anspruch als Führungs-macht im Deutschen Bund erleidet da-mit einen deutlichen Dämpfer. Aberauch österreichische Versuche, in derFolge seine Vormachtstellung inDeutschland auf Kosten Preußens aus-zubauen, schlagen fehl.Jetzt sind es noch wenige Jahre undimmerhin drei Kriege, die bis zurGründung des Deutschen Reichesnoch ausstehen. Wir alle kennen denSatz, dass der Krieg die Fortsetzungder Politik mit anderen Mitteln sei.Dies gilt hier nicht. Krieg ist in dieserZeit nichts als ein oder das direktesteMittel der Politik. Dahinter steht aucheine Menschenverachtung, für die wirheute – glücklicherweise – keinerleiVerständnis mehr haben.

    Preußen sollte nun seine Situation undsein Ansehen im Reichsgebiet zu ver-bessern suchen. Anlass dazu bot dererneute Streit um Schleswig und Hol-stein. Bereits 1848 hatten preußischeTruppen dieses zu Dänemark zählendeGebiet erobert. Im Londoner Protokollvon 1852 wurde aber festgelegt, dassbeide Herzogtümer unter dänischer

    Herrschaft blieben, aber nicht getrenntwerden durften. Daran hatte sich Däne-mark 1863 nicht mehr gehalten. Preu-ßische und österreichische Truppenbesetzten darum im deutsch-däni-schen Krieg von 1864 diese Gebiete.Preußen wollte eine direkte Annexion,konnte sich damit aber nicht durchset-zen. So gewann es zwar das Herzog-tum Lauenburg, zudem regierte esSchleswig. Österreich gelangte in denBesitz Holsteins.Diese Lösung war unbefriedigend. Vonpreußischer Seite schürte man nunden Konflikt. Österreich, das kein wirk-liches Interesse an Holstein hatte, be-saß aber nicht die Möglichkeit, auf die-ses Gebiet zu verzichten, ohne ein An-sehen bei den Klein- und Mittelstaatenzu verlieren. So war Anfang 1866 bei-den Parteien klar, dass es zu einerkriegerischen Auseinandersetzungkommen würde.Preußen verfügte nach der Heeres-reform über eine moderne, schlagkräf-tige Armee. Die hervorragende Infra-struktur, insbesondere durch die Eisen-bahn begünstigt, ermöglichte eineschnelle Mobilmachung. Österreichund seine vor allem süddeutschen Ver-bündeten galten dennoch als militä-risch stärker. Da sie aber für eine Mo-bilmachung deutlich mehr Zeit benötig-ten, erschien Österreich von vornhereinals der Aggressor.Die meisten klein- und mitteldeutschenStaaten setzten auf Österreich, alleinweil hier das größere militärischePotenzial lag. Viele erwarteten einenlangjährigen Krieg, in Wirklichkeit fieldie Entscheidung sehr schnell. GeneralHelmuth von Moltke, ein genialer Stra-tege, führte drei getrennt aufmarschie-rende preußische Armeen bei König-grätz in Böhmen gegen die Masse desösterreichischen Heeres.Es sollte ein über-wältigender preu-ßischer Sieg wer-den.Bereits am 23. Au-gust 1866 wurdeder Friede vonPrag geschlossen.Österreich musstezustimmen, dassdie deutschen Ver-hältnisse in Zu-kunft ohne seineMitwirkung gere-gelt würden.Preußen annek-

    tierte mit Hannover, Kurhessen undNassau diejenigen Staaten, die mitÖsterreich paktiert hatten. Auch Hol-stein fiel nun an Preußen, ebenso wiedie bisher freie Reichsstadt Frankfurt.Preußen verfügte nun über ein zusam-menhängendes Staatsgebiet, das vonKönigsberg bis Saarbrücken reichte.Die anderen Kleinstaaten nördlich desMains schlossen sich mit Preußen zumNorddeutschen Bund zusammen.Die Staaten des Bundes sollten vor al-lem wirtschaftlich profitieren. Gemein-sam mit Preußen nahm die Industriali-sierung des Gesamtgebietes noch er-heblich an Fahrt auf. Die Verfassungdes Bundes ähnelte dabei schon sehrder Verfassung des späteren Deut-schen Reiches.

    Für ganz Mitteleuropa bedeutete diestief greifende Veränderungen.

    Der Deutsche Bund, dessen Erhaltnoch das zentrale Ergebnis der Ver-handlungen des Wiener Kongressesgewesen war, hörte nun auf zu existie-ren.Österreichs Vormachtstellung in Mittel-europa war beendet, dieses fixiertesich jetzt auf die Stabilisierung derösterreichisch-ungarischen Doppel-monarchie. Faktisch blieben allein diesüddeutschen Staaten auf dem Gebietdes Deutschen Bundes selbstständig.Die Ereignisse, die letztlich zumdeutsch-französischen Krieg von1870/71 führten, nahmen in Spanien ih-ren Anfang.Der spanische Thron war 1868 durchden Sturz der Königin Isabella vakant

    Otto von Bismarck(1815-1898)

    Schlacht bei Königgrätz (3.7.1866)

  • Von der Paulskirche...

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    geworden. Die spanischen Führungs-eliten dachten daran, eine Nachfolgeaus dem verwandten deutschen Für-stenhaus Hohenzollern-Sigmaringen zuinstallieren.1870 erfolgte die offizielle Anfrage andas Oberhaupt des Hauses Hohenzol-lern, König Wilhelm I. von Preußen.Bismarck bemühte sich nachträglichdarum, dass der König die Kandidaturdes Erbprinzen Leopoldgenehmigte.In Frankreich konnteman das nicht hinneh-men. Spanien undDeutschland unter preu-ßischer Führungmussten als eine nichtakzeptable Bedrohungangesehen werden. Un-ter französischem Druckzog Leopold seine Kan-didatur schließlich zu-rück. Diesen diplomati-schen Erfolg wollte Na-poleon III. noch mehren. Er verlangtevon Wilhelm I eine Garantie, dass die-ser auch in Zukunft keine Hohenzol-lern-Kandidatur mehr stützen werde.Dies lehnte der König, der den fran-zösischen Botschafter in seinem KurortBad Ems empfing, ab.In einem Telegramm, der so genannten„Emser Depesche“, informierte derKönig seinen Ministerpräsidenten Bis-marck über dieses Gespräch. Bis-marck kürzte den Text so, dass die Ab-lehnung des französischen Verlangenseine ungemeine Schärfe bekam undsorgte für die Veröffentlichung des Tex-tes.

    Das war aus französischer Sicht nichtzu akzeptieren.

    Am 19. Juli 1870 erklärte FrankreichDeutschland den Krieg.

    Beide Seiten waren darauf nicht wirk-lich vorbereitet. Beiden ging es darum,das Prestige einer europäischen Groß-macht ohne Gesichtsverlust wahren zukönnen. Auch die süddeutschen Staa-ten beteiligten sich sofort auf preußi-scher Seite an den Kriegsvorbereitun-gen. Die herausragende militärischePersönlichkeit war erneut von Moltke,der die deutschen Truppen befehligte.

    Schon in der Schlacht von Sedan am2.9.1870 kapitulierten die französi-schen Truppen und Napoleon III. gerietin Gefangenschaft.

    In Paris wurde daraufhin die Republikausgerufen, der Krieg fand seine Fort-setzung.

    Schließlich konnte aber mit dem „Vor-frieden von Versailles“ vom 26.2.1871und dem „Frieden von Frankfurt“ am10.5.1871 der Krieg beendet werden.Frankreich zahlte 5 Mio. Franc Ent-schädigung und musste Elsass sowieTeile Lothringens und die Festung Metzabtreten – eine schwere Hypothek für

    die Zukunft des deutsch-französischenVerhältnisses.

    Noch während des Krieges traten diesüddeutschen Staaten im Januar 1871einer modifizierten Form der Verfas-sung des Norddeutschen Bundes bei.Vor allem aber sollte von nun an einKaiser an der Spitze des DeutschenReiches stehen. Gerade der bayeri-sche König war zunächst nicht bereit,dieses Verlangen zu teilen.

    Erst der Druck, dass der König durchein gewähltes Parlament gebeten wer-den könne, die Kaiserkrone anzuneh-men, führte zu einer Sin-nesänderung. Schließlichgalt es sicherzustellen,dass es sich hierbei umein Bündnis von Fürstenhandelte und nicht umdas Ergebnis demokra-tisch legitimierter Bürger-interessen.

    Am 18.1.1871 wurde Wil-helm I. im Spiegelsaal vonVersailles zum deutschenKaiser gekrönt.

    Laut Verfassung war dasneue Deutsche Reich

    eine konstitutionelle Monarchie, an de-ren Spitze jeweils der preußische Königstand. Dieser ernannte auch denReichskanzler, der den Vorsitz im Bun-desrat hatte und die Leitung der Regie-rungsgeschäfte, wie es lapidar hieß,innehatte.

    Dies bedeutete eine ungeheure Macht-fülle, die jetzt in der Hand des Reichs-kanzlers und gleichzeitigen preußi-schen Ministerpräsidenten Otto vonBismarck lag.

    Meine Damen und Herren, mit diesemMann und seiner Politik werden wir unsin dieser Reihe noch intensiver be-schäftigen.

    Jetzt sind wir bei der Gründung desDeutschen Reiches angekommen.

    Hier war ein neuer Staat entstanden, zuklein, um Europa zu dominieren, zugroß, um sich problemlos in das Kon-zert der europäischen Großmächteeinzufügen.

    Von dieser preußisch dominiertenGroßmacht sollte Europas Schicksal,aber auch das Schicksal der Welt inden folgenden 100 Jahren nachhaltigbeeinflusst und negativ geprägt wer-den...

    Schlacht von Sedan am 2.9.1870

    18.1.1871: Die Krönung Wilhelm I. zum deut-schen Kaiser im Spiegelsaal von Versailles

  • ...bis zum Ende des Kaiserreichs

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    Die politischen Verhältnisse inDeutschland in der Mitte des 19. Jahr-hunderts spiegeln sich auch in der Ma-lerei wider. Die romantische Malerei,wie sie von Caspar David Friedrich undPhilipp Otto Runge vertreten wurde,war in ihrer absoluten Individualität undWeltabgewandtheit auf die Dauer nichtgesellschaftsfähig. Der biedermeierli-che Durchschnittsbürger konnte dieseArt von Einsamkeit und Mystik nicht er-tragen. So fanden diese Maler auchkeine direkten Nachfolger. Die Roman-tik, wie sie sich weiter entwickeln sollte,war Ausdruck der bürgerlichen Wirk-lichkeit mit all ihren Wünschen nachRuhe, Geborgenheit, Natur und Religi-on. Und so entwickelte sich in Deutsch-land eine Kunstauffassung, die in denüberlieferten Werten, Traditionen undWeltanschauungen verhaftet blieb undhauptsächlich Genrebilder, Porträts,malerische Landschaften und Stilllebenproduzierte.

    Parallel dazu existierte aber auch eineEntwicklung, die sich zunächst im An-gesicht der Napoleonischen Kriegeauch politisch gab und teilweise tiefreligiös motiviert war.

    Maler wie Franz Pforr (1788-1812)und Friedrich Overbeck (1789-1869)gründeten in Wien die im modernen

    Sinne erste Künstlervereinigung, die„Lukasbruderschaft“. Beide Maler op-ponierten gegen die allgemein aner-kannte akademische, das heißt „klassi-zistische“ Malerei, wie sie seit dem 18.Jahrhundert bestand und sich durchstrenge Kompositionsschemata aus-zeichnete.Ähnlich wie auch Friedrich standen siepolitisch für ein geeintes Deutschland,waren patriotisch und trugen als Zei-chen der Ablehnung der napoleoni-schen Herrschaft die altdeutscheTracht: Barett und lange Haare. Sie be-sannen sich auf die Kunst des deut-schen Mittelalters, das ihrer Meinungnach den Geist des wahren katholi-schen Glaubens ausströmte, lebtenmönchisch streng und fühlten sich sitt-lich-religiös verpflichtet.

    Um den katholischen Glaubensidealennäher zu sein, reisten Pforr und Over-beck 1810 nach Rom. Hier trafen sieauf den Heidelberger Carl PhilippFohr (1795-1818), und später kamennoch Julius Schnorr von Carolsfeld(1794-1872) und Peter von Cornelius(1783-1867) hinzu, die sich die „Brüdervon San Isidoro“ nannten, nachdem sie1810 in dem aufgegebenen Kloster aufdem Monte Pincio Quartier bezogenhatten.Die Bezeichnung „Nazarener“ kamwohl erst 1817 auf und basiert auf ei-ner abfällig geäußerten BemerkungGoethes, der in dieser Bewegung ein„klosterbruderisierendes Unwesen“sah.

    Die jungen Künstler versuchten jeden-falls ein mönchisches Dasein zu füh-ren, wobei sie als Vorbild malendeMönche wie Fra Angelico und FraFilippo Lippi ansahen. Entsprechendversuchten sie die Kunst dieser frühenRenaissancemaler nachzuahmen, diedurch eine gewisse Flächigkeit und einfestes Lineament gekennzeichnet ist.Auf der anderen Seite wurden Künstlerwie Dürer, Cranach und Holbein stu-diert, die sich zum Inbegriff der altdeut-schen Kunst entwickelten.

    Besonders Peter von Cornelius warwohl der aktivste Maler der Bruder-schaft. Gemeinsam mit seinen Kolle-gen Overbeck, Schadow und Veith be-

    kam er von dem preußischen General-konsul den Auftrag, die DiplomatischeVertretung in Rom, die Casa Zuccaro,mit Fresken aus der Josephsgeschich-te auszumalen. Von Rom ging Corneli-us nach München, wurde schnell zumAkademiedirektor berufen und von Kö-nig Ludwig I. geadelt. Nachdem er eini-ge kleinere Aufträge ausgeführt hatte,sollte er auf Wunsch Ludwigs 1836 dievon Friedrich von Gärtner errichteteLudwigskirche ausmalen. Das Werkwurde zwar vollendet, konnte abernicht vor dem König bestehen. Es kamzum Zerwürfnis, und Cornelius gingnach Berlin. Cornelius beeinflusste vonhier aus die Malerei noch bis in die Kai-serzeit hinein.

    Ein weiterer wichtiger Künstler derGruppe war Julius Schnorr vonCarolsfeld. Auch er hatte sich als Vor-bild die italienische Renaissance aus-gewählt und versuchte in seinem Werkmit Raffael zu konkurrieren. Mit Wer-ken wie seiner „Hochzeit zu Kana“ hater noch die Generation späterer Künst-ler angeregt. Zu seinen Höhepunktenzählt die Ausmalung der MünchnerResidenz, so die Nibelungensäle. Von1831 an bis 1867 malte er an diesemumfassenden Zyklus der GeschichteSiegfrieds.Gerade die großformatigen WerkeSchnorr von Carolsfelds, Corneliusoder Schadows haben einen nicht zuunterschätzenden Einfluss auf die Mo-numentalmalerei in der zweiten Hälftedes 19. Jahrhunderts gehabt.Historienmalerei wurde in immer grö-ßerem Maße für die im prosperieren-den Deutschland neu errichteten oderrestaurierten Rathäuser, Schulen, Uni-versitäten, Bibliotheken und Museenbenötigt, und viele der späteren Künst-ler haben sich an die Kunst der Naza-rener angeschlossen.

    Wilhelm von Kaulbachs großes Histo-rienbild „Die Zerstörung Jerusalemsdurch Titus“ ist nur ein Beispiel derneuen theatralischen Malerei, die denBetrachter Geschichte lehren will, umihn so bildungsbürgerlich zu erziehen.Dabei ist das reale Ereignis zweitran-gig. In überhöhter, idealistischer Weisewill das Geschehen als für die ganze

    Kunst und Architektur in Deutschland um 1848

    Friedrich Overbeck (1789 bis 1869):Bildnis des Malers Franz Pforr

    (um 1810)

  • Von der Paulskirche...

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    Welt bedeutendes überzeitliches Ereig-nis interpretiert werden. „Wenn Kaul-bach rechts im Bild die „Christenheit“und in der Gegenrichtung den verhäss-lichten „Ewigen Juden“ aus der Stadtfliehen lässt, so macht das die Facet-ten und die Gefahren der Geschichts-auffassung des 19. Jahrhunderts rechtdeutlich.“

    In der Jahrhundertmitte gab es inDeutschland ein Überangebot anKünstlern, die alle auf ihre Fähigkeitenaufmerksam machten und um Aufträgewarben. Um auf dem Kunstmarkt be-stehen zu können, versuchten sichviele Maler auf bestimmte Themen undDarstellungen zu spezialisieren. Ambeliebtesten waren die Porträtisten,dann die Heiligenmaler, gefolgt vonden Landschaftern und den Historien-malern, die weniger von Privatleutenals vom Staat bezahlt wurden.Die Maler hatten in erster Linie denAnforderungen der Auftraggeber ge-recht zu werden und ihren Wünschenzu entsprechen. Deutschland befandsich nach dem Untergang Napoleonsin einer restaurativen Phase, die sich inder Kunst dadurch auszeichnete, dassman möglichst keine Experimentewünschte.

    Man gab sich familiär, katholisch undunpolitisch und zog sich ins gutbürgerli-che Wohnzimmer zurück. FrommeZurückhaltung ging einher mit der auchnach Außen sichtbaren Liebe zum Va-terland. Familie und Ehe wurden fastschon zelebriert, wobei die Vorstellungvom Patriarchen als Familienvorstandnach Altvätersitte wieder heraufbe-schworen wurde. Selbstverständlichwollte der Hausherr in seinem bieder-meierlichen Ambiente eine Kunst derErbauung schauen und nicht beunru-higt werden. Familienporträts kamengroß in Mode und wer es sich leistenkonnte, ließ gleich die ganze Familiemalen.

    Carl Begas´ (1794-1854) Familienbildvon 1821 ist nur eines unter vielen, diedie familiäre Eintracht eindrucksvolldarstellen sollen. Der Vater hoch auf-gereckt fast im Mittelpunkt der Kompo-sition, die Mutter handarbeitend sit-

    zend, die Kinderschar entsprechenddem Alter und dem Geschlecht sittsamund wohlerzogen im geordneten Rei-gen um die Eltern platziert. Es wirdgeraucht, musiziert, genäht, geschrie-ben und mit dem Hund gespielt. Nurder Künstler selbst stellt sich etwasabseits auf die rechte Seite. Alle sinddem Vater untertan. Dieser ist ein ho-her Richter in der Stadt Köln, und umdieses zu betonen, steht auf demSchrank im Hintergrund die Figur derJustitia, die Göttin der Gerechtigkeit mitSchwert und Waage. Darüber aberbefindet sich ein kleines Gemälde, das„Pfingstwunder“, eine Kopie einer gro-

    ßen Auftragsarbeit des preußischenKönigs für den Berliner Dom, die CarlBegas 1820 ausgeführt hatte. Erhebtsich der Sohn vielleicht über den Va-ter? Jedenfalls steht er außerhalb derKomposition am rechten Bildrand alsBeobachter, der sich Notizen macht.War auf der einen Seite das bürgerli-che Familienleben streng geordnet unddie Frau bedingungslos dem Manneuntertan, so wurde sie in der bildendenKunst in einer bis dahin nicht gekann-ten Weise idealisiert. In ihr vereinensich alle edlen Eigenschaften, die einMensch nur haben kann. Entsprechendwird sie in der Malerei als engelglei-ches Wesen dargestellt, wie es Wil-helm von Schadow (1788-1862) mitseiner „Mignon“ von 1828 zeigt.Oft ist es aber auch Männerwunsch,dass sich die Engelgleiche über dasMenschliche hinausbewegt und sich inübernatürliche, heldische Gefilde ver-irrt. Doch auch wenn sie männermor-dend agieren muss, wie bei Judith, diefür ihr Volk den Holofernes enthauptet

    und von August Riedel (1799-1883)1840 gemalt wurde, darf sie nicht zubrutal aussehen, sondern muss anmu-tig und würdevoll erscheinen.Hier kommt langsam ein Frauentyp insBlickfeld der Kunstgeschichte, der sichweit über alles Natürlich-Weibliche er-hebt und letztendlich in der Femmefatale des ausgehenden Fin de Sièclegipfelt – aber so weit sind wir nochnicht.Die Frau des biedermeierlichen 19.Jahrhunderts tritt bescheiden hinterihrem Mann zurück, blickt zu ihm aufund trägt einen noblen Leidenszug umihre Lippen, und sie trägt Schwarz, wie

    man auf unzähligenPorträts dieser Zeitsehen kann, undwenn auch nur dashelle Kleid durcheine schwarze Spit-zenstola in seinerleuchtenden Intensi-tät abgeschwächtwird, wie auf demPorträt der MariaSophia von Bayernvon August Riedel.Schwarz ist die Mo-defarbe, nicht nurweil nach den Befrei-ungskriegen vieleEhemänner nichtmehr heimgekehrtsind und sich ihr Hel-

    dentum ins Schwarz der Witwen-kleidung übertrug.

    „Der Tod macht das Unbedeutendebedeutend. So versteht man Ludwig

    Carl Begas d. Ä (1794-1854): Die Familie des Künstlers (1821)

    August Riedel (1799 - 1883):Judith (1840)

  • ...bis zum Ende des Kaiserreichs

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    Börnes Beobachtung, die so charakte-ristisch für die Zeit ist: „... weil schwarzsie kleidet, trauern die Damen um ent-fernteste Verwandte“. So wie die vielenOrden die Herren zieren, so adelt dasschwarze Atlaskleid die Dame.Neben der Familienidylle im Gruppen-oder Einzelporträt, den Historien-bildern, die die gesamte Deutsche Ge-schichte wiedererstehen lassen, gibt esaber auch noch die Verbindung zwi-schen Malerei und Musik, die neu ist.

    Die gutbürgerliche Familie versammeltsich in der Mitte des 19. Jahrhundertszur Hausmusik, spielt Klavier, Flöte,Cello und Harfe. Man blickt ins musika-lische Wien und verinnerlicht die dortgefeierte Wiener Klassik. Ob Schubertseine „Winterreise“ in Töne kleidet oderder Wiener Maler Joseph Danhauser„Liszt am Klavier“ malt, allen Beteiligtenwird klar, Malerei und Musik gehörenunbedingt zusammen.

    Als beispielhaft für diese Entwicklungkann das Gemälde „Eine Symphonie“von Moritz von Schwind angesehenwerden. Dieser ursprünglich WienerKünstler hatte mit seiner Malerei so vielErfolg, dass er in fast jeder deutschenMetropole gern gesehen war. 1852setzte er seine Vorstellung von derKraft der Musik malerisch um. Er selbstbemerkte zu seinem Bild: „... das Gan-ze wäre zu denken als Beethoven be-treffende Wand eines Musikzimmers ...und basiert daher auf einem Beetho-venschen Musikstück: Phantasie fürKlavier, Orchester und Chor in C...“Entsprechend den Sätzen dieses Mu-sikstückes entwickelt sich auch seinegemalte „Symphonie“ einer Liebesge-schichte: „In einer Hausmusik-Probeunten (Introduktion) verliebt sich einjunger Zuhörer in die Sängerin, dannfolgt die Begegnung im Walde (Andan-te), oben während eines Balles dasAussprechen der Gefühle (Adagio),schließlich im Halbrund das Rondo, dieHochzeitsreise ins Schlösschen des„beglückten Mannes“.“Und dies alles sollte nach SchwindsVorstellungen großformatig als Wand-bild ausgeführt werden.

    Ein weiterer wichtiger Aspekt in derspätbiedermeierlichen Kunstauffassungkommt der Darstellung des Waldes inder Malerei zu. Waren zunächst dieSehnsüchte der Künstler auf Gebieteaußerhalb der eigenen Heimat gerich-tet, und hat Caspar David Friedrich inseinen Bildern immer wieder diesen

    sehnsuchtsvollen Blick in die Fernedargestellt, so entwickelte sich bis indie Mitte des 19. Jahrhunderts eineBegeisterung für die eigene heimischeNatur.Und hier wurde es der Wald, der baldpatriotisch überhöht zum „DeutschenWald“ aufstieg, der immer wieder inLiedern besungen und in Bildern gefei-ert wurde. Die Märchen der GebrüderGrimm taten ein Übriges, den Wald alsein Gefilde des Schauderns, aber auchder Geborgenheit neu entstehen zulassen. Ein Begriff wie der der „Wald-einsamkeit“, in Ludwig Tiecks Märchen„Der blonde Eckbert“ vorkommend, ließdie spätbiedermeierlichen Herzen hö-her schlagen und der Phantasie genü-gend Platz für Vorstellungen von einsa-men Eremiten, Elfen und Verliebten,aber auch von Hexen, Zauberern undwilden Tieren. Zu Hause, hinter dendicken Stadtmauern und vor dem war-men Ofen ließ es sich trefflich von er-baulichen und schauerlichen Begeben-heiten träumen, die sich alle im Waldeabspielten.

    Einer, der dieses Bedürfnis nach idylli-schen Waldszenen befriedigte, warLudwig Richter. In seinem Bild „Braut-zug in einer Frühlingslandschaft“ von1847 bringt er die Bedürfnisse der Zeitauf den Punkt: das Glück der Liebe,das in der Ehe seinen Höhepunkt fin-det; der Stolz der Eltern, die Kinderwohlversorgt zu sehen; der deutscheWald in Form von knorrigen Eichen,die den Brautzug rahmen; die Kircheim Wald, als Hort des Glaubens, unddas alles in klarer Luft und frühlingshaf-ter Stimmung mit spielenden und musi-

    zierenden Kindern im Vordergrund, diean Niedlichkeit nicht zu übertreffensind. Dies sind die Bedürfnisse, Wün-sche und Sehnsüchte, die nach denBefreiungskriegen erträumt werden.

    Es herrscht zwar Friede, aber er ist mitÜberwachung, Bespitzelung und Zen-sur teuer erkauft. Politische Aktivitätenund kritische Bemerkungen werdenargwöhnisch beäugt und viele Bürgerziehen sich schon deshalb in ihr trautesHeim zurück, als durch unbedachteÄußerungen die Aufmerksamkeit derObrigkeit auf sich zu ziehen. Und dieseHäuslichkeit ist in vielen Bildern immerwieder dargestellt worden, als wennsich die Menschen das Glück der Be-haglichkeit vor Augen halten müssten,um daran zu glauben.

    Dass diese Ruhe eine trügerische war,hat nicht nur Heinrich Heine immerwieder in seinen Schriften kritisiert,Carl Spitzweg (1808-85) hat in fastliebevoller Aufmerksamkeit die teilwei-se schon skurrilen Auswüchse seinerMitmenschen ironisch dargestellt.Ob es der Kakteenliebhaber, derSchmetterlingsfänger, der Bibliothekaroder der Wachtmeister ist, der seinerAngebeteten zur späten Stunde einStändchen bringt, immer mutet seinenFiguren etwas Spießbürgerlich-Kleinka-riertes an, was den Betrachter schmun-zeln lässt, aber doch auch etwas über

    Ludwig Richter (1803-1884): Der Brautzug (1847)

  • Von der Paulskirche...

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    die Genauigkeit der beobachtetenWirklichkeit verrät, die Spitzweg unshier vorführt.Eines seiner berühmtesten Gemälde,„Der arme Poet“ von 1835, stellt wahr-scheinlich den Münchner DichterEtenhuber dar, der in ärmlichen Ver-hältnissen lebte. Da kein Geld fürBrennholz übrig ist, verkriecht sich derarme Poet, bekleidet mit Hausmantelund Schlafmütze ins Bett, um der win-terlichen Kälte, wie sie an den ver-schneiten Dächern, die durch das klei-ne Fenster zu sehen sind, zu entgehen.Trotz der widrigen Umstände einesundichten Daches und mangelnderWärme ist der Dichter mit dem Abzäh-len des Versmaßes seiner Reime unterZuhilfenahme seiner Finger und desGänsekiels im Mund beschäftigt.

    Schon ein paar Jahre später habensich die Verhältnisse in Deutschlandgewandelt. Die Ruhe nach den Befrei-ungskriegen wird immer mehr als Gra-besstille verstanden, in der sich nie-mand mehr zu regen wagt. Die Bevöl-kerung verlangt nach sozialer Gerech-tigkeit und mehr politischem Einfluss.In der Malerei