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PROLETARIER ALLER LÄNDER, VEREINIGT EUCH! LENIN WERKE 1

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PROLETARIER ALLER LÄNDER, VEREINIGT EUCH!

LENINWERKE

1

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HERAUSGEGEBEN AUF BESCHLUSSDES 1X.PARTEITAGES DER KPR(B) UND DES

ILSOWJETKONGRESSES DER UdSSR

DIE DEUTSCHE AUSGABE ERSCHEINTAUF BESCHLUSS DES ZENTRALKOMITEESDER SOZIALISTISCHEN EINHEITSPARTEI

DEUTSCHLANDS

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INSTITUT FÜR MARXISMUS-LENINISMUS BEIM ZK DER KPdSU

WI.LENINWERKE

INS DEUTSCHE ÜBERTRAGENNACH DER VIERTEN RUSSISCHEN AUSGABE

DIE DEUTSCHE AUSGABEWIRD VOM INSTITUT FdR MARXISMUS-LENINISMUS

BEIM ZENTRALKOMITEE DER SED BESORGT

<trDIETZ VERLAG BERLIN

1961

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Wl.LENINBAND 2

1895-1897

<$

DIETZ VERLAG BERLIN

1961

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Russischer Originaltitel:

B. E. 3EHHH • COIHHEHHE

Dietz-Verlag GmbH, Berlin • 1. Auflage 1961 • Printed in GermanyAlle Rechte vorbehalten • Gestaltang nnd Typographie: Dietz Entwarf

Lizenznnmmer 1Gesamtherstellung: Karl-Marx-Werk, Pößneck, V15/30

ES I C

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VII

VORWORT

Der Band 2 enthält die Arbeiten W.I.Lenins aus den Jahren 1895-1897.Die erste Gruppe der hier zusammengefaßten Schriften - „Friedrich

Engels", „Entwurf und Erläuterung des Programms der Sozialdemokra-tischen Partei", „Die Aufgaben der russischen Sozialdemokraten" und„Auf welches Erbe verzichten wir?" diente dem Ziel, die programmati-schen, taktischen und organisatorischen Aufgaben der russischen Mar-xisten auszuarbeiten.

Einen bedeutenden Teil des vorliegenden Bandes nehmen die gegen dieVolkstümler gerichteten ökonomischen Schriften Lenins ein, und zwar:„Zur Charakteristik der ökonomischen Romantik", „Die Kustarzählungvon 1894/95 im Gouvernement Perm und die allgemeinen Fragen der,Kustar'industrie", „Perlen volkstümlerischer Projektemacherei" u. a.

Bei der dritten, im vorliegenden Band enthaltenen Gruppe handelt essich um agitatorische Schriften Lenins: um die Broschüren „Erläuterungdes Gesetzes über die Geldstrafen, die den Arbeitern in den Fabriken undWerken auferlegt werden" und „Das neue Fabrikgesetz", um die Flug-schriften „An die Arbeiter und Arbeiterinnen der Thornton-Fabrik" und„An die Zarenregierung", sowie ferner um den Artikel „Woran denkenunsere Minister?".

Bei der Vorbereitung der legalen Ausgaben der Arbeit „Zur Charakte-ristik der ökonomischen Romantik" in den Jahren 1897 und 1898 war Le-nin wegen der Zensur gezwungen, die Worte „Theorie des Marxismus"durch „neueste Theorie", „Marx" durch „der bekannte deutsche Öko-nom", „dieser Sozialismus" durch „diese Lehre" u. dgl. zu ersetzen. Fürdie Neuauflage der Arbeit im Jahre 1908 korrigierte Lenin einen großen

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Vorwort

Teil der erwähnten Ausdrücke entweder direkt im Text oder versah siemit einer Anmerkung. Die zweite sowie die dritte Ausgabe der Werkeenthielten diese Korrekturen Lenins in Fußnoten. In der vorliegendenAusgabe sind sie in den Grundtext des Werkes aufgenommen worden.

In den vorangegangenen Ausgaben der Werke W. I. Lenins wurde dieSchrift „Die Aufgaben der russischen Sozialdemokraten" nach einer Ko-pie des Manuskripts von Lenin veröffentlicht. Diese Kopie enthält einigeSchreibfehler und sonstige Ungenauigkeiten, die dem Abschreiber unter-laufen sind. Die vorliegende Ausgabe der Werke bringt die Schrift nachdem Text der im Jahre 1902 veröffentlichten, von Lenin durchgesehenenund korrigierten Broschüre.

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W. I.LENIN1897

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FRIEDRICH ENGELS

Qesdhrieben im Jierbst 1895.

Zuerst veröffentlicht i896 in dem 7!acb dem 0'ext des SammeUSammelband „Rabotnik"1 Nr. 1/2. bandes „Rabotnik".

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PAEOTHHK^MM 1 H 1

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Ob nopTpcTOMi

Bjdanie ,Cm3a Pycaeuxb

3KEHEBA„CoH)3i Prccxux-

1896

Titelblatt des Sammelbandes „Rabotnik",in dem W. I. Lenins Nachruf „Friedrich Engels" zuerst

veröffentlicht wurde - 1896

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Welch3 Lettchte der Vernunft ist nun erloschen.Was für ein Herz hat aufgehört zu schlagen!2

Am 5. August neuen Stils (24. Juli) 1895 verschied in London FriedrichEngels. Engels war nach seinem Freunde Karl Marx (der 1883 starb) derbedeutendste Gelehrte und Lehrer des modernen Proletariats in der gan-zen zivilisierten Welt. Seitdem das Schicksal Karl Marx und FriedrichEngels zusammengeführt hatte, wurde die Lebensarbeit der beiden Freundezu ihrer gemeinsamen Sache. Um zu verstehen, was Friedrich Engels fürdas Proletariat geleistet hat, muß man sich daher über die Bedeutung derLehre und des Wirkens von Marx für die Entwicklung der modernenArbeiterbewegung völlig im klaren sein. Marx und Engels wiesen als erstenach, daß die Arbeiterklasse mit ihren Forderungen ein notwendiges Pro-dukt der modernen Wirtschaftsordnung ist, die mit der Bourgeoisiezwangsläufig auch das Proletariat erzeugt und organisiert; sie zeigten, daßnicht wohlgemeinte Versuche einzelner hochsinniger Persönlichkeiten,sondern der Klassenkampf des organisierten Proletariats die Mensdiheitvon den Drangsalen erlösen wird, die sie heute bedrücken. Marx undEngels setzten in ihren wissenschaftlichen Arbeiten als erste auseinander,daß der Sozialismus kein Hirngespinst von Träumern ist, sondern Endzielund notwendiges Resultat der Entwicklung der Produktivkräfte in der mo-dernen Gesellschaft. Alle bisherige schriftlich überlieferte Geschichte istdie Geschichte von Klassenkämpfen, die Aufeinanderfolge von Herrschaftund Sieg der einen Gesellschaftsklassen über die anderen. Und das wirdso lange weitergehen, bis die Grundlagen des Klassenkampfes und derKlassenherrschaft versdiwinden: das Privateigentum und die ungeregeltegesellschaftliche Produktion. Die Interessen des Proletariats fordern die

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V. 1. Lenin

Vernichtung dieser Grundlagen, und daher muß der bewußte Klassen-kampf der organisierten Arbeiter gegen sie gerichtet werden. Jeder Klas-senkampf aber ist ein politischer Kampf.

Diese Anschauungen von Marx und Engels sind heute Gemeingut desgesamten um seine Befreiung kämpfenden Proletariats. Aber in den vier-ziger Jahren, als die beiden Freunde an der sozialistischen Literatur mit-zuarbeiten und an den sozialen Bewegungen ihrer Zeit teilzunehmen be-gannen, waren solche Anschauungen völlig neu. Es gab damals viele be-gabte und unbegabte, ehrliche und unehrliche Leute, die wohl für denKampf um politische Freiheit, für den Kampf gegen die Willkürherrschaftder Monarchen, der Polizei und der Pfaffen schwärmten, aber den Gegen-satz zwischen den Interessen der 'Bourgeoisie und denen des Proletariatsnicht erkannten. Diesen Leuten lag sogar der Gedanke völlig fern, daß dieArbeiter als selbständige gesellschaftliche Kraft auftreten könnten. An-derseits gab es viele, zuweilen geniale Träumer, die der Meinung waren,es genüge, die Machthaber und die herrschenden Klassen von der Unge-rechtigkeit der modernen Gesellschaftsordnung zu überzeugen; dannwürde es ein leichtes sein, Frieden undallgemeines Wohlergehen auf Erdenzu schaffen. Sie träumten von einem Sozialismus, der ohne Kampf erreichtwerden könnte. Schließlich betrachteten damals fast alle Sozialisten undsonstigen Freunde der Arbeiterklasse das Proletariat nur als ein Qesdbwürund sahen mit Entsetzen, wie zugleich mit dem Wachstum der Industrieauch dieses Geschwür wädist. Deshalb sannen sie alle darüber nach, wieman die Entwicklung der Industrie und des Proletariats hemmen, wie mandas „Rad der Geschichte" aufhalten könnte. Im Gegensatz zu der allge-meinen Furcht vor der Entwicklung des Proletariats setzten Marx undEngels alle ihre Hoffnungen auf das ununterbrochene Wachstum des Pro-letariats. Je mehr Proletarier, desto größer ihre Kraft als revolutionäreKlasse, desto näher und realer der Sozialismus. In wenigen Worten lassensich die Verdienste von Marx und Engels um die Arbeiterklasse wie folgtzusammenfassen: Sie erzogen die Arbeiterklasse zu Selbsterkenntnis undSelbstbewußtsein und setzten an die Stelle der Träumereien die Wissen-schaft.

Daher muß jeder Arbeiter mit Engels' Namen und Leben bekannt sein,und daher müssen wir auch in unserem Sammelband, der ebenso wie alleunsere übrigen .Veröffentlichungen den Zweck hat, das Klassenbewußtsein

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Triedridb Engels

der russischen Arbeiter zu wecken, einen Abriß des Lebens und Wirkensvon Friedrich Engels bringen, einem der beiden großen Lehrer des mo-dernen Proletariats.

Engels wurde 1820 in der Stadt Barmen, in der zum Königreich Preu-ßen gehörenden Rheinprovinz, geboren. Sein Vater war Fabrikant. ImJahre 1838 sah sich Engels durch Familienverhältnisse gezwungen, dasGymnasium vorzeitig zu verlassen und als Angestellter in ein BremerHandelshaus einzutreten. Die kaufmännische Berufstätigkeit hinderteEngels nicht, an seiner wissenschaftlichen und politischen Bildung zu ar-beiten. Schon als Gymnasiast hatte er den Absolutismus und die Beamten-willkür hassen gelernt. Das Studium der Philosophie führte ihn weiter.Damals herrschte in der deutschen Philosophie die Lehre Hegels, undEngels wurde ihr Anhänger. Obwohl Hegel selber ein Anbeter des abso-lutistischen preußischen Staates war, in dessen Diensten er als Professorder Berliner Universität stand, war die Lehre Hegels revolutionär. HegelsGlaube an die menschliche Vernunft und ihre Rechte sowie die Grund-these der Hegelschen Philosophie, daß sich in der Welt ein ständiger Än-derungs- und Entwicklungsprozeß vollziehe, brachten diejenigen Schülerdes Berliner Philosophen, die sich mit der gegebenen Wirklichkeit nichtabfinden wollten, auf den Gedanken, daß auch der Kampf gegen dieseWirklichkeit, der Kampf gegen das bestehende Unrecht und das herr-schende Übel im Weltgesetz der ewigen Entwicklung begründet sei. Wennalles sich entwickelt, wenn die einen Einrichtungen durch andere abgelöstwerden, warum sollen dann das autokratische Regiment des preußischenKönigs oder des russischen Zaren, die Bereicherung einer verschwindendenMinderheit auf Kosten der übergroßen Mehrheit, die Herrschaft derBourgeoisie über das Volk ewig währen? Hegels Philosophie sprach voneiner Entwicklung des Geistes und der Ideen, sie war eine ideaUstisdnePhilosophie. Aus der Entwicklung des Geistes leitete sie die Entwicklungder Natur, des Menschen und der menschlichen Beziehungen, der gesell-schaftlichen Verhältnisse ab. Marx und Engels, die den Hegelschen Begriffdes ewigen Entwicklungsprozesses* bewahrten, verwarfen die vorgefaßte

* Marx und Engels haben des öfteren darauf hingewiesen, daß sie in ihrergeistigen Entwicklung den großen deutschen Philosophen und insbesondereHegel vieles verdanken. „Ohne die deutsche Philosophie", sagt Engels, „gäbees auch keinen wissenschaftlichen Sozialismus."3

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8 W. 1. Centn

idealistische Anschauung; sie wandten sich dem Leben zu und erkannten,daß nicht die Entwicklung des Geistes die Entwicklung der Natur erklärt,sondern umgekehrt, daß der Geist aus der Natur, aus der Materie zuerklären is t . . . Im Gegensatz zu Hegel und anderen Hegelianern warenMarx und Engels Materialisten. Sie betrachteten die Welt und die Mensch-heit vom materialistischen Standpunkt aus und erkannten, daß ebenso wieallen Naturerscheinungen materielle Ursachen zugrunde liegen, auch dieEntwicklung der menschlichen Gesellschaft durch die Entwicklung mate-rieller Kräfte, der Produktivkräfte, bedingt ist. Von der Entwicklung derProduktivkräfte hängen die Verhältnisse ab, die die Menschen bei derErzeugung der zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse notwen-digen Güter eingehen. In diesen Verhältnissen aber liegt die Erklärung füralle Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens, der menschlichen Bestre-bungen, Ideen und Gesetze. Die Entwicklung der Produktivkräfte erzeugtgesellschaftliche Verhältnisse, die sich auf das Privateigentum gründen,jetzt aber sehen wir, wie ebendiese Entwicklung der Produktivkräfte dieMehrheit der Menschen ihres Eigentums beraubt und es in den Händeneiner verschwindenden Minderheit zusammenballt. Diese Entwicklung derProduktivkräfte vernichtet das Eigentum, die Grundlage der modernenGesellschaftsordnung, sie strebt selber dem gleichen Ziel zu, das sich dieSozialisten gesteckt haben. Die Sozialisten müssen nur verstehen, welchegesellschaftliche Kraft infolge ihrer Stellung in der modernen Gesellschaftan der Verwirklichung des Sozialismus interessiert ist, und dieser Kraftihre Interessen und ihre historische Mission zum Bewußtsein bringen.Diese Kraft ist das Proletariat. Engels lernte es kennen in England, inManchester, dem Zentrum der englischen Industrie, wohin er 1842 über-gesiedelt war, um als Angestellter in das Handelshaus einzutreten, demsein Vater als Teilhaber angehörte. Engels verbrachte hier sehe Zeit nichtnur im Fabrikkontor. Er durchwanderte die schmutzigen Stadtviertel, wodie Arbeiter hausten, und sah mit eigenen Augen ihr Elend und ihre Not.Aber er begnügte sich nicht mit persönlichen Beobachtungen; er las alles,was vor ihm über die Lage der englischen Arbeiterklasse geschrieben wor-den war, er studierte sorgfältig alle ihm zugänglichen amtlichen Doku-mente. Die Frucht dieser Studien und Beobachtungen war das 1845 er-schienene Buch „Die Lage der arbeitenden Klasse in England"4. Wir habenoben bereits erwähnt, worin das Hauptverdienst von Engels als dem

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Jriedrid} Engels

Verfasser der „Lage der arbeitenden Klasse in England" besteht Auch vorEngels hatten sehr viele die Leiden des Proletariats geschildert und auf dieNotwendigkeit hingewiesen, ihm zu helfen. Engels aber hat als erster ge-sagt, daß das Proletariat nidht nur eine leidende Klasse ist; daß geradedie schmachvolle wirtschaftliche Lage, in der sich das Proletariat befindet,es unaufhaltsam vorwärtstreibt und es zwingt, für seine endgültige Be-freiung zu kämpfen. Das kämpfende Proletariat aber wird sidb selbst hel-fen. Die politische Bewegung der Arbeiterklasse wird die Arbeiter unver-meidlich zu der Erkenntnis führen, daß es für sie keinen anderen Ausweggibt als den Sozialismus. Anderseits wird der Sozialismus nur dann eineMacht sein, wenn er zum Ziel des politischen Kampfes der Arbeiterfeiassegeworden ist. Das sind die Grundgedanken des Buches von Engels überdie Lage der Arbeiterklasse in England, Gedanken, die sich heute das ge-samte denkende und kämpfende Proletariat zu eigen gemacht hat, dieaber damals völlig neu waren. Diese Gedanken wurden in einem hin-reißend geschriebenen Buche niedergelegt, das voll ist von wahrheitsge-treuen und erschütternden Bildern aus dem Elendsleben des englischenProletariats. Dieses Buch war eine furchtbare Anklage gegen den Kapita-lismus und die Bourgeoisie. Der Eindruck, den es hervorrief, war sehrstark. Man begann sich allenthalben auf das Buch von Engels zu berufenals auf die beste Darstellung der Lage des modernen Proletariats. In derTat: weder vor 1845 noch später ist eine so eindrucksvolle und wahrheits-getreue Schilderung der Notlage der Arbeiterklasse erschienen.

Zum Sozialisten wurde Engels erst in England. Er trat in Manchestermit den Führern der damaligen englischen Arbeiterbewegung m Verbin-dung und begann in der englischen sozialistischen Presse mitzuarbeiten.Als Engels im Jahre 1844 nach Deutschland zurückkehrte, wurde er aufder Durchreise in Paris mit Marx bekannt, mit dem er schon früher inBriefwechsel gestanden hatte. Marx war in Paris unter dem Einfluß derfranzösischen Sozialisten und des französischen Lebens ebenfalls zumSozialisten geworden. Hier schrieben die Freunde gemeinsam das Buch„Die heilige Familie, oder Kritik der kritischen Kritik"5. Dieses Buch, dasein Jahr vor der „Lage der arbeitenden Klasse in England" erschien undzum größten Teil von Marx geschrieben ist, enthält die Grundlagen desrevolutionär-materialistischen Sozialismus, dessen Hauptgedanken wiroben dargelegt haben. „Die heilige Familie", das ist eine scherzhafte Be-

2 Lenin, Werke, Bd. 2

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10 W.! Centn

Zeichnung für die Philosophen Gebrüder Bauer und ihre Anhänger. DieseHerren predigten eine Kritik, die über jeder Wirklichkeit steht, über denParteien und der Politik, die jede praktische Tätigkeit verneint und sichdamit begnügt, die Umwelt und die in ihr vor sich gehenden Ereignisse„kritisch" zu betrachten. Die Herren Bauer urteilten über das Proletariatvon oben herab, als über eine unkritische Masse. Dieser unsinnigen undschädlichen Richtung traten Marx und Engels entschieden entgegen. ImNamen der wahren menschlichen Persönlichkeit, des von den herrschen-den Klassen und vom Staate getretenen Arbeiters, fordern sie statt derBetrachtung den Kampf für eine bessere Gesellschaftsordnung. Die zudiesem Kampf fähige und an ihm interessierte Kraft sehen sie natürlich imProletariat. Engels hatte schon vor der „Heiligen Familie", in den vonMarx und Rüge herausgegebenen „Deutsch-Französischen Jahrbüchern"6,seine „Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie"7 veröffentlicht, indenen er vom sozialistischen Standpunkt aus die grundlegenden Erschei-nungen der modernen Wirtschaftsordnung als zwangsläufige Folgen derHerrschaft des Privateigentums untersuchte. Der Umgang mit Engels trugzweifellos dazu bei, daß Marx den Entschluß faßte, sich mit der politi-schen Ökonomie zu befassen, jener Wissenschaf t, in der seine Werke danneine wahre Umwälzung hervorgerufen haben.

Die Zeit von 1845 bis 1847 verbrachte Engels in Brüssel und Paris, woer wissenschaftliche Studien mit praktischer Tätigkeit unter den deutschenArbeitern dieser beiden Städte verband. Hier knüpften Engels und MarxBeziehungen an zu dem geheimen deutschen • „Bund der Kommunisten"8,der ihnen den Auftrag gab, die Grundprinzipien des von ihnen ausgear-beiteten Sozialismus darzulegen. So entstand das im Jahre 1848 veröffent-lichte berühmte „Manifest der Kommunistischen Partei" von Marx undEngels. Dieses kleine Büchlein wiegt ganze Bände auf: Sein Geist beseeltund bewegt bis heute das gesamte organisierte und kämpfende Proletariatder zivilisierten Welt.

Die Revolution von 1848, die zuerst in Frankreich ausbrach und dannauch auf andere Länder Westeuropas übergriff, führte Marx und Engelsin die Heimat zurück. Hier, in Rheinpreußen, leiteten sie die demokra-tische „Neue Rheinische Zeitung"9, die in Köln herausgegeben wurde. Diebeiden Freunde waren die Seele aller revolutionär-demokratischen Bestre-bungen in Rheinpreußen. Sie verteidigten bis zuletzt die Interessen des

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7riedridb Engels 11

Volkes und der Freiheit gegen die Kräfte der Reaktion. Diese gewannenbekanntlich die Oberhand. Die „Neue Rheinische Zeitung" wurde ver-boten, und Marx, der während seines Emigrantenlebens die Rechte einespreußischen Staatsangehörigen verloren hatte, wurde ausgewiesen; Engelsjedoch nahm an dem bewaffneten Volksaufstand teil, kämpfte in drei Ge-fechten für die Freiheit und flüchtete nach der Niederlage der Aufstän-dischen über die Schweiz nach London.

Auch Marx ließ sich in London nieder. Engels wurde bald wieder An-gestellter und später Teilhaber des Handelshauses in Manchester, in wel-chem er schon in den vierziger Jahren tätig gewesen war. Bis 1870 lebteer in Manchester und Marx in London, was sie nicht hinderte, den leb-haftesten geistigen Verkehr zu pflegen: fast täglich wechselten sie Briefe.In diesem Briefwechsel tauschten die Freunde ihre Ansichten und Kennt-nisse aus und arbeiteten gemeinsam an der Fortentwicklung des wissen-schaftlichen Sozialismus. Im Jahre 1870 siedelte Engels nach Londonüber, und bis 1883,bis zum Tode von Marx, währte ihr von angestrengterArbeit erfülltes gemeinsames geistiges Leben. Die Frucht dieser Arbeitwar - was Marx anbelangt - „Das Kapital", das größte Werk unseresZeitalters auf dem Gebiet der politischen Ökonomie, und, was Engelsbetrifft, eine ganze Reihe größerer und kleinerer Schriften. Marx arbeitetean der Untersuchung der komplizierten Erscheinungen der kapitalistischenWirtschaft. Engels beleuchtete in außerordentlich flüssig geschriebenen, oftpolemischen Arbeiten die allgemeinsten wissenschaftlichen Fragen unddie verschiedensten Erscheinungen der Vergangenheit und Gegenwart imGeiste der materialistischen Geschichtsauffassung und der ökonomischenTheorie von Marx. Von diesen Engelsschen Arbeiten seien genannt: diepolemische Schrift gegen Dühring (in ihr werden die tiefsten Problemeder Philosophie, der Natur- und Gesellschaftswissenschaft untersucht*),„Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats" (russi-sche Übersetzung in 3. Auflage, St. Petersburg 1895)u, „Ludwig Feuer-bach" (russische Übersetzung mit Anmerkungen von G. Plechanow, Genf1892)12, ein Artikel über die Außenpolitik der russischen Regierung (in

* Das ist ein erstaunlich inhaltsreiches und lehrreiches Buch. Ins Russischeübertragen ist davon leider nur ein kleiner Teil, der einen historischen Abrißder Entwicklung des Sozialismus enthält. („Die Entwicklung des wissenschaft-lichen Sozialismus", 2. Aufl., Genf 1892.i0)

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12 TV. 1. Lenin

russischer Übersetzung im Genfer „Sozialdemokrat" Nr. 1 und 213), dieausgezeichneten Artikel über die Wohnungsfrage14 und schließlich zweikleine, aber sehr wertvolle Artikel über die ökonomische EntwicklungRußlands (^Friedrich Engels über Rußland"15, ins Russische übertragenvonW.I.Sassulitsch, Genf 1894). Marx starb, ohne sein gewaltiges Werküber das Kapital in endgültiger Form bearbeitet zu haben. Im Rohentwurfwar es jedoch schon fertig. Und nun machte sich Engels nach dem Todeseines Freundes an die schwere Arbeit, Band II und III des „Kapitals" zubearbeiten und herauszugeben. Im Jahre 1885 gab er Band II, 1894Band III heraus (zur Bearbeitung von Band IV16 kam er nicht mehr). DieHerausgabe dieser beiden Bände erforderte außerordentlich viel Arbeit.Der österreichische Sozialdemokrat Adler hat mit Recht gesagt, Engelshabe seinem genialen Freunde mit der Herausgabe von Band II und IIIdes „Kapitals" ein großartiges Denkmal gesetzt, auf dem er, ohne es be-absichtigt zu haben, seinen eigenen Namenszug mit unauslöschlichen Let-tern eingetragen hat. In der Tat, diese beiden Bände des „Kapitals" sind dasWerk von zweien: von Marx und von Engels. Antike Sagen berichten vonmanchen rührenden Beispielen der Freundschaft. Das europäische Prole-tariat kann sagen, daß seine Wissenschaft von zwei Gelehrten und Kämp-fern geschaffen worden ist, deren Verhältnis die rührendsten Sagen derAlten über menschliche Freundschaft in den Schatten stellt. Engels hatstets — und im allgemeinen durchaus mit Recht — Marx den Vorrang ge-geben. Einem alten Freund schrieb er: „Bei Marx' Lebzeiten habe ich diezweite Violine gespielt."17 Seine Liebe zu dem lebenden Marx und seineEhrfurcht vor dem Andenken des Verstorbenen waren grenzenlos. Dieserharte Kämpfer und strenge Denker konnte aus tiefstem Herzen lieben.

Nach der Bewegung von 1848/1849 beschäftigten sich Marx und Engelsim Exil nicht nur mit wissenschaftlichen Arbeiten. Marx gründete 1864die „Internationale Arbeiterassoziation" und leitete diese Vereinigung imLaufe eines vollen Jahrzehnts. Auch Engels nahm an ihrer Arbeit leb-haften Anteil. Die Tätigkeit der „Internationalen Arbeiterassoziation", dienach dem Plane von Marx die Proletarier aller Länder vereinigen sollte,war für die Entwicklung der Arbeiterbewegung von ungeheurer Tragweite.Aber auch nach der Auflösung der „Internationalen Arbeiterassoziation"in den siebziger Jahren hörten Marx und Engels nicht auf, als Einiger derArbeiterklasse zu wirken. Im Gegenteil: man könnte sagen, daß ihre

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7rkdriä> Engels 13

Bedeutung als geistige Führer der Arbeiterbewegung immer größer wurde,weil auch die Bewegung selbst ununterbrochen wuchs. Nach dem Todevon Marx war es Engels, allein, der fortfuhr, als Berater' und Führer dereuropäischen Sozialisten zu wirken. Sowohl die deutschen Sozialisten,deren Kraft trotz der Regierungsverfolgungen schnell und ununterbrochenzunahm, als auch die Vertreter zurückgebliebener Länder, beispielsweiseSpanier, Rumänen, Russen, die ihre ersten Schritte überlegen und erwä-gen mußten, wandten sich an ihn um Rat und Anleitung. Sie alle schöpftenaus der reichen Schatzkammer der Kenntnisse und Erfahrungen des altenEngels.

Marx und Engels, die beide mit der russischen Sprache vertraut warenund russische Bücher lasen, interessierten sich lebhaft für Rußland. Sieverfolgten mit Sympathie die russische revolutionäre Bewegung und unter-hielten Beziehungen zu russischen Revolutionären. Sie waren beide aus"Demokraten zu Sozialisten geworden, und das demokratische Gefühl desHasses gegen politische Willkür war bei ihnen außerordentlich stark.Dieses unmittelbare politische Gefühl, gepaart mit tiefem theoretischemVerständnis für den Zusammenhang zwischen politischer Willkür undwirtschaftlicher Unterdrückung, sowie ihre reichen Lebenserfahrungenmachten Marx und Engels gerade in politischer Hinsicht außerordentlichfeinfühlig. Der heroische Kampf des kleinen Häufleins russischer Revolu-tionäre gegen die mächtige Zarenregierung fand daher bei diesen be-währten Revolutionären den wärmsten Widerhall. Hingegen erschienihnen die Tendenz, um vermeintlicher ökonomischer Vorteile willen sichvon der unmittelbarsten und wichtigsten Aufgabe der russischen Sozia-listen, der Eroberung der politischen Freiheit, abzuwenden, naturgemäßverdächtig, ja, sie wurde von ihnen geradezu als Verrat an der großenSache der sozialen Revolution betrachtet. „Die Befreiung der Arbeiter-klasse kann nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein", lehrten Marxund Engels ständig. Um aber für seine ökonomische Befreiung zu kämp-fen, muß das Proletariat sich gewisse politisdhe Rechte erobern. Außerdemhaben sowohl Marx als auch Engels klar gesehen, daß die politische Revo-lution in Rußland auch für die westeuropäische Arbeiterbewegung vonungeheurer Tragweite sein wird. Das absolutistische Rußland ist von jeherdas Bollwerk der gesamten europäischen Reaktion gewesen. Die außer-ordentlich vorteilhafte internationale Lage Rußlands infolge des Krieges

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14 W. 7. Lenin

von 1870, der Deutschland und Frankreich für lange Zeit verfeindete, hatnatürlich die Bedeutung des absolutistischen Rußlands als einer reaktio-nären Macht nur gesteigert. Nur ein freies Rußland, das nicht nötig hat,die Polen, Finnen, Deutschen, Armenier und andere kleine Völker zuunterdrücken noch Frankreich und Deutschland ständig gegeneinander zuhetzen, wird das jetzige Europa frei von Kriegsbürden aufatmen lassen,wird alle reaktionären Elemente in Europa schwächen und die Kraft dereuropäischen Arbeiterklasse mehren. Aus diesem Grunde hegte Engelsauch im Interesse der Erfolge der Arbeiterbewegung im Westen den hei-ßen Wunsch, in Rußland möge die politische Freiheit ihren Einzug halten.Die russischen Revolutionäre haben in ihm ihren besten Freund verloren.

Ewiges Gedenken dem großen Kämpfer und Lehrer des ProletariatsFriedrich Engels!

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ERLÄUTERUNG DES GESETZES

ÜBER DIE GELDSTRAFEN,

DIE DEN ARBEITERN IN DEN FABRIKEN

UND WERKEN AUFERLEGT WERDEN18

geschrieben im Herbst 1895. "Naöy dem Text der AusgabeZuerst veröffentlicht als von 1895, verglichen mit derBroschüre 1895 in Petersburg. Ausgabe von 1897.

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1895.

Titelblatt von W.I.Lenins Broschüre „Erläuterung des Gesetzes über dieGeldstrafen, die den Arbeitern in den Fabriken nnd Werken auferlegt

werden" - 1895

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19

WAS SIND GELDSTRAFEN?

Fragt man einen. Arbeiter, ob er weiß, was Geldstraf en sind, so wird erwohl über eine solche Frage erstaunt sein. Wie sollte er auch Geldstrafennicht kennen, wo er doch ständig welche bezahlen muß? Was gibt es dazu tragen?

Aber es scheint eben nur so, als ob es nichts zu fragen gäbe. In Wirk-lichkeit haben doch die meisten Arbeiter keine richtige Vorstellung vonden Geldstrafen.

Gewöhnlich meint man, die Geldstrafe sei die Zahlung für einen Scha-den, der dem Unternehmer durch den Arbeiter erwachsen ist. - Dasstimmt nicht. - Geldstrafe und Schadenersatz sind zwei verschiedeneDinge. Hat ein Arbeiter einem anderen Arbeiter Schaden zugefügt, sokann dieser von ihm Schadenersatz verlangen (beispielsweise für beschä-digte Sachen), aber er kann ihm nicht eine Geldstrafe auferlegen. Genau-so kann ein Fabrikant, wenn ihm von einem anderen Fabrikanten (bei-spielsweise infolge nicht rechtzeitiger Warenlieferung) ein Schaden zu-gefügt wird, Schadenersatz verlangen, doch kann er dem anderen Fabri-kanten keine Geldstrafe auferlegen. - Schadenersatz fordert man voneinem Gleichgestellten, mit einer Geldstrafe aber kann nur ein Unter-gebener belegt werden. Deshalb muß der Schadenersatz gerichtlich einge-klagt werden, während die Geldstrafe vom Unternehmer ohne Gerichts-beschluß verhängt wird. Eine Geldstrafe wird mitunter auch dann ver-hängt, wenn dem Unternehmer keinerlei Schaden erwachsen ist: beispiels-weise wegen Rauchens. Die Geldstrafe ist Bestrafung und nicht Schaden-ersatz. Hat ein Arbeiter vielleicht beim Rauchen unvorsichtigerweise Tuchversengt, das dem Unternehmer gehört, so belegt dieser den Arbeiter

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nicht nur mit einer Geldstrafe wegen des Rauchens, sondern macht ihmdarüber hinaus noch Abzüge für das versengte Material. An diesem Bei-spiel ist der Unterschied zwischen Geldstrafe und Schadenersatz ganzklar zu erkennen.

Die Geldstrafen sollen nicht den Schaden ersetzen, sondern Disziplinschaffen, d. h. die Arbeiter dem Unternehmer gefügig machen, sie sollendie Arbeiter zwingen, den Anordnungen des Unternehmers zu folgen,ihm während der Arbeitszeit zu gehorchen.-Deshalb heißt es auch im Ge-setz über die Geldstrafen: Die Geldstrafe ist „eine Geldbuße, die der Lei-ter der Fabrik zur Aufrechterhaltung der Ordnung aus eigener Macht-vollkommenheit auferlegt". Daher hängt die Höhe der Geldstrafe nichtvon der Größe des Schadens ab, sondern von der dem Arbeiter zur Lastgelegten Ungehörigkeit: die Geldstrafe ist um so höher, je größerdie Ungehörigkeit, je größer der Ungehorsam gegenüber dem Unter-nehmer, der Verstoß gegen dessen Anordnungen ist. Geht jemand zueinem Unternehmer arbeiten, so ist es klar, daß er unfrei wird; er mußdem Unternehmer gehorchen, und der Unternehmer kann ihn bestrafen.- Die leibeigenen Bauern arbeiteten für die Gutsherren, und die Guts-herren bestraften sie. — Die Arbeiter arbeiten für die Kapitalisten, unddie Kapitalisten bestraf en sie. - Der ganze Unterschied besteht darin, daßder Unfreie früher mit dem Knüppel gezüchtigt wurde, während man ihnjetzt mit dem Rubel züchtigt.

Hiergegen wird man vielleicht Einwendungen erheben: man wird sa-gen, gemeinschaftliche Arbeit vieler Menschen in einer Fabrik oder einemWerk sei ohne Disziplin nicht möglich, bei der Arbeit tue Ordnung not,man müsse darauf achten, daß diese Ordnung eingehalten wird, und die-jenigen bestrafen, die sie verletzen. Somit - wird man sagen - werden dieGeldstrafen nicht erhoben, weil die Arbeiter unfrei sind, sondern weilgemeinschaftliche Arbeit Ordnung erheischt.

Ein solcher Einwand ist völlig falsch, obwohl er auf den ersten Blickirreführen könnte. Diesen Einwand machen nur Leute, die den Arbeiterüber seine unfreie Lage täuschen wollen. Ordnung tut wirklich not beijeder gemeinschaftlichen Arbeit. Aber ist es etwa notwendig, daß diearbeitenden Menschen der Willkür der Fabrikanten ausgeliefert sind, d.h.der Willkür von Menschen, die selber nicht arbeiten und nur darum starksind, weil sie alle Maschinen, Werkzeuge und Materialien an sich gerissen

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haben? Gemeinschaftlich arbeiten ist ohne Ordnung, ohne daß allesich dieser Ordnung fügen, unmöglich, aber man kann auch gemeinschaft-lich arbeiten, ohne daß die Arbeiter den Fabrikanten und Industriellenunterworfen sind. Gemeinschaftliche Arbeit erfordert tatsächlich Einhal-tung der Ordnung, doch erfordert sie durchaus nicht, daß die Macht, an-dere zu beaufsichtigen, immer dem zufällt, der selbst nicht arbeitet, son-dern von fremder Arbeit lebt. - Daraus ist ersichtlich, daß die Geldstra-fen nicht erhoben werden, weil die Menschen gemeinschaftlich arbeiten,sondern deshalb, weil im gegenwärtigen kapitalistischen System dasganze arbeitende Volk keinerlei Eigentum besitzt: alle Maschinen, Werk-zeuge, Materialien, der Grund und Boden, das Getreide befinden sich inden Händen der Reichen. Die Arbeiter müssen sich an sie verkaufen, umnicht Hungers zu sterben. Haben sie sich aber verkauft, so sind sie selbst-verständlich auch gezwungen, ihnen zu gehorchen und sich von ihnen be-strafen zu lassen.

Darüber muß sich jeder Arbeiter klarwerden, der begreifen will, wasGeldstrafen sind, das muß man wissen, um die gewöhnliche (und sehrirrige) Meinung zu widerlegen, die Geldstrafen wären notwendig, weilohne sie gemeinschaftliche Arbeit nicht möglich sei. Das muß man wissen,um jedem Arbeiter erklären zu können, wodurch sich die Geldstraf e vonSchadenersatz unterscheidet und wieso die Geldstrafen beweisen, daß dieArbeiter unfrei, daß sie den Kapitalisten unterworfen sind.

II

WIE WURDEN FRÜHER DIE GELDSTRAFEN ERHOBENUND WODURCH SIND DIE NEUEN GESETZE ÜBER

DIE GELDSTRAFEN VERANLASST WORDEN?

Gesetze über Geldstrafen gibt es noch nicht lange: erst seit neun Jah-ren. Bis zum Jahre 1886 gab es keinerlei Gesetze über Geldstrafen. -Die Fabrikanten konnten Geldstrafen verhängen, wofür und wieviel siewollten. Die Fabrikanten verhängten damals Geldstrafen in unverschäm-tem Ausmaße und bezogen daraus riesige Einkünfte.—Geldstrafen wurdenzuweilen einfach „nach dem Ermessen des Unternehmers" ohne Angabe

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von Gründen verhängt. - Die Geldstrafen machten manchmal die "Hälftedes Arbeitslohnes aus, so daß der Arbeiter dem Unternehmer von jedemverdienten Rubel fünfzig Kopeken als Geldstrafe überließ. - Es kam vor,daß über die Geldstrafen hinaus noch Sühnegeld erhoben wurde, bei-spielsweise 10 Rubel für das Verlassen der Fabrik. Bei schlechtem Ge-schäftsgang war es dem Fabrikanten jeweils ein leichtes, in Verletzung derVereinbarung den Lohn zu senken. - Er wies die Meister an, bei derVerhängung von Geldstrafen und der Aussortierung von Ausschuß stren-ger vorzugehen. Das lief auf dasselbe wie eine Lohnsenkung hinaus.

Lange haben die Arbeiter alle diese Schikanen geduldet, aber in demMaße, wie sich die großen Werke und Fabriken, besonders die Webe-reien, mehr und mehr entwickelten und die kleinen Betriebe und Hand-weber verdrängten, ist auch die Empörung der Arbeiter gegen Willkürund Schikane gewachsen. Vor etwa zehn Jahren machten die Geschäfteder Kaufleute und Fabrikanten eine Stockung! eine sogenannte Krisedurch: Die Ware konnte nicht abgesetzt werden; die Fabrikanten erlittenVerluste und machten noch größere Anstrengungen, Geldstrafen zu ver-hängen. Die Arbeiter, deren Lohn ohnehin erbärmlich war, konnten dieneuen Schikanen nicht mehr ertragen, und so kam es 1885 und 1886 inden Gouvernements Moskau, Wladimir und Jaroslawl zu Unruhen un-ter den Arbeitern. Die Arbeiter, deren Geduld erschöpft war, traten inden Streik und nahmen furchtbare Rache an ihren Peinigern, sie zerstör-ten Fabrikgebäude und Maschinen, setzten sie in manchen Fällen inBrand, verprügelten die Direktoren usw. usf.

Von all diesen Streiks ist der Streik in der bekannten NikolskojerManufaktur von Timofej Sawwitsch Morosow (in Nikolskoje, Eisenbahn-station Orechowo an der Strecke Moskau-Nishni-Nowgorod) besondersbemerkenswert. Seit 1882 senkte Morosow den Lohn und bis 1884 hattees schon fünf Lohnsenkungen gegeben. Zugleich wurden die Geldstrafenimmer härter: im Durchschnitt der ganzen Fabrik machten sie nahezu einViertel des Arbeitslohnes aus (24 Kopeken von jedem verdienten Rubel),bei einzelnen Arbeitern aber erreichten sie zuweilen die Hälfte desLohns. Um diese unerhört hohen Geldstrafen zu verbergen, befleißigtesich das Kontor im letzten Jahre vor dem Aufruhr folgender Praxis: DieArbeiter, bei denen die Geldstrafen die Hälfte des Lohns erreicht hatten,wurden genötigt, ihre Papiere zu verlangen, danach aber konnten sie so-

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gar am gleichen Tage wieder eingestellt werden und ein neues Lohnbucherhalten. Auf diese Weise wurden die Lohnbüdier, in denen allzu hoheStraf en eingetragen waren, aus der Welt geschafft. - Bei Nichterscheinenzur Arbeit wurden für einen versäumten Tag 3 Tage abgezogen. Rau-chen wurde in jedem einzelnen Fall mit 3, 4 oder 5 Rbl. bestraft. Am7. Januar 1885 legten die Arbeiter, deren Geduld erschöpft war, die Ar-beit nieder, und innerhalb weniger Tage demolierten sie den Fabrikladen,die Wohnung des Meisters Schorin und einige andere Fabrikgebäude.Diese gewaltige Erhebung von mehr als zehntausend Arbeitern (es warenannähernd 11 000) jagte der Regierung einen außerordentlich großenSchreck ein: unverzüglich erschienen in Orechowo-Sujewo Truppen, derGouverneur sowie je ein Staatsanwalt aus Wladimir und aus Moskau. -Während der Verhandlungen mit den Streikenden wurden der Verwal-tung aus der Menge „von den Arbeitern selbst aufgestellte Bedingungen"überreichtem denen die Arbeiter forderten, daß ihnen die seit Ostern1~884 einbehaltenen Geldstrafen zurückgezahlt würden und daß diesekünftig 5 % des Arbeitslohns nicht überschreiten, d. h. nicht mehr als5 Kopeken von einem verdienten Rubel ausmachen dürften, ferner, daßfür einen versäumten Tag nicht mehr als 1 Rubel abgezogen würde.Außerdem forderten die Arbeiter die Wiedereinführung des Arbeitslohnesder Jahre 1881/1882 und verlangten, daß der Unternehmer die von ihmverschuldeten Feierschichten bezahle, daß bei Entlassungen eine 15tägigeKündigungsfrist eingehalten werde, daß die Abnahme der Fertigerzeug-nisse im Beisein von Zeugen aus den Reihen der Arbeiter erfolge usw.

Dieser gewaltige Streik machte auf die Regierung sehr starken Ein-druck. Sie erkannte, daß die Arbeiter, wenn sie vereint auftreten, einegefährliche Kraft darstellen, besonders wenn die Masse der vereint auf-tretenden Arbeiter unmittelbar ihre Forderungen aufstellt. Auch die Fa-brikanten spürten die Kraft der Arbeiter und wurden etwas vorsichtiger. -In der Zeitung „Nowoje Wremja"19 wurde beispielsweise aus Orechowo-Sujewo gemeldet: „Der Aufruhr vom vorigen Jahr" (d. h. der Aufruhrbei Morosow im Januar 1885) „ist deshalb so bedeutsam, weil er diealten Zustände in den Fabriken sowohl in Orechowo-Sujewo als auch inder Umgebung mit einem Schlage geändert hat." Also mußten nicht nurdie Besitzer der Morosowschen Fabrik die unerhörten Zustände ändern,sobald die Arbeiter gemeinschaftlich ihre Abschaffung verlangten, sondern

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sogar die benachbarten Fabrikanten machten Zugeständnisse, weil siefürchteten, daß es auch bei ihnen zum Aufruhr kommen könnte. „DieHauptsache ist", hieß es in derselben Zeitung, „daß jetzt ein mensch-licheres Verhältnis zu den Arbeitern besteht, wie es früher nur wenigeFabrikleiter ausgezeichnet hat."

Sogar die „Moskowskije Wedomosti"20 (diese Zeitung verteidigt stetsdie Fabrikanten und macht für alles die Arbeiter verantwortlich) begrif-fen, daß die alten Zustände unmöglich aufrechterhalten werden konnten,sie mußten zugeben, daß die willkürlichen Geldstrafen ein „Übel sind,das zu den empörendsten Mißbräuchen führt", daß die „Fabriklädenreine Halsabschneiderei" bedeuten und daß es daher notwendig sei, einGesetz über die Geldstrafen und entsprechende Ausführungsbestimmun-gen zu erlassen.

Der gewaltige Eindruck, den dieser Streik machte, wurde noch durchdas Gerichtsverfahren gegen die Arbeiter verstärkt. Wegen Ausschrei-tungen während des Streiks, wegen tätlichen Angriffs auf einen Wacht-posten (ein Teil der Arbeiter war während des Streiks verhaftet, und ineinem Raum eingesperrt worden, die Arbeiter aber hatten die Tür aufge-brochen und waren entwichen) wurden 33 Arbeiter vor Gericht gestellt.Die Gerichtsverhandlung fand im Mai 1886 in Wladimir statt. Die Ge-schworenen sprachen alle Angeklagten frei, da sich vor Gericht aus denZeugenaussagen - darunter der des Fabrikbesitzers T. S. Morosow, desDirektors Dianow und vieler Weber - ein klares Bild all der unerhörtenSchikanen ergab, denen die Arbeiter ausgesetzt gewesen waren. DiesesGerichtsurteil war eine direkte Verurteilung nicht nur Morosows und sei-ner Direktion, sondern auch der alten Zustände in den Fabriken über-haupt.

Die Verteidiger der Fabrikanten gerieten in schreckliche Unruhe undErbitterung. Dieselben „Moskowskije Wedomosti", die nach dem Aufruhrzugegeben hatten, daß die alten Zustände abscheulich waren, begannenjetzt eine ganz andere Sprache zu führen: „Die Nikolskojer Manufak-tur", behaupteten sie, „gehört zu den besten Textilfabriken. Die Arbeiterstehen zu der Fabrik in keinem Fron- oder Zwangsverhältnis, sie'kommenfreiwillig und gehen ungehindert. Was aber die Geldstrafen anbelangt -Geldstrafen sind in den Fabriken eine Notwendigkeit, ohne sie könnteman mit den Arbeitern nicht auskommen und müßte die Fabrik schließen."

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- An allem wären eben die Arbeiter selber schuld, die „verlotterten, ver-soffenen und nachlässigen" Arbeiter. Das Gerichtsurteil sei nur geeignet,„die Volksmassen zu verderben".* - „Aber mit den Volksmassen zuscherzen ist gefährlich", riefen die „Moskowskije Wedomosti" aus. -„Was sollen die Arbeiter über den Freispruch des Gerichtshofes in Wla-dimir denken? Die Kunde von dieser Entscheidung hat im Nu diesesganze Textilgebiet durcheilt. Unser Korrespondent, der sofort nach demUrteilsspruch aus Wladimir abreiste, hörte bereits auf allen Eisenbahn-stätionen von dem Urteil reden . . . "

Auf diese Weise bemühten sich die Fabrikanten, die Regierung einzu-schüchtern: Gibt man, sagten sie, den Arbeitern in einer Forderung nach,so kommen sie morgen mit einer anderen.

Aber der Aufruhr der Arbeiter war noch schrecklicher, und die Regie-rung mußte nachgeben.

Im Juni 1886 wurde das neue Gesetz über die Geldstrafen erlassen.Darin ist festgelegt, in welchen Fällen die Verhängung von Geldstrafenzulässig ist, es wurde die Höchstgrenze der Strafe bestimmt und weiter-hin festgesetzt, daß die Strafgelder nicht in die Taschen der Fabrikantenfließen, sondern für Bedürfnisse der Arbeiter selbst verwendet werdensollen.

Viele Arbeiter kennen dieses Gesetz nicht, und die es kennen, sind derMeinung, die Erleichterung in bezug auf die Geldstrafen sei von der Re-gierung ausgegangen, und man müsse der Obrigkeit für diese Erleichte-rung dankbar sein. Wir haben gesehen, daß das nicht stimmt. - Wie ab-scheulich auch die alten Zustände in den Fabriken waren, die Obrigkeithat gar nichts getan, um den Arbeitern Erleichterungen zu verschaffen,ehe die Arbeiter nicht begonnen harten, gegen diese Zustände zu rebellie-ren, ehe die erbitterten Arbeiter nicht Fabriken und Maschinen zerstörten,Waren und Materialien in Brand steckten und die Direktoren und Fabri-kanten verprügelten. - Erst dann bekam es die Regierung mit der Angst

* Die Fabrikanten und ihre Verteidiger behaupten immer, es sei einzig„Verderbtheit", wenn die Arbeiter beginnen, über ihre Lage nachzudenken,für ihre Rechte einzutreten und sich gemeinschaftlich gegen die Gemeinheitenund Schikanen der Unternehmer zur Wehr zu setzen. - Natürlich ist es fürdie Unternehmer vorteilhafter, wenn die Arbeiter über ihre Lage nicht nach-denken und über ihre Rechte nicht Bescheid wissen.

3 Lenin,'Werke, Bd. 2

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zu tun und gab nadh. - Für die Erleichterung müssen sich die Arbeiternicht bei der Obrigkeit, sondern bei ihren Kollegen bedanken, die sich fürdie Abschaffung der unerhörten Schikanen einsetzten und sie durch-gesetzt haben.

Die Geschichte des Aufruhrs von 1885 zeigt uns, welche gewaltigeKraft in dem vereinigten Protest der Arbeiter steckt. - Es muß nur dafürgesorgt werden, daß diese Kraft bewußter gebraucht, daß sie nicht un-nütz vertan wird, um etwa an diesem oder jenem einzelnen Fabrikantenoder Industriellen Rache zu nehmen, diesen oder jenen verhaßten Betriebzu zerstören, sondern daß sich die ganze Kraft dieser Empörung und die-ses Hasses gegen die Gesamtheit der Unternehmer richtet, gegen dieganze Klasse der Unternehmer, und daß sie im ständigen, beharrlichenKampf gegen diese Klasse eingesetzt wird.

Sehen wir uns jetzt einmal unsere Gesetze über die Geldstrafen ge-nauer an. Um mit ihnen vertraut zu werden, muß man folgende Fragenuntersuchen: 1. In welchen Fällen oder aus welchem Anlaß erlaubt dasGesetz, Geldstrafen zu verhängen? - 2. Wie hoch dürfen nach dem Ge-setz die Geldstrafen sein? — 3. Welches Verfahren schreibt das Gesetzfür die Verhängung der Geldstrafen vor, d. h., wer kann nach dem Ge-setz Strafen verhängen? Kann man Beschwerde einlegen? Auf welcheWeise muß dem Arbeiter die Straf tabelle im voraus bekanntgegeben wer-den? Wie sollen die Strafen in das Lohnbuch eingetragen werden? -4. Wozu sollen die Strafgelder nach dem Gesetz verwendet werden? Wowerden sie hinterlegt? In welcher Art sind sie für Bedürfnisse der Ar-beiter zu verwenden und für welche Bedürfnisse? - Schließlich die letzteFrage: 5. Erstreckt sich das Gesetz über die Geldstrafen auf alle Arbeiter?

Wenn wir alle diese Fragen untersucht haben, so werden wir nicht nurwissen, was Geldstrafen sind, sondern wir werden auch alle Sonderrege-lungen und Einzelbestimmungen der russischen Gesetze über die Geld-strafen kennen. Die Arbeiter aber müssen darüber Bescheid wissen, um injedem einzelnen Fall mit Sachkenntnis gegen ungerechtfertigte Geldstrafenauftreten zu können, um ihren Kollegen erklären zu können, warum eineUngerechtigkeit vorliegt - weil etwa die Fabrikleitung das Gesetz ver-letzt hat oder weil das Gesetz selbst so ungerechte Bestimmungen ent-hält, und nm dementsprechend befähigt zu sein, die geeignete Form desKampfes gegen diese Schikanen zu wählen.

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III

AUS WELCHEM ANLASS KANN DER FABRIKANTGELDSTRAFEN VERHÄNGEN?

Das Gesetz besagt, daß die Anlässe zur Verhängung von Geldstrafen;d. h. die Verfehlungen, für die der Fabrikbesitzer den Arbeitern eineGeldstrafe auferlegen darf, folgende sein können: 1. nachlässige Arbeit ,-2. Nichterscheinen zur Arbeit; 3. Verstöße gegen die Ordnung. „Aus an-deren Anlässen", heißt es in dem Gesetz, „dürfen Strafmaßnahmen nichtverhängt werden."* Wir wollen jeden dieser drei Anlässe aufmerksamuntersuchen. ,• Der erste Anlaß ist nachlässige Arbeit. Im Gesetz heißt es: „Nachläs-sige Arbeit liegt vor, wenn ein Arbeiter wegen mangelnder Sorgfalt nichtvollwertige Erzeugnisse herstellt oder wenn er bei der Arbeit Materialien,Maschinen und andere Produktionsinstrumente beschädigt." Man mußsich hier die Worte „wegen mangelnder Sorgfalt" einprägen. Sie sindsehr wichtig. - Eine Geldstrafe kann also nur wegen mangelnder Sorgfaltverhängt werden. Ist ein Erzeugnis minderwertig, nicht weil der Arbeitermangelnde Sorgfalt zeigte, sondern weil der Unternehmer beispielsweiseschlechtes Material geliefert hat, so ist der Fabrikant nicht berechtigt,eine Geldstrafe zu verhängen. Die Arbeiter müssen sich das gut einprä-gen und müssen protestieren, wenn eine Strafe wegen nachlässiger Arbeitverhängt wird, obwohl die Minderwertigkeit des Erzeugnisses nicht durchden Arbeiter, nicht durch seine mangelnde Sorgfalt verschuldet ist, denneine Geldstrafe ist in solchem Fäll direkt gesetzwidrig. - Nehmen wir einanderes Beispiel: Ein Betriebsarbeiter steht an der Werkbank, in derNähe befindet sich eine elektrische Glühbirne. Da fliegt ein Eisensplitterab, trifft die Glühbirne und zerschlägt sie. Der Unternehmer schreibteine Geldstrafe „für entstandenen Sachschaden" an. Hat er hierzu dasRecht? Nein, er hat es nicht, denn der Arbeiter hat ja die Glühbirne nichtaus Unachtsamkeit zerschlagen: der Arbeiter ist nicht schuld, daß die

* Das Gesetz, von dem wir sprechen, ist das „Industriereglement", das imzweiten Teil des elften Bandes der russischen „Gesetzsammlung" enthaltenist. - Das Gesetz besteht aus einzelnen, fortlaufend numerierten Artikeln. --Von den Geldstrafen handeln die Artikel 143, 144, 145, 146, 147, 148, 149,150, 151 und 152. :

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Glühbirne nicht gegen Eisensplitter geschützt worden ist, die bei der Ar-beit stets abspringen.*

Es fragt sich nun, ob dieses Gesetz den Arbeiter genügend schützt, obes ihm Schutz gegen Unternehmerwillkür und ungerechtfertigte Geld-strafen gewährt. Natürlich nicht, denn der Unternehmer entscheidet janach Gutdünken darüber, ob ein Erzeugnis vollwertig oder minderwertigist; immer sind Schikanen möglich, der Unternehmer kann immer die Geld-strafen für minderwertige Arbeit erhöhen und auf diesem Wege für den-selben Lohn mehr Arbeit herausschlagen. — Das Gesetz läßt den Arbeiterohne Schutz und bietet dem Unternehmer auch weiterhin eine Handhabe,die Arbeiter zu schikanieren. — Es liegt klar auf der Hand, daß das Ge-setz parteiisch ist, daß es zum Vorteil der Fabrikanten abgefaßt, daß esungerecht ist.

Auf welche Weise müßte der Arbeiter geschützt werden? Das habendie Arbeiter schon längst gezeigt. Die Weber in der Nikolskojer Fabrikvon Morosow stellten während des Streiks von 1885 unter anderem fol-gende Forderung auf: „Ob die Ware vollwertig oder minderwertig ist,muß bei der Abnahme festgestellt werden, bei Meinungsverschiedenhei-ten sollen als Zeugen in der Nähe beschäftigte Arbeiter hinzugezogenwerden, wobei alles in das Abnahmebuch einzutragen ist." (Diese For-derung war in dem Heft enthalten, das „mit allgemeiner Zustimmung derArbeiter" zusammengestellt und während des Streiks dem Staatsanwaltaus der Menge überreicht worden war. - Das Heft ist in der Gerichtsver-handlung verlesen worden.) Diese Forderung ist durchaus berechtigt,denn zur Unterbindung der Unternehmerwillkür kann es, sobald es zueinem Streit über die Vollwertigkeit der Erzeugnisse kommt, kein ande-res Mittel als die Zuziehung von Zeugen geben, und zwar müssen dieseZeugen unbedingt Arbeiter sein: Meister oder Angestellte würden sichniemals erkühnen, gegen den Unternehmer Partei zu ergreifen.

* Eben einen solchen Fall gab es im Petersburger Hafen (in der neuenAdmiralität), dessen Kommandant, Werchowski, durch seine Schikanen gegendie Arbeiter bekannt ist. Nach einem Streik der Arbeiter ersetzte er die Geld-strafen für die Zerschlagung von Glühbirnen durch Abzüge für die zer-schlagenen Glühbirnen, die sämtliche Arbeiter der betreffenden Werkstattzu tragen hatten. Es ist klar, daß diese Abzüge genauso gesetzwidrig sind wiedie Geldstrafen. '

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Der zweite Anlaß zur Verhängung einer Geldstrafe ist Nichterscheinenzur Arbeit. Was wird von dem Gesetz als Nichterscheinen zur Arbeitbezeichnet? „Als Nichterscheinen zur Arbeit", heißt es im Gesetz, „giltzum Unterschied von der Verspätung oder von eigenmächtiger Entfer-nung vom Arbeitsplatz, wenn der Betreffende für nicht weniger als dieHälfte eines Arbeitstages der Arbeit fernbleibt." Verspätetes Erscheinenzur Arbeit oder eigenmächtige Entfernung vom Arbeitsplatz gelten nachdem Gesetz, wie wir gleich sehen werden, als „Verstoß gegen die Ord-nung", und die dafür verhängte Geldstrafe ist geringer. Ist der Arbeitermehrere Stunden zu spät in den Betrieb gekommen, aber doch vor Ablaufeines halben Tages, so ist das kein Arbeits Versäumnis, sondern nur einVerstoß gegen die Ordnung; ist er aber erst mittags erschienen, so ist dasArbeitsversäumnis. — Und genauso: hat der Arbeiter die Arbeit am Nach-mittag, eigenmächtig, ohne Erlaubnis verlassen, d. h. mehrere Stundenversäumt, so handelt es sich um einen Verstoß gegen die Ordnung, ist^raber für einen halben Tag weggegangen, so ist das Arbeitsversäumnis.- Das Gesetz sieht vor, daß ein Arbeiter, der mehr als drei Tage hinter-einander oder insgesamt mehr als sechs Tage im Monat die Arbeit ver-säumt hat, vom Fabrikanten entlassen werden kann. - Fragt sich nun, obdas Fernbleiben für einen halben oder einen ganzen Tag immer als Ar-beitsversäumnis angesehen wird. - Nein. — Nur dann, wenn für das Fern-bleiben keine triftigen Gründe vorgelegen haben. Die triftigen Gründefür das Nichterscheinen zur Arbeit sind im Gesetz aufgezählt. Es sind diefolgenden: 1. „Wenn der Arbeiter seiner Freiheit beraubt ist." Wird alsobeispielsweise ein Arbeiter verhaftet (auf Verfügung der Polizei oder ge-mäß einem Urteil des Friedensrichters), so hat der Fabrikant nicht dasRecht, bei der Abrechnung eine Geldstrafe für Arbeitsversäumnis einzu-behalten, 2. „Wenn er infolge eines Unglücksfalles plötzlich in Not ge-rät", 3. „Feuersbrunst") 4. „Überschwemmung". Wenn beispielsweise einArbeiter wegen des Frühjahrshochwassers nicht über einen Fluß setzenkann, so darf der Fabrikant ihm keine Geldstrafe auferlegen; 5. „Krank-heit, die es unmöglich macht, das Haus zu verlassen" und 6. „Tod oderschwere Erkrankung der Eltern, des Ehemanns, der Ehefrau oder der Kin-der". In allen diesen sechs Fällen gilt das Nichterscheinen zur Arbeit alsentschuldigt. Um nicht wegen Arbeitsversäumnis eine Geldstrafe zu er-halten, muß der Arbeiter jedoch für ein Beweismittel sorgen: im Kontor

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wird man ihm nicht aufs Wort glauben, daß er aus einem triftigen Grundenicht zur Arbeit erschienen ist. Er muß eine Bescheinigung des Arztes(beispielsweise im Falle von Krankheit) oder der Polizei (beispielsweiseim Falle einer Feuersbrunst) beibringen. Kann er die Bescheinigung nichtsofort beschaffen, so muß er sie eben später beibringen und auf Granddes Gesetzes verlangen, daß keine Geldstrafe verhängt wird; ist das aberbereits geschehen, so muß er darauf bestehen, daß sie rückgängig gemachtwird.

Zu diesen gesetzlichen Bestimmungen über die triftigen Gründe fürNichterscheinen zur Arbeit muß bemerkt werden, daß diese Bestimmun-gen so streng sind, als wären sie für Soldaten in der Kaserne und nichtfür freie Menschen erlassen. Diese Bestimmungen sind von den Bestim-mungen abgeschrieben, die als gesetzliche Entschuldigungsgründe fürNichterscheinen vor Gericht gelten: wird jemand irgendeines Verbrechensbeschuldigt, so wird er vom Untersuchungsrichter vorgeladen, und derBeschuldigte ist zum Erscheinen verpflichtet. Ein Nichterscheinen ist nurin genau den gleichen Fällen zulässig, in denen auch das Nichterscheinenzur Arbeit zulässig ist* Das Gesetz verfährt also mit den Arbeitern ge-nauso streng wie mit Gaunern, Dieben usw. Es ist durchaus begreiflich,warum die Bestimmungen über das Erscheinen vor Gericht so streng sind- die Ahndung von Verbrechen geht ja die ganze Gesellschaft an. DasErscheinen des Arbeiters zur Arbeit jedoch geht durchaus nicht dieganze Gesellschaft an, sondern nur den Fabrikanten, der überdies deneinen Arbeiter unschwer durch einen anderen ersetzen kann, damit dieArbeit weitergeht; Also lag kein zwingender Grund für eine solche mili-tärische Strenge der Gesetze vor. Aber die Kapitalisten beschränken sichnicht darauf,die ganze Zeit des Arbeiters für die Fabrik zu beanspruchen;sie wollen dem Arbeiter auch jede Willensfreiheit nehmen, ihn von allenanderen Interessen und Gedanken abbringen, nur an die Fabrik soll erdenken. Man springt mit dem Arbeiter wie mit einem unfreien Menschenum. — Eben darum werden solche kasernenhofmäßigen, bürokratisdi-schirkanöseri Bestimmungen erlassen. Wir haben z. B. soeben gesehen, daß „Tododer schwere Erkrankung der Eltern, des Ehemannes, der Ehefrau oderder Kinder" vom Gesetz als triftiger Grund für ein Nichterscheinen an-

* Mit Ausnahme eines einzigen Falles, der „Feuersbrunst", die im Gesetzüber die Vorladung der Beschuldigten nicht erwähnt ist..,.

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Erläuterung des Qesetzes über die Qeldslrafen 31

erkannt wird. - So steht es im Gesetz über das Erscheinen vor Gericht.— Ebenso steht es auch im Gesetz über das Erscheinen zur Arbeit. Stirbtalso beispielsweise nicht die Ehefrau, sondern die Schwester des Arbeiters,so soll der Arbeiter sich nicht erdreisten, die Arbeit zu versäumen, er sollsich nicht erdreisten, Zeit auf das Begräbnis zu verwenden: die Zeit ge-hört nicht ihm, sondern dem Fabrikanten. Das Begräbnis aber kann auchdie Polizei besorgen, war braucht er sich darum zu kümmern? Nach demGesetz über das Erscheinen vor Gericht muß das Interesse der Familiehinter den Interessen der Gesellschaft zurückstehen, für die die Verfol-gung der Verbrecher eine Notwendigkeit ist. - Nach dem Gesetz über dasErscheinen zur Arbeit müssen die Interessen der Arbeiterfamilie hinterden Interessen des Fabrikanten zurückstehen, für den die Erzielung vonProfit eine Notwendigkeit ist. — Und da haben die feinen Herren,die solche Gesetze abfassen, vollstrecken und verteidigen, noch die Stirn,den Arbeitern vorzuwerfen, sie wüßten das Familienleben nicht zu schät-zen ! . . .

Prüfen wir nun, ob das Gesetz über die Geldstrafen für Nichterschei-nen zur Arbeit gerecht ist. Kommt der Arbeiter einen Tag oder zwei Tagenicht in den Betrieb, so gilt das als Arbeitsversäumnis, der Arbeiter wirddafür bestraft, wird die Arbeit aber länger als drei Tage nacheinanderversäumt, so kann der Arbeiter hinausgeworfen werden. — Nun, undwenn ein Fabrikant den Betrieb stillegt (beispielsweise wegen fehlenderAufträge) oder nur fünf Tage in der Woche - an Stelle der festgelegtensechs - arbeiten läßt? Wären die Arbeiter wirklich mit den Fabrikantengleichberechtigt, so müßte das Gesetz für den Fabrikanten das gleichesein wie für den Arbeiter, r- Legt der Arbeiter die Arbeit nieder, so büßter den Lohn ein und zahlt eine Geldstrafe. Dementsprechend müßte derFabrikant, wenn er die Arbeit willkürlich einstellen läßt, erstens dem Ar-beiter für die ganze Zeit, während er die Fabrik stillegt, den vollen Lohnzahlen, und zweitens müßte er gleichfalls eine Geldstrafe erhalten. —Aberweder das eine noch das andere ist im Gesetz vorgesehen. An diesem Bei-spiel bestätigt sich ganz klar, was wir früher über die Geldstrafen gesagthaben, daß nämlich die Geldstrafen eine Versklavung der Arbeiter durchden Kapitalisten bedeuten, daß sie ein Zeichen dafür sind, daß die Ar-beiter eine niedere,' unfreie Klasse darstellen und dazu verurteilt sind, ihrLeben lang für die Kapitalisten zu schuften und ihnen den Reichtum zu

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ZI W. J.Lenin

schaffen, wofür sie einen Bettellohn erhalten, der nicht ausreicht, ein eini-germaßen erträgliches Leben zu führen. - Daß die Fabrikanten für diewillkürliche Stillegung der Fabrik Geldstrafen zahlen, davon kann garnicht die Rede sein. Und wenn die Arbeit ohne Verschulden der Arbeitereingestellt wird, zahlen die Fabrikanten ihnen nicht einmal den Lohn. Dasist eine schreiende Ungerechtigkeit. Das Gesetz enthält lediglich eine Be-stimmung, wonach das Vertragsverhältnis zwischen Fabrikant und Ar-beiter außer Kraft tritt, „wenn die Arbeit in der Fabrik oder im Werk in-folge Feuersbrunst, Überschwemmung, Kesselexplosion und ähnlicherFälle für mehr als sieben Tage eingestellt wird". Die Arbeiter müssen for-dern,, daß eine Bestimmung erlassen wird, nach der die Fabrikanten beiStillegung der Fabrik verpflichtet sind, den Lohn weiter zu zahlen.-DieseForderung haben russische Arbeiter bereits am 11. Januar 1885 währenddes bekannten Streiks bei T. S. Morosow öffentlich erhoben.* Das Heftmit den Arbeiterforderungen enthielt auch die Forderung, „daß der Ab-zug für Arbeitsversäumnis einen Rubel nicht überschreiten darf, und daßauch der Unternehmer die durch sein Verschulden versäumten Tage, wiez. B. die Stillstandszeiten und den Zeitausfall bei der Umstellung der Ma-schinen, bezählen soll, daß ferner zu diesem Zweck jeder versäumte Tagin das Lohnbuch eingetragen werde". - Die erste Forderung der Arbeiter(daß die Geldstrafe für Arbeitsversäumnis einen Rubel nicht überschreite)ist erfüllt und in das Gesetz über die Geldstrafen von 1886 eingegangen.Die zweite Forderung, (daß der Unternehmer die durch sein Verschuldenversäumten Tage bezahle) ist nicht erfüllt, und die Arbeiter müssen nochweiter darum kämpfen. Um den Kampf für diese Forderung erfolg-reich führen zu können, müssen alle Arbeiter die Ungerechtigkeit des Ge-

* Es muß bemerkt werden, daß in jener Zeit (im Jahre 1884/85) sehrhäufig Fabriken ohne Verschulden der Arbeiter stillagen, da damals eineHandels- und Industriekrise herrschte: die Fabrikanten konnten die Warennicht absetzen und bemühten sich, die Produktion einzuschränken. So schränktebeispielsweise im Dezember 1884 die große Wosnessensker Manufaktur(Gouvernement Moskau, nahe der Bahnstation Taliza, an der StreckeMoskau-Jaroslawl) die Zahl der Arbeitstage in der Woche auf vier ein. DieArbeiter, die in Stücklohn beschäftigt waren, antworteten hierauf mit einemStreik, der Anfang Januar 1885 mit einem Zugeständnis des Fabrikantenendete.

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Erläuterung des Qesetzes über die Qeldstrajen 33

setzes klar erkennen, müssen klar verstehen, was sie fordern sollen. Wirdeine Fabrik oder ein Werk stillgelegt und erhalten die Arbeiter keinenLohn, so müssen sie in jedem einzelnen Fall die Ungerechtigkeit dieserHandlungsweise anprangern, müssen darauf bestehen, daß der Fabrikant,solange der Vertrag mit ihm nicht außer Kraft gesetzt ist, verpflichtetwird, jeden Tag zu bezahlen, sie müssen das dem Inspektor erklären, derden Arbeitern bestätigen wird, daß das Gesetz tatsächlich hierüber nichtsenthält, und der damit den Anlaß geben wird, daß die Arbeiter über die-ses Gesetz diskutieren. Sie müssen sich, wenn das möglich ist, an das Ge-richt mit dem Ersuchen wenden, vom Fabrikanten die Zahlung des Stück-lohnes einzutreiben, sie müssen schließlich allgemein die Forderung er-heben, daß bei Feierschichten der Lohn weitergezahlt wird.

Der dritte Anlaß zur Verhängung einer Geldstrafe sind „Verstöße ge-gen die Ordnung". - Das Gesetz zählt folgende acht Fälle zu den Ord-nungsverstößen: 1. „Verspätetes Erscheinen zur Arbeit oder eigenmäch-tiges Verlassen derselben" (wir haben schon gezeigt, wodurch sich dieserPunkt von Arbeitsversäumnis unterscheidet); 2. „Nichteinhaltung dergeltenden Sicherheitsbestimmungen beim Umgang mit Feuer in den Werk-bzw. Fabrikräumen in den Fällen, wo es der Fabrikleiter nicht für not-wendig hält, den mit den Arbeitern geschlossenen Arbeitsvertrag laut An-merkung 1 zu Artikel 105 zu lösen". - Dies bedeutet, daß das Gesetzdem Fabrikanten in Fällen, wo der Arbeiter die Bestimmungen über vor-sichtigen Umgang mit Feuer verletzt, die Wahl läßt, dem Arbeiter ent-weder eine Geldstrafe aufzuerlegen oder ihn hinauszuwerfen („den Ar-beitsvertrag zu lösen", wie es im Gesetz heißt); 3. „Nichteinhaltungder Bestimmungen über Reinlichkeit und Ordnung in den Werk- bzw.Fabrikräumen"; 4. „Ruhestörung bei der Arbeit durch Lärm, Geschrei,Geschimpfe, Streit oder Schlägerei"; 5. „Ungehorsam". Zu diesem Punktmuß bemerkt werden, daß der Fabrikant dem Arbeiter wegen „Ungehor-sams" nur dann eine Geldstrafe auferlegen darf, wenn dieser einer be-rechtigten Forderung, d. h. einer vertraglich begründeten Forderung, nichtnachgekommen ist. - Wird eine willkürliche Forderung erhoben, die nichtin dem Vertrag zwischen Arbeiter und Unternehmer begründet ist, sodarf keine Geldstrafe wegen „Ungehorsams" verhängt werden. - EinArbeiter ist beispielsweise in Stücklohn beschäftigt. Der Meister verlangtvon ihm, die betreffende Arbeit liegenzulassen und eine andere auszu-

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führen. Der Arbeiter weigert sich. - In diesem Falle wäre eine Geldstrafewegen Ungehorsams nicht berechtigt, da der Arbeiter sich nur zu einerbestimmten Arbeit verpflichtet hat und der Übergang vom Stücklohn zueiner anderen Arbeit für ihn bedeuten würde, daß er umsonst arbeitet;6. „Erscheinen zur Arbeit in betrunkenem Zustand"; 7. „Beteiligung anGlücksspielen um Geld (Kartenspiele, Schrift oder Adler und dergleichenmehr)" und 8. „Nichteinhaltung der Bestimmungen über die Betriebsord-nung in der betreffenden Fabrik". Diese Bestimmungen werden jeweilsvom Inhaber des Unternehmens vorgelegt und vom Fabrikinspektor be-stätigt. - Auszüge daraus werden in den Lohnbüchern abgedruckt. - DieArbeiter müssen diese Bestimmungen lesen und sich in ihnen zurechtfin-den, um prüfen zu können, ob ihnen Geldstrafen wegen Nichtein-haltung der Betriebsordnung zu Recht oder zu Unrecht auferlegt werden.— Man muß zwischen diesen Bestimmungen und dem Gesetz unterschei-den. Das Gesetz ist für alle Fabriken und Werke gleich; die Betriebsord-nungen der einzelnen Unternehmungen unterscheiden sich voneinander. -Das Gesetz wird von der Staatsgewalt bestätigt oder aufgehoben, die Be-stimmungen der Betriebsordnung aber durch den Fabrikinspektor. —Zeigt es sich daher, daß diese Bestimmungen den Arbeitern Schwierig-keiten bereiten, so kann man durch eine Beschwerde beim Inspektor er-reichen, daß sie aufgehoben werden (gegen dessen Entscheidung kannman im Falle eines abschlägigen Bescheids an die Fabrikkammer appellie-ren). - Um zu zeigen, wie notwendig es ist, das Gesetz von den Bestim-mungen der Betriebsordnung zu unterscheiden, wollen wir ein Beispielanführen. Angenommen, ein Arbeiter erhält eine Geldstrafe, weil er sichgeweigert hat, auf Verlangen des Meisters an einem Feiertag oder außer-halb der festgesetzten Zeit zur Arbeit zu erscheinen. - Ist eine solcheGeldstrafe berechtigt oder nicht? - Um darauf zu antworten, muß mandie Betriebsordnung kennen. - Ist in ihr nichts darüber gesagt, daß derArbeiter auf Verlangen auch außerhalb der festgesetzten Zeit zur Arbeitzu erscheinen verpflichtet ist, so ist die Strafe ungesetzlich. Ist aber in derBetriebsordnung gesagt, daß der Arbeiter verpflichtet ist, auf Verlangender Leitung an Feiertagen und außerhalb der festgesetzten Zeit zur Ar-beit zu erscheinen, so ist die Strafe gesetzlich. - Will man die Aufhebungdieser Verpflichtung erreichen, so müssen die Arbeiter nicht gegen dieGeldstrafen Klage führen, sondern eine Abänderung der Betriebsordnung

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Erläuterung des Qesetzes über die Qeldstrafen 35

verlangen. - Alle Arbeiter müssen.sich.darüber verständigen, dann wirdes ihnen bei einmütigem Vorgehen auch gelingen, die Aufhebung einersolchen Bestimmung durchzusetzen.

IV

WIE H O C H D Ü R F E N DIE GELDSTRAFEN S E I N ?

Wir kennen jetzt alle Fälle, in denen das Gesetz gestattet, über dieArbeiter Geldstrafen zu verhängen..— Untersuchen wir nun, was das Ge^setz über die Höhe der Geldstrafen sagt. Das Gesetz schreibt nicht diegleichen Strafsätze für alle Fabriken und Werke vor. Es,gibt nur dieHöchstgrenze an, welche die Geldstrafen nicht überschreiten dürfen.Diese Höchstgrenze wird für jeden der drei Fälle, in denen die Verhän-gung von Geldstrafen zulässig ist (nachlässige Arbeit, Nichterscheinenzur Arbeit und Verstöße gegen die Ordnung), gesondert festgesetzt. -Und zwar ist die Höchstgrenze für Geldstrafen wegen Arbeitsversäum^nis die folgende: bei Tagelohn dürfen die Geldstrafen (für einen ganzenMonat) nicht mehr als die Summe eines sechstägigen Verdienstes aus-machen, das heißt, in einem Monat darf wegen Arbeitsversäumnis nichtmehr als Geldstrafe einbehalten werden, als der Verdienst für sechsTage beträgt.* Handelt es sich dagegen um Stücklohn, so beträgt dieHöchstgrenze für Geldstrafen wegen Arbeitsversäumnis t Rubel pro Tagund insgesamt nicht mehr als 3 Rubel im Monat. Außerdem verliert derArbeiter bei Nichterscheinen zur: Arbeit den Lohn'für die ganze ver-säumte Zeit. Weiter beträgt die Höchstgrenze für Geldstrafen wegen ei-nes Verstoßes gegen die Ordnung einen Rubel für jeden einzelnen Ver-stoß. Was schließlich die Geldstrafen für nachlässige Arbeit betrifft, soist dafür im Gesetz überhaupt keine Höchstgrenze bezeichnet. - Es istnoch eine allgemeine Höchstgrenze für alle Geldstrafen zusammen ange-geben: wegen Nichterscheinens zur Arbeit, wegen Verstoßes gegen die

* Die Höchstgrenze der Geldstrafe für einen versäumten Arbeitstag beiTagelohn ist nicht festgesetzt. Es wird bloß gesagt: „entsprechend demArbeitslohn des Arbeiters"; Die Strafsätze werden, wie wir gleich sehen wer-den, in den Straftabellen einer jeden Fabrik genau angegeben.

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Ordnung und wegen nachlässiger Arbeit. Alle diese Strafen zusammen„dürfen ein "Drittel des Lohnbetrags nicht übersteigen, welcher dem Ar-beiter bei dem festgesetzten Abrechnungstermin tatsächlich zusteht." Dasheißt, hat ein Arbeiter beispielsweise 15 Rubel zu bekommen, so dürfenihm laut Gesetz für alle Ordnungsverstöße, Arbeitsversäumnisse undNachlässigkeiten zusammengenommen nicht mehr als 5 Rbl. Geldstrafeabgezogen werden. Haben sich mehr Geldstrafen angesammelt, so mußder Fabrikant die darüber hinausgehenden. Beträge streichen. In diesemFalle aber gibt das Gesetz dem Fabrikanten noch eine andere Handhabe:der Fabrikant ist nämlich berechtigt, den Arbeitsvertrag aufzuheben, wennsich bei einem Arbeiter die Geldstrafen auf mehr als ein Drittel des Ar-beitslohnes belaufen.*

Von diesen gesetzlichen Bestimmungen über die maximalen Strafsätzemuß gesagt werden, daß sie für den Arbeiter zu streng sind und zu sei-nem Nachteil nur den Fabrikanten Schutz gewähren. — Erstens erlaubt dasGesetz allzu hohe Strafsätze - bis zu einem Drittel des Arbeitslohnes.Das sind unerhört hohe Strafen. Vergleichen wir diese Höchstgrenze mitbekannten Fällen besonders hoher Geldstrafen. Herr Mikulin, Fabrik-irispektor für das Gouvernement Wladimir (der ein Buch über das neueGesetz von 1886 geschrieben hat), führt an, wie hoch vor dem Erlaß die-ses Gesetzes die Geldstrafen in den Fabriken gewesen sind. Am höchstenwaren die Strafen in den Webereien, und die höchsten Strafen, die ineiner Weberei erhoben wurden, machten 10% des Lohnes der Arbeiteraus, d.h. ein Zehntel des Arbeitslohnes. —Herr Peskow, Fabrikinspektorfür das Gouvernement Wladimir, führt in seinem Bericht** Beispiele fürbesonders hohe Geldstrafen an: die höchste von ihnen war eine Geldstrafevon 5,31 Rubel bei einem Lohnbetrag von 32, 31 Rbl. Das macht 16,4%(16 Kopeken je Rubel) aus, d.h. weniger als den sechsten Teil des

* Ein Arbeiter, der diese Aufhebung des Arbeitsyertrags für unrichtighält, kann gerichtlich klagen, nur ist für eine solche Klage eine sehr kurzeFrist angesetzt: ein Monat (natürlich vom Tage der Entlassung an geredinet).

** Erster Bericht für das Jahr 1885. Nur die ersten Berichte der Fabrik-inspektoren sind gedruckt worden, dann hat die Regieung ihre Veröffent-lichung sofort unterbunden. - Es müssen ja schöne Zustände in den Fabrikengeherrscht haben, wenn man sich fürchtete, ihre Beschreibung zu veröffent-lichen. •• . .

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Erläuterung des Qesetzesüber die Qeldstrafen 37

Arbeitslohnes. Eine solche Geldstrafe wird als hodi bezeichnet, und zwarnicht vom Arbeiter, sondern vom Inspektor. Unser Gesetz aber erlaubtes, eine doppelt so hohe Geldstrafe zu erheben/die ein Drittel des Lohnesausmacht, 33V3 Kopeken je Rubel! Offenbar sind in den einigermaßenanständigen Fabriken Geldstrafen, wie unsere Gesetze sie erlauben, nie-mals vorgekommen. - Nehmen wir die Angaben über die Geldstrafen inder Nikolskojer Manufaktur von T. S. Morosow vor dem Streik vom7. Januar 1885. Laut Zeugenaussagen waren die Strafen in dieser Fabrikhöher als in den benachbarten Fabriken. Sie waren so unverschämt hoch,daß 11 000 Menschen endlich die Geduld verloren haben. - Wir gehensicher nicht fehl, wenn wir diese Fabrik als Beispiel für eineTFabrik mit un-verschämt hohen Geldstrafen nehmen. — Wie hoch waren nun die Geld-strafen in dieser Fabrik?-Der Webermeister Schorin sagte, wie wir bereitserwähnt haben, vor Gericht aus, daß die Geldstrafen die Hälfte des Ar-beitslohnes erreichten und im allgemeinen zwischen 30 und 50%,- zwi-schen 30 und 50 Kopeken je Rubel lagen. - Doch ist diese Zeugenaussageerstens nicht durch genaue Daten belegt, und zweitens bezieht sie sichentweder auf Einzelfälle oder auf eine einzelne Werkstätte. - In der Ge-richtsverhandlung gegen die Streikenden wurden einige Angaben überdie Geldstrafen gemacht. — Es wurden in 17 Fällen die Löhne (Monats-löhne) und die Geldstrafen angeführt: bei einem Lohnbetrag von insge-samt 179, 06 Rbl. machten die Geldstrafen 29, 65 Rbl. aus. Das sind 16Kopeken Geldstrafe auf jeden verdienten Rubel. Die höchste Strafe inallen diesen 17 Fällen betrug 3,85 Rbl. bei einem Lohn von 12,40 Rbl.Das ergibt 31V2 Kopeken je Rubel - immer noch weniger als unser Ge-setz zuläßt. - Am besten aber ist es, wenn wir die Angaben für dieganze Fabrik nehmen. — Die Geldstrafen waren im Jahre 1884 höher alsin den vorangegangenen Jahren: sie machten 23V4 Kopeken je Rubelaus (das ist die Höchstzahl: die Geldstrafen lagen zwischen 203/4 und23V4%). Somit waren sie in einer Fabrik, die durch unerhört hohe Geld-strafen bekannt war, immer noch niedriger als die vom russischen Gesetzerlaubten!... Einen schönen Schutz bietet dieses Gesetz den Arbeitern!- Die streikenden Morosowschen Arbeiter verlangten: „Die Geldstrafendürfen 5% von jedem verdienten Rubel nicht überschreiten, und überdiesmuß der Arbeiter davon in Kenntnis gesetzt werden, wenn seine Arbeitfür schlecht befunden wird, und er darf nicht öfter als zweimal im Laufe

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eines Monats belangt werden." Die von unseren Gesetzen erlaubtenGeldstrafen lassen sich nur mit Wucherzinsen vergleichen. Schwerlichwird sich irgendein Fabrikant entschließen können, die Geldstrafen aufdiese Höhe zu schrauben; das Gesetz erlaubt es zwar, aber die Arbeiterwürden es nicht zulassen.*

Unsere Gesetze über die Höhe der Geldstrafen zeichnen sich nichtbloß durch abscheuliche Härte, sondern auch noch durch furchtbare Un-gerechtigkeit aus. Ist die Geldstrafe allzu hoch (mehr als ein Drittel), sokann der Fabrikant den Arbeitsvertrag aufheben, dem Arbeiter aberwird nicht das gleiche Recht eingeräumt, d. h. das Recht, die Fabrik zuverlassen, wenn ihm so viel Geldstrafen auf erlegt werden, daß sie ein Drit-tel des Lohnes überschreiten. Es ist ganz klar, daß das Gesetz allein denFabrikanten begünstigt, als ob die Strafen lediglich von den Arbeiternverschuldet würden. In Wirklichkeit aber weiß jeder, daß die Unterneh-mer nicht selten auf Geldstrafen ausgehen, ohne daß ein Verschulden derArbeiter vorliegt, um beispielsweise die Arbeiter zu zwingen, noch an-gespannter zu arbeiten. Das Gesetz schützt nur den Fabrikanten vor demnachlässigen Arbeiter, aber nicht den Arbeiter vor den allzu raffgierigenFabrikanten. Also können die Arbeiter in diesem Falle bei niemandemSchutz finden. Sie müssen selber an sich und an den Kampf gegen dieFabrikanten denken.

* Man muß bei dieser Gelegenheit darauf hinweisen, daß der ehemaligeCheffabrikinspektor für den Petersburger Kreis, Herr Michailowski, es gerecht-fertigt findet, ein solches Gesetz als eine „wahrhaft humane (menschen-freundliche) Reform" zu bezeichnen, „die der Fürsorge der russischen kaiser-lichen Regierung für die arbeitenden Klassen die größte Ehre macht". (DiesesUrteil findet sich in einem Buch über die russische Fabrik- und Werkindustrie,das die russische Regierung für die Weltausstellung von 1893 in Chikagoherausgegeben hat.) Eine nette Fürsorge der russischen Regierung!!! Ehe dasGesetz erlassen wurde und als es überhaupt noch kein Gesetz gab, fandensich unter den Fabrikanten Banditen, die dem Arbeiter 23 Kopeken je Rubelabzogen. Aber das Gesetz in seiner Fürsorge für die Arbeiter bestimmt: esdürfen nicht mehr als 3373 (dreiunddreißigeindrittel) Kopeken je Rubeleinbehalten werden! Aber dreiunddreißig Kopeken ohne die Drittelkopekekann man jetzt schon auf Grund des Gesetzes einbehalten. - In der Tat, eine„wahrhaft humane Reform".

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WELCHES VERFAHREN BESTEHT FÜR DIEVERHÄNGUNG VON GELDSTRAFEN?

Wir haben bereits gesagt, daß laut Gesetz die Geldstrafen von denLeitern der Fabriken und Werke „aus eigener Machtvollkommenheit"verhängt werden. Ober die Möglichkeit von Beschwerden gegen derenVerfügungen besagt das Gesetz: „Gegen die von einem Fabrik- oderWerkleiter angeordnete Bestrafung von Arbeitern kann keine Beschwerdeeingelegt werden. Wird jedoch von den Beamten der Fabrikinspektionbei Besichtigung einer Fabrik oder eines Werkes auf Grund von Mittei-lungen der Arbeiter festgestellt, daß die über sie verhängten Strafen nichtden gesetzlichen Bestimmungen entsprechen, so wird der Leiter zur Rechen-schaft gezogen." - Diese Bestimmung ist, wie man sieht, sehr unklar undwiderspruchsvoll: Einerseits wird dem Arbeiter erklärt, er könne gegendie Geldstrafen keine Beschwerde einlegen. Anderseits aber heißt es, dieArbeiter könnten beim Inspektor Geldstrafen, die „nicht den gesetzlichenBestimmungen entsprechen", „mitteilen". „Mitteilung machen bei unge-setzlichem Vorgehen" und „Beschwerde erheben gegen ungesetzlichesVorgehen" - wer keine Gelegenheit gehabt hat, die russischen Gesetzenäher kennenzulernen, wird fragen, worin denn hier der Unterschied be-steht. Hier gibt es überhaupt keinen Unterschied, der Zweck dieser ver-klausulierten Bestimmung ist jedoch vollkommen klar: das Gesetz wollteden Arbeiter in seinem Recht schmälern, sich über die Fabrikanten wegenungerechtfertigter und ungesetzlicher Geldstrafen zu beschweren. Jetztkann der Inspektor, wenn ein Arbeiter sich bei ihm über eine ungesetz-liche Geldstrafe beschwert, dem Arbeiter sagen: „Beschwerden gegenGeldstrafen sind gesetzlich nicht zulässig." — Ob sich wohl viele Arbeiterfinden, die alle Spitzfindigkeiten dieses Gesetzes kennen und hierauf zuantworten wissen: „Ich beschwere mich ja gar nicht, ich mache nur eineMitteilung"? - Die Inspektoren sind doch dazu ernannt, darüber zn wa-chen, daß die gesetzlichen Bestimmungen über die Beziehungen zwischenArbeitern und Fabrikanten eingehalten werden. Die Inspektoren sind ver-pflichtet, Mitteilungen aller Art über Verstöße gegen das Gesetz entge-genzunehmen. Der Inspektor soll gemäß den Bestimmungen (siehe die

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vom Finanzminister bestätigte „Instruktion für die Beamten der Fabrik-inspektion") Sprechtage abhalten, und zwar mindestens einmal in derWoche, um mit Personen, die ein Anliegen haben, mündlich Rücksprachezu nehmen, und diese Tage sollen in jeder Fabrik durch Aushang be-kanntgemacht werden. - Wenn also die Arbeiter das Gesetz kennen wür-den und fest entschlossen wären, keine Verletzung der gesetzlichen Be-stimmungen zu dulden, so würde das genannte Gesetz mit all seinenSpitzfindigkeiten seinen Zweck verfehlen, und die Arbeiter könnten er-reichen, daß die Bestimmungen eingehalten werden. - Haben die Arbeiterein Recht auf Rückerstattung der Strafgelder, wenn diese zu Unrecht er-hoben worden sind? Nach dem gesunden Menschenverstand wäre dieFrage natürlich zu bejahen. Es geht doch nicht an, daß der Fabrikant denArbeiter ungerechtfertigt bestraft und die unrechtmäßig einbehaltenenGelder nicht zurückerstattet. Es stellt sich jedoch heraus, daß bei der Er-örterung dieses Gesetzes im Reichsrat beschlossen wurde, dies vorsätzlidhzu verschweigen. Die Mitglieder des Reichsrats fanden, daß, wenn denArbeitern das Recht eingeräumt wird, die widerrechtlich erhobenen Gel-der zurückzuverlangen, „dadurch in den Augen der Arbeiter dem An-sehen des Fabrikleiters Abbruch getan werden würde, das ihm zur Auf-rechterhaltung der Ordnung unter den Arbeitern verliehen werden soll".Da sieht man, wie Staatsmänner über Arbeiter urteilen! Hat ein Fabrikantin ungerechtfertigter Weise dem Arbeiter Abzüge vom Lohn gemacht, sosoll der Arbeiter nicht das Recht haben, das einbehaltene Geld zurückzu-verlangen. Warum also nimmt man dem Arbeiter sein Geld ab? - Weildurch Beschwerden „dem Ansehen der Leiter Abbruch getan werdenwürde"! Also beruhen das „Ansehen der Leiter" und die „Aufrechterhal-tung der Ordnung in den Fabriken" nur darauf, daß die Arbeiter ihreRechte nicht kennen und es „nicht wagen", sich über die Leitung zu be-schweren, selbst wenn diese das Gesetz verletzt hat! Die Staatsmännerhaben also geradezu Angst, den Arbeitern könnte es einfallen zu kontrol-lieren, ob die Geldstrafen zu Recht bestehen! Die Arbeiter sollten sich beiden Mitgliedern des Reichsrats für deren Offenheit bedanken, die ihnenzeigt, was sie von der Regierung zu erwarten haben. Die Arbeiter müssenzeigen, daß sie sich für ebensolche Menschen wie die Fabrikanten haltenund daß sie nicht gewillt sind, sich wie hilfloses Vieh behandeln zu lassen.Darum müssen die Arbeiter es sich zur Pflicht machen, bei ungerecht-

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fertigten Geldstrafen in keinem einzigen Fall die Beschwerde zu unter-lassen, und unbedingt die Rückerstattung der Gelder fordern, entwederbeim Inspektor oder, falls sie bei diesem auf Ablehnung stoßen, vor Ge-richt. - Auch wenn die Arbeiter weder bei den Inspektoren noch vor Ge-richt etwas erreichen, werden ihre Bemühungen dennoch nicht umsonstsein: sie öffnen den Arbeitern die Augen und zeigen ihnen, wie sich unsereGesetze zu den Rechten der Arbeiter verhalten.

Jetzt wissen wir also, daß die Geldstrafen von den Leitern „aus eige-ner Machtvollkommenheit" verhängt werden. — Doch in den Fabrikenkönnen die Strafsätze verschieden hoch sein (da das Gesetz ja nur denHöchstbetrag angibt, den die Geldstrafen nicht überschreiten dürfen),und unterschiedlidie Betriebsordnungen sind möglich. Daher verlangt dasGesetz, daß alle mit Geldstrafen zu ahndenden Übertretungen wie auchdas Strafmaß für jede Übertretung im voraus in einer Straftabeile be-kanntgegeben werden. Diese Tabelle stellt jeder einzelne Unternehmerselbständig zusammen, und der Fabrikirispektor bestätigt sie. Sie mußlaut Gesetz in jeder Werkstätte ausgehängt sein.

Um über die Gültigkeit und die Höhe von Geldstrafen urteilen zukönnen, müssen ausnahmslos alle Geldstrafen richtig eingetragen wer-den. Das Gesetz verlangt, daß die Geldstrafen „nicht später als drei Tagenach ihrer Verhängung" in das Lohnbuch des Arbeiters eingetragenwerden. Aus dieser Eintragung muß erstens der Grund der Bestrafung(d. h. wofür die Geldstrafe erhoben wurde, ob für nachlässige Arbeitund für welche, ob für Arbeitsversäumnis oder für einen Verstoß gegendie Ordnung und für welchen) und zweitens das Strafmaß ersichtlichsein. - Die Eintragung der Geldstrafen in das Lohnbuch ist notwendig,damit die Arbeiter nachprüfen können, ob die Geldstrafe zu Recht be-steht, und damit sie im Falle der Rechtswidrigkeit rechtzeitig Beschwerdeeinlegen können. Weiterhin müssen alle Geldstrafen in eine besondereKladde eingetragen werden, die jede Fabrik und jedes Werk zu führenhat, damit die Inspektion die Geldstrafen kontrollieren kann.

Bei dieser Gelegenheit ist es vielleicht nicht überflüssig, ein paar Worteüber die Möglichkeit von Beschwerden gegen Fabrikanten und Inspek-toren zu sagen, da die Arbeiter meist nicht wissen, wie und bei wem siesich beschweren sollen. - Laut Gesetz sollen Beschwerden über jede ArtRechtsverletzung in den Fabriken oder Werken beim Fabrikinspektor

4 Lenin, Werke, Bd. 2

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eingereicht werden. Er ist verpflichtet, mündliche und schriftliche Mittei-lungen entgegenzunehmen. Wenn der Fabrikinspektor der Bitte nichtnachkommt, so kann man sich an den Oberinspektor wenden, der gleich-falls verpflichtet ist, Sprechtage zur Entgegennahme von Mitteilungen ab-zuhalten. - Darüber hinaus muß die Kanzlei des Oberinspektors täglichfür Personen geöffnet sein, die um Auskünfte oder Erläuterungen nach-suchen oder Mitteilungen machen wollen (siehe die „Instruktion für dieBeamten der Fabrikinspektion", Artikel 18). Gegen die Entscheidung desInspektors kann bei der Gouvernementskammer für Fabrikangelegen-heiten* Beschwerde eingelegt werden. Für diese Beschwerden ist im Ge-setz eine Frist von einem Monat festgesetzt, gerechnet von dem Tage an,an dem der Inspektor seine Verfügung bekanntgibt Weiterhin kann mangegen einen Beschluß der Fabrikkammer innerhalb der gleichen Fristbeim Finanzminister Beschwerde einlegen.

Wie man sieht, werden im Gesetz sehr viele Personen genannt, beidenen man Beschwerden einreichen kann. Zudem steht das Beschwerde-recht dem Fabrikanten und dem Arbeiter in gleicher Weise zu. Das Un-glück ist bloß, daß dieser Schutz eben nur auf dem Papier steht. Der Fa-brikant hat vollauf die Möglichkeit, den Beschwerdeweg zu beschreiten,er hat Zeit genug, er hat die Mittel, um sich einen Rechtsanwalt zu neh-men und dergleichen mehr, und deshalb beschweren sich die Fabrikantentatsächlich über die Inspektoren, sie dringen bis zum Minister vor undhaben schon die verschiedensten Vergünstigungen für sich durchgesetzt.Für den Arbeiter aber bleibt dies Recht, den Beschwerdeweg zu be-schreiten, ein leeres Wort ohne jede Bedeutung. Vor allem hat er keineZeit, zu den Inspektoren und in die Kanzleien zu laufen! Er arbeitet,und für „Nichterscheinen; zur Arbeit" setzt es Geldstrafen. Er hat keinGeld, um sich einen Rechtsanwalt zu nehmen. Er kennt die Gesetze nichtund kann darum nicht auf seinem Recht bestehen. Die Obrigkeit aber,die nicht nur nichts unternimmt, um die Arbeiter mit den Gesetzen

* Wie ist die Fabrikkammer zusammengesetzt? Sie besteht aus dem Gou-verneur, dem Staatsanwalt, dem Chef der Gendarmerieverwaltung, demFabrikinspektor und zwei 3abrikanten. — Reihte man hier noch ergänzend denGefängnisdirektor und den Kommandeur der Kosaken ein, so hätte man alleBeamten beisammen, die die „Fürsorge der russischen kaiserlichen Regierungfür die arbeitenden Klassen" verwirklichen.

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bekannt zu machen, bemüht sich vielmehr noch, dem Arbeiter die Gesetzevorzuenthalten. Wer das nicht glaubt, für den zitieren wir die folgendeVorschrift aus der „Instruktion für die Beamten der Fabrikinspektion"(diese Instruktion ist vom Minister bestätigt und erläutert die Rechte undPflichten der Fabrikinspektoren): „Erläuterungen aller Art über vorge-fallene Übertretungen des Gesetzes und seiner Ausführungsbestimmun-gen werden dem Besitzer eines Industriebetriebes oder dem Leiter des-selben von dem Fabrikinspektor nicht anders als in Abwesenheit des Ar-beiters gegeben."* Da haben wir's. Verletzt der Fabrikant das Gesetz, sodarf der Inspektor ihm das nicht in Anwesenheit der Arbeiter sagen: derMinister hat's verboten! Sonst könnten ja die Arbeiter das Gesetz tat-sächlich kennenlernen und am Ende gar verlangen, daß es vollzogen wird!Nicht umsonst schrieben die „Moskowskije Wedomosti", daß dies nur„Verderbtheit" wäre!

Jeder Arbeiter weiß, daß Beschwerden, besonders gegen den Inspek-tor, für ihn so gut wie unmöglich sind. Natürlich wollen wir damit nichtsagen, daß die Arbeiter sich nicht beschweren sollen: Im Gegenteil, im-mer, wo auch nur die geringste Möglichkeit besteht, muß man unbedingtBeschwerde einlegen, weil die Arbeiter nur auf diese Weise ihre Rechtekennenlernen und begreifen werden, in wessen Interesse die Fabrikgesetzeverfaßt sind. Wir wollen damit nur sagen, daß sich durch Beschwerdenkeinerlei ernsthafte und allgemeine Verbesserung der Lage der Arbeitererreichen läßt. Dazu gibt es nur einen Weg — die Arbeiter müssen sichzusammenschließen, um ihre Rechte zu verfechten, um gegen die Schi-kanen der Unternehmer zu kämpfen, um einen erträglicheren Arbeits-lohn und einen kürzeren Arbeitstag zu erringen.

VI

WOFÜR SOLLEN LAUT GESETZDIE STRAFGELDER VERWENDET WERDEN?

Wir wollen uns jetzt der letzten Frage zuwenden, die sich auf dieGeldstrafen bezieht: Wie werden die Strafgelder verwendet? - Wir

* Anmerkung zu Artikel 26 der „Instruktion".

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44 IV. 3. Lenin

haben bereits gesagt, daß diese Gelder bis zum Jahre 1886 in die Tascheder Unternehmer flössen. Diese Zustände haben aber zu so vielen Miß-brauchen geführt und die Arbeiter dermaßen gereizt, daß die Unterneh-mer selber die Notwendigkeit einzusehen begannen, dieses System zubeseitigen. In einigen Fabriken setzte sich von selbst der Brauch durch,aus den Strafgeldern Beihilfen an Arbeiter auszugeben. Beispielsweisewar bei dem erwähnten Morosow schon vor dem Streik von 1885 fest-gelegt, daß die wegen Rauchens und Mitbringens von Branntwein er-hobenen Geldstrafen zur Unterstützung von Arbeitsinvaliden verwendetwerden, Geldstrafen für nachlässige Arbeit aber dem Unternehmer zu-fallen sollen.

Das neue Gesetz von 1886 machte es zur allgemeinen Regel, daß Geld-strafen nicht in die Tasche des Unternehmers fließen dürfen. Es heißt imGesetz: „Die den Arbeitern abgezogenen Strafgelder werden dazu ver-wendet, in jeder Fabrik einen speziellen Fonds zu bilden, der von derFabrikleitung verwaltet wird. Dieser Fonds darf, mit Zustimmung desInspektors, nur für Bedürfnisse der Arbeiter Verwendung finden, ent-sprechend den vom Finanzminister im Einvernehmen mit dem Innen-minister zu erlassenden Bestimmungen." Somit sollen die Strafgelder lautGesetz nur für Bedürfnisse der Arbeiter Verwendung finden. Strafgelder,das sind Gelder der Arbeiter, Abzüge von ihrem Lohn.

Die Bestimmungen über die Verwendung des aus den Strafgeldern ge-bildeten Fonds, von denen im Gesetz die Rede ist, wurden erst im Jahre1890 (am 4. Dezember) erlassen, d. h. volle 372 Jahre nach Erlaß desGesetzes. Die Bestimmungen besagen, daß die Strafgelder hauptsächlichfür die folgenden Bedürfnisse der Arbeiter Verwendung finden sollen:,,a) zur Unterstützung von Arbeitern, die ihre Arbeitsfähigkeit für im-mer verloren haben oder aus Krankheitsgründen vorübergehend arbeits-unfähig sind". Heutzutage bleiben Arbeiter, die bei einem Betriebsunfallverletzt wurden, gewöhnlich ohne alle Existenzmittel. Um gegen den Fa-brikanten prozessieren zu können, lassen die Arbeiter gewöhnlich vonden Rechtsanwälten, die ihre Sache vertreten, ihren Unterhalt bestreiten,-diese stecken sich dann für die Almosen, die sie den Arbeitern gegebenhaben, den größten Teil der zugesprochenen Entschädigung in dieTasdie. Hat der Arbeiter aber vom Gericht nur eine geringe Entschädi-gung zu erwarten, so findet er gar keinen Rechtsanwalt. Die Strafgelder

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sollten unbedingt gerade für diese Fälle verwendet werden; mit einerUnterstützung aus dem Strafgelderfonds wird sich der Arbeiter einigeZeit über Wasser halten und einen Rechtsanwalt, der seinen Prozeß gegenden Unternehmer führt, finden können, ohne in seiner Not aus derSchuldknechtschaft des Unternehmers in die Schuldknechtschaft desRechtsanwalts zu geraten. Arbeiter, die krankheitshalber arbeitslos ge-worden sind, sollten ebenfalls Beihilfen aus dem Strafgelderfonds be-ziehen.*

Zur Erläuterung dieses ersten Punktes der Bestimmungen hat die St.-Petersburger Fabrikkammer in einem Beschluß erklärt, daß Beihilfen aufGrund eines ärztlichen Attestes in einer Höhe ausgegeben werden dür-fen, die die Hälfte des früheren Arbeitslohns nicht übersteigt. Nebenbeibemerken wir, daß die St.-Petersburger Fabrikkammer diesen Beschlußin der Sitzung vom 26. April 1895 gefaßt hat. Die Erläuterung kam also4Va Jahre nach den Bestimmungen, und die Bestimmungen sind 3V2 Jahrenach dem Gesetz erschienen. Folglich waren insgesamt adht Jahre nötig,nur damit das Qesetz genügend erläutert wurden Wieviel Jahre werdenjetzt wohl erforderlich sein, damit das Gesetz allen zur Kenntnis gelangtund tatsächlich angewandt wird?

Zweitens erfolgen Zuwendungen aus dem Strafgelderfonds ,,b) alsBeihilfe an Arbeiterinnen, die in der letzten Schwangerschaftsperiodestehen und die Arbeit zwei Wochen vor der Niederkunft eingestellthaben". Gemäß der Erläuterung der Petersburger Fabrikkammer soll dieZuwendung nur für die Dauer von vier Wochen erfolgen (zwei Wochenvor der Niederkunft und zwei Wochen danach), und zwar in einer Höhe,die die Hälfte des früheren Arbeitslohns nicht übersteigt.

Drittens werden Beihilfen gezahlt ,,c) im Falle von Verlast oder Be-schädigung von Hab und Gut infolge Feuersbrunst oder eines anderenUnglücksfalls". Gemäß der Erläuterung der Petersburger Kammer ist insolchen Fällen zur Beglaubigung eine polizeiliche Bescheinigung beizu-bringen, und die Höhe der Beihilfe darf nicht mehr als zwei Drittel deshalbjährlichen Verdienstes betragen (d. h. nicht mehr als den Arbeitslohnvon vier Monaten).

* Selbstverständlich geht der Arbeiter dadurch, daß er eine Beihilfe ausdem Strafgelderfonds bezieht, nicht des Rechtes verlustig, vom Fabrikanten- z. B. im Falle eines Betriebsunfalls - Entschädigung zu fordern.

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46 IV. 1. Centn

Viertens schließlich werden Beihilfen gewährt ,,d) zum Begräbnis".Gemäß der Erläuterung der St.-Petersburger Kammer sollen diese Bei-hilfen nur für Arbeiter ausgezahlt werden, die bis zu ihrem Tode in derbetreffenden Fabrik gearbeitet haben, bzw. für deren Eltern und Kin-der. - Die Höhe der Beihilfe liegt zwischen 10 und 20 Rubel.

Das sind die in den Bestimmungen vorgesehenen vier Fälle, in denenBeihilfen gewährt werden. - Die Arbeiter haben jedoch das Recht, auchin anderen Fällen Beihilfen zu erhalten: In den Bestimmungen heißt es,daß die Beihilfen „hauptsächlich" in diesen vier Fällen gezahlt werden.Die Arbeiter haben das Recht, Beihilfen für die verschiedensten Bedürf-nisse, nicht nur für die aufgezählten, zu erhalten. Die Petersburger Kam-mer erklärt in ihrer Erläuterung zu den Bestimmungen über die Geld-strafen (diese Erläuterung ist in den Fabriken und Werken ausgehängt)gleichfalls: „In allen anderen Fällen wird die Beihilfe mit Genehmigungder Inspektion gewährt", und die Kammer hat gleichzeitig hinzugefügt,daß wegen der Beihilfen auf keinen Fall die Aufwendungen der Fabrikfür verschiedene Einrichtungen (beispielsweise Schulen, Krankenhäuserund dergleichen mehr) sowie die Pflichtaufwendungen (beispielsweise fürInstandsetzung der Arbeiterunterkünfte, für ärztliche Hilfe und der-gleichen mehr) vermindert werden dürfen. Das bedeutet, daß die Ge-währung von Beihilfen aus dem Strafgelderfonds dem Fabrikanten nichtdas Recht gibt, diese als eigene Aufwendungen zu rechnen; das sind nichtseine Aufwendungen, sondern Aufwendungen der Arbeiter selbst. DieAufwendungen des Fabrikanten müssen die alten bleiben.

Die Petersburger Kammer hat auch noch folgende Bestimmung getrof-fen: „Die Summe der zu gewährenden ständigen Beihilfen darf nichtmehr als die'Hälfte der jährlichen Eingänge aus Geldstrafen betragen."Hier wird ein Unterschied zwischen ständigen Beihilfen (die im Laufeeiner bestimmten Zeit, beispielsweise an einen Kranken oder Arbeitsinva-liden, ausgezahlt werden) und einmaligen Beihilfen gemacht (die ein ein-ziges Mal, beispielsweise zur Beerdigung oder im Falle einer Feuers-brunst, ausgezahlt werden). Damit Geld für einmalige Beihilfen übrig-bleibt, sollen die ständigen Beihilfen die Hälfte aller Geldstrafen nichtüberschreiten.

Wie kann man Beihilfen aus dem Strafgelderfonds erhalten? Nach denBestimmungen müssen sich die Arbeiter mit der Bitte um Beihilfe an den

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Unternehmer wenden, der die Beihilfe dann mit Genehmigung der In-spektion auszahlt. Lehnt der Unternehmer sie ab, so muß man sich anden Inspektor wenden, der aus eigener Vollmacht eine Beihilfe festsetzenkann.

Die Fabrikkammer kann zuverlässigen Fabrikanten gestatten, kleineBeihilfen (bis zu 15 Rubel) ohne Genehmigung des Inspektors auszu-zahlen.

Strafgelder bis zu 100 Rubel werden vom Unternehmer aufbewahrt,größere Beträge werden bei der Sparkasse hinterlegt.

Wird eine Fabrik geschlossen, so wird der aus den Strafgeldern ge-bildete Fonds an den allgemeinen Arbeiterfonds des Gouvernements über-wiesen. Wie dieser „Arbeiterfonds" (von dem die Arbeiter nichts wissenund auch nicht einmal etwas wissen können) verausgabt wird, darübersteht in den Bestimmungen kein Wort. Da steht nur, er müsse „bis aufweitere Verfügung" in der Staatsbank deponiert werden. Waren selbstin der -Hauptstadt 8 Jahre nötig, um die Bestimmungen über die Ver-wendung der Strafgelderfonds in den einzelnen Fabriken festzulegen, sowird man wahrscheinlich noch manches Jahrzehnt warten müssen, bis Be-stimmungen über die Verwendung des „allgemeinen Arbeiterfonds desGouvernements" ausgearbeitet sein werden.

Das sind die Bestimmungen über die Verwendung der Strafgelder. Wieman sieht, zeichnen sie sich durch außerordentliche Kompliziertheit undVerworrenheit aus, und es kann daher nicht wundernehmen, daß die Ar-beiter bisher von ihrer Existenz kaum etwas wissen. In diesem Jahr (1895)werden in den Petersburger Fabriken und Werken Bekanntmachungenüber diese Bestimmungen ausgehängt.* Jetzt müssen schon die Arbeiterselber dafür sorgen, daß alle mit diesen Bestimmungen bekannt werden,daß die Arbeiter es lernen, die Beihilfen aus dem Strafgelderfonds rich-tig einzuschätzen, nämlich nicht als Almosen der Fabrikanten, nicht als

* Somit ist man in Petersburg erst im Jahre 1895 darangegangen, dasGesetz von 1886 über die Geldstrafen in Kraft zu setzen. Der Chefinspektoraber, Herr Michailowski, den wir weiter oben erwähnt haben, sprach imJahre 1893 davon, daß das Gesetz von 1886 „gegenwärtig strengstens befolgt"werde. - An diesem kleinen Beispiel sehen wir, welche freche Lüge der Chef-fabrikinspektor in dem Buch niedergeschrieben hat, das die Amerikaner mitden russischen Fabrikverhältnissen bekannt machen sollte.

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eine Gnadenbezeigung, sondern als ihr eigenes Geld, das aus Abzügenvon ihrem Arbeitslohn stammt und nur für ihre eigenen Bedürfnisse ver-wendet werden darf. Die Arbeiter haben das volle Recht zu verlangen,daß ihnen diese Gelder ausgezahlt werden.

Bei diesen Bestimmungen ist zu erläutern, erstens wie sie angewandtwerden und welche Härten und Mißbräuche sich dabei ergeben. Zwei-tens muß untersucht werden, ob diese Bestimmungen gerecht sind, ob siedie Interessen der Arbeiter genügend schützen.

Was die Anwendung der Bestimmungen betrifft, so muß vor allem aufdie folgende Erläuterung der Petersburger Fabrikkammer hingewiesenwerden: „Sind zur gegebenen Zeit keine Strafgelder vorhanden..., sokönnen die Arbeiter gegenüber den Fabrikleitungen keinerlei Ansprüchegeltend machen." Es fragt sich aber, woher die Arbeiter wissen sollen, obStrafgelder vorhanden sind oder nicht, und wieviel, wenn solche vor-handen sind? Die Fabrikkammer tut so, als wüßten das die Arbeiter, unddabei hat sie gar nichts unternommen, um die Arbeiter über den' Standdes Strafgelderfonds auf dem laufenden zu halten, sie hat die Unter-nehmer nicht verpflichtet, Bekanntmachungen über die Strafgelder aus-zuhängen. - Glaubt denn die Fabrikkammer wirklich, es sei ausreichend,daß die Arbeiter das vom Unternehmer erfahren, der die Antragstellerdavonjagen wird, wenn keine Strafgelder vorhanden sind? Das wäreeine Gemeinheit sondergleichen, weil dann die Unternehmer den Ar-beiter, der eine Beihilfe zu erhalten wünscht, wie einen Bettler behandelnwürden. - Die Arbeiter müssen durchsetzen, daß in jeder Fabrik und injedem Werk allmonatlich eine Bekanntmachung über den Stand des Straf-gelderfonds ausgehängt wird: wieviel Geld vorhanden ist, wieviel imletzten Monat eingegangen ist, wieviel verausgabt wurde und „für welcheZwecke" ? Sonst werden die Arbeiter nicht wissen, wieviel sie bekommenkönnen; sie werden nicht wissen, ob die Möglichkeit besteht, aus demStrafgelderfonds alle Forderungen oder nur einen Teil zu befriedigen -in diesem Fall wäre es gerecht, den dringendsten Bedürfnissen den Vor-zug zu geben. Die besser geleiteten Werke haben in einzelnen Fällen soldieBekanntmachungen von selbst eingeführt: In St. Petersburg geschieht das,scheint mir, in dem Werk von Siemens und Halske sowie in der staat-lichen Patronenfabrik. Wenn die Arbeiter bei jeder Rücksprache mit demInspektor nachdrücklich die Aufmerksamkeit auf diesen Umstand lenken

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und verlangen, daß solche Bekanntmachungen ausgehängt werden, sowerden sie sicherlich erreichen, daß dies überall geschieht. Weiter wärees für die Arbeiter eine große Erleichterung, wenn es in den Fabrikenund Werken Vordrucke* für Gesuche über die Gewährung von Beihilfenaus dem Strafgelderfonds gäbe. Solche Vordrucke sind beispielsweise imGouvernement Wladimir eingeführt worden. Das ganze Gesuch selbstän-dig abzufassen ist für den Arbeiter nicht leicht, zumal er es nicht fertig-bringen wird, alles Erforderliche aufzuschreiben, während der Vordrucksoweit schon alles Nötige enthält, so daß der Arbeiter an den freigelas-senen Stellen nur noch einige Worte einzufügen hat. Werden keine Vor-drucke eingeführt, so werden sich viele Arbeiter an einen Schreiber wen-den müssen, der ihnen das Gesuch aufsetzt, und das ist mit Ausgabenverbunden. Natürlich können die Bitten um Beihilfe nach den Bestim-mungen eigentlich auch mündlich vorgebracht werden, aber erstens mußder Arbeiter sowieso die in den Bestimmungen verlangte schriftliche Be-glaubigung der Polizei oder des Arztes beibringen (wird das Gesuch aufdem Vordruck geschrieben, so erfolgt gleich hier, auf diesem Vordruck,audi die Beglaubigung), und zweitens wird mancher Unternehmer einemündliche Bitte womöglich auch unbeantwortet lassen, während er eineschriftliche zu beantworten verpflichtet ist. Gedruckte Anträge, die imFabrik- oder Werkkontor eingereicht werden, nehmen den Gesuchen umBeihilfen den Charakter der Bettelei, den ihnen die Unternehmer beizu-legen bemüht sind. Viele Unternehmer sind besonders unzufrieden da-mit, daß die Strafgelder laut Gesetz nicht in ihre Tasche fließen, sondernfür Bedürfnisse der Arbeiter zu verwenden sind. Deshalb wurden vieleKniffe und Schliche ausgeheckt, um die Arbeiter und die Inspektorenübers Ohr zu hauen und das Gesetz zu umgehen. Um die Arbeiter zuwarnen, wollen wir einige dieser Schliche anführen.

Manche Fabrikanten trugen die Geldstrafen nicht als solche, sondernals dem Arbeiter ausgezahlte Gelder in das Lohnbuch ein. Der Arbeiterwird, sagen wir, mit einer Geldstrafe von 1 Rubel belegt, eingetragenwird aber nur, daß der Arbeiter den Rubel erhalten hat. Wenn dieser

* Das heißt gedruckte Eingaben, in denen das eigentliche Gesuch vor-gedruckt und bloß Platz freigelassen ist, um den Namen der Fabrik, denAnlaß, aus dem um Beihilfe nachgesucht wird, den Wohnort, die Unterschriftusw. einzutragen.

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Rubel am Zahltag abgezogen wird, so bleibt er in der Tasche des Unter-nehmers. Das ist schon keine bloße Umgehung des Gesetzes mehr, son-dern geradezu Betrug und Urkundenfälschung.

Andere Fabrikanten rechneten an Stelle der Geldstrafen für Arbeits-versäumnis dem Arbeiter nicht alle Arbeitstage an, das heißt, wenn derArbeiter, sagen wir, einen Tag in der Woche versäumt hat, so werdenihm nicht fünf Tage, sondern nur vier angerechnet: den Arbeitslohn füreinen Tag (der die Geldstrafe für Arbeitsversäumnis ausmacht und demStrafgelderfonds zufließen soll) steckt der Unternehmer ein. Das ist wie-derum grober Betrug. Dazu wollen wir bemerken, daß die Arbeiter gegensolche Betrügereien* völlig schutzlos sind, weil ihnen der Stand des Straf-gelderfonds nicht bekanntgegeben wird. Nur bei allmonatlicher ausführ-licher Bekanntgabe (bei der die Zahl der Straffälle für jede Woche undjede Werkstätte gesondert verzeichnet wird) können die Arbeiter dafürsorgen, daß die einbehaltenen Gelder tatsächlich dem Strafgelderfondszugeführt werden. Wer soll denn die Richtigkeit aller dieser Eintragungenüberwachen, wenn nicht die Arbeiter selbst? Die Fabrikinspektoren?Aber wie erfährt denn der Inspektor, daß gerade diese oder jene Zahldurch Schwindel in das Buch hineingekommen ist? Der Fabrikinspektor,Herr Mikulin, sagt zu diesen Betrügereien folgendes:

„In allen diesen Fällen war es außerordentlich schwierig, die Miß-bräuche aufzudecken, wenn hierfür keine direkten Hinweise in Form vonBeschwerden der Arbeiter vorlagen." Der Inspektor gibt selbst zu, daßer einen Betrug nicht aufdecken kann, wenn die Arbeiter ihm nicht Fin-gerzeige geben. Die Arbeiter können ihm aber keine Fingerzeige geben,wenn die Fabrikanten nicht verpflichtet werden, Bekanntmachungen überdie Geldstrafen auszuhängen.

Wieder andere Fabrikanten haben sich noch raffiniertere Methodenausgedacht, um die Arbeiter zu betrügen und das Gesetz zu umgehen, soabgefeimte und hinterhältige Methoden, daß es nicht leicht war, ihnenbeizukommen. Zahlreiche Besitzer von Baumwollwebereien im Gouver-nement Wladimir legten dem Inspektor nicht nur einen Lohnsatz für

* Und davon, daß diese Betrügereien praktiziert werden, erzählt keinanderer als der 7abrik.inspek.tor für das Gouvernement Wladimir, Herr Miku-lin, in seinem Buch über das neue Gesetz von 1886.

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jede Sorte Gewebe zur Bestätigung vor, sondern gleich zwei oder sogardrei Lohnsätze; in einer Anmerkung zu den Lohnsätzen wurde gesagt,daß Weber, die hochwertiges Material herstellen, nach dem höchsten Satzentlohnt werden, wer schlechter arbeitet - nach dem zweiten Satz, alsAusschuß bezeichnete Ware aber werde nach dem niedrigsten Satz be-zahlt.* Es ist klar, zu welchem Zweck man diesen schlauen Streich aus-geheckt hat: die Differenz zwischen dem höchsten und dem niedrigstenSatz floß in die Tasche des Unternehmers, obwohl sich hinter dieserDifferenz in Wirklichkeit Abzüge wegen nachlässiger Arbeit verbargen,die dem Strafgelderfonds hätten zugeführt werden müssen. Es ist klar,daß das Gesetz, und zwar nicht nur das Gesetz über die Geldstrafen,sondern auch das über die Bestätigung des Lohnsatzes aufs gröblichsteumgangen wurde, denn der Lohnsatz unterliegt der Bestätigung, damitder Unternehmer den Arbeitslohn nicht willkürlich ändern kann; gibt esaber statt eines Lohnsatzes mehrere, so ist damit natürlich der Unter-nehmerwillkür Tür und Tor geöffnet.

Den Fabrikinspektoren ist nicht verborgen geblieben, daß diese Lohn-sätze „offensichtlich den Zweck verfolgen, das Gesetz zu umgehen" (allesdas berichtet der gleiche Herr Mikulin in dem obenerwähnten Buch), abernichtsdestoweniger haben sie „sich nicht für berechtigt gebalten", die ge-ehrten „Herren" Fabrikanten abschlägig zu bescheiden.

Wie sollte es denn auch anders sein! Es ist wirklich keine leichte Sache,die Fabrikanten abschlägig zu bescheiden (diesen Streich hat ja nicht eineinzelner Fabrikant, ihn haben mehrere zugleich ausgeheckt!). Schön, wasaber, wenn es nicht die „Herren" Fabrikanten wären, die das Gesetz zuumgehen versuchten, sondern die Arbeiter? Es wäre interessant zu er-fahren, ob sich dann im ganzen Russischen Reich auch nur ein einzigerFabrikinspektor fände, der „sidb nicht für berechtigt balten" würde, dieArbeiter abschlägig zu bescheiden, wenn diese versuchen würden, dasGesetz zu umgehen.

So wurden denn diese zwei- und dreifachen Lohnsätze von der Fabrik-inspektion bestätigt und in Kraft gesetzt. Es zeigte sich aber, daß sich für

* Solche Lohnsätze gibt es auch in Petersburger Fabriken; es heißt zumBeispiel, daß der Arbeiter für eine bestimmte Menge von Erzeugnissen 20 bis50 Kopeken erhält.

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die Lohnsätze nicht nur die Herren Fabrikanten interessieren, die Me-thoden zur Umgehung des Gesetzes aushecken, auch nicht nur die HerrenInspektoren, die sich nicht für berechtigt halten, die Fabrikanten an ihremnützlichen Vorhaben zu hindern, sondern darüber hinaus auch noch.. .die Arbeiter. Die Arbeiter zeigten keine so schonende Nachsicht mit denGaunereien der Herren Fabrikanten, und sie „haben sich für berechtigtgehalten", diese Fabrikanten daran zu hindern, die Arbeiter zu betrügen.

Diese Lohnsätze, erzählt der Herr Inspektor Mikulin, „riefen bei denArbeitern eine solche Unzufriedenheit hervor, daß sie eine der Haupt-ursachen für die ausgebrochenen Unruhen und Ausschreitungen war,die das Einschreiten von Militär notwendig madhten".

Ja, das ist der Lauf der Welt! Zuerst hat man sich „nicht für berech-tigt gehalten", die Herren Fabrikanten daran zu hindern, das Gesetz zuverletzen und die Arbeiter zu prellen — als aber die Arbeiter, empört übersolche Unverschämtheiten, sich zum Aufstand erhoben, da wurde Mili-tär „notwendig"! Warum war es denn „notwendig", dieses Militär gegendie Arbeiter einzusetzen, die ihre gesetzlichen Rechte verteidigten, undnicht gegen die Fabrikanten, die offenkundig das Gesetz verletzt hatten?Wie dem auch sei, jedenfalls wurden erst nach dem Aufstand der Ar-beiter „durch Verfügung des Gouverneurs diese Lohnsätze aufgehoben".Die Arbeiter hatten ihren Willen durchgesetzt. Nicht die Herren Fabrik-inspektoren, sondern die Arbeiter selbst haben dem Gesetz Geltung ver-schafft; sie haben bewiesen, daß sie nicht mit sich spaßen lassen und daßsie es verstehen, für ihre Rechte einzutreten. „In der Folge", berichtetHerr Mikulin, „lehnte die Fabrikinspektion es dann ab, solche Lohnsätzezu bestätigen." Auf diese Weise haben die Arbeiter die Fabrikinspektorengelehrt, das Gesetz in Anwendung zu bringen.

Aber diese Lehre wurde nur den Fabrikanten von Wladimir zuteil.Indes sind die Fabrikanten einander überall gleich: sei es in Wladimir,Moskau oder Petersburg. Der Versuch der Fabrikanten von Wladimir,dem Gesetz ein Schnippchen zu schlagen, ist mißlungen, aber die vonihnen ausgeheckte Methode ist nicht nur geblieben, ein genialer Peters-burger Unternehmer hat sie sogar noch vervollkommnet.

Worin bestand die Methode der Fabrikanten von Wladimir? Sie be-stand darin, das Wort Geldstrafe zu vermeiden und es durch andereWorte zu ersetzen. Wenn ich sage, der Arbeiter erhält wegen nachlas-

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Erläuterung des Qesetzes über die Qeldstrafen 53

siger Arbeit einen Rubel weniger, so ist das eine Geldstrafe, und der Be-trag muß dem Strafgelderfonds zugeführt werden. Sage ich aber, derArbeiter wird wegen nachlässiger Arbeit nach einem niedrigeren Lohn-satz bezahlt, so ist das keine Geldstrafe, und der Rubel wandert in meineTasche. So hatten sich die Fabrikanten von Wladimir das vorgestellt,aber sie holten sich bei den Arbeitern eine Abfuhr. Aber man kann dasauch noch etwas abwandeln. Man kann sagen.- der Arbeiter erhält beinachlässiger Arbeit seinen Lohn ohne Prämie, dann ist es wiederum keineGeldstrafe, und der Rubel wandert in die Tasche des Unternehmers. Soverfuhr denn auch der schlaue Petersburger Unternehmer Jakowlew,Inhaber einer mechanischen Fabrik. Er sagt so: ihr bekommt einen Rubelpro Tag, aber wenn ihr euch keinerlei Übertretungen, keine Arbeitsver-säumnisse, keine Ordnungsstörungen und keine nachlässige Arbeit zu-schulden kommen laßt, so erhaltet ihr je 20 Kopeken „Prämie". Bei einerÜbertretung aber behält der Unternehmer die beiden Groschen ein undsteckt sie natürlich in die eigene Tasche - denn das sind ja keine Straf-gelder, sondern „Prämien". Die gesetzlichen Bestimmungen darüber, fürwelche Übertretungen und in welcher Höhe Strafen verhängt Werdenkönnen und wie die Gelder für die Bedürfnisse der Arbeiter zu verwen,-den sind, existieren für Herrn Jakowlew nicht. In den Gesetzen wird von„Strafen" gesprochen, bei ihm aber sind es „Prämien". Der schlaue Un-ternehmer prellt die Arbeiter heute noch mit diesem hinterhältigen TricksDer Petersburger Fabrikinspektor hat sich wahrscheinlich ebenfalls „nidrtjür berechtigt gehauen", ihn an der Umgehung des Gesetzes zu hindern.Wir wollen hoffen, daß die Petersburger Arbeiter nicht hinter denen vonWladimir zurückstehen, sondern den Inspektor und den Unternehmerlehren werden, das Gesetz einzuhalten.

Um zu zeigen, welche riesigen Mittel die Geldstrafen einbringen,wollen wir einige Zahlen über die Größe der Strafgelderfonds im Gou-vernement Wladimir anführen.

Mit der Auszahlung von Beihilfen wurde dort im Februar 1891 be-gonnen. Bis Oktober 1891 hatten 3665 Personen Beihilfen in Höhe voninsgesamt 25 458,59 Rbl. erhalten. Der aus den Strafgeldern gebildeteFonds machte am 1. Oktober 1891 470 052,45 Rbl. aus. Bei dieserGelegenheit muß noch auf eine weitere: Verwendung der Strafgelderhingewiesen werden. In einer Fabrik machte der Strafgelderfonds

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8242,46 Rbl. aus. Diese Fabrik ging bankrott, und die Arbeiter bliebenim Winter ohne Brot und ohne Arbeit. Daraufhin wurden von diesemFonds 5820 Rbl. als Beihilfen an die Arbeiter ausgezahlt, deren Zahl sidiauf etwa 800 Personen belief.

Vom 1. Oktober 1891 bis zum 1. Oktober 1892 wurden Geldstrafenim Betrage von 94 055,47 Rbl. einbehalten und an 6312 Personen Bei-hilfen in Höhe von 45 200,52 Rbl. ausgezahlt. Auf die einzelnen Postenverteilten sich diese Beihilfen wie folgt: 208 Personen erhielten wegenArbeitsunfähigkeit monatliche Renten im Gesamtbetrag von 6198,20 Rbl.,also durchschnittlich im Jahr pro Person 30 Rbl. (solche armseligen Bei-hilfen werden geleistet, während Zehntausende von Rubeln Strafgelderungenutzt liegen!). Weiter wurden bei Eigentumsverlusten an 1037 Per-sonen 17 827,12 Rbl. ausgezahlt, durchschnittlich 18 Rbl. pro Person.Schwangere Frauen erhielten insgesamt 10 641,81 Rbl. in 2669 Fällen,durchschnittlich je 4 Rbl. (und zwar für drei Wochen, eine Woche vorder Niederkunft und zwei Wochen danach). Wegen Krankheit wurden an877 Arbeiter 5380,68 Rbl. ausgezahlt, durchschnittlich je 6 Rbl., für Be-gräbnisse 4620 Rbl. an 1506 Arbeiter (je 3 Rubel) und für Sonstiges532,71 Rbl. an 15 Personen.

Jetzt kennen wir alle Bestimmungen über die Strafgelder und wissen,wie diese Bestimmungen angewandt werden. Sehen wir uns nun an, obdiese Bestimmungen gerecht sind und ob sie die Rechte der Arbeiter ge-nügend schützen.

In dem Gesetz ist, wie wir wissen, festgelegt, daß Strafgelder nicht demUnternehmer gehören, daß sie nur für Bedürfnisse der Arbeiter verwen-det werden dürfen. Die Bestimmungen über die Verwendung der Geldersollten von den Ministern bestätigt werden.

Wozu haben nun diese Bestimmungen geführt? Das Geld hat man vonden Arbeitern erhoben und es wird für ihre Bedürfnisse verwendet, inden Bestimmungen aber ist nicht einmal die Rede davon, daß die Unter-nehmer verpflichtet sind, den Arbeitern den Stand des Strafgelderfondsbekanntzugeben. Die Arbeiter haben nicht das Recht, Vertrauensleute zuwählen, die darauf zu achten hätten, daß die Gelder dem Strafgelder-fonds richtig zugeführt werden, die ferner Anträge der Arbeiter ent-gegenzunehmen und die Beihilfen zu verteilen hätten. Im Gesetz hieß es,daß die Beihilfen mit „Genehmigung des Inspektors" ausgezahlt werden,

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Erläuterung des Qesetzes Über die Qeldstrafcn 55

aus den von den Ministem erlassenen Bestimmungen aber ergibt sich,daß eine Bitte um Beihilfe an den Unternehmer zu richten ist. Warummuß man sich denn an den Unternehmer wenden? Es handelt sich dochnicht um Gelder der Unternehmer, sondern um Gelder der Arbeiter, diesich aus Abzügen von ihrem Arbeitslohn zusammensetzen. Der Unter-nehmer darf diese Gelder nicht anrühren: gibt er sie aus, so wird er da-für ebenso zur Verantwortung gezogen wie für Unterschlagung und Ver-untreuung, als hätte er fremde Gelder ausgegeben. Offenbar haben dieMinister diese Bestimmung deshalb erlassen, weil sie den Unternehmerneinen Gefallen tun wollten: jetzt müssen die Arbeiter bei dem Unterneh-mer um eine Beihilfe bitten! als wäre es ein Almosen. Allerdings kann derInspektor, wenn der Unternehmer ablehnt, selbst eine Beihilfe festsetzen.Aber der Inspektor weiß ja nicht Bescheid - der Unternehmer wird ihmsagen, der Arbeiter sei so und so einer, er verdiene die Beihilfe nicht,und der Inspektor wird's ihm glauben.* Ja, und werden sich denn viele Ar-beiter finden, die sich mit einer Beschwerde an den Inspektor wenden unddurch Laufereien zu ihm und durch das Schreiben von Gesuchen und der-gleichen mehr Arbeitszeit verlieren wollen? In Wirklichkeit werden dieministeriellen Bestimmungen nur eine neue Form der Abhängigkeit derArbeiter von den Unternehmern zur Folge haben. Die Unternehmer kön-nen nun die Arbeiter schikanieren, mit denen sie unzufrieden sind, viel-leicht, weil sie sich nichts gefallen lassen: lehnen die Unternehmer dasGesuch ab, so bereiten sie einem solchen Arbeiter damit sicherlich eineMenge überflüssiger Scherereien, ja vielleicht erreichen sie sogar, daß erüberhaupt keine Beihilfe erhält. Umgekehrt können die Unternehmer an

* Auf dem Antragsvordruck für eine Beihilfe, den, wie wir erwähnt haben,die Wladimirer Fabrikkammer an die Fabriken und Werke versandt hat undder im Sinne der Arbeiter die günstigste Auslegung der „Bestimmungen" dar-stellt, heißt es: „Das Fabrikkontor beglaubigt die eigenhändige Unterschriftund den Inhalt des Antrags und ist der Ansicht, daß der Antragsteller würdigist, eine Beihilfe in der und der Höhe zu bekommen."

Also kann das Kontor stets selbst, ohne Angabe der Gründe, schreiben,daß „nach Meinung des Kontors" der Antragsteller nicht verdiene, die Bei-hilfe zu bekommen.

Beihilfen werden nicht die erhalten, die ihrer bedürfen, sondern die, die„sie nach Meinung der Fabrikanten verdienen".

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Arbeiter, die ihnen willfährig sind, vor ihnen dienern oder ihre Kollegenanschwärzen, besonders hohe Beihilfen auszahlen lassen, und das in Fäl-len, wo ein anderer Arbeiter eine Absage erhalten würde. Anstatt derAbhängigkeit der Arbeiter von den Unternehmern in Fragen der Straf-gelder ein Ende zu bereiten, wird ein neues Abhängigkeitsverhältnis ge-schaffen, das die Arbeiter entzweit, Kriecherei und Liebedienerei erzeugt.Und dann denke man noch an den unerhörten Bürokratismus, mit demdas Erlangen von Beihilfen nach den Bestimmungen verbunden ist: jedes-mal muß der Arbeiter Bescheinigungen beibringen, bald vom Arzt, derihm sicherlich grob kommt, bald von der Polizei, die nichts tut, ohne ge-schmiert zu werden. Wir wiederholen, das Gesetz sagt nichts darüber;das alles ist in ministeriellen Bestimmungen festgelegt, die offenkundig zuNutz und Frommen der Fabrikanten abgefaßt sind und darauf abzielen,über die Abhängigkeit von den Unternehmern hinaus noch eine Ab-hängigkeit der Arbeiter von den Beamten zu schaffen, die darauf abzie-len, die Arbeiter von jeder Mitbestimmung bei der Verwendung der dochvon ihnen gezahlten Strafgelder für ihre Bedürfnisse fernzuhalten undein Spinngewebe sinnloser obrigkeitlicher Formalitäten zu weben, um dieArbeiter zu verdummen und zu demoralisieren*.

Daß es dem Unternehmer überlassen wurde, über die Gewährung vonBeihilfen aus den Strafgeldern zu entscheiden, ist eine himmelschreiendeUngerechtigkeit. Die Arbeiter müssen erreichen, daß ihnen das gesetzlicheRecht eingeräumt wird, Deputierte (Vertrauensleute) zu wählen, die dieZuführung der Strafgelder zum Strafgelderfonds überwachen, Anträgeder Arbeiter auf Gewährung von Beihilfen entgegennehmen und über-prüfen sowie vor den Arbeitern Rechenschaft über den Stand des Straf-gelderfonds und seine Verwendung ablegen. In den Werken, in denenes gegenwärtig Deputierte gibt, müssen diese sich mit den Strafgeldernbeschäftigen und verlangen, daß ihnen alle Unterlagen über die Geld-straf en vorgelegt werden, sie müssen die Anträge der Arbeiter entgegen-nehmen und sie an die Betriebsleitung weiterreichen.

* Sie entzweien, Liebedienerei erzeugen und schlechte Sitten züchten.

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Erläuterung des Qeseizes über die Qeldstrafen 57

VII

E R S T R E C K E N S I C H DIE GESETZE

ÜBER DIE GELDSTRAFENAUF ALLE ARBEITER?

Die Gesetze über die Geldstrafen erstrecken sich ebenso wie die mei-sten anderen russischen Gesetze nicht auf alle Fabriken und Werke undnicht auf alle Arbeiter. Erläßt die russische Regierung ein Gesetz, sofürchtet sie immer, die Herren Unternehmer damit vor den Kopf zu sto-ßen, sie fürchtet, daß die so schlau ausgeklügelten Kanzleibestimmungenund Beamtenrechte und -pflichten mit irgendwelchen anderen Kanzlei-bestimmungen (und deren Zahl ist bei uns Legion), mit den Rechten undPflichten irgendwelcher anderen Beamten in Widerspruch geraten, dietödlich beleidigt sind, wenn ihnen irgendein neuer Beamter ins Gehegekommt, und die wegen der „Abgrenzung der Kompetenzen" Fässer ob-rigkeitlicher Tinte und Berge Papiers verschmieren. Selten wird daher beiuns ein Gesetz gleich für ganz Rußland erlassen, ohne daß in ihm Aus-nahmen vorgesehen wären, ohne daß seine Inkraftsetzung feigherzig hin-ausgezögert würde, und ohne daß den Ministem und anderen Beamtendas Recht eingeräumt würde, Abweichungen von dem Gesetz zu ge-statten.

Besonders stark hat sich das alles auf das Gesetz über die Geldstrafenausgewirkt, das, wie wir gesehen haben, bei den Herren Kapitalisten sogroße Unzufriedenheit hervorgerufen hat und nur unter dem Druckdrohender Arbeiteraufstände in Kraft gesetzt worden ist.

Erstens erstreckt sich das Gesetz über die Geldstrafen nur auf einenkleinen Teil Rußlands.* Dieses Gesetz wurde, wie gesagt, am 3. Juni 1886erlassen und am 1. Oktober 1886 in Kraft gesetzt, und zwar nur in dreiQouvernements: Petersburg, Moskau und Wladimir. Nach fünf "Jahrenwurde der Geltungsbereich des Gesetzes auf die Gouvernements War-schau und Petrokow ausgedehnt (am 11. Juni 1891); nach weiteren drei

* Dieses Gesetz bildet einen Teil der sogenannten „besonderen Bestim-mungen über die Beziehungen zwischen Fabrikanten und Arbeitern". Diese„besonderen Bestimmnngen" gelten nur für „Distrikte mit stark entwickelterFabrik- und Werkindustrie", die wir weiter unten im Text anfahren werden.

5 Lenin, Werke, Bd. 2

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"Jahren - durch das Gesetz vom 15. März 1894 - auf weitere 13 Gouverne-ments (und zwar auf die zentralen Gouvernements Twer, Kostroma,Jaroslawl, Nishni-Nowgorod und Rjasan; auf die OstseegouvernementsEstland und Livland; auf die westlichen Gouvernements Grodno undKiew; auf die südlichen Gouvernements Wolhynien, Podolsk, Charkowund Cherson). Im Jahre 1892 wurden die Bestimmungen über die Geld-strafen auf die privaten Bergwerksbetriebe und Schürfstellen ausge-dehnt.

Die rasche Entwicklung des Kapitalismus in Südrußland und das enormeWachstum des Bergbaus haben dort große Arbeitermassen zusammen-geführt und die Regierung zur Eile angetrieben.

Wie man sieht, geht die Regierung nur sehr langsam von der altenFabrikordnung ab. Außerdem muß bemerkt werden, daß sie es nur unterdem Druck der Arbeiter tut: so haben die Verstärkung der Arbeiterbe-wegung und die Streiks in Polen bewirkt, daß der Geltungsbereich desGesetzes auf die Gouvernements Warschau und Petrokow (zum Gouverne-ment Petrokow gehört die Stadt Lodz) ausgedehnt wurde. Der großeStreik in der Chludowschen "Manufaktur, Kreis Jegorjewsk, Gouverne-ment Rjasan, hat sofort dazu geführt, daß das Gesetz auf das Gouverne-ment Rjasan ausgedehnt wurde. Es liegt klar auf der Hand, daß auch dieRegierung „sich nicht für berechtigt hält", den Herren Kapitalisten dasRecht auf unkontrollierte (willkürliche) Verhängung von Geldstrafen zaentziehen, solange sich die Arbeiter nicht selbst einmischen.

Zweitens gilt das Gesetz über die Geldstrafen, ebenso wie alle anderenBestimmungen über die Beaufsichtigung der Fabriken und Werke, nichtfür Betriebe, die dem Fiskus und Regierungseinrichtungen gehören. Diefiskalischen Betriebe haben für ihre Arbeiter eine eigene „fürsorgliche"Obrigkeit, und das Gesetz möchte ihr nicht mit Bestimmungen über dieGeldstrafen zur Last fallen. In der Tat, wozu noch die fiskalischen Be-triebe beaufsichtigen, wenn doch der Betriebsleiter selbst Beamter ist?Sollen sich- doch die Arbeiter bei ihm selbst über ihn beschweren. KeinWunder, daß sich unter diesen Leitern fiskalischer Werke so schamloseKerle wie beispielsweise der Kommandant des Petersburger Hafens, HerrWerchowski, finden.

Drittens erstrecken sidi die Bestimmungen über die Strafgelderfonds,die für Bedürfnisse der Arbeiter zu verwenden sind, nicht auf die

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Erläuterung des Qesetzes über die Qeldstrafen 59

Arbeiter in den Werkstätten derjenigen Eisenbahnen, bei denen esPensionskassen bzw. Spar- und Hilfskassen gibt. Hier fließen die Straf-gelder in diese Kassen.

Alle diese Ausnahmen schienen trotzdem noch nicht auszureichen, imdso wurde im Gesetz festgelegt, daß die Minister (für Finanzen und fürinnere Angelegenheiten) das Recht haben, einerseits „unbedeutende Fa-briken und Werke, falls das dringend geboten erscheint", „von der An-wendung dieser Bestimmungen auszunehmen", und anderseits diese Be-stimmungen auf „bedeutende" Handwerksbetriebe auszudehnen.

Somit hat das Gesetz, nicht genug damit, daß es den Minister beauf-tragte, die Bestimmungen über die Strafgelder auszuarbeiten, den Mini-stern auch noch das Recht eingeräumt, einige Fabrikanten von derAnwendung dieses Gesetzes zu befreien! Da sieht man, wie weit dieLiebenswürdigkeit unseres Gesetzes gegenüber den Herren Fabrikantengeht! In einer der Erläuterungen des Ministers heißt es, daß er nur solcheFabrikanten befreit, bei denen die Fabrikkammer „überzeugt ist, daß derEigentümer des "Betriebs die Interessen der Arbeiter nicht verletzen wird".Die Fabrikanten und die Fabrikinspektoren sind so dicke Freunde, daßsie einander aufs Wort glauben. Wozu dem Fabrikanten mit Bestim-mungen zur Last fallen, wenn er „versichert", daß er die Arbeiterinter-essen nicht verletzen werde? Was aber, wenn ein Arbeiter versuchenwollte, den Inspektor oder den Minister zu ersuchen, ihn von den Be-stimmungen zu befreien, und dabei „versicherte", daß er die Interessendes Fabrikanten nicht verletzen werde? Einen solchen Arbeiter würdeman wahrscheinlich für verrückt halten.

Und das nennt sich „Gleichberechtigung" der Arbeiter und der Fabri-kanten.

Was die Ausdehnung der Bestimmungen über die Geldstrafen auf be-deutende Handwerksbetriebe anbelangt, so wurden diese Bestimmungen,soweit bekannt, bisher nur (und zwar im Jahre 1893) auf Verlagskontoreausgedehnt, die den in Hausarbeit beschäftigten Webern die Weberketteliefern. Die Minister beeilen sich nicht, die Bestimmungen über die Geld-strafen weiter auszudehnen. Die ganze Masse der Arbeiter, die für Unter-nehmer, große Ladengeschäfte und dergleichen mehr in Hausarbeit be-schäftigt ist, bleibt bis heute in den alten Verhältnissen, bleibt in vollemMaße der Unternehmerwillkür ausgeliefert. Diesen Arbeitern fällt es

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schwerer, sich zusammenzuschließen, sich über ihre Nöte zu verständi-gen, gemeinsam den Kampf gegen die Unternehmerschikanen aufzuneh-men - und deshalb •werden sie nicht beachtet.

VIII

SCHLUSSFOLGERUNGEN

Wir haben nun unsere Gesetze und Bestimmungen über die Geldstra-fen, haben dieses ganze außerordentlich komplizierte System kennenge-lernt, das den Arbeiter durch den trockenen Ton und die ungenießbareKanzleisprache abschreckt.

Wir können uns jetzt wieder der Frage zuwenden, die wir eingangsaufgeworfen haben, daß nämlich die Geldstrafen durch den Kapitalis-mus hervorgerufen sind, d. h. durch eine Gesellschaftsordnung, in der dasVolk sich in zwei Klassen teilt, in Eigentümer des Grund und Bodens, derMaschinen, der Fabriken und Werke, der Materialien und Vorräte - undin Menschen, die keinerlei Eigentum besitzen und daher gezwungen sind,sich an die Kapitalisten zu verkaufen und für sie zu arbeiten.

War es immer so, daß die Arbeiter, die sich einem Unternehmer ver-dingt haben, diesem wegen der verschiedensten Vernachlässigungen Geld-strafen zahlen mußten?

In Kleinbetrieben - beispielsweise bei städtischen Handwerkern oderbei Gewerbetreibenden - gibt es keine Geldstrafen. Dort besteht keinevöllige Entfremdung zwischen Arbeiter und Unternehmer, sie lebenund arbeiten gemeinsam. Der Unternehmer denkt gar nicht daran, Geld-strafen einzuführen, da er selber bei der Arbeit nach dem Rechtensieht und stets veranlassen kann, daß etwas, was ihm nidit gefällt, ver-bessert wird.

Aber solche kleinen Betriebe und Gewerbe verschwinden allmählich.Die Kustare und Handwerker können ebenso wie die Kleinbauern un-möglich der Konkurrenz der großen Fabriken und Werke bzw. der Groß-eigentümer standhalten, die bessere Werkzeuge und Maschinen verwen-den und die Arbeit einer Masse von Arbeitern zusammenfassen. Darumsehen wir, daß-die Kustare, Handwerker und Bauern immer mehr ruiniert

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werden, daß sie als Arbeiter in die Fabriken gehen, die Dörfer verlassenund in die Städte abwandern.

In den großen Fabriken ist das Verhältnis zwischen Unternehmer undArbeitern durchaus nicht mehr dasselbe wie in den kleinen Werkstätten.Der Unternehmer steht seinem Reichtum und seiner gesellsdiaftlichenStellung nach um so vieles höher als der Arbeiter, daß zwisdien ihnenein ganzer Abgrund klafft, daß sie sich häufig nicht einmal kennen undnichts miteinander gemein haben. Der Arbeiter hat nicht die geringsteMöglichkeit, sich zum Unternehmer aufzuschwingen: Er ist dazu verur-teilt, ewig besitzlos zu bleiben und für die Reichen zu arbeiten, die er•nicht kennt. An die Stelle von zwei oder drei Arbeitern, wie sie der kleineUnternehmer hatte, treten jetzt viele Arbeiter, die aus versdiiedenen Ge-genden zusammenströmen und ständig wechseln. An die Stelle einzelnerAnweisungen des Unternehmers treten allgemeine Bestimmungen, die füralle Arbeiter verpflichtend sind. Die frühere Beständigkeit der Beziehun-gen zwischen Betriebsinhaber und Arbeiter verschwindet: der Unter-nehmer schätzt den Arbeiter überhaupt nicht mehr, denn er kann in derMasse der Arbeitslosen, die bereit sind, sidi jedem zu verdingen, immermit Leiditigkeit einen anderen Arbeiter finden. Auf diese Weise verstärktsidi die Madit des Unternehmers über die Arbeiter, und der Unterneh-mer nutzt diese Madrt aus, um den Arbeiter mit Hilfe der Geldstrafenin den strengen Rahmen der Fabrikarbeit zu zwängen. Der Arbeitermußte sich dieser neuen Beschränkung seiner Rechte und seines Lohnsfügen, weil er jetzt dem Unternehmer gegenüber machtlos ist.

Die Geldstrafen haben also vor nidit gar so langer Zeit das Lidit derWelt erblickt - sie kamen zusammen mit den großen Fabriken und Wer-ken auf, zusammen mit dem Großkapitalismus, zusammen mit der voll-ständigen Scheidung in reiche Unternehmer und bettelarme Arbeiter. DieGeldstrafen waren das Resultat der vollen Entwicklung des Kapitalismusund der vollen Versklavung des Arbeiters.

Aber diese Entwicklung der großen Fabriken und der wadisende Drudeder Unternehmer hatten nodi andere Folgen. Die Arbeiter, die sidi denFabrikanten gegenüber als völlig maditlos erwiesen, begannen zu begrei-fen, daß sie völliger Ruin und ein Bettlerleben erwarten, wenn sie sichnicht vereinigen. Die Arbeiter begannen zu begreifen, daß es für sie nurein Mittel zur Rettung vor Hungertod und Degeneration gibt, mit denen

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der Kapitalismus sie bedroht — sich zusammenzuschließen zum Kampfgegen die Fabrikanten, zum Kampf für höheren Lohn und bessere Lebens-bedingungen.

Wir haben gesehen, zu welchen unerhörten Schikanen gegen die Ar-beiter unsere Fabrikanten sich in den achtziger Jahren verstiegen, wiesie sich nicht mehr damit begnügten, die Lohnsätze herabzusetzen undwie sie die Geldstrafen in ein Mittel zur Senkung des Arbeitslohns ver-wandelten. Die Unterdrückung der Arbeiter durch die Kapitalisten stiegins Uferlose.

Aber diese Unterdrückung rief auch den Widerstand der Arbeiterhervor^ Die Arbeiter erhoben sich gegen ihre Peiniger und trugen denSieg davon. In ihrem Schreck gab die Regierung den Forderungen der Ar-beiter nach und beeilte sich, ein Gesetz über die Regelung der Geldstrafenzu erlassen.

Das war ein Zugeständnis an die Arbeiter. Die Regierung glaubte, dieGesetze und Bestimmungen über die Geldstrafen und die Einführung vonBeihilfen aus den Strafgeldern würden die Arbeiter mit einem Schlagezufriedenstellen und sie ihre gemeinsame Arbeitersache, ihren Kampfgegen die Fabrikanten, vergessen lassen.

Aber diese Hoffnungen der Regierung, die sich zum Schutzherrn derArbeiter aufwirft, erfüllen sich nicht. Wir haben gesehen, wie ungerechtdas neue Gesetz gegen die Arbeiter ist, wie gering die Zugeständnissean die Arbeiter sind, selbst im Vergleich mit solchen Forderungen, wie sievon den streikenden Morosowarbeitern aufgestellt wurden; wir habengesehen, wie für die Fabrikanten, die das Gesetz verletzen wollen, überallSchlupflöcher offengelassen wurden, wie in ihrem Interesse die Bestim-mungen über die Beihilfen abgefaßt wurden, die zur Willkür der Unter-nehmer noch die Beamtenwillkür hinzufügen.

Wenn ein solches Gesetz, wenn solche Bestimmungen Anwendung fin-den, wenn die Arbeiter sie kennenlernen und bei ihren Konflikten mitder Obrigkeit merken, wie das Gesetz sie schikaniert, dann werden sieallmählich anfangen, sich ihrer unfreien Lage bewußt zu werden. Siewerden begreifen, daß nur Elend und Armut sie genötigt haben, für dieReichen zu schuften und sich für ihre schwere Arbeit mit Bettelpfennigenzu begnügen. Sie werden begreifen, daß die Regierung und ihre Beamtenmit den Fabrikanten zusammenhalten und daß die Gesetze so abgefaßt

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werden, daß sie es dem Unternehmer erleichtern, die Arbeiter aus-zupressen.

Und schließlich werden die Arbeiter erkennen, daß das Gesetz ihreLage nicht verbessert, solange die Abhängigkeit der Arbeiter von denKapitalisten bestehenbleibt, weil das Gesetz stets die Kapitalisten undFabrikanten begünstigt, weil die Fabrikanten es immer verstehen werden,einen Trick zu finden, um das Gesetz zu umgehen.

Haben die Arbeiter das begriffen, so werden sie sehen, daß ihnennur ein Mittel bleibt, um sich zu schützen: sich zusammenzuschließenzum Kampf gegen die Fabrikanten und gegen die ungerechten Zustände,die das Gesetz geschaffen hat.

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GYMNASIALWIRTSCHAFTEN UNDKORREKTIONS GYMNASIEN

(Das „Russkoje Bogatstwo"21)

Es ist längst bekannt, wie die Volkstümler die Frage des Kapitalismusin Rußland zu lösen gedenken, und in letzter Zeit wird dies am klarstenvom „Russkoje Bogatstwo" zum Ausdruck gebracht. Obwohl die Volks-tümler nicht die Existenz des Kapitalismus in Abrede stellen und sich zudem Eingeständnis genötigt sehen, daß er sich weiter entwickelt, betrach-ten sie dennoch unseren Kapitalismus nicht als einen natürlichen und not-wendigen Prozeß, der die jahrhundertelange Entwicklung der Waren-wirtschaft in Rußland vollendet, sondern als etwas Zufälliges, nicht festVerwurzeltes, als ein Abirren von dem Wege der Nation, den die Ge-schichte vorgezeichnet hat. „Wir müssen andere Wege fürs Vaterlandausfindig machen", sagen die Volkstümler, müssen vom kapitalistischenWeg abgehen und die Produktion „im Geiste des Mir* gestalten", wobeiwir uns die vorhandenen Kräfte der „ganzen" „Gesellschaft" nutzbar zumachen haben, die sich bereits von der Lebensunfähigkeit des Kapitalis-mus zu überzeugen beginnt.

Wenn es wirklich möglich wäre, einen anderen Weg fürs Vaterlandausfindig zu machen, wenn tatsächlich die ganze Gesellschaft die Not-wendigkeit dessen einzusehen begänne - dann würde eine „im Geiste desMir erfolgende Gestaltung" der Produktion in der Tat keine erheblichenSchwierigkeiten bereiten und auch keine besondere historische Vorberei-tungsperiode erfordern. Man braucht bloß einen Plan für diese Gestal-tung im Geiste des Mir auszuarbeiten und die entsprechenden Leutevon seiner Durchführbarkeit zu überzeugen, und das „Vaterland" wird

* Mir - das Kollektiv der Mitglieder der Obschtschina (Dorfgemeinde).Der Tibers.

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Qymnasialivirtsdhaften und Korrektionsgymnasien 65

vom kapitalistischen Irrweg auf die Straße der Vergesellschaftung um-schwenken.

Jedermann begreift, wie groß das Interesse für einen derartigen Plansein muß, der so freudige Perspektiven verheißt, und daher sollte dasrussische Publikum Herrn Jushakow, einem der ständigen Mitarbeiter des„Russkoje Bogatstwo", sehr dankbar dafür sein, daß er die Mühe auf sichgenommen hat, einen solchen Plan auszuarbeiten. In der Mainummer des„Russkoje Bogatstwo" finden wir seinen Artikel über „Eine Bildungs-utopie", der den Untertitel trägt: „Plan einer allgemeinen obligatorischenMittelschulbildung".

Aber was hat denn das mit einer Gestaltung der Produktion „imGeiste des Mir" zu tun? wird der Leser fragen. Sehr viel, denn HerrnJushakows Plan ist sehr breit angelegt. Der Verfasser sieht in seinemProjekt vor, in jedem Amtsbezirk ein Gymnasium zu errichten, das diegesamte Bevölkerung männlichen und weiblichen Geschlechts im schul-pflichtigen Alter (von 8 bis 20 Jahren, im Höchstfalle auch bis zu 25 Jah-ren) erfaßt. Dieses Gymnasium soll eine Produktionsgenossenschaft mitagrarischer und moralischer Tätigkeit sein, die durch ihre Arbeit denLebensunterhalt nicht nur für die Angehörigen des Gymnasiums (derenZahl nach Herrn Jushakow ein Kriftel der Gesamtbevölkerung aus-macht), sondern darüber hinaus auch noch den Unterhalt des ganzenim Kindesalter stehenden Bevölkerungsanteils bestreiten soll. Auseiner eingehenden Berechnung des Verfassers für ein typisches Amts-bezirksgymnasium (auch „Gymnasialfarm", „Gymnasialwirtschaft" oder„Agrargymnasium" genannt) geht hervor, daß das Gymnasium alles inallem den Unterhalt für mehr ah die Hälfte der gesamten ortsansässigen"Bevölkerung bestreiten soll. Wenn wir berücksichtigen, daß jedes der-artige Gymnasium (insgesamt sind für Rußland 20 000 Doppelgymnasien,d. h. 20 000 für männliche und 20 000 für weibliche Schüler geplant) mitBoden und mit Produktionsmitteln ausgestattet wird (es sollen staatlichgarantierte Semstwoobligationen mit 4^2% Zinsen und 72% Tilgungausgegeben werden), so begreifen wir, wie „gewaltig" in der Tat der„Plan" des Herrn Jushakow ist. Für eine ganze Hälfte der Bevölkerungwird die Produktion vergesellschaftet. Mit einem Schlage eröffnet sich sofürs Vaterland ein anderer Weg! Und das wird erreicht „ohne jedeKosten (sie!) für Regierung, Semstwo und Volk". Das „scheint nur auf den

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ersten Blick eine Utopie zu sein", in Wirklichkeit aber „ist es viel leichterzu verwirklichen als die allgemeine Grundschulbildung". Herr Jushakowversichert, daß die dafür notwendige Finanzoperation „keine Chimäreund Utopie" ist und daß sie, wie wir gesehen haben, nicht nur ohneKosten, ohne jede Kosten bewerkstelligt werden kann, sondern sogarohne Änderung „der bestehenden Lehrpläne"!! Herr Jushakow bemerktmit vollem Recht, das „alles hat nicht geringe Bedeutung, wenn man skhnicht auf ein Experiment beschränken, sondern erreichen will, daß wirklichdas ganze Volk der Bildung teilhaftig wird". Er sagt allerdings, er habe „sichnicht das Ziel gesteckt, ein ins einzelne gehendes Projekt zu entwerfen",aber seine Darstellung enthält sowohl die für jedes Gymnasium vor-gesehene Zahl der Schüler und Schülerinnen als auch eine Berechnung derArbeitskräfte, die nötig sind, um den Unterhalt aller Angehörigen desGymnasiums sicherzustellen, ferner eine Aufstellung über das päd-agogische und Verwaltungspersonal, wobei die Naturalverpflegung derGymnasialmitglieder wie auch die Besoldung der Pädagogen, Ärzte,Techniker und Handwerker berücksichtigt wird. Der Verfasser berechnetbis ins einzelne die Menge der für die landwirtschaftlichen Arbeiten er-forderlichen Arbeitstage, die Bodenfläche, die jedes Gymnasium braucht,und die für die Erstausstattung notwendigen Geldmittel. Er stellt Über-legungen darüber an, was einerseits mit den Nichtrussen und mit denSektenangehörigen geschehen soll, die nicht in den Genuß der Segnungender allgemeinen Mittelschulbildung kommen können, und anderseits mitPersonen, die wegen schlechter Führung aus dem Gymnasium entferntwerden müssen. Die Berechnungen des Autors beschränken sich nicht aufein Mustergymnasium. Nein, keineswegs. Er setzt sich für die Einrichtungaller dieser 20 000 Doppelgymnasien ein und gibt Fingerzeige, wie diedafür erforderliche Bodenfläche beschafft und „ein ausreichendes Personalan Lehrkräften, Verwaltern und Wirtschaftsleitern" gesichert werdenkann.

Es ist begreiflich, von welch allgemeinem Interesse ein derartiger Planist, und zwar nicht nur in theoretischer Hinsicht (es liegt auf der Hand,daß ein so konkret ausgearbeiteter Plan, die Produktion im Geiste desMir zu gestalten, jeden Skeptiker endgültig überzeugen und jeden, derdie Durchführbarkeit derartiger Pläne in Abrede stellt, glatt erledigenmuß), sondern auch in praktischer Hinsicht. Es wäre doch höchst sonder-

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Qymnasialwirtsdbaften und Korrektionsgymnasien 67

bar, wenn das Projekt einer allgemeinen obligatorischen Mittelschul-bildung nicht die Aufmerksamkeit höchster Regierungsstellen auf sichzöge, besonders da der Autor des Projekts entschieden behauptet, dieSache ließe sich „ohne jede Kosten" machen und würde „nicht so sehr infinanzieller und ökonomischer als vielmehr in kultureller Beziehung aufHindernisse stoßen", die indessen „nicht unüberwindlich" seien. DiesesProjekt geht unmittelbar nicht nur das Ministerium für Volksbildung an,sondern in gleicher Weise auch das Innnen-, das Finanz-, das Land-wirtschafts- und sogar, wie wir weiter unten sehen werden, das Kriegs-ministerium. Dem Justizministerium sollen aller Wahrscheinlichkeit nachdie geplanten „Korrektionsgymnasien" unterstellt werden. Zweifelloswerden sich auch die übrigen Ministerien für dieses Projekt interessieren,das, wie Herr Jushakow sagt, „allen oben aufgezählten Anforderungen(d.h. der Bildung und des Unterhalts) und wahrscheinlich noch vielenanderen entspricht".

Wir sind daher überzeugt, daß der Leser uns nicht böse seinwird, wenn wir dieses höchst bedeutsame Projekt eingehender unter-suchen.

Der Hauptgedanke des Herrn Jushakow besteht in folgendem: Wäh-rend der Sommermonate findet kein Unterricht statt, sie werden derlandwirtschaftlichen Arbeit vorbehalten. Weiterhin verbleiben die Ab-solventen des Gymnasiums noch für einige Zeit als Arbeiter an der An-stalt, sie verrichten die Winterarbeiten und werden mit gewerblichenNebenarbeiten für den Landwirtschaftsbetrieb beschäftigt, so daß jedesGymnasium in der Lage ist, sämtliche Schüler und Arbeiter sowie denganzen Lehrkörper und das Verwaltungspersonal durch die eigene Arbeitzu unterhalten und die Ausgaben für den Unterrichtsbetrieb zu be-streiten. Diese Gymnasien wären, wie Herr Jushakow mit Recht sagt,große landwirtschaftliche Arteis. Diese Bemerkung läßt übrigens nichtmehr den leisesten Zweifel daran, daß wir berechtigt sind, den Plan desHerrn Jushakow als die ersten Schritte zu einer volkstümlerischen Ge-staltung der Produktion „im Geiste des Mir" anzusehen, als ein Stückjenes neuen Weges, den Rußland wählen muß, um den Peripetien desKapitalismus auszuweichen.

„Gegenwärtig", meint Herr Jushakow, „absolviert man das Gym-nasium im Alter von 18-20 Jahren, zuweilen auch 1 oder 2 Jahre später.

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Im Falle der Schulpflicht... wird der verspätete Abschluß nodi häufigersein. Man wird die Anstalt später beenden, und die drei oberen Klassenwerden aus 16- bis 25jährigen bestehen, da nämlich 25 Jahre das Alterdarstellen, bei dessen Erreichung die Schüler entlassen werden, auch wennsie das Unterrichtsziel nicht erreicht haben. Berücksichtigt man, daß dieälteren Schüler der 5. Klasse ein zusätzliches Kontingent ergeben, so kannman getrost annehmen, daß annähernd ein Drittel der Gymnasialschüler...im voll arbeitsfähigen Alter stehen." Auch wenn man diesen Prozentsatzauf ein Viertel verringert, wie es der Autor im weiteren tut, indem er zuden 8 Gymnasialklassen 2 Vorschulklassen hinzurechnet (in die acht-jährige Kinder aufgenommen würden, die noch nicht lesen und schreibenkönnen), so ergäbe sich dennoch eine sehr große Zahl von Arbeitern, diemit Hilfe von Halbwüchsigen, den sogenannten Halbarbeitern, die Som-merarbeit bewältigen könnten. Aber „die zehnklassige Gymnasialfarm",bemerkt Herr Jushakow tiefgründig, „benötigt zwangsläufig ein bestimm-tes Kontingent von Winterarbeitern". Wo soll man diese hernehmen?Der Autor schlägt zwei Wege vor: 1. Dingung von Lohnarbeitern („vondenen einige, die sich hervorgetan haben, an den Einkünften beteiligtwerden könnten"). Die Gymnasialwirtschaft soll ein. rentabler Betriebsein und die Beschäftigung von Lohnarbeitern rechtfertigen. Doch derAutor „hält einen anderen Weg für wichtiger": 2.Personen, die dasGymnasium beendet haben, sind verpflichtet, die für ihren Unterricht undUnterhalt in den unteren Klassen entstandenen Kosten abzuarbeiten.Das ist ihre „Pflicht und Schuldigkeit", fügt Herr Jushakow hinzu, einePflicht selbstverständlich nur für diejenigen, die nicht in der Lage sind,die Unterrichtskosten zu bezahlen. Sie eben bilden das benötigte Kon-tingent an Winterarbeitern und das zusätzliche Kontingent an Sommer-arbeitern.

Das ist der erste Grundzug der geplanten Organisation, die ein Fünftelder Bevölkerung „im Geiste des Mir" zu landwirtschaftlichen Arteiszusammenschließen soll. Schon hieran können wir erkennen, von welcherArt der andere Weg fürs Vaterland ist, der eingeschlagen werden soll.Die Lohnarbeit, die heute die einzige Quelle des Lebensunterhalts fürPersonen ist, die „die Ausbildungskosten nicht bezahlen können" wieauch nicht die Kosten des Lebensunterhalts, wird durch unbezahlte Pflicht-arbeit ersetzt. Aber das sollte uns nicht stören: man darf nicht vergessen,

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daß die Bevölkerung dafür die Segnungen der allgemeinen Mittelschul-bildung genießen wird.

Gehen wir weiter. Der Autor projektiert getrennte Gymnasien fürmännliche und weibliche Schüler, er sinkt also zu dem auf dem euro-päischen Kontinent herrschenden Vorurteil gegen den gemeinsamenUnterricht hinab, der eigentlich rationeller wäre. „50 Schüler je Klassebzw. 500 in allen zehn Klassen bzw. 1000 je Gymnasialwirtschaft(500 Knaben und 500 Mädchen), das ist die völlig normale Schülerzahl"eines durchschnittlichen Gymnasiums. Es wird über 125 „Arbeiterpaare"und die entsprechende Zahl von Halbarbeitern verfügen. „Wenn ichdarauf verweise", sagt Jashakow, „daß eine entsprechende Zahl vonArbeitern beispielsweise in Kleinrußland 2500 Desjatinen Kulturland zubestellen imstande ist, so begreift jeder, welche riesige Kraft die Arbeitdes Gymnasiums repräsentiert"!...

Außer diesen Arbeitskräften wird es aber noch „ständige Arbeiter"geben, die ihre Ausbildung und ihren Unterhalt „abarbeiten". Wie vielewerden es sein? Alljährlich werden 45 Schüler und Schülerinnen dasGymnasium absolvieren. Ein Drittel der Schüler werden drei Jahre langihrer Militärdienstpflicht nachkommen (heute dient ein Viertel; der Autorvergrößert diese Zahl auf ein Drittel, indem er die Dienstzeit auf dreiJahre verkürzt). „Es würde nur gerecht sein, wenn man die restlichenzwei Drittel in dieselben Bedingungen versetzt, d. h. sie an den Gymna-sien behält, damit sie die Kosten ihrer eigenen Ausbildung sowie die derAusbildung ihrer Kameraden abarbeiten, die zu den Fahnen einrücken.Die Mädchen können allesamt zu dem gleichen Zweck dabehaltenwerden."

Wie die neuen Verhältnisse in dem auf einen anderen Weg gebrachtenVaterland organisiert werden sollen, zeichnet sich immer deutlicher ab.Gegenwärtig sind alle russischen Untertanen militärdienstpflichtig, undda die Zahl der Personen im militärpflichtigen Alter die Zahl dererforderlichen Soldaten übersteigt, werden letztere durch das Los be-stimmt. In der im Geiste des Mir gestalteten Produktion wird man dieRekruten ebenfalls durch das Los bestimmen, die übrigen aber sollen „indieselben Bedingungen versetzt", d. h. verpflichtet werden, drei Jahreabzudienen, zwar nicht beim Militär, sondern als Arbeiter in den Gymna-sien. Sie sollen die Kosten des Unterhalts ihrer Kameraden abarbeiten,

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die zu den Fahnen eingerückt sind. Sollen etwa alle Abarbeit leisten?Nein. Nur wer die Ausbildungskosten nicht bezahlen kann. Der Autorhat diesen Vorbehalt schon oben gemacht, und im weiteren werden wirsehen, daß er für Personen, die ihre Ausbildung bezahlen können, über-haupt besondere Gymnasien vom alten Typus plant. Warum hat nunaber gerade der die Kosten für den Unterhalt der Kameraden, die zu denFahnen eingerückt sind, abzuarbeiten, der die Ausbildungskosten nichtbezahlen kann? und nicht der, der dazu in der Lage ist? Sehr begreiflich,warum. Wenn man die Gymnasiasten in Zahlende und Nichtzahlendeeinteilt, so liegt es klar auf der Hand, daß die heutige Gesellschafts-struktur von der Reform in keiner Weise angetastet würde: dessen istsich auch Herr Jushakow sehr wohl bewußt. Ist dem aber so, so begreiftman auch, daß die allgemeinen staatlichen Aufwendungen (für die Sol-daten) diejenigen tragen werden, die keine Existenzmittel besitzen*,genauso, wie sie diese auch heute tragen, beispielsweise in Form indirekterSteuern u. dgl. m. Worin unterscheidet sich dann aber die neue Ordnungvon der heutigen? Darin, daß heute die Mittellosen ihre Arbeitskraftverkaufen können, während sie in der neuen Ordnung verpflichtet seinwerden, umsonst (d. h. für den bloßen Unterhalt), zu arbeiten. Es unter-liegt nicht dem geringsten Zweifel, daß Rußland auf diese Weise allenPeripetien des kapitalistischen Systems ausweicht. Die freie Lohnarbeit,die uns mit dem „Geschwür des Proletariats" bedroht, wird ausgemerztund tritt ihren Platz ab an die. . . unbezahlte Pflichtarbeit.

Es kann also nicht wundernehmen, daß Menschen, die in Verhältnissegestellt sind, in denen sie unbezahlte Pflichtarbeit leisten müssen, Be-dingungen vorfinden, die diesen Verhältnissen entsprechen. Man höre,was uns der Volkstümler (ein „Volksfreund") unmittelbar nach demVorauf gegangenen mitteilt:

„Wird hierbei den jungen Leuten, die den Lehrgang beendet habenund noch drei Jahre beim Gymnasium bleiben, die Eheschließung ge-stattet, werden besondere Unterkunftsräume für verheiratete Arbeitereingerichtet und, wenn es die Einkünfte des Gymnasiums erlauben,ihnen beim Verlassen der Anstalt eine wenn auch bescheidene Beihilfe

* Andernfalls ließe sidi die Herrschaft der ersteren über die letzteren auchnicht aufrechterhalten.

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in Geld und Naturalien ausgezahlt, so wird das dreijährige Ver-bleiben beim Gymnasium weit weniger drückend sein als der Militär-dienst . . . "

Ist es denn nicht klar, daß diese vorteilhaften Bedingungen die Be-völkerung veranlassen werden, mit allen Kräften danach zu streben, indas Gymnasium zu kommen? Man überlege doch: erstens wird es ge-stattet seih, eine Ehe zu schließen. Freilich bedarf es nach den heutegeltenden Zivilgesetzen dazu überhaupt keiner Erlaubnis (von der Obrig-keit). Man bedenke aber, es handelt sich ja um Qymnasiasten undGymnasiastinnen, zwar im Alter von 25 Jahren, aber immerhin umGymnasiasten. Wenn den Universitätsstudenten das Heiraten nicht ge-stattet ist, könnte man es dann den Gymnasiasten erlauben? Und zudemwird die Erlaubnis ja von der Leitung des Gymnasiums gegeben, d.h.von Leuten mit Hochschulbildung: es besteht also kein Grund, Miß-bräuche zu befürchten. Wer das Gymnasium absolviert hat und als stän-diger Arbeiter dableibt, ist indes schon kein Gymnasiast mehr. Nichts-destoweniger spricht man auch in bezug auf diese Menschen von einerErlaubnis zur Eheschließung - also in bezug auf Personen im Alter von21-27 Jahren. Man kann nicht leugnen, daß der neue Weg für dasVaterland die russischen Bürger in ihrer zivilen Rechtsfähigkeit in ge-wisser Hinsieht beeinträchtigt, doch sollte man einsehen, daß die Segnun-gen der allgemeinen Mittelschulbildung ja nicht ohne Opfer erlangt wer-den können. Zweitens werden für verheiratete Arbeiter besondereUnterkunftsräume eingerichtet, wahrscheinlich nicht schlechtere als jeneKämmerchen, in denen heute die Fabrikarbeiter hausen. Und drittenserhalten die ständigen Arbeiter noch eine „bescheidene Beihilfe". Zwei-fellos wird die Bevölkerung diese Annehmlichkeiten eines geruhsamenLebens unter den Fittichen der Obrigkeit den Unbilden des Kapitalismusvorziehen, und das in einem solchen Maße, daß manch ein Arbeiterständig beim Gymnasium bleiben wird (wahrscheinlich aus Dank-barkeit dafür, daß man ihm gestattet hat, eine Ehe zu schließen):„Ein kleines Kontingent ständiger Arbeiter, die ganz am Gymnasiumbleiben und dessen Sache zu der ihren gemacht haben (sie!!), ergänztdiese Arbeitskräfte der Gymnasialwirtschaft. Das sind die mög-lichen und keineswegs utopischen Arbeitskräfte unseres Agrargymna-siums."

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I bewahre! Was gibt es denn hier „Utopisches"? Ständige Gratis-arbeiter, die die Sache der Unternehmer, der Leute, die ihnen gestatten,eine Ehe zu schließen, „zu der ihren gemacht haben" - fragen Sie dodieinen beliebigen alten Bauern, und er wird Ihnen aus eigener Erfahrungerzählen können, daß alles das durchaus realisierbar ist.

Fortsetzung folgt.)*

geschrieben im Tlerbst 1895.

Veröffentlicht am 25. November 1895 Nadb dem 7eid desim „Samarski Westnik"22 5Vr. 254. „Samarski Westnik".Unterschrift: X. 7-in.

* Eine Fortsetzung ist in der Zeitung „Samarski Westnik" nicht erschienen.Die Red.

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AN DIE ARBEITER U N D ARBEITERINNENDERTHORNTON-FABRIK 2 3

Arbeiter und Arbeiterinnen der Thornton-Fabrik!Der 6. und der 7. November müssen uns allen in Erinnerung bleiben...

Mit ihrem einmütigen Widerstand gegen die Unternehmerschikanenhaben die Weber bewiesen, daß sich in einem schwierigen Augenblick inunserer Mitte noch Menschen finden, die für unsere gemeinsamenArbeiterinteressen einzustehen wissen, und daß es unseren Wohltätern, denUnternehmern, noch nicht gelungen ist, uns endgültig zu elenden Sklavenihrer unersättlichen Habgier zu machen. Kollegen, laßt uns denn stand-haft und unbeirrbar unsere Sache vollends durchsetzen, denken wir daran,daß wir nur durch gemeinsames, einmütiges Handeln unsere Lage ver-bessern können. Vor allem, Kollegen, geht nicht in die Falle, die dieHerren Thornton so schlau gestellt haben. Sie rechnen so: „Zur Zeitstockt der Warenabsatz, so daß wir bei den bisher in den Fabrikenüblichen Arbeitsbedingungen nicht den gewohnten Profit einstreichenkönnen... Mit einem niedrigeren Profit aber wollen wir uns nicht be-gnügen . . . Also muß man sich die Arbeiter vornehmen, sollen doch siemit ihren Knochen für die schlechten Marktpreise aufkommen... Mandarf die Sache nur nicht täppisch anpacken, sondern man muß mitGeschick vorgehen, damit der Arbeiter in seiner Einfalt gar nicht merkt,welche Suppe wir ihm einbrocken . . . Tritt man ihnen allen zugleich aufdie Zehen, so werden sie sich auch alle zugleich auflehnen, und dann istmit ihnen nichts anzufangen, haben wir aber erst einmal die armenWeberlein übers Ohr gehauen, so werden uns auch die übrigen nicht ent-gehen . . . Mit solchen Leutchen pflegen wir nicht viel Federlesens zumachen, und wozu auch? Bei uns kehren die neuen Besen besser..." So

6 Lenin, Werke, Bd. 2

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wollen die um das Wohl des Arbeiters besorgten Unternehmer heimlich,still und leise den Arbeitern aller Fabrikabteilungen die gleiche Zukunftbereiten, die sie schon den Webern beschert haben. . . Wenn wir daherdem Schicksal unserer Weberei gegenüber gleichgültig bleiben, danngraben wir uns alle mit eigenen Händen eine Grube, in die man auch unssehr bald hineinstoßen wird. In letzter Zeit haben die Weber im Durch-schnitt etwa 3,50 Rbl. im halben Monat verdient, sie haben es fertig-gebracht, in dieser Zeit mit einer siebenköpfigen Familie von 5 Rbl. undmit einer aus Mann, Frau und Kind bestehenden Familie von nur 1 Rbl.zu leben. Sie haben ihr letztes Kleidungsstück abgetragen und die letztenGroschen verbraucht, die sie in höllisch schwerer Arbeit zu einer Zeiterwarben, da die Wohltäter Thornton zu ihren Millionen neue Millionenhinzufügten. Aber das alles reichte noch nicht, neue und immer neueOpfer der Unternehmerhabgier wurden vor den Augen der Arbeiterauf die Straße gesetzt, und die Schikanen steigerten sich miti unmensch-licher Brutalität... Der Wolle wurden ohne jede Abrede Kämmlingeund Scherflocken24 beigemischt, wodurch die Herstellung des Tuchsschrecklich verlangsamt wurde, das Herumstehen beim Empfang der Kettezog sich, scheinbar unbeabsichtigt, noch mehr in die Länge, schließlichwurde die Arbeitszeit für die Herstellung des Tuchs einfach verkürzt,und jetzt werden Ballen von 5 Schmiz25 Länge anstatt 9 hergestellt, damitder Weber sich länger und öfter mit dem Empfang und der Vorbereitungder Kette zu plagen habe, wofür er bekanntlich keinen Heller bekommt.Man will unsere Weber mürbe machen, und dann kann ein Lohn von1,62 Rbl. im halben Monat, wie ihn einige Weber bereits in den Lohn-büchern vorfanden, in kurzer Zeit auf die ganze Weberei ausgedehntwerden . . . Kollegen, wollt ihr abwarten, bis auch ihr diese Unternehmer-gunst erhaltet? Wenn ihr das nicht wollt, wenn schließlich eure Herzensich gegen die Nöte ebensolcher Hungerleider, wie ihr es seid, noch nichtganz verhärtet haben, so schließt euch einmütig um unsere Weber zusam-men, so laßt uns gemeinsam unsere Forderungen aufstellen und jedepassende Gelegenheit nutzen, um unseren Unterdrückern eine Verbes-serung unseres Lebens abzutrotzen. Arbeiter der Spinnerei, gebt euchnicht trügerischen Hoffnungen hin, weil euer Verdienst der alte gebliebenoder sogar ein wenig gestiegen i s t . . . Hat man doch schon nahezu 2Ueurer Kollegen auf die Straße gesetzt, und euer besserer Verdienst ist

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An die Arbeiter und Arbeiterinnen der Jhornton-Jabrik 75

um den Preis des Hungerns eurer aus der Spinnerei hinausgeworfenenKollegen erkauft. Das ist wiederum ein geschicktes Manöver der Unter-nehmer, das nicht schwer zu durchschauen ist, wenn man nur nachrechnet,wieviel die ganze Mulemaschinenspinnerei früher verdient hat und wie-viel sie heute verdient. - Arbeiter der neuen Färberei! Um den Preisvon 141/« Stunden täglicher Arbeit, bis auf die Knochen durchweicht vommörderischen Dunst der Farben, verdient ihr heute schon nur noch12 Rubel im Monat! Hört unsere Forderungen: wir wollen auch mit dengesetzwidrigen Abzügen Schluß machen, die euch wegen der Unfähigkeiteures Meisters abgenommen werden. - Hilfsarbeiter und überhaupt alleungelernten Arbeiter der Fabrik! - Hofft ihr wirklich, eure 60 bis 80 Ko-peken Tagelohn zu behalten, wenn ein gelernter Weber sich mit 20 Ko-peken am Tag begnügen muß? - Kollegen, seid nicht blind, geht denUnternehmern nicht in die Falle, steht fester zusammen, sonst wird esuns allen in diesem Winter sehr schlecht gehen. Wir alle müssen dieMachenschaften unserer Unternehmer, mit denen sie die Lohnsätze her-absetzen wollen, mit größter Aufmerksamkeit verfolgen und uns mitallen Kräften gegen diese für uns verhängnisvollen Umtriebe auflehnen...Seid taub gegen alle ihre Ausreden, daß die Geschäfte schlecht gingen:für sie bedeutet das nur, daß sich der Profit von ihrem Kapital verringert,für uns aber, daß unsere Familien Hunger leiden, daß ihnen das letzteStück trocken Brot genommen wird. Kann man denn beides mit demgleichen Maß messen? Jetzt werden hauptsächlich die Weber unter Druckgesetzt, und daher müssen wir auf folgendem bestehen:.

1. Die Lohnsätze der Weber müssen wieder auf den Stand vom Früh-jahr gebracht, d. h. annähernd um 6 Kopeken je Schmiz erhöht werden.

2. Das Gesetz, wonach dem Arbeiter, bevor er mit der Arbeit beginnt,die Höhe des dafür angesetzten Verdienstes bekanntzugeben ist, mußauch auf die Weber Anwendung finden. Die vom Fabrikinspektor unter-schriebene Lohntabelle darf nicht nur auf dem Papier stehen, sondernmuß, wie es das Gesetz verlangt, auch praktisch angewandt werden. Fürdie Weber beispielsweise müssen die geltenden Lohnsätze durch Hinweiseauf die Qualität der Wolle und die Menge der in ihr enthaltenen Kämm-linge und Scherflocken ergänzt werden, die auf Vorbereitungsarbeitenentfallende Zeit muß angerechnet werden.

3. Die Arbeitszeit muß so eingeteilt werden, daß uns keine unverschul-

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deten Arbeitsversäumnisse erwachsen; jetzt hat man es beispielweise soeingerichtet, daß der Weber bei jedem Ballen einen Tag für den Empfangder Kette verliert, und da der Ballen beinahe um die Hälfte kleiner wird,so wird der Weber allein dadurch, unabhängig von der Lohntabelle, einenVerlust erleiden, der doppelt so groß ist wie bisher. Wenn der Unter-nehmer auf diese Weise unseren Lohn drücken will, so soll er es offensagen, damit wir genau wissen, was man uns wegnehmen will.

4. Der Fabrikinspektor muß darauf achten, daß mit den Lohnsätzenkein Betrug getrieben wird, daß sie nicht doppelt festgesetzt werden. Dasheißt beispielsweise, daß in der Lohntabelle nicht für ein und dieselbeWare, die nur verschieden bezeichnet wird, zwei verschiedene Sätze zuge-lassen werden dürfen. Biber haben wir zum Beispiel für 4,32 Rbl. gewebtund Ural26 für nur 4,14 Rbl. - ist das aber dem Arbeitsaufwand nachnicht ein und dasselbe? Eine noch frechere Prellerei ist es, für die Her-stellung von Waren mit gleicher Bezeichnung zweierlei Preise festzu-setzen. Auf diese Weise haben die Herren Thornton die Gesetze über dieGeldstrafen umgangen, in denen es heißt, daß Geldstrafen für minder-wertige Arbeit nur dann verhängt werden dürfen, wenn diese auf man-gelnde Sorgfalt des Arbeiters zurückzuführen ist; in solchen Fällen müs-sen die Abzüge spätestens nach drei Tagen unter der Rubrik Geldstrafenin das Lohnbuch eingetragen werden. Über alle Geldstrafen zusammenmuß genau Buch geführt werden, und die aus ihnen auflaufende Summedarf nicht in die Tasche des Fabrikanten fließen, sondern muß für Be-dürfnisse der Arbeiter dieser Fabrik verwendet werden. Bei uns aber sinddie Lohnbücher - man schaue nur hinein - ganz leer, Geldstrafen sind danicht verzeichnet, und man könnte meinen, unsere Unternehmer seiendie besten von allen. In Wirklichkeit aber umgehen sie wegen unsererUnkenntnis das Gesetz und bringen leicht ihr Schäfchen ins trockne...Bei uns, seht ihr wohl, gibt es keine Geldstrafen, aber dafür werden beiuns Abzüge gemacht, werden wir nach dem niedrigeren Satz entlohnt,und solange es zwei Lohnsätze gibt - einen niedrigen und einen höhe-ren -, kann man ihnen überhaupt nicht beikommen, sie machen Abzügeüber Abzüge, und alles fließt in ihre Tasche.

5. Zugleich mit der Einführung eines einheitlichen Lohnsatzes mußjeder Abzug in die Rubrik Geldstrafen eingetragen und vermerkt wer-den, wofür der Abzug erfolgt ist.

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An die Arbeiter und Arbeiterinnen der 7bornton-7abrik 77

Dann werden wir feststellen können, welche Strafen unrechtmäßigsind, wir werden weniger umsonst arbeiten, und die Ungeheuerlichkeiten,wie sie heute beispielsweise in der Färberei vorkommen, werden seltenersein. Dort schaffen die Arbeiter durch Verschulden eines unfähigenMeisters weniger, das darf aber nach dem Gesetz kein Grund sein, dieArbeit nicht zu bezahlen, denn das hat nichts mit mangelnder Sorgfaltder Arbeiter zu tun. Und sind etwa solche Abzüge, die wir überhauptnicht verschuldet haben, bei uns allen eine Seltenheit?

6. Wir fordern, daß man uns nur soviel Wohnungsmiete abverlangtwie bis 1891, d. h. 1 Rbl. pro Person und Monat, denn wir sind einfachnicht in der Lage, bei unserem Lohn 2 Rubel zu zahlen, ja, und wofürauch?... Für diese dreckigen, stinkigen, engen und feuergefährdetenLöcher? Vergeßt nicht, Kollegen, in ganz Petersburg gilt 1 Rbl. im Monatals ausreichend, nur unsere fürsorglichen Unternehmer begnügen sichdamit nicht, und deshalb müssen wir sie zwingen, auch hier ihre Habgierzu zügeln. Wenn wir diese Forderungen vertreten, Kollegen, so ist dasdurchaus kein Aufruhr, wir verlangen nur das, was alle Arbeiter andererFabriken nach dem Gesetz bereits bekommen und was man uns entzieht,nur weil man hofft, daß wir unfähig sind, unsere Rechte zu verteidigen.Zeigen wir doch diesmal, daß unsere „Wohltäter" sich verrechnet haben.

Qesdbrieben nadh dem7.(i9.)'November 1895.

Vervielfältigt auf einem Nadh dem Text des Flugblattes,Mimeograpben als Tlugblatt. verglidhen mit dem Text des

Sammelbandes „Rabotnik"Tir.lh (.1896).

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WORAN DENKEN UNSERE MINISTER?27

Qesdbrieben November-Dezember,nidbt später als am8.(20.) "Dezember 1895,für das „Rabotsdheje Velo".

Zuerst veröffentlidbt am 27. Januar 1924 Tladb dem 7ext der im Ardbivin der „Tetrogradskaja Vrawda" 3Vr. 22. eines Polizeidepartements

gefundenen "Kopie.

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Der Innenminister Durnowo hat dem Oberprokurator des HeiligenSynods, Pobedonoszew, einen Brief gesdirieben. Der Brief ist am18. März 1895 abgefaßt worden und trägt außer der Nr. 2603 den Ver-merk: „Streng vertraulich". Der Minister wünschte also, daß der Briefstreng geheim bleibe. Es haben sich jedoch Leute gefunden, die nicht dieMeinung des Herrn Ministers teilen, daß die russischen Bürger die Ab-sichten der Regierung nicht kennen dürfen, und so macht dieser Brief jetztin einer handschriftlichen Kopie überall die Runde.

Worüber hat nun Herr Durnowo an Herrn Pobedonoszew ge-schrieben?

über die Sonntagsschulen. In dem Brief heißt es: „Die in den letztenJahren eingegangenen Informationen zeugen davon, daß sich politischunzuverlässige Elemente sowie ein Teil der studierenden Jugend, dernach dem Beispiel der sechziger Jahre einer bestimmten Richtung anhängt,bemühen, als Lehrer, Lektoren, Bibliothekare usw. in die Sonntags-schulen zu gelangen. Diese systematischen Bemühungen, die sich nichteinmal mit der Sorge um Unterhaltsmittel rechtfertigen lassen, weil indiesen Schulen alle übernommenen Verpflichtungen unentgeltlich ausge-führt werden, sind ein Beweis, daß in der obenerwähnten Erscheinungeines der Mittel zu sehen ist, mit dem regierungsfeindliche Elementeauf legalem (gesetzlichem) Boden die in Rußland bestehende Staatsord-nung und Gesellschaftsverfassung bekämpfen."

So also urteilt der Herr Minister! Unter den Gebildeten gibt es Leute,die ihr Wissen den Arbeitern mitteilen wollen, die wollen, daß dasStudium nicht nur ihnen, sondern auch dem Volke Nutzen bringe - undflugs entscheidet der Minister, hier seien „regierungsfeindliche Elemente"

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am Werk, d. h. Verschwörer, die die Leute aufwiegeln, in die Sonntags-schulen zu gehen. Könnte denn wirklich nicht auch ohne Aufwiegeleimanch ein Gebildeter den Wunsch haben, andere zu unterrichten? Aberden Minister stört es, daß die Lehrer an den Sonntagsschulen kein Gehaltbekommen. Er ist es gewohnt, daß die Spione und Beamten, die bei ihmdienen, ihren Dienst nur um des Gehalts willen versehen, daß sie demdienen, der ihnen mehr zahlt; hier aber kommen plötzlich Leute, diearbeiten, dienen, lehren, und alles das . . .umsonst. Sehr verdächtig! denktder Minister und schickt Spione aus, um die Sache zu klären. In demBrief heißt es weiter: „Aus den folgenden Informationen" (sie stammenvon Spionen, deren Existenz durch die Gehälter gerechtfertigt ist) „gehthervor, daß nicht nur im Lehrkörper Personen mit schädlichen Tendenzenanzutreffen sind, sondern daß auch die Schulen selbst nicht selten ins-geheim von einem ganzen Kreis unzuverlässiger Personen geleitet wer-den, dessen Mitglieder überhaupt nicht zum offiziellen Lehrkörper ge-hören und auf Einladung der von ihnen vorgeschobenen Lehrer undLehrerinnen in den Abendstunden Vorträge halten und die Schüler unter-richten . . . Zustände, die es ermöglichen, daß Unbefugte Vorlesungenhalten, öffnen Tür und Tor für Personen, die aus einem geradezu revolu-tionären Milieu in den Lehrkörper eindringen."

Da haben wir's, wenn also „Unbefugte", die von den Popen undSpionen nicht begutachtet .und für zuverlässig befunden worden sind,Arbeitern Unterricht erteilen wollen, so ist das offene Revolution! DerMinister betrachtet die Arbeiter als Pulverfaß, Wissen und Bildung aberals einen Funken; der Minister ist überzeugt, daß, wenn der Funke insPulverfaß springt, die Explosion vor allem gegen die Regierung gerichtetsein wird.

Wir können uns das Vergnügen nidit versagen, hierbei zu bemerken,daß wir in diesem seltenen Falle mit den Anschauungen Seiner Exzellenzvollauf und unbedingt einverstanden sind.

Weiter führt der Minister in seinem Brief „Beweise" für die Richtig-keit seiner „Informationen" an. Schöne Beweise sind das!

Erstens „der Brief eines Lehrers an einer Sonntagsschule, dessenName bisher nicht festgestellt werden konnte". Dieser Brief wurde beieiner Haussuchung beschlagnahmt. In ihm ist von einem Programm histo-rischer Vorlesungen, von der Idee der Versklavung und der Befreiung der

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Woran denken unsere 'Minister! , . 83

Stände die Rede, auch werden die Aufstände Rasins und Pugatschowserwähnt.

Es waren wohl diese Namen, die den biederen Minister so in Schreckenversetzt haben: ihm geisterten wahrscheinlich sofort die Heugabeln vorden Augen.

Der zweite Beweis:„Im Innenministerium liegt folgendes insgeheim beschaffte Programm

öffentlicher Vorlesungen für eine der Moskauer Sonntagsschulen vor:,Der Ursprung der Gesellschaft. Die Urgesellschaft. Die Entwicklung derGesellschaftsorganisation. Der Staat und wozu er nötig ist. Ordnung.Freiheit. Gerechtigkeit. Formen der Staatsordnung. Absolute Monarchieund konstitutionelle Monarchie. Die Arbeit als Grundlage der allge-meinen Wohlfahrt. Nutzen und Reichtum. Produktion, Austausch undKapital. Wie verteilt sich der Reichtum. Die Wahrnehmung des persön-lichen Interesses. Das Eigentum und seine Notwendigkeit. Die Befreiungder Bauern mit Landzuteilung. Grundrente, Profit, Arbeitslohn. Wovonhängt der Lohn ab und welche Lohnformen gibt es. Sparsamkeit.'

Vorlesungen, die nach diesem, für die Volksschulen absolut ungeeig-neten Programm gehalten werden, geben dem Lehrer durchaus die Mög-lichkeit, seine Hörer allmählich auch mit den Theorien von Karl Marx,Engels u. a. bekannt zu machen, wobei der von der Eparchialbehörde be-stimmte Vertreter, der dem Unterricht beiwohnt, wohl kaum in der Lagesein dürfte, die in den Vorlesungen enthaltenen Ansätze einer sozial-demokratischen Propaganda zu erkennen."

Der Herr Minister muß wohl vor den „Theorien von Marx undEngels" große Angst haben, wenn er „Ansätze" dieser Theorien sogar ineinem Programm entdeckt, in welchem keine Spur davon zu bemerkenist. Was hat der Minister in dem Programm „Ungeeignetes" gefunden?Wahrscheinlich die Frage nach den Formen der Staatsordnung und derVerfassung.

Nehmen Sie doch, Herr Minister, ein beliebiges Geographielehrbuch,und Sie werden dort diese Fragen vorfinden! Dürfen denn erwachseneArbeiter wirklich nicht wissen, was Kindern gelehrt wird?

Aber der Herr Minister hat kein Zutrauen zu den Vertretern derEparchialbehörde: „Sie werden wohl kaum verstehen, wovon die Redeist."

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Der Brief endet mit einer Liste „unzuverlässiger" Lehrer an der vonder Kirchengemeinde unterhaltenen Sonntagsschule für die MoskauerFabrik der Prochorower Manufaktur, an der Sonntagsschule in der StadtJelez und an einer geplanten Schule in Tiflis. Herr Durnowo gibt HerrnPobedonoszew den Rat, „sorgfältig jeden einzelnen zu prüfen, der zumUnterricht an den Schulen zugelassen wird." Läse man jetzt die Lehrer-liste, so stünden einem die Haare zu Berge: immerfort heißt es dort:ehemaliger Student, noch einmal ehemaliger Student, oder aber ehemaligeHochschülerin. Der Herr Minister möchte am liebsten die Lehrerstellenmit ehemaligen Unteroffizieren besetzt sehen.

Mit besonderem Schrecken stellt der Herr Minister fest, daß dieSchule in der Stadt Jelez „am jenseitigen Ufer der Sosna gelegen ist, wohauptsächlich einfaches Volk" (o Schreck!) „und Arbeiter wohnen undwo die Eisenbahnwerkstätten liegen".

Möglichst weit weg, möglichst weit weg vom „einfachen Volk und denArbeitern" sollen die Schulen gelegen sein.

Arbeiter! Ihr seht, welche tödliche Angst unsere Minister davor haben,daß das arbeitende Volk sich Wissen aneignet! Zeigt ihnen allen, daßkeine Macht der Welt den Arbeitern das Bewußtsein rauben kann! OhneWissen sind die Arbeiter wehrlos, wenn sie aber über Wissen verfügen,dann sind sie eine Macht!

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ENTWURF UND ERLÄUTERUNG DES PROGRAMMS

DER SOZIALDEMOKRATISCHEN PARTEI-»

(geschrieben im Qefängnis Der „Programmentwurf" wird nachin den Jahren i895 und 1896. einem Manuskript gedrudkt, dasZuerst veröffentlicht 1924. mit Qeheimtinte zwischen die

Zeiten eines Exemplars der Zeit-sdhrift „TJautsdhnoje Obosrenije"?Jr. 5, Jahrgang 1900, geschriebenwurde, die „Erläuterung des Pro-gramms" wird nadh einem bekto-graphierten lieft gedruckt.

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PROGRAMMENTWURF

A. 1. Immer schneller und schneller entwickeln sich in Rußland diegroßen Fabriken und Werke. Sie ruinieren die kleinen Kustare undBauern, machen sie zu besitzlosen Arbeitern und treiben immer mehrMenschen in die Städte, Fabrik- und Industriedörfer und -Siedlungen.

2. Dieses Wachstum des Kapitalismus bedeutet eine kolossale Zunahmevon Reichtum und Luxus einer Handvoll Fabrikanten, Kaufleute undGrundeigentümer und ein noch schnelleres Anwachsen der Armut undUnterdrückung der Arbeiter. Die in den großen Fabriken eingeführtenVerbesserungen im Produktionsprozeß und die Maschinen fördern dieProduktivität der gesellschaftlichen Arbeit und dienen dadurch der Ver-stärkung der Macht der Kapitalisten über die Arbeiter, sie vergrößerndie Arbeitslosigkeit und zugleich damit auch die Schutzlosigkeit derArbeiter.

3. Indem die großen Fabriken die Knechtung der Arbeit durch dasKapital auf die Spitze treiben, schaffen sie aber eine besondere Klasse vonArbeitern, die den Kampf gegen das Kapital zu führen imstande ist, weilihre Lebensbedingungen selbst alle ihre Bindungen an eine eigene Wirt-schaft zerstören, weil sie die Arbeiter durch die gemeinsame Arbeit ver-einen, sie von einer Fabrik in die andere treiben und dadurch die Massendes arbeitenden Volkes zusammenschweißen. Die Arbeiter nehmen denKampf gegen die Kapitalisten auf, und in ihren Reihen macht sich dasStreben nach Einigung immer stärker geltend. Aus den einzelnen Erhe-bungen der Arbeiter erwächst der Kampf der russischen Arbeiterklasse.

4. Dieser Kampf der Arbeiterklasse gegen die Kapitalistenklasse ist einKampf gegen alle von fremder Arbeit lebenden Klassen und gegen jeg-liche Ausbeutung. Er kann nur mit dem Übergang der politischen Macht

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88 W. 7. Lenin

in die Hände der Arbeiterklasse enden, mit der Übergabe des gesamtenBodens, der Werkzeuge, der Fabriken, Maschinen, Bergwerke in dieHände der ganzen Gesellschaft zwecks Organisierung der sozialistischenProduktion, bei der alles von den Arbeitern Geschaffene und alle Pro-duktionsverbesserungen den Werktätigen selbst zugute kommen.

5. Die Bewegung der russischen Arbeiterklasse bildet ihrem Charakterund Ziel nach einen Teil der internationalen (sozialdemokratischen) Be-wegung der Arbeiterklasse aller Länder.

6. Das Haupthindernis im Kampf der russischen Arbeiterklasse fürihre Befreiung ist die unumschränkte autokratische Regierung mit ihrendem Volke nicht verantwortlichen Beamten. Gestützt auf die Privilegiender Grundeigentümer und Kapitalisten und für deren Interessen tätig,hält sie die niederen Stände in völliger Rechtlosigkeit, legt dadurch derArbeiterbewegung Fesseln an und hemmt die Entwicklung des ganzenVolkes. Daher führt der Kampf der russischen Arbeiterklasse für ihreBefreiung mit Notwendigkeit zum Kampf gegen die unumschränkte Machtder autokratischen Regierung.

B. 1. Die russische sozialdemokratische Partei macht es sich zur Auf-gabe, der russischen Arbeiterklasse in diesem Kampf zu helfen, indem siedas Klassenbewußtsein der Arbeiter entwickelt, ihre Organisierung för-dert und ihnen die Ziele und Aufgaben des Kampfes weist.

2. Der Kampf der russischen Arbeiterklasse für ihre Befreiung ist einpolitischer Kampf, und seine erste Aufgabe ist die Erringung der poli-tischen Freiheit.

3. Deshalb wird die russische sozialdemokratische Partei, ohne sichvon der Arbeiterbewegung abzusondern, jede gesellschaftliche Bewegungunterstützen, die gegen die unumschränkte Macht der autokratischenRegierung, gegen die Klasse der privilegierten adligen Grundeigentümerund gegen alle die freie Konkurrenz einengenden Überreste der Leib-eigenschaft und des Ständewesens gerichtet ist.

4. Umgekehrt wird die russische sozialdemokratische Arbeiterparteialle Bestrebungen, die werktätigen Klassen mit der Bevormundung durchdie unumschränkte Regierung und ihre Beamten zu beglücken und dieEntwicklung des Kapitalismus, also auch die Entwicklung der Arbeiter-klasse, aufzuhalten, entschieden bekämpfen.

5. Die Befreiung der Arbeiter muß das Werk der Arbeiter selbst sein.

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Entwurf und Erläuterung des "Programms 89

6. Was das russische Volk braucht, ist nicht Hilfe von Seiten derunumschränkten Regierung und ihrer Beamten, sondern die Befreiung vonderen Joch.

C. Ausgehend von diesen Anschauungen, fordert die russische sozial-demokratische Partei vor allem:

1. Einberufung eines Semski Sobor [Nationalversammlung] aus Ver-tretern aller Bürger zwecks Ausarbeitung einer Verfassung.

2. Allgemeines und direktes Wahlrecht für alle russischen Bürger, diedas 21. Lebensjahr vollendet haben, ohne Unterschied des Glaubens-bekenntnisses und der Nationalität.

3. Versammlungs-, Koalitions- und Streikfreiheit.4. Pressefreiheit.5. Aufhebung der Stände und volle Gleichheit aller Bürger vor dem

Gesetz.6. Glaubensfreiheit und Gleichberechtigung aller Nationalitäten. Über-

gabe der Führung der Standesregister an selbständige, von der Polizeiunabhängige Zivilbeamte.

7. Jeder Bürger soll berechtigt sein, jeden beliebigen Beamten gericht-lich zu belangen, ohne mit der Beschwerde den Instanzenweg besdireitenzu müssen.

8. Aufhebung des Paßzwangs, volle Freizügigkeit.9. Gewerbefreiheit, Freiheit der Berufswahl und Abschaffung der Zünfte.D. Für die Arbeiter fordert die russische sozialdemokratische Partei:1. Einrichtung von Gewerbegerichten in allen Industriezweigen mit

zu gleichen Teilen von Kapitalisten und Arbeitern gewählten Richtern.2. Gesetzliche Beschränkung des Arbeitstages auf 8 Stunden.3. Gesetzliches Verbot der Nacht- und Schichtarbeit. Arbeitsverbot für

Kinder unter 15 Jahren.4. Gesetzliche Festlegung der Sonntags- und Feiertagsruhe.5. Ausdehnung der Fabrikgesetze und der Fabrikinspektion auf alle

Industriezweige in ganz Rußland, auf die staatlichen Fabriken wie auchauf alle in Hausarbeit beschäftigten Kustare.

6. Die Fabrikinspektion muß selbständig sein und darf nicht demFinanzministerium unterstehen. Die Mitglieder der Gewerbegerichteerhalten hinsichtlich der Kontrolle über die Einhaltung der Fabrikgesetzedie gleichen Rechte wie die Fabrikinspektion.

7 Lenin, Werte, Bd. 2

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90 W. J. Lenin

7. Unbedingtes, überall geltendes Verbot der Entlohnung in Waren.8. Gewählte Vertrauensleute der Arbeiter sollen die richtige Festsetzung

der Lohnsätze, die Ermittlung des Ausschusses, die Verwendung derStrafgelder und den Zustand der Fabrikwohnungen der Arbeiter über-wachen.

Ein Gesetz, wonach alle Abzüge vom Arbeitslohn, wofür diese aucherfolgen mögen (Strafen, Ausschuß u. a.), zusammengenommen 10 Ko-peken vom Rubel nicht überschreiten dürfen.

9. Ein Gesetz über die Verantwortlichkeit des Fabrikanten für jedenBetriebsunfall eines Arbeiters, mit der Verpflichtung für den Fabrikanten,ein Verschulden von Seiten des Arbeiters zu beweisen.

10. Ein Gesetz, das die Fabrikanten verpflichtet, Schulen zu unter-halten und den Arbeitern ärztliche Hilfe angedeihen zu lassen.

E. Für die Bauern fordert die russische sozialdemokratische Partei:1. Aufhebung der Ablösezahlungen29 und Entschädigung der Bauern

für bereits gezahlte Ablösegelder. Rückerstattung der von den Bauern andie Staatskasse zuviel abgeführten Gelder.

2. Rückgabe der im Jahre 1861 vom Bauernland „abgeschnittenen"Bodenstücke an die Bauern.

3. Volle Gleichstellung des Bauern- und Gutsbesitzerlandes in bezugauf Abgaben und Steuern.

4. Abschaffung der solidarischen Haftung30 und aller Gesetze, die dieVerfügungsgewalt der Bauern über ihren Boden einschränken.

ERLÄUTERUNG DES PROGRAMMS

Das Programm gliedert sich in drei Hauptteile. Im ersten Teil werdenalle Anschauungen dargelegt, aus denen sich die übrigen Teile des Pro-gramms ergeben. In ihm wird gezeigt, welche Stellung die Arbeiterklassein der modernen Gesellschaft einnimmt, welchen Sinn und welche Bedeu-tung ihr Kampf gegen die Fabrikanten hat und welche politische Stellungdie Arbeiterklasse im russischen Staate einnimmt.

Im zweiten Teil wird die Aufgabe der Partei dargelegt und gezeigt, inwelchem Verhältnis sie zu den anderen politischen Richtungen in Ruß-land steht. Hier wird dargetan, wie die Partei und alle Arbeiter, die sich

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Entwurf und Erläuterung des Programms 91

ihrer Klasseninteressen bewußt sind, zu wirken haben und wie sie sich zuden Interessen und Bestrebungen der anderen Klassen der russischenGesellschaft verhalten müssen.

Der dritte Teil enthält die praktischen Forderungen der Partei. DieserTeil gliedert sich in drei Abschnitte. Der erste Abschnitt enthält dieForderung der allgemeinen staatlichen Umgestaltungen, der zweite dieForderungen und das Programm der Arbeiterklasse, der dritte die Forde-rungen im Interesse der Bauern. Einige vorläufige Erläuterungen zu diesenAbschnitten werden wir weiter unten geben, bevor wir zum praktischenTeil des Programms selbst übergehen.

A 1. Das Programm spricht vor allem von der raschen Entwicklung dergroßen Fabriken und Werke, weil dies die wichtigste Erscheinung imheutigen Rußland ist, die alle alten Lebensbedingungen, insbesondere dieLebensbedingungen der werktätigen Klasse, von Grund auf ändert. Unterden alten Verhältnissen wurden nahezu alle Werte von Kleinbesitzernproduziert, welche die übergroße Mehrheit der Bevölkerung ausmachten.Die Bevölkerung saß unbeweglich in den Dörfern und erzeugte dengrößten Teil der Produkte entweder für den eigenen Bedarf oder für denbegrenzten Markt der umliegenden Ortschaften, der mit anderen, be-nachbarten Märkten wenig Verbindung hatte. Für die Gutsherren arbei-teten dieselben Kleinbesitzer, und die Gutsherren nötigten sie, haupt-sächlich für deren Bedarf zu produzieren. Die Hauserzeugnisse wurdenzur Verarbeitung an Handwerker weitergegeben, die ebenfalls in denDörfern lebten oder in der Umgebung umherzogen, um Aufträge zusammeln.

Nun haben sich aber seit der Bauernbefreiung diese Lebensbedin-gungen der Volksmassen völlig verändert; an die Stelle der kleinen Hand-werksbetriebe traten nach und nach große Fabriken, die außerordentlichschnell wuchsen; sie verdrängten die Kleinbesitzer, verwandelten diese inLohnarbeiter und nötigten Hunderte und Tausende von Arbeitern, ge-meinsam zu arbeiten und riesige Mengen von Waren herzustellen, die inganz Rußland abgesetzt werden;

Die Bauernbefreiung hat der Seßhaftigkeit der Bevölkerung ein Endegemacht und die Bauern dahin gebracht, daß sie von den ihnen ver-bliebenen Bodenstückchen nicht mehr leben konnten. Massen von Men-• sehen begaben sich auf die Suche nach einer Erwerbsmöglichkeit, strömten

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in die Fabriken und zum Bau der Eisenbahnen, die nun die verschiedenenEcken und Enden Rußlands miteinander verbanden und die Waren dergroßen Fabriken überallhin transportierten. Viele zogen auf Erwerb indie Städte und fanden dort Arbeit beim Bau von Fabrikgebäuden undHandelshäusern, beim Transport von Brennstoffen in die Fabriken undbei der Herstellung von Rohmaterialien für sie. Viele schließlich erhieltenvon Kaufleuten und Fabrikanten, die ihre Betriebe nicht schnell genugerweitern konnten, Aufträge für Hausarbeit. Ebensolche Veränderungenvollzogen sich in der Landwirtschaft; die Gutsbesitzer begannen Getreidefür den Verkauf zu produzieren, aus der Mitte der Bauern und Kauf-leute gingen landwirtschaftliche Großproduzenten hervor, Hunderte vonMillionen Pud Getreide wurden ins Ausland ausgeführt. Für die Produk-tion brauchte man Lohnarbeiter, und Hunderttausende und Millionen vonBauern gaben ihre kümmerlichen Bodenanteile auf und verdingten sichals Landarbeiter und Tagelöhner bei den neuen Landwirten, die Getreidefür den Verkauf erzeugten. Eben diese Veränderungen in den altenLebensbedingungen schildert das Programm, in dem es heißt, daß diegroßen Fabriken und Werke die kleinen Kustare und Bauern ruinierenund sie zu Lohnarbeitern machen. Die Kleinproduktion wird allerortsvon der Großproduktion abgelöst und in dieser Großproduktion sind dieArbeitermassen schon einfache Lohnarbeiter, die um Arbeitslohn für denKapitalisten arbeiten, der riesige Kapitalien besitzt, riesige Werkstättenerrichtet, eine Masse Material kauft und den ganzen Profit aus dieserMassenproduktion der gemeinschaftlich produzierenden Arbeiter in seineTasche steckt. Die Produktion ist zu einer kapitalistischen Produktiongeworden, die alle Kleinbesitzer unbarmherzig und schonungslos er-drückt, ihrem seßhaften dörflichen Leben ein Ende macht und sie zwingt,als ungelernte einfache Arbeiter das Land von einem Ende zum anderenzu durchwandern, um ihre Arbeit an das Kapital zu verkaufen. Einimmer größer werdender Teil der Bevölkerung wird dem Dorf und derLandwirtschaft endgültig entfremdet und strömt in den Städten, Fabrik-und Industriedörfern und -Siedlungen zusammen und bildet dort einebesondere Klasse von Menschen, die keinerlei Eigentum besitzen, dieKlasse der Lohnarbeiter oder Proletarier, die ausschließlich vom Verkaufihrer Arbeitskraft leben.

Darin bestehen also die gewaltigen Veränderungen im Leben des

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Entwurf und Erläuterung des Programms 93

Landes, die von den großen Fabriken und Werken verursacht wurden:die Kleinproduktion wird abgelöst von der Großproduktion, die Klein-besitzer verwandeln sich in Lohnarbeiter. Was aber bedeutet dieserWechsel für das ganze werktätige Volk, und wozu führt er? Geradedavon ist im Programm weiterhin die Rede.

A 2. Die Ablösung der Kleinproduktion durch die Großproduktion istdavon begleitet, daß an die Stelle der kleinen Geldmittel in der Handeinzelner Besitzer gewaltige Kapitalien, und an die Stelle der kleinen,geringfügigen Gewinne Millionenprofite treten. Deshalb führt die Ent-wicklung des Kapitalismus überall zu wachsendem Luxus und Reichtum.In Rußland ist eine ganze Klasse großer Finanzmagnaten, Fabrikanten,Eisenbahnunternehmer, Handelsherren und Bankiers, ist eine ganzeKlasse von Menschen entstanden, die von den Einkünften leben, die ihrean die Industriellen auf Zins ausgeliehenen Kapitalien abwerfen; dieGroßgrundbesitzer haben sich bereichert, indem sie den Bauern für denBoden hohe Ablösegelder abnahmen und sich deren Landhunger zunutzemachten, um den Preis für Pachtland in die Höhe zu treiben, und indemsie auf ihren Gütern große Rübenzuckerfabriken und Schnapsbrennereieneinrichteten. In allen diesen Klassen der Reichen haben Luxus und Ver-schwendung beispiellose Ausmaße angenommen, und die vornehmenStraßen der Großstädte sind umsäumt von ihren fürstlichen Palästen undluxuriösen Villen. Die Lage des Arbeiters aber hat sich in dem Maße,wie der Kapitalismus gewachsen ist, immer mehr verschlechtert. Selbstwenn die Löhne nach der Bauernbefreiung hier und da gestiegen sind,so nur sehr wenig und auf kurze Zeit, weil die Masse hungernder Men-schen, die aus dem Dorf herbeiströmte, den Preis der Arbeitskraft herab-drückte, während die Nahrungsmittel und sonstigen Gebrauchsgüter stän-dig teurer wurden, so daß schließlich die Arbeiter sogar bei höheremLohn über weniger Existenzmittel verfügten; es wurde immer schwierigerund schwieriger, einen Verdienst zu finden, und neben den Prachtbautender Reichen (oder am Stadtrand) wuchsen die Elendsquartiere der Ar-beiter, die genötigt sind, in Kellerwohnungen, in überfüllten, feuchtenund kalten Räumen, ja zuweilen auch einfach in Erdhütten bei denneuen Industrieanlagen zu hausen. Mit zunehmender Größe bedrücktedas Kapital die Arbeiter immer stärker, machte diese zu Bettlern, zwangsie, alle ihre Zeit für die Fabrik herzugeben, und trieb auch ihre Frauen

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94 ft>. 7. Lenin

und Kinder zur Arbeit. Somit sehen wir, worin die erste Veränderungbesteht, zu der das Wachstum des Kapitalismus führt: riesige Reichtümerhäufen sich in den Händen einer Handvoll Kapitalisten, während dieVolksmassen verarmen.

Die zweite Veränderung besteht darin, daß die Ablösung der Klein-produktion durch die Großproduktion zu vielen Verbesserungen in derProduktion geführt hat. Vor allem ist an die Stelle der vereinzelten, zer-splitterten Arbeit in jeder kleinen Werkstatt, bei jedem Kleinbesitzer fürsich, das Schaffen der vereinigten Arbeiter getreten, die gemeinsam ineiner Fabrik, bei einem Grundeigentümer, bei einem Unternehmer tätigsind. Die gemeinschaftliche Arbeit ist bedeutend wirkungsvoller (produk-tiver) als die Arbeit des einzelnen, sie ermöglicht es, die Waren bedeutendleichter und schneller herzustellen. Aber alle diese Verbesserungen machtsich lediglich der .Kapitalist zunutze, der die Arbeiter mit ihren eigenenGroschen bezahlt und sich allen Gewinn aus dem vereinigten Schaffen derArbeiter unentgeltlich aneignet. Der Kapitalist wird noch stärker undder Arbeiter noch schwächer, denn er gewöhnt sich an eine bestimmteArbeit, und es fällt ihm schwerer, zu einer anderen Arbeit überzugehen,die Beschäftigung zu wechseln.

Eine andere, bedeutend wichtigere Verbesserung in der Produktionsind die Maschinen, die der Kapitalist einführt. Die Wirksamkeit derArbeit verstärkt sich bei der Anwendung von Maschinen um ein Viel-faches; der Kapitalist aber kehrt diesen ganzen Vorteil gegen die Arbeiter:ausgehend davon, daß die Maschinen einen geringeren Aufwand an kör-perlicher Arbeit erheischen, stellt er Frauen und Kinder an die Maschinenund zahlt ihnen niedrigere Löhne. Ausgehend davon, daß bei maschinellerProduktion bedeutend weniger Arbeiter erforderlich sind, wirft er sie inMassen aus der Fabrik und macht sich die hieraus entstehende Arbeits-losigkeit zunutze, um den Arbeiter noch stärker zu unterdrücken, denArbeitstag zu verlängern, dem Arbeiter die Nachtruhe zu rauben undihn in ein einfaches Anhängsel der Maschine zu verwandeln. Die durchdie Maschinen hervorgerufene, beständig zunehmende Arbeitslosigkeitführt jetzt dazu, daß der Arbeiter völlig schutzlos ist. Seine Geschicklich-keit verliert ihren Wert, er ist leicht durch einen ungelernten Arbeiterzu ersetzen, der sich rasch an die Maschine gewöhnt und gern bereit ist,für niedrigeren Lohn zu arbeiten. Jede Regung zur Selbstwehr gegen

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Entwurf und Erläuterung des Programms 95

einen noch stärkeren Druck des Kapitals führt zu Entlassung. Als ein-zelner ist der Arbeiter völlig ohnmächtig gegenüber dem Kapital, dieMaschine droht ihn zu erdrücken.

A 3. In der Erläuterung zu dem vorhergehenden Punkt haben wir ge-zeigt, daß der einzelne Arbeiter dem Kapitalisten, der Maschinen an-wendet, ohnmächtig und schutzlos gegenübersteht. Um sich behauptenzu können, müssen die Arbeiter um jeden Preis nach Mitteln zum Wider-stand gegen den Kapitalisten suchen. Und ein solches Mittel finden sie inder Vereinigung. Ohnmächtig in der Vereinzelung, wird der Arbeiterdurch die Vereinigung mit seinen Arbeitskollegen zu einer Macht, die esihm möglich macht, gegen den Kapitalisten zu kämpfen und ihm Wider-stand zu leisten.

Die Vereinigung wird für den Arbeiter, der es schon mit dem Groß-kapital zu tun hat, zu einer Notwendigkeit. Kann man aber eine Masseeinander fremder, bunt zusammengewürfelter Menschen vereinigen,selbst wenn sie in ein und derselben Fabrik arbeiten? Das Programmzeigt die Voraussetzungen, welche die Arbeiter auf die Vereinigung vor-bereiten und in ihnen das Verständnis und die Fähigkeit für die Vereini-gung entwickeln. Diese Voraussetzungen sind die folgenden: 1. Die großeFabrik mit maschineller Produktion, die ständig, das ganze Jahr hindurdiArbeit erfordert, zerreißt endgültig die Bindung des Arbeiters an dieScholle und an die eigene Wirtsdiaft und madtt ihn gänzlich zum Prole-tarier. Die eigene Wirtschaft auf einem kleinen Stück Land aber hattedie Arbeiter voneinander getrennt, in jedem von ihnen ein gewissesSonderinteresse geweckt, das nicht mit den Interessen seines Nachbarnzusammenfiel, und war somit ihrer Vereinigung hinderlidi. Mit der Los-reißung des Arbeiters von der Scholle werden diese Hindernisse beseitigt.2. Weiter bringt die gemeinsame Arbeit Hunderter und Tausender vonArbeitern sie von ganz allein dazu, ihre Nöte gemeinsam zu besprechenund gemeinsam zu handeln, da sie ihnen anschaulich zeigt, daß die Lage unddie Interessen der gesamten Arbeiterschaft die gleichen sind. 3. Schließ-lich gewöhnen sich die Arbeiter durch ständigen Wechsel der Arbeits-stelle daran, die Verhältnisse und Zustände in verschiedenen Fabrikenaneinander zu messen, sie miteinander zu vergleichen, sie überzeugen sichdavon, daß die Ausbeutung in allen Fabriken die gleiche ist, sie lernendie Erfahrungen zu übernehmen, die andere Arbeiter bei ihren Konflikten

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mit dem Kapitalisten gesammelt haben, und all das stärkt ihren Zusam-menschluß, ihre Solidarität. Eben diese Bedingungen zusammengenom-men haben ja auch dazu geführt, daß die Entstehung der großen Fabrikenund Werke die Vereinigung der Arbeiter mit sich brachte. Unter denrussischen Arbeitern findet diese Vereinigung am häufigsten und am stärk-sten ihren Ausdruck in Streiks (warum die Vereinigung unserer Arbeiternicht die Form von Verbänden oder Arbeiterkassen annehmen kann,darüber werden wir weiter unten sprechen). Je stärker sich die großenFabriken und Werke entwickeln, desto häufiger, stärker und zäher wer-den die Arbeiterstreiks, und je stärker die Unterdrückung durch denKapitalismus ist, desto notwendiger ist die gemeinsame Abwehr seitensder Arbeiter. Streiks und einzelne Erhebungen der Arbeiter sind gegen-wärtig, wie das Programm sagt, die verbreitetste Erscheinung in denrussischen Fabriken. Aber in dem Maße, wie der Kapitalismus wächst unddie Streiks häufiger werden, erweisen sich diese als unzulänglich. DieFabrikanten verbünden sich gegen sie zu gemeinsamen Maßnahmen: sieholen sich Arbeitskräfte aus anderen Gebieten und wenden sich um Bei-stand an die Regierung, die ihnen hilft, den Widerstand der Arbeiter zuunterdrücken. Die Arbeiter haben es jetzt nicht mehr mit dem einzelnenFabrikanten einer einzelnen Fabrik zu tun, sie haben es schon mit derganzen 'Kapitalistenklasse zu tun samt der Regierung, die ihr Beistandleistet. Die ganze Kapitalistenklasse zieht gegen die ganze Arbeiterklassezu Felde, sucht nach gemeinsamen Maßnahmen gegen die Streiks, ver-langt von der Regierung Gesetze gegen die Arbeiter, verlegt Fabrikenund Werke in abgelegenere Gebiete, geht dazu über, Arbeit außer Hauszu vergeben und nimmt ihre Zuflucht zu tausenderlei Schlichen undKniffen gegen die Arbeiter. Die Vereinigung der Arbeiter einer einzelnenFabrik, ja selbst eines einzelnen Industriezweigs reicht aber nicht aus,um die ganze Kapitalistenklasse zurückzuschlagen, unbedingt notwendigwird das gemeinsame Vorgehen der ganzen Arbeiterklasse. Somit er-wächst aus den einzelnen Erhebungen der Arbeiter der Kampf der ganzenArbeiterklasse. Der Kampf der Arbeiter gegen die Fabrikanten wird zumKlassenkampf. Ein Interesse vereinigt alle Fabrikanten: die Arbeiter inihrer Botmäßigkeit zu halten und ihnen so wenig Lohn wie möglich zuzahlen. Die Fabrikanten sehen, daß sie ihre Sache nur durch gemeinsamesVorgehen der gesamten Fabrikantenklasse verfechten können, nur, wenn

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Entwurf und Erläuterung des Programms 97

sie auf die Staatsmacht Einfluß gewinnen. Die Arbeiter vereinigt ebenfallsein gemeinsames Interesse: sich nicht vom Kapital erdrücken zu lassen,ihr Recht auf Leben und auf ein menschenwürdiges Dasein zu behaupten.Und die Arbeiter gelangen gleichermaßen zu der Überzeugung, daß auchsie die Vereinigung brauchen, das gemeinsame Handeln der gesamtenKlasse - der Arbeiterklasse - , und daß es zu diesem Zweck notwendigist, auf die Staatsmacht Einfluß zu gewinnen.

A 4. Wir haben erklärt, wie und warum der Kampf der Fabrikarbeitergegen die Fabrikanten zum Klassenkampf wird, zum Kampf der Arbeiter-klasse - der Proletarier - gegen die Kapitalistenklasse - die Bourgeoisie.Es fragt sich nun, welche Bedeutung dieser Kampf für das ganze Volkund alle Werktätigen hat. Unter den heutigen Verhältnissen, von denenwir bereits in der Erläuterung zu Punkt 1 gesprochen haben, wird derKleinbetrieb immer mehr von der auf Lohnarbeit beruhenden Produktionverdrängt. Die Zahl der Menschen, die von Lohnarbeit leben, ist inraschem Wachstum begriffen - nicht nur die Zahl der ständigen Fabrik-arbeiter wächst, noch mehr wächst die Zahl der Bauern, die ebenfalls ge-zwungen sind, Lohnarbeit zu suchen, um leben zu können. Heute ist dieLohnarbeit, die Arbeit für den Kapitalisten, bereits zu der verbreitetstenForm der Arbeit geworden. Die Herrschaft des Kapitals über die Arbeithat sich über die Masse der Bevölkerung nicht nur in der Industrie, son-den auch in der Landwirtschaft ausgebreitet. Und eben diese Ausbeutungder Lohnarbeit, die der heutigen Gesellschaft zugrunde liegt, wird vonden großen Fabriken auf die Spitze getrieben. Die Ausbeutungsmethoden,die von allen Kapitalisten in allen Industriezweigen angewandt werdenund unter denen die gesamte Masse der Arbeiterbevölkerung Rußlandsleidet, werden hier, in der Fabrik, in eins zusammengefaßt und gestei-gert, sie werden zur ständigen Regel, erstrecken sich auf alle Seiten desSchaffens und des Lebens der Arbeiter und bilden ein ganzes System zurAuspressung des Arbeiters durch den Kapitalisten. Wir wollen das durchein Beispiel erläutern: immer und überall wird jeder, der eine Arbeitübernimmt, an den herkömmlichen Feiertagen der Arbeit fernbleibenund sich ausruhen. Ganz anders in der Fabrik: stellt die Fabrik einenArbeiter ein, so verfügt sie auch nach ihrem Gutdünken über ihn, ohnedie geringste Rücksicht auf seine Gewohnheiten, seine herkömmlicheLebensweise, seinen Familienstand, seine geistigen Bedürfnisse. Die

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Fabrik treibt ihn zur Arbeit, wann immer sie das nötig hat, sie zwingtihn, sein ganzes Leben ihren Anforderungen anzupassen, zwingt ihn,seine Ruhezeit zu zerstückeln und dort, wo Schichtarbeit besteht, sowohlnachts als auch an Feiertagen zu arbeiten. Die Fabrik greift zu jedemMißbrauch, den man sich hinsichtlich der Arbeitszeit nur vorstellen kann,und zu gleicher Zeit erläßt sie ihre „Bestimmungen", ihre „Betriebsord-nungen", die für jeden Arbeiter bindend sind. Die Fabrikordnung ist vonvornherein darauf abgestimmt, aus dem Arbeiter das ganze Arbeits-quantum, das er nur zu liefern vermag, herauszupressen, und das mög-lichst schnell, um ihn dann beiseite zu werfen! Ein anderes Beispiel. Jeder,der sich zur Arbeit verdingt, übernimmt natürlich die Verpflichtung, sichdem Unternehmer zu fügen und auszuführen, was man ihm aufträgt. Mitder Übernahme einer Verpflichtung zu zeitweiliger Arbeit aber gibt derArbeiter durchaus nicht seinen freien Willen auf; findet er eine Forderungdes Unternehmers ungerecht oder übertrieben, so verläßt er die Arbeits-stätte. Die Fabrik aber verlangt, daß der Arbeiter völlig auf seinen freienWillen verzichtet; sie schafft ihre eigene Disziplin und zwingt den Ar-beiter, auf ein Glockenzeichen hin die Arbeit zu beginnen und zu beenden,sie maßt sich das Recht an, den Arbeiter eigenmächtig zu bestrafen, undverhängt über ihn bei jeder Verletzung der von ihr selbst verfaßtenBestimmungen eine Geldstrafe bzw. einen Lohnabzug. Der Arbeiter wirdzum Teilstück einer gewaltigen Maschinerie: er soll ebenso widerspruchs-los, geknebelt und jedes eigenen Willens bar sein wie die Maschine.

Noch ein drittes Beispiel. Jeder, der sich zur Arbeit verdingt, findetimmer wieder Grund, mit seinem Unternehmer unzufrieden zu sein undihn vor Gericht oder bei den Behörden zu verklagen. Die Behörden wiedas Gericht entscheiden den Streit gewöhnlich zugunsten des Unter-nehmers, nehmen für ihn Partei, aber wenn sie den Interessen des Unter-nehmers Vorschub leisten, so beruht dies nicht auf allgemeinen Bestim-mungen oder Gesetzen, sondern auf der Gefälligkeit einzelner Beamter,die den Unternehmer manchmal mehr, manchmal weniger in Schutznehmen, die den Streitfall ungerechterweise zugunsten des Unternehmersentscheiden, entweder weil sie mit ihm bekannt sind oder auch, weil siedie Arbeitsbedingungen nicht kennen und nicht in der Lage sind, denArbeiter zu verstehen. Solche Ungerechtigkeit hängt in jedem einzelnenFall von dem jeweiligen Konflikt des Arbeiters mit dem Unternehmer

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und von dem jeweiligen Beamten ab. Die Fabrik dagegen vereinigt einesolche Masse von Arbeitern, treibt die Schikanen so auf die Spitze, daßes unmöglich wird, jeden Fall gesondert zu behandeln. Da werden allge-meine Bestimmungen ausgearbeitet, ein Gesetz über die Beziehungen derArbeiter zu den Fabrikanten wird erlassen, ein Gesetz, das für allebindend ist. In'diesem Gesetz ist die Begünstigung der Unternehmer-interessen bereits von der Staatsgewalt sanktioniert. An die Stelle der Un-gerechtigkeit einzelner Beamter tritt die zum Gesetz erhobene Ungerechtig-keit. Es wird beispielsweise die Bestimmung erlassen, daß der Arbeiterwegen Arbeitsversäumnis nicht nur den Lohn verliert, sondern auch nocheine Geldstrafe zahlen muß, während der Unternehmer, der den Ar-beiter zu Feierschichten zwingt, ihm nichts zu zahlen braucht; oder daßder Unternehmer den Arbeiter wegen Grobheit auf die Straße setzenkann, während der Arbeiter nicht das Recht hat, aus dem gleichen Grundedie Fabrik zu verlassen; daß der Unternehmer berechtigt ist, eigenmächtigGeldstrafen bzw. Lohnabzüge anzuordnen, Überstunden zu verlangenund dergleichen mehr.

Alle diese Beispiele zeigen uns, auf welche Weise die Fabrik die Aus-beutung der Arbeiter steigert und diese Ausbeutung zu einer allgemeinenErscheinung macht, sie zu einer förmlichen „Ordnung" erhebt. Der Ar-beiter hat es jetzt, ob er will oder nicht, nicht mehr mit dem einzelnenUnternehmer, mit dessen Willen und Schikanen zu tun, sondern mit derWillkür und Schikane der ganzen Unternehmeridasse. Der Arbeiter sieht,daß sein Unterdrücker nicht irgendein einzelner Kapitalist ist, sondern dieganze Kapitalistenklasse, da in allen Betrieben die gleiche Ausbeutungs-ordnung herrscht; der einzelne Kapitalist ist ja auch gar nicht in der Lage,von dieser Ordnung abzuweichen: ließe er es sich beispielsweise ein-fallen, die Arbeitszeit zu verkürzen, so würden seine Waren teurer wer-den als die seines Nachbarn, eines anderen Fabrikanten, der den Arbeiterzwingt, für das gleiche Geld länger zu arbeiten. Will der Arbeiter eineVerbesserung seiner Lage erreichen, so hat er jetzt die ganze, auf dieAusbeutung der Arbeit durch das Kapital abzielende Gesellschaftsord-nung gegen sich. Der Arbeiter hat es jetzt nicht mehr mit einzelnenUngerechtigkeiten eines einzelnen Beamten zu tun, sondern mit der Un-gerechtigkeit der Staatsmacht überhaupt, die die ganze Kapitalistenklassein Schutz nimmt und zu Nutz und Frommen dieser Klasse allgemein ver-

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bindliche Gesetze erläßt. Somit wird der Kampf der Fabrikarbeiter gegendie Fabrikanten unvermeidlich zu einem Kampf gegen die ganze Kapi-talistenklasse, gegen die gesamte, auf der Ausbeutung der Arbeit durchdas Kapital beruhenden Gesellschaftsordnung. Eben deshalb erlangt derKampf der Arbeiter gesellschaftliche Bedeutung, wird zu einem Kampfim Namen aller Werktätigen gegen alle Klassen, die von fremder Arbeitleben. Deshalb leitet der Kampf der Arbeiter eine neue Epoche derrussischen Geschichte ein und kündigt die Befreiung der Arbeiter an.

Worauf aber beruht die Herrschaft der Kapitalistenklasse über diegesamte Masse des arbeitenden Volkes? Darauf, daß alle Fabriken,Werke, Gruben, Maschinen und Arbeitsinstrumente in den Händen derKapitalisten, daß sie ihr Privateigentum sind; darauf, daß ihnen gewaltigeBodenflächen gehören (über ein Drittel des gesamten Grund und Bodensim Europäischen Rußland gehört Grundeigentümern, deren Zahl niditeinmal eine halbe Million ausmacht). Da die Arbeiter selber keinerleiArbeitsinstrumente und Materialien besitzen, müssen sie ihre Arbeits-kraft an die Kapitalisten verkaufen, die ihnen nur soviel bezahlen, wiezu ihrem Unterhalt notwendig ist, während sie den ganzen, im Prozeßder Arbeit produzierten Überschuß in die eigene Tasche stecken; sie be-zahlen somit nur einen Teil der von den Arbeitern aufgewandten Ar-beitszeit und eignen sich den übrigen Teil an. Der ganze wachsende Reich-tum, der sich aus der vereinigten Arbeit einer großen Zahl von Arbeiternoder aus Produktionsverbesserungen ergibt, kommt der Kapitalistenklassezugute; die Arbeiter aber, die von Generation zu Generation schuften,bleiben die gleichen besitzlosen Proletarier. Deshalb gibt es nur einMittel, um der Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital ein Ende zumachen: das Privateigentum an den Arbeitsinstrumenten abzuschaffen,alle Fabriken, Werke, Gruben, ebenso alle großen Güter usw. in dieHände der ganzen Gesellschaft zu legen und zu gemeinschaftlicher sozia-listischer Produktion überzugehen, die von den Arbeitern selbst geleitetwird. Die in gemeinschaftlicher Arbeit erzeugten Produkte werden dannden Werktätigen selbst zugute kommen, und der von ihnen über dieMittel zur Deckung ihres Unterhalts hinaus erzeugte Überschuß wirddazu dienen, die Bedürfnisse der Arbeiter selbst zu befriedigen, damit siealle ihre Fähigkeiten voll entfalten und alle Errungenschaften der Wissen-schaft und der Kunst gleichberechtigt nutzen können. Im Programm wird

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daher auch gesagt, daß der Kampf der Arbeiterklasse gegen die Kapi-talisten nur so enden kann. Dazu aber muß die politische Macht, d. h. dieMacht, die den Staat lenkt, aus den Händen einer Regierung, die unterdem Einfluß der Kapitalisten und der Grundeigentümer steht, oder ausden Händen einer Regierung, die unmittelbar aus gewählten Vertreternder Kapitalisten besteht, in die Hände der Arbeiterklasse übergehen.

Das ist das Endziel des Kampfes der Arbeiterklasse, das ist die Voraus-setzung für ihre völlige Befreiung. Dieses Endziel müssen die klassen-bewußten, organisierten Arbeiter anstreben; bei uns in Rußland stoßensie jedoch noch auf gewaltige Hindernisse, die dem Kampf für ihre Be-freiung im Wege stehen.

A 5. Gegen die Herrschaft der Kapitalistenklasse stehen heute bereitsdie Arbeiter aller europäischen Länder und darüber hinaus die ArbeiterAmerikas und Australiens im Kampf. Die Vereinigung der Arbeiterklasse,ihr Zusammenschluß, beschränkt sich nicht auf die Grenzen eines Landesoder auf eine Nationalität: die Arbeiterparteien verschiedener Staatenverkünden laut und vernehmlich die völlige Übereinstimmung (Soli-darität) der Interessen und Ziele der Arbeiter der ganzen Welt. Sie kom-men zu Kongressen zusammen, stellen gemeinsame Forderungen an dieKapitalistenklasse aller Länder auf, führen einen internationalen Feier-tag des ganzen vereinten, nach seiner Befreiung strebenden Proletariats(den 1. Mai) ein und schließen die Arbeiterklasse aller Nationalitätenund aller Länder zu einer einzigen großen Arbeiterarmee zusammen.Digse Vereinigung der Arbeiter aller Länder ist eine Notwendigkeit, da-durch hervorgerufen, daß die über die Arbeiter herrschende Kapitalisten-klasse ihre Herrschaft nicht auf ein einzelnes Land beschränkt. Die Han-delsbeziehungen zwischen den verschiedenen Staaten werden immerenger und weiten sich immer mehr aus; das Kapital fließt beständig auseinem Land ins andere. Die Banken, diese gewaltigen Schatzkammern vonKapitalien, die sie aus aller Welt zusammentraten und den Kapitalistenals Darlehen vorstrecken, verwandeln sich aus Nationalbanken in inter-nationale Banken, sie fassen die Kapitalien aus allen Ländern zusammenund verteilen sie an die Kapitalisten Europas und Amerikas. RiesigeAktiengesellschaften werden gegründet, die nicht mehr bloß in einemLande, sondern in mehreren Ländern zugleich kapitalistische Betriebe ein-richten; es entstehen internationale Kapitalistenverbände. Die Herrschaft

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des Kapitals ist international. Das ist der Grund, weshalb auch der Kampfder Arbeiter aller Länder für ihre Befreiung nur dann Erfolg habenkann, wenn die Arbeiter gemeinsam gegen das internationale Kapital vor-gehen. Das ist der Grund, weshalb der deutsche Arbeiter ebenso wie derpolnische und der französische Arbeiter dem russischen Arbeiter in sei-nem Kampf gegen die Kapitalistenklasse als Genosse -zur Seite steht,genauso wie die russischen, polnischen und französischen Kapitalistenauch seine Feinde sind. So legen ausländische Kapitalisten in der letztenZeit ihre Kapitalien besonders gern in Rußland an, richten in RußlandZweigstellen ihrer Fabriken und Werke ein und gründen Gesellschaftenzur Schaffung neuer Betriebe in Rußland. Gierig stürzen sie sich auf dasjunge Land, wo die Regierung dem Kapital so wohlgeneigt und gefälligist wie nirgends sonst, wo sie Arbeiter vorfinden, die weniger organisiertund weniger abwehrfähig sind als im Westen, und wo das Lebensniveauder Arbeiter, damit also auch ihr Arbeitslohn, bedeutend niedriger ist, sodaß die ausländischen Kapitalisten riesige, in ihrem Heimatland nie da-gewesene Profite einstreichen können. Das internationale Kapital hatschon seine Hand auch nach Rußland ausgestreckt. Die russischen Ar-beiter strecken ihre Hände der internationalen Arbeiterbewegung ent-gegen.

A 6. Wir haben schon davon gesprochen, wie die großen Fabriken undWerke die Unterjochung der Arbeit durch das Kapital auf die Spitzetreiben, wie sie ein ganzes System von Ausbeutungsmethoden schaffen,wie die Arbeiter, wenn sie sich gegen das Kapital erheben, unweigerlichdie Notwendigkeit der Vereinigung aller Arbeiter, die Notwendigkeit desgemeinsamen Kampfes der gesamten Arbeiterklasse einsehen. In diesemKampf gegen die Kapitalistenklasse kollidieren die Arbeiter mit den all-gemeinen Gesetzen des Staates, die die Kapitalisten und ihre Interessenschützen.

Wenn nun die vereinten Arbeiter stark genug sind, um den KapitalistenZugeständnisse abzuringen, ihnen Widerstand zu leisten, so könnten siedoch genauso durch ihre Vereinigung auf die Gesetze des Staates Einflußnehmen und deren Änderung fordern. Das tun auch die Arbeiter alleranderen Länder, die russischen Arbeiter aber können nicht direkt auf denStaat einwirken. Die Arbeiter sind in Rußland in Verhältnisse versetzt, indenen sie der elementarsten Bürgerrechte beraubt sind. Sie wagen es nicht,

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sich zu versammeln und ihre Angelegenheiten gemeinsam zu besprechen,Verbände zu gründen und ihre Meinungsäußerungen drucken zu lassen,mit anderen Worten - die Gesetze des Staates sind nicht nur im Interesseder Kapitalistenklasse abgefaßt, sie machen es den Arbeitern direkt un-möglich, auf sie Einfluß zu nehmen und ihre Abänderung zu erwirken.Das kommt daher, daß sich in Rußland (und zwar von allen europäischenStaaten allein in Rußland) bis zum heutigen Tage die unumschränkteMacht einer autokratischen Regierung erhalten hat, das heißt eine Staats-ordnung, bei der allein der Zar das Recht hat, nach seinem Gutdünkenfür das ganze Volk verbindliche Gesetze zu erlassen, und bei der zurVollstreckung dieser Gesetze nur die von ihm ernannten Beamten er-mächtigt sind. Die Bürger haben keine Möglichkeit, an dem Zustande-kommen der Gesetze, an ihrer Erörterung, an der Einbringung neuerGesetze oder an der Forderung nach Aufhebung alter Gesetze mitzu-wirken. Sie haben kein Recht, von den Beamten Rechenschaft zu ver-langen, ihre Tätigkeit zu kontrollieren und sie gerichtlich zu belangen.Die Bürger haben nicht einmal das Recht, Staatsangelegenheiten zu erörtern: sie dürfen nicht ohne Genehmigung besagter Beamter Versamm-lungen einberufen oder Verbände gründen. Die Beamten sind daher imwahrsten Sinne des Wortes ohne Verantwortung; sie bilden gleichsameine besondere Kaste, die über die Bürger gesetzt ist. Die Verantwortungs-losigkeit und Willkür der Beamten und die Tatsache, daß die Bevölkerungselbst nirgends zu Worte kommen kann, führen zu derart himmel-schreienden Mißbräuchen der Amtsgewalt durch die Beamten und zueiner derartigen Entrechtung des einfachen Volkes, wie sie kaum in einemanderen europäischen Lande möglich sind.

Somit herrscht die russische Regierung nach dem Gesetz völlig unum-schränkt, sie gilt gleichsam als vom Volke völlig unabhängig, als überallen Ständen und Klassen stehend. Wenn dem aber wirklich so wäre,warum stellen sich dann Gesetz und Regierung bei allen Konflikten derArbeiter mit den Kapitalisten auf die Seite der Kapitalisten? Warumfinden die Kapitalisten, je mehr ihre Zahl zunimmt und ihr Reichtumsich vergrößert, auch immer mehr Unterstützung, während die Arbeiterin zunehmendem Maße auf Widerstände und Einschränkungen stoßen?

In Wirklichkeit steht die Regierung nicht über den Klassen, sondernbeschützt eine Klasse gegen die andere, schützt die Klasse der Besitzenden

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gegen die Besitzlosen, die Kapitalisten gegen die Arbeiter. Die unum-schränkte Regierung wäre auch gar nicht in der Lage, einen so riesigenStaat zu leiten, wenn sie den besitzenden Klassen nicht alle möglichenVorrechte und Vergünstigungen einräumte.

Obwohl die Regierung nach dem Gesetz eine unumschränkte und un-abhängige Macht ist, können die Kapitalisten und Grundeigentümer inder Praxis mit tausenderlei Methoden auf die Regierung und die Staats-angelegenheiten einwirken. Sie haben ihre eigenen, gesetzlich anerkanntenStandeseinrichtungen, Adels- und Kaufmannsvereinigungen, Komitees fürHandel und Manufakturen und dergleichen mehr. Ihre gewählten Ver-treter werden entweder direkt Beamte und nehmen an der Leitung desStaates teil (beispielsweise die Adelsmarschälle), oder sie werden in alleRegierungsinstitutionen als Mitglieder zugezogen: so sitzen z. B. lautGesetz Fabrikanten in den Fabrikkammern (den vorgesetzten Behördenfür die Fabrikinspektion), wohin sie ihre Vertreter wählen. Jedoch be-schränken sie sich nicht auf diese direkte Teilnahme an der Leitung desStaates. In ihren Vereinigungen beraten sie über die Gesetze des Staates,arbeiten Gesetzentwürfe aus, und die Regierung pflegt bei jedem Anlaßihre Meinung einzuholen, sie legt ihnen die verschiedensten Entwürfe vorund ersucht sie, dazu ihre Vorschläge zu machen.

Die Kapitalisten und Grundeigentümer berufen gesamtrussische Kon-gresse ein, auf denen sie ihre Angelegenheiten beraten und Maßnahmenzum Nutzen ihrer Klasse ausfindig machen, im Namen aller adligenGutsbesitzer oder der „allrussischen Kaufmannschaft" kommen sie umden Erlaß neuer Gesetze oder um die Abänderung alter ein. Sie könnenihre Interessen in den Zeitungen behandeln, denn wie sehr auch dieRegierung der Presse durch die Zensur Einschränkungen auferlegt, siewürde sich niemals erlauben, den besitzenden Klassen das Recht zurErörterung ihrer Angelegenheiten zu nehmen. Durch die verschiedenstenVerbindungen und Kanäle erhalten sie Zutritt zu den höchsten Repräsen-tanten der Staatsmacht, so daß sie die Willkür der unteren Beamten leich-ter zur Sprache bringen können und es ihnen nicht schwerfällt, die Auf-hebung ihnen besonders lästiger Gesetze und Bestimmungen durchzusetzen.Und wenn es in keinem Lande der Welt so viele Gesetze und Bestim-mungen, eine so beispiellose polizeiliche Bevormundung von Seiten derRegierung gibt, die für jede Kleinigkeit Vorschriften erläßt und jede

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lebendige Regung in Bürokratismus erstickt - so werden auch in keinemLande der Welt diese bürgerlichen Regeln nur durch gnädige Zustim-mung der hohen Obrigkeit so leicht verletzt und diese Polizeibestim-mungen so leicht umgangen. Und diese gnädige Zustimmung wird niemalsversagt.31

B 1. Dieser Programmpunkt ist der wichtigste, ist der Hauptpunkt,weil er zeigt, worin die Tätigkeit der die Interessen der Arbeiterklassevertretenden Partei, die Tätigkeit aller klassenbewußten Arbeiter zu be-stehen hat. Dieser Punkt zeigt auf, wie die sozialistischen Bestrebungen,die Bestrebungen zur Abschaffung der seit unvordenklichen Zeiten be-stehenden Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zusammen-fließen müssen mit der Volksbewegung, die von den durch die großenFabriken und Werke geschaffenen Lebensbedingungen hervorgebrachtwird.

Die Tätigkeit der Partei muß darin bestehen, den Klassenkampf derArbeiter zu fördern. Die Aufgabe der Partei besteht nicht darin, sichirgendwelche modischen Mittel zur Unterstützung der Arbeiter auszu-denken, sondern darin, sich mit der Arbeiterbewegung zusammenzu-schließen, ihr Erkenntnisse zu vermitteln, den Arbeitern in diesem Kampf,den sie bereits von sich aus eingeleitet haben, beizustehen. Aufgabe derPartei ist es, die Interessen der Arbeiter zu verfechten und die Interessender gesamten Arbeiterbewegung zu vertreten. Worin soll sich nun dieHilfe für den Kampf der Arbeiter äußern?

Das Programm besagt, daß diese Hilfe erstens in der Entwicklung desKlassenbewußtseins der Arbeiter bestehen muß. Wie der Kampf derArbeiter gegen die Fabrikanten zum Klassenkampf des Proletariats gegendie Bourgeoisie wird, darüber haben wir bereits gesprochen.

Aus dem, was wir in jenem Zusammenhang gesagt haben, geht hervor,was unter Klassenbewußtsein der Arbeiter zu verstehen ist. Klassen-bewußtsein der Arbeiter ist das Verständnis dafür, daß das einzige Mittelzur Verbesserung ihrer Lage und zur Erkämpfung ihrer Freiheit derKampf gegen die mit den großen Fabriken und Werken aufgekommeneKlasse der Kapitalisten und Fabrikanten ist. Klassenbewußtsein der Ar-beiter heißt ferner zu begreifen, daß die Interessen aller Arbeiter desbetreffenden Landes die gleichen sind, daß sie solidarisch sind, daß dieArbeiter alle miteinander eine einheitliche, von allen übrigen Gesell-

8 Lenin, Werke, Bd. 2

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schaftsklassen gesonderte Klasse bilden. Schließlich heißt Klassenbewußt-sein der Arbeiter zu verstehen, daß sie, um ihre Ziele durchzusetzen,Einfluß auf die Staatsangelegenheiten erlangen müssen, wie die Grund-eigentümer und Kapitalisten sich ihn verschafft haben und weiter ver-schaffen.

Wie können nun die Arbeiter dazu gelangen, alles das zu begreifen?Die Arbeiter können das, wenn sie fortwährend aus den Erfahrungeneben des Kampfes schöpfen, den sie gegen die Fabrikanten zu führenbeginnen und der sich immer mehr entfaltet, immer erbitterter wird undin dem Maße, wie die großen Fabriken und Werke entstehen, eine immergrößere Anzahl von Arbeitern umfaßt. Es gab eine Zeit, da sich dieFeindschaft der Arbeiter gegen das Kapital nur in einem dumpfen Gefühldes Hasses gegen ihre Ausbeuter äußerte, in dem dumpfen Bewußtseinihrer Unterjochung und Versklavung und in dem Wunsch, sich an denKapitalisten zu rädhen. Damals äußerte sich der Kampf in einzelnen Er-hebungen der Arbeiter; sie zerstörten Fabrikgebäude, demolierten Ma-schinen, verprügelten die Fabrikleiter und dergleichen mehr. Das wardie erste, die Anfangsform der Arbeiterbewegung, und sie war not-wendig, weil der Haß gegen den Kapitalisten immer und überall der ersteImpuls gewesen ist, der in den Arbeitern das Streben zur Selbstver-teidigung geweckt hat. Aber dieser ursprünglichen Form ist die russischeArbeiterbewegung bereits entwachsen. An die Stelle dumpfen Hassesgegen den Kapitalisten tritt bereits das Verständnis der Arbeiter für dieFeindschaft zwischen den Interessen der Arbeiterklasse und denen derKapitalistenklasse. Anstatt ihre Knechtschaft bloß unklar zu empfinden,haben sie bereits zu verstehen begonnen, womit und wie das Kapital sieunterdrückt, und sie lehnen sich gegen diese oder jene Form der Knecht-schaft auf, setzen dem Druck des Kapitals bestimmte Sdiranken undwehren sich gegen die Profitgier des Kapitalisten. Anstatt sich an denKapitalisten zu rächen, gehen sie jetzt zum Kampf um Zugeständnisseüber, beginnen sie der Kapitalistenklasse eine Forderung nach der ande-ren zu stellen und verlangen verbesserte Arbeitsbedingungen, höherenLohn, verkürzten Arbeitstag. Jeder Streik konzentriert alle Aufmerk-samkeit und alle Anstrengungen der Arbeiter einmal auf diese, dann aufjene Seite der Verhältnisse, in die die Arbeiterklasse gestellt ist. JederStreik führt dazu, daß diese Verhältnisse diskutiert werden und hilft den

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Arbeitern, sie richtig zu beurteilen und herauszufinden, worin hier derDruck des Kapitals besteht, mit welchen Mitteln man gegen diesen Druckkämpfen kann. Jeder Streik bereichert die Erfahrungen der gesamtenArbeiterklasse. Ist ein Streik erfolgreich, so zeigt er ihr, welche Kraft inder Vereinigung der Arbeiter liegt, und spornt andere Arbeiter dazu an,sich den Erfolg ihrer Arbeitskollegen zunutze zu machen. Bleibt der Erfolgaus, so bewirkt der Streik, daß die Ursachen des Mißerfolgs erörtert undbessere Kampfmethoden gesucht werden. In diesem Übergang der Ar-beiter zum unentwegten Kampf für ihre dringenden Forderungen, zumKampf für Zugeständnisse, für bessere Lebensbedingungen, höherenLohn und kürzeren Arbeitstag, wie er jetzt überall in Rußland begonnenhat, besteht der gewaltige Schritt vorwärts, den die russischen Arbeitergetan haben, und auf diesen Kampf, auf die Unterstützung diesesKampfes muß daher die Hauptaufmerksamkeit der SozialdemokratischenPartei und aller klassenbewußten Arbeiter gelenkt werden. Die Unter-stützung der Arbeiter muß darin bestehen, sie auf die dringendstenErfordernisse hinzuweisen, deren Befriedigung durch den Kampf er-reicht werden soll, ferner darin, die Ursachen zu untersuchen, welche dieLage dieser oder jener Arbeiter besonders verschlechtern, schließlich darin,die Fabrikgesetze und -bestimmungen zu erläutern, deren Verletzung(samt den betrügerischen Schlichen der Kapitalisten) so häufig dazu führt,daß die Arbeiter einer doppelten Ausplünderung zum Opfer fallen. DieUnterstützung muß darin bestehen, die Forderungen der Arbeiter ge-nauer und bestimmter zu formulieren und sie öffentlich zu verkünden,weiter darin, den geeignetsten Zeitpunkt für den Widerstand zu wählen,und endlich darin, sich über die Kampfmethode schlüssig zu werden, dieLage und das Kräfteverhältnis der beiden streitenden Parteien zu er-örtern und zu erwägen, ob es nicht möglich wäre, eine noch bessereKampf methode zu wählen (so vielleicht ein Schreiben an den Fabrikantenzu richten oder, je nach den Umständen, sich an den Inspektor bzw. anden Arzt zu wenden, wenn es nicht zweckmäßig scheint, direkt in denStreik zu treten usw.).

Wir haben gesagt, daß der Übergang der russischen Arbeiter zu diesemKampf ein Zeichen dafür ist, welch riesigen Schritt sie vorangekommensind. Dieser Kampf bringt (führt) die Arbeiterbewegung auf den richtigenWeg und ist ein sicheres Unterpfand ihres weiteren Erfolges. Aus diesem

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Kampf lernen die Massen des arbeitenden Volkes erstens, die Methodender kapitalistischen Ausbeutung eine nach der anderen erkennen undanalysieren, lernen sie, diese Methoden sowohl zum Gesetz als auchzu den eigenen Lebensbedingungen und zu den Interessen der Kapi-talistenklasse in Beziehung zu bringen. Analysieren sie die einzelnenFormen und Fälle der Ausbeutung, so lernen die Arbeiter Bedeutung undWesen der Ausbeutung in ihrer Gesamtheit verstehen, lernen sie dieauf der Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital beruhende Gesell-schaftsordnung begreifen. Zweitens erproben die Arbeiter in diesemKampf ihre Kräfte, sie lernen, sich vereinigen, lernen begreifen, wie not-wendig und wichtig die Vereinigung ist. Breitet sich dieser Kampf ausund häufen sich die Konflikte, so führt das unweigerlich dazu, daß sichder Kampf zunächst unter den Arbeitern des betreffenden Gebietes unddann unter den Arbeitern des ganzen Landes, in der gesamten Arbeiter-klasse, verstärkt, daß unter ihnen das Gefühl der Zusammengehörigkeitund der Solidarität wächst. Drittens entwickelt dieser Kampf das poli-tische Bewußtsein der Arbeiter. Die Masse des arbeitenden Volkes istdurch ihre ganzen Lebensbedingungen in eine Lage versetzt, in der sieweder Zeit noch Möglichkeit hat, über irgendwelche Staatsprobleme nach-zudenken. Aber der Kampf gegen die Fabrikanten für ihre dringendstenForderungen führt die Arbeiter ganz von selbst und unvermeidlich anstaatliche und politische Probleme heran, läßt sie fragen, wie der russischeStaat regiert wird, wie Gesetze und Bestimmungen erlassen werden undwessen Interessen sie dienen. Jeder Konflikt in einer Fabrik führt not-wendig dazu, daß die Arbeiter mit den Gesetzen und mit den Vertreternder Staatsmacht in Konflikt kommen. Die Arbeiter hören hier zum ersten-mal „politische Reden". Anfänglich vielleicht nur von den Fabrikinspek-toren, die ihnen zu erläutern versuchen, daß die Machenschaften, mitderen Hilfe der Fabrikant das Letzte aus ihnen herausgepreßt hat, denvon zuständiger Stelle bestätigten Bestimmungen voll entsprechen, diees der Willkür des Fabrikanten anheimstellen, den Arbeitern das Markaus den Knochen zu saugen, oder daß die Schikanen des Fabrikantenvöllig rechtmäßig seien, weil der Fabrikant nur von seinem Recht Ge-brauch macht, sich auf dies und jenes Gesetz stützt, das von der Regierungbestätigt ist und von ihr geschützt wird. Zu den politischen Erläuterungender Herren Inspektoren gesellen sich zuweilen noch nützlichere „politische

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Erläuterungen" des Herrn Ministers, der die Arbeiter an die Gefühle„christlicher Nächstenliebe" gemahnt, die sie den Fabrikanten entgegen-bringen müssen, weil die Fabrikanten an dem Fleiße der Arbeiter Mil-lionen verdienen. Zu diesen Erläuterungen aus dem Munde der Ver-treter der Staatsmacht und zu den unmittelbaren Erfahrungen derArbeiter darüber, zu wessen Nutzen diese Macht ausgeübt wird, kommendann noch Flügblätter oder andere Erläuterungen der Sozialisten hinzu,so daß die Arbeiter in einem solchen Streik bereits ihre durchaus poli-tische Erziehung durchmachen. Sie lernen nicht nur die besonderen InterT

essen der Arbeiterklasse verstehen, sondern auch erkennen, welchen be-sonderen Platz die Arbeiterklasse im Staate einnimmt. Die Hilfe, welchedie sozialdemokratische Partei dem Klassenkampf der Arbeiter erweisenkann, muß also in folgendem bestehen: sie muß das Klassenbewußtseinder Arbeiter entwickeln, indem sie ihnen im Kampfe für ihre dringendstenForderungen beisteht.

Zweitens muß die Wlfe, wie es im Programm heißt, darin bestehen,die Organisierung der Arbeiter zu fördern. Der Kampf, den wir soebengeschildert haben, erfordert notwendig die Organisierung der Arbeiter.Organisation wird notwendig sowohl für die erfolgreichere Durchführungeines Streiks, als auch für Geldsammlungen zugunsten der Streikenden,sowohl für die Gründung von Arbeiterkassen als auch für die Agitationunter den Arbeitern, für die Verbreitung von Flugblättern oder Bekannt-machungen und Aufrufen und dergleichen mehr. Noch notwendiger istOrganisation,- um sich gegen Verfolgungen seitens der Polizei undGendarmerie zu schützen, um alle Vereinigungen der Arbeiter, alle ihreVerbindungen vor ihnen geheimzuhalten, um die Belieferung der Arbeitermit Büchern, Broschüren, Zeitungen usw. in die Wege zu leiten. Hilfe beialledem - das ist die zweite Aufgabe der Partei.

Die dritte Aufgabe besteht darin, das wahre Ziel des Kampfes zuweisen, d. h. den Arbeitern zu erklären, worin die Ausbeutung der Arbeitdurch das Kapital besteht, worauf sie beruht, wie das Privateigentum anGrund und Boden und an den Arbeitsinstrumenten dazu führt, daß dieArbeitermassen bettelarm sind, wie es sie zwingt, ihre Arbeit an dieKapitalisten zu verkaufen und ihnen alles, was der Arbeiter über das zurDeckung seines Unterhalts Notwendige hinaus produziert, umsonst ab-zutreten, ihnen ferner zu erklären, wie diese Ausbeutung unabwendbar

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zum Klassenkampf der Arbeiter gegen die Kapitalisten führt, welches dieBedingungen dieses Kampfes und seine Endziele sind - mit einem Wort,ihnen das zu erklären, was in diesem Programm kurz dargelegt wor-den ist.

B 2. Was heißt das: der Kampf der Arbeiterklasse sei ein politischerKampf? Das bedeutet, daß die Arbeiterklasse den Kampf um ihre Be-freiung nicht führen kann, ohne sich Einfluß auf die Staatsangelegenheiten,auf die Lenkung des Staates, auf den Erlaß von Gesetzen zu verschaffen.Die russischen Kapitalisten haben schon längst begriffen, wie notwendigdieser Einfluß ist, und wir haben gezeigt, auf welche Weise sie es allenVerboten durch die Polizeigesetze zum Trotz verstanden haben, mittausenderlei Mitteln Einfluß auf die Staatsmacht zu nehmen, und wiediese Macht den Interessen der Kapitalistenklasse dient. Hieraus folgtganz von selbst, daß auch die Arbeiterklasse ihren Kampf nicht andersführen kann, daß sie sogar eine dauerhafte Verbesserung ihres Losesnicht anders erreichen kann als dadurch, daß sie Einfluß auf die Staats-macht gewinnt.

Wir haben bereits gesagt, daß der Kampf der Arbeiter gegen die Kapi-talisten sie unvermeidlich in Konflikt mit der Regierung bringt, und dieRegierung ist von sich aus mit allen Kräften bemüht, den Arbeitern zuzeigen, daß sie nur durch Kampf und durch vereinten Widerstand aufdie Staatsmacht Einfluß nehmen können. Besonders anschaulich zeigendas die großen Streiks in Rußland in den Jahren 1885 und 1886. Dennachdrücklichen Forderungen der Arbeiter nachgebend, ging die Regie-rung unverzüglich daran, Arbeitsbestimmungen auszuarbeiten und erließsofort neue Gesetze über die Betriebsordnung (beispielsweise wurdenBestimmungen über die Einschränkung der Geldstrafen und die ordnungs-gemäße Lohnzahlung erlassen). Genauso haben auch die jüngsten Streiks(1896) wiederum sofort zum Eingreifen der Regierung geführt. DieRegierung hat bereits begriffen, daß sie sich nicht auf Verhaftungen undDeportierungen beschränken kann, daß es lächerlich ist, die Arbeiter mitdummen Belehrungen über den Edelmut der Fabrikanten abzuspeisen(siehe das Rundschreiben des Finanzministers Witte an die Fabrikinspek-toren vom Frühjahr 1896). Sie hat eingesehen, daß „die vereinigtenArbeiter eine Macht darstellen, mit der man rechnen muß", und so hatsie bereits eine Überprüfung der Fabrikgesetze eingeleitet und beruft in

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St. Petersburg eine Tagung der Fabrik-Oberinspektoren ein, um eineVerkürzung des Arbeitstages und andere unvermeidlich gewordene Zu-geständnisse, an die Arbeiter zu erörtern.

Wir sehen somit, daß der Kampf der Arbeiterklasse gegen die Kapi-talistenklasse notwendigerweise ein politischer Kampf sein muß. Tatsäch-lich übt dieser Kampf heute schon einen Einfluß auf die Staatsmachtaus und erlangt politische Bedeutung. Je mehr sich aber die Arbeiter-bewegung entwickelt, desto klarer und schärfer, desto spürbarer tritt dievöllige politische Rechtlosigkeit der Arbeiter zutage, von der wir schongesprochen haben und die es den Arbeitern absolut unmöglich macht,offen und unmittelbar auf die Staatsmacht Einfluß zu nehmen. Daher mußes die dringendste Forderung der Arbeiter und die erste Aufgabe derEinflußnahme der Arbeiterklasse auf die Staatsangelegenheiten sein, diepolitische Treiheit zu erkämpfen, d. h. die unmittelbare, durch das Gesetz(die Verfassung) gewährleistete Teilnahme aller Bürger an der Lenkungdes Staates, das gesicherte Recht für alle Bürger, sich frei zu versammeln,ihre Angelegenheiten zu erörtern, durch Verbände und durch die Presseauf die Staatsangelegenheiten Einfluß zu nehmen. Die Erkämpfung derpolitischen Freiheit wird zu einem „dringenden Anliegen der Arbeiter",weil die Arbeiter ohne sie keinen Einfluß auf die Staatsangelegenheitenhaben und auch nicht haben können und somit unweigerlich eine rechtlose,erniedrigte Klasse bleiben, ohne jede Möglichkeit der Meinungsäußerung.Wenn nun die Regierung selbst heute schon, da der Kampf der Arbeiterund ihr Zusammenschluß eben erst beginnen, sich beeilt, den ArbeiternZugeständnisse zu machen, um das weitere Anwachsen der Bewegungaufzuhalten, so unterliegt es keinem Zweifel, daß die Arbeiter, wenn siesich unter Führung einer politischen Partei sammeln und vereinigen, esverstehen werden, die Regierung zur Kapitulation zu zwingen, daß sie esverstehen werden, sich selbst und damit dem ganzen russischen Volk diepolitische Freiheit zu erkämpfen!

In den vorhergehenden Teilen des Programms wurde aufgezeigt, wel-chen Platz die Arbeiterklasse in der heutigen Gesellschaft und im heutigenStaat einnimmt, welches Kampfziel die Arbeiterklasse hat und worin dieAufgabe der Partei besteht, die die Interessen der Arbeiter vertritt. An-gesichts der unumschränkten Macht der Regierung gibt es in Rußlandkeine öffentlich wirkenden politischen Parteien und kann es keine geben,

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doch gibt es politische Richtungen, die die Interessen der anderen Klassenzum Ausdruck bringen und die öffentliche Meinung und die Regierungbeeinflussen. Um daher die Position der sozialdemokratischen Partei zuklären, ist es nunmehr notwendig, ihr Verhältnis zu den übrigen poli-tischen Richtungen in der russischen Gesellschaft aufzuzeigen, damit dieArbeiter bestimmen können, wer ihr Bundesgenosse sein kann, bis zu wel-chen Grenzen er das zu sein vermag, und wer ihr Feind ist. Das geschiehtdenn auch in den beiden folgenden Programmpunkten.

B 3. Das Programm erklärt, daß erstens alle die Schichten der Gesell-schaft Bundesgenossen der Arbeiter seien, die sich gegen die unum-schränkte Macht der autokratischen Regierung wenden. Da diese unum-schränkte Macht das Haupthindernis beim Kampf der Arbeiter für ihreBefreiung ist, so folgt daraus von selbst, daß das unmittelbare Interesseder Arbeiter gebietet, jede gesellschaftliche Bewegung gegen den Absolu-tismus (absolut bedeutet unumschränkt; Absolutismus ist unumschränkteMacht der Regierung) zu unterstützen. Je stärker sich der Kapitalismusentwickelt, desto tiefer werden die Gegensätze zwischen dieser büro-kratischen Verwaltung und den Interessen der besitzenden Klassen, denInteressen der Bourgeoisie. Deshalb erklärt die sozialdemokratische Par-tei, daß sie alle Schichten und Gruppen der Bourgeoisie unterstützenwird, die gegen die unumschränkte Macht der Regierung auftreten.

Für die Arbeiter ist der direkte Einfluß der Bourgeoisie auf die Staats-angelegenheiten ungleich vorteilhafter als ihre derzeitige Einflußnahmeüber eine Meute käuflicher und zügelloser Beamter. Für die Arbeiter istdie offene Einflußnahme der Bourgeoisie auf die Politik bedeutend vor-teilhafter als der derzeitige verdeckte Einfluß über die angeblich allmäch-tige „unabhängige" Regierung, die sich „von Gottes Gnaden" dünkt und„ihre Gnadenbezeugungen" über die vielgeprüften und arbeitsamenGrundeigentümer sowie über die notleidenden und bedrückten Fabri-kanten ausschüttet. Die Arbeiter brauchen den offenen "Kampf gegen dieKapitalistenklasse, damit das ganze russische Proletariat sieht, für welcheInteressen die Arbeiter kämpfen, damit es lernt, wie der Kampf geführtwerden muß, damit die Machenschaften und Bestrebungen der Bourgeoisienicht in den Vorzimmern der Großfürsten, in den Salons der Senatorenund Minister, hinter den verschlossenen Türen der Departementskanz-leien versteckt bleiben, damit sie ans Licht kommen und allen und jedem

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Entwurf und Erläuterung des Vrogramms 113

die Augen darüber öffnen, wer in Wirklichkeit hinter der Politik derRegierung steht und was die Kapitalisten und Grundeigentümer wollen.Daher nieder mit allem, was den jetzigen Einfluß der Kapitalistenklasseverdeckt, daher Unterstützung für alle und jegliche Repräsentanten derBourgeoisie, die gegen das Beamtentum, gegen die bürokratische Ver-waltung, gegen die unumschränkte Regierung auftreten] Wenn die sozial-demokratische Partei auch jeder gesellschaftlichen Bewegung gegen denAbsolutismus ihre Unterstützung verspricht, so erklärt sie gleichzeitig,daß sie nicht von der Arbeiterbewegung abrückt, weil die Arbeiterklasseihre besonderen, den Interessen aller anderen Klassen entgegengesetztenInteressen hat. Wenn die Arbeiter alle Repräsentanten der Bourgeoisieim Kampf für politische Freiheit unterstützen, dürfen sie nicht außer achtlassen, daß die besitzenden Klassen nur vorübergehend ihre Bundes-genossen sein können, daß die Interessen der Arbeiter und die der Kapi-talisten sich nicht miteinander versöhnen lassen, daß die Arbeiter dieBeseitigung der unumschränkten Regierungsmacht nur brauchen, umihren Kampf gegen die Kapitalistenklasse offen und in breiter Front füh-ren zu können.

Weiter erklärt die sozialdemokratische Partei, daß sie allen Unter-stützung angedeihen lassen wird, die gegen die Klasse der privilegiertenadligen Grundeigentümer auftreten. Die adligen Gutsbesitzer gelten inRußland als erster Stand im Staate. Die Reste ihrer Frongewalt über dieBauern bedrücken die Masse des Volkes bis auf den heutigen Tag. DieBauern zahlen weiter Ablösegelder für ihre Befreiung aus der Gewaltder Gutsherren. Die Bauern bleiben auch weiter an die Scholle gefesselt,damit es den Herren Gutsbesitzern nicht an billigen und gefügigen Land-arbeitern mangele. Bis auf den heutigen Tag sind die Bauern wie Rechtloseund Unmündige der Willkür der Beamten ausgeliefert, die, auf ihreTasche bedacht, sich in das bäuerliche Leben einmischen, damit dieBauern „treulich" die Ablösegelder bzw. den Fronzins an die Grund-herren entrichten, damit sie nicht wagen, sich der Arbeit für die Guts-besitzer zu „entziehen", damit sie beispielsweise nicht wagen, ihrenWohnort zu wechseln und dadurch womöglich die Gutsbesitzer nötigen,fremde, nicht so billige und nicht so vom Elend niedergedrückte Arbeits-kräfte zu dingen. Indem die Herren Gutsbesitzer sich Millionen und aberMillionen Bauern unterwerfen und deren Entrechtung aufrechterhalten,

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werden sie für solche Ruhmestaten mit höchsten staatlichen Privilegienausgestattet. Die höchsten Staatsposten werden hauptsächlich mit adligenGrundeigentümern besetzt (ja, auch nach dem Gesetz hat der Adelsstandallererstes Anrecht auf Anstellung im Staatsdienst); die Gutsbesitzer vonhohem Adel stehen.dem Hof am nächsten und beeinflussen am unmittel-barsten und leichtesten die Politik der Regierung in ihrem Sinne. Siemachen von ihren engen Beziehungen zur Regierung Gebrauch, um dieStaatskasse zu -plündern und Geschenke und Zuwendungen im Wertevon Millionen Rubeln aus den Volksgeldern einzuheimsen - sei es inForm von großen Gütern für geleistete Dienste, sei es in Form von„Zugeständnissen".*

* Hier bricht das im Institut für Marxismus-Leninismus, Moskau, vor-handene hektographierte Heft ab. Die Red.

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AN DIE ZARENREGIERUNG 3 2

In diesem Jahr, 1896, hat sich die russische Regierung nun schon daszweite Mal mit einer Mitteilung über den Kampf der Arbeiter gegen dieFabrikanten an die Öffentlichkeit gewandt. In anderen Staaten sind der-artige Mitteilungen keine Seltenheit - dort verheimlicht man nidit, wasim Staat vor sich geht, und die Zeitungen können ungehindert Nach-richten über Streiks veröffentlichen. In Rußland aber hat die Regierungeine Heidenangst davor, daß die Zustände und Vorkommnisse in denFabriken allgemein bekannt werden könnten: Sie hat verboten, in denZeitungen über Streiks zu schreiben, sie hat den Fabrikinspektoren unter-sagt, ihre Berichte zu veröffentlichen, sie ist sogar davon abgegangen,Streiksachen vor ordentlichen, öffentlichen Gerichten verhandeln zu las-sen - mit einem Wort, sie hat alle Maßnahmen getroffen, um alles, wasin den Fabriken und unter den Arbeitern vorgeht, streng geheimzuhalten.Plötzlich aber sind alle diese polizeilichen Machenschaften wie eineSeifenblase geplatzt, und die Regierung sieht sich genötigt, selber offendavon zu sprechen, daß die Arbeiter gegen die Fabrikanten kämpfen.Wodurch wurde diese Wendung hervorgerufen? - Im Jahre 1895 gab esbesonders viele Arbeiterstreiks. Freilich hat es auch schon früher Streiksgegeben, doch die Regierung hat stets verstanden, das Geheimnis zu wah-ren, und so gingen diese Streiks vorüber, ohne daß die Masse der Ar-beiter etwas davon erfuhr. Die diesjährigen Streiks waren bedeutendumfangreicher als die ihnen vorangegangenen und konzentrierten sichobendrein an einem Ort. Nun hat es nicht weniger umfangreiche Streiksauch schon früher gegeben - beispielsweise in den Jahren 1885 und 1886in den Gouv. Moskau und Wladimir. - Dennoch hat die Regierung seiner-zeit die Fassung bewahrt und nichts über den Kampf der Arbeiter gegen

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die Fabrikanten verlauten lassen. Was hat sie also diesmal veranlaßt,den Mund aufzutun? Das war die Tatsache, daß diesmal die Sozialistenden Arbeitern Unterstützung gaben und ihnen halfen, ihr Anliegen deut-lich darzulegen, es überall, sowohl unter den Arbeitern als auch in derÖffentlichkeit zu verbreiten, die Forderungen der Arbeiter präzis zuformulieren und jedermann die ganze Gewissenlosigkeit und Brutalitätder Regierungsmaßnahmen vor Augen zu führen. Die Regierung er-kannte, daß es töricht wäre zu schweigen, wenn ohnehin jedermann vonden Streiks weiß - und so folgte auch sie den andern nach. Die Flug-blätter der Sozialisten verlangten von der Regierung Rechenschaft,'und sotrat die Regierung auf den Plan und gab Antwort.

Sehen wir uns einmal an, was das für eine Antwort war.Anfangs versuchte die Regierung, einer öffentlichen Antwort auszu-

weichen. Ein Minister, der Finanzminister Witte, ließ an die Fabrik-inspektoren ein Rundschreiben ergehen, worin er die Arbeiter und Sozia-listen als „die schlimmsten Feinde der öffentlichen Ordnung" beschimpfteund den Fabrikinspektoren riet, die Arbeiter einzuschüchtern, ihnen zuversichern, die Regierung werde den Fabrikanten verbieten, Zugeständ-nisse zu machen, und worin er den Rat gab, die Arbeiter auf die gutenVorsätze und edelmütigen Absichten der Fabrikanten hinzuweisen undden Arbeitern auszumalen, wie sehr die Fabrikanten um die Arbeiterund deren Bedürfnisse besorgt sind, wie die Fabrikanten sich von den„besten Absichten" leiten ließen. Von den Streiks selbst sprach dieRegierung nicht, sie sagte kein Wort darüber, wie es zu den Streiksgekommen war, worin die unerhörten Schikanen der Fabrikanten unddie Verstöße gegen das Gesetz bestanden haben und was die Arbeitererreichen wollten; mit einem Wort, sie war bemüht, alle Streiks vomSommer und Herbst 1895 glatt zu verleumden und sich mit abge-droschenen, bürokratischen Phrasen über gewalttätige und „gesetzwid-rige" Handlungen der Arbeiter aus der Affäre zu ziehen, obgleich dieArbeiter keineswegs gewalttätig vorgegangen waren: Gewalt wurde ein-zig und allein von der Polizei angewandt. Der Minister wollte diesesRundschreiben geheimhalten, aber die Beamten, denen er das Rund-schreiben anvertraute, wahrten das Geheimnis nicht, und so machte dasRundschreiben in der Öffentlichkeit die Runde. Daraufhin wurde es vonden Sozialisten veröffentlicht. Als sich die Regierung wie gewöhnlich mit

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An die Zarenregierung 117

ihren jedermann bekannten „Geheimnissen" genarrt sah, ließ sie dasRundschreiben in den Zeitungen abdrucken. Das war, wie wir schonsagten, die Antwort auf die Sommer- und Herbststreiks des Jahres 1895.Im Frühjahr 1896 aber wiederholten sich die Streiks in noch viel stärke-rem Maße. Zu den Gerüchten über die Streiks kamen nun noch dieFlugblätter der Sozialisten hinzu. Die Regierung bewahrte zuerst einfeiges Schweigen und wartete ab, wie die Sache ausgehen würde, unddann, als der Aufruhr der Arbeiter bereits abgeflaut war, trat sie nach-träglich mit ihrer ganzen Kanzleiweishert wie mit einem verspätetenPolizeiprotokoll auf den Plan. Diesmal galt es, offen aufzutreten, undzwar für die Regierung als Ganzes. Die Verlautbarung wurde in Num-mer 158 des „Prawitelstwenny Westnik" veröffentlicht Diesmal ge-lang es ihr schon nicht mehr, die Arbeiterstreiks wie früher einfachzu verleumden. Sie mußte berichten, wie die Dinge lagen, worin dieSchikanen der Fabrikanten bestanden, was die Arbeiter forderten; siemußte zugeben, daß die Arbeiter sich „anständig" betragen hatten. Somithaben die Arbeiter vermocht, der Regierung abzugewöhnen, nieder-trächtige Polizeilügen in Umlauf zu setzen: sie zwangen die Regierung,die Wahrheit zu sagen, sobald sie sich einmütig erhoben, sobald sie dieSache in Flugblättern der Öffentlichkeit bekanntmachten. Das ist eingroßer Erfolg. Die Arbeiter werden jetzt wissen, was das einzige Mittelist, ihre Forderungen öffentlich bekanntzumachen, ganz Rußland überden Kampf der Arbeiter zu unterrichten. Die Arbeiter werden jetztwissen, daß die Lügen der Regierung nur durch den gemeinschaftlichenKampf der Arbeiter selbst widerlegt und ihre Rechte nur durch bewußtesVerhalten erkämpft werden können. Nachdem die Minister berichtethatten, worum es ging, machten sie verschiedene Ausflüchte und be-teuerten in ihrer Verlautbarung, die Streiks seien nur durch die „Beson-derheiten der Baumwollspinnerei und der Garnproduktion" hervorgerufenworden. Da haben wir es! Also nicht durch die Besonderheiten der ganzen"Produktion Rußlands, nicht durch die Besonderheiten der russischenStaatsordnung, die es der Polizei gestattet, friedliche Arbeiter, die sichgegen Schikanen wehren, zu verfolgen und festzunehmen? Warum aber,ihr biederen Herren Minister, rissen sich die Arbeiter förmlich um dieFlugblätter, in denen ganz und gar nicht von Baumwolle und Garn, son-dern von der Rechtlosigkeit der russischen Bürger und von der brutalen

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Willkür der Regierung die Rede war, die vor den Kapitalisten liebe-dienert, warum verlangten sie diese Flugblätter? Nein, diese neue Aus-rede ist wohl noch schlechter, noch niederträchtiger als die, mit derFinanzminister Witte in seinem Rundschreiben davonzukommen suchte,indem er für alles „Aufwiegler" verantwortlich machte. Minister Witteurteilt über die Streiks genauso wie jeder beliebige Polizeibeamte, demdie Fabrikanten etwas zustecken: Es kommen Aufwiegler - und der Streikist da. Nachdem aber die Minister den Streik der 30 000 ArbeiteV erlebthaben, sind sie miteinander zu Rate gegangen und dabei zu dem Schlußgelangt, daß es nicht wegen der sozialistischen Aufwiegler zu Streikskäme, sondern daß die Sozialisten deshalb in Erscheinung treten, weilStreiks ausbrechen, weil der Kampf der Arbeiter gegen die Kapitalistenbeginnt. Die Minister versichern jetzt, die Sozialisten hätten sich demStreik nach seinem Ausbruch „angeschlossen". Das ist eine gute Lehrefür den Finanzminister Witte. Passen Sie also auf, Herr Witte, lernenSie tüchtig! Lernen Sie es, im voraus zu ergründen, warum ein Streikausbricht, lernen Sie es, auf die Forderungen der Arbeiter zu achten, undnicht auf das, was Ihnen Ihre Polizeischnüffler hinterbringen, denen Sieja selbst nicht den geringsten Glauben schenken. Die Herren Ministerversichern der Öffentlichkeit, lediglich „böswillige Elemente" hätten ver-sucht, den Streiks einen „verbrecherischen politischen Charakter" oder,wie es an einer Stelle heißt, „sozialen Charakter" zu verleihen (dieHerren Minister meinten sozialistischen Charakter, aber aus Unwissen-heit oder bürokratischer Feigheit sprachen sie von einem sozialen Charak-ter, und so kam Unsinn heraus: sozialistisch bedeutet, die Arbeiter imKampf gegen das Kapital unterstützen, während sozial einfach gesell-schaftlich heißt. Wie kann man aber einem Streik gesellschaftlichen Cha-rakter verleihen? Das wäre ja das gleiche, als wenn man Ministern denMinisterrang verleihen wollte!). Das ist wirklich amüsant! Die Sozialistenverleihen den Streiks politischen Charakter! Hat doch die Regierungschon früher als irgendein Sozialist alles getan, um den Streiks politischenCharakter zu verleihen. War es nicht die Regierung, die friedliche Ar-beiter wie Verbrecher behandelte, sie ins Gefängnis warf und in dieVerbannung schickte? Hat nicht sie überall ihre Spione und Lockspitzelumhergeschickt? Hat nicht sie alle einsperren lassen, die ihr in die Händegerieten? War es nicht die Regierung, die den Fabrikanten Hilfe ver-

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An die Zarenregierung 119

spradi, damit diese nicht etwa Zugeständnisse machten? Hat nicht sie dieArbeiter wegen gewöhnlicher Geldsammlungen für die Streikenden ver-folgt? Die Regierung selbst hat besser als sonst jemand den Arbeiternklargemacht, daß der Kampf gegen die Fabrikanten unweigerlich einKampf gegen die Regierung sein muß. Die Sozialisten brauchten das nurzu bestätigen und in Flugblättern bekanntzumachen. So ist das. Aber inder Kunst der Heuchelei hat es die russische Regierung schon sehr weitgebracht, und die Minister versuchten es, sich darüber auszuschweigen-,mit welchen Mitteln unsere Regierung „den Streiks politischen Charakterverliehen hat". Die Regierung gab der Öffentlichkeit das Datum bekannt,das die Flugblätter der Sozialisten trugen - warum hat sie nichts darüberverlauten lassen, von wann die Befehle des Stadthauptmanns und ähn-licher Schergen zur Verhaftung friedlicher. Arbeiter, zur Bereitstellungdes Militärs, zum Einsatz von Spionen und Lockspitzeln datiert waren?Die Minister rechneten der Öffentlichkeit vor, wieviel Flugblätter dieSozialisten herausgebracht hatten, warum aber sagten sie nicht, wievielArbeiter und Sozialisten festgenommen, wieviel Familien ruiniert, wie-viel Menschen ohne Gerichtsverhandlung verbannt und eingekerkert wur-den? Warum wohl? Nur darum, weil selbst die russischen Minister beiall ihrer Schamlosigkeit sich hüten, vor der Öffentlichkeit über dieseSchandtaten zu sprechen. Auf die friedlichen Arbeiter, die sich für ihreRechte erhoben hatten, die sich gegen die Fabrikantenwillkür verteidig-ten, stürzte sich der Staatsapparat mit seiner ganzen Macht, mit Polizeiund Militär, mit Gendarmen und Staatsanwälten - gegen die Arbeiter,die sich mit ihren Groschen und den Groschen ihrer Kollegen, der eng-lischen, polnischen, deutschen und österreichischen Arbeiter, über Wasserhielten, trat die ganze Macht der Staatskasse auf den Plan, die den armenFabrikanten Unterstützung versprach.

Die Arbeiter waren nicht organisiert. Sie konnten keine Geldsamm-lungen veranstalten, konnten weder andere Städte noch andere Arbeiterin den Kampf einbeziehen, überall wurden sie gehetzt und gejagt, und somußten sie der Macht des Staatsapparats weichen. Die Herren Ministerverkündeten frohlockend, die Regierung habe gesiegt!

Ein schöner Sieg! Gegen 30 000 friedliche Arbeiter, die kein Geldhatten, wurden alle Kräfte der Staatsmacht und der ganze Reichtum derKapitalisten eingesetzt! Die Minister täten klüger daran, abzuwarten, ehe

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sie sich dieses Sieges rühmen, denn ihre Prahlerei erinnert allzusehr andie Prahlerei des Polizisten, der sich rühmt, beim Streik ohne Prügeldavongekommen zu sein.

Die „Einbläsereien" der Sozialisten hatten keinen Erfolg - verkündetdie Regierung feierlich und beruhigt die Kapitalisten.-Jawohl, antwortenauch wir darauf, keine Einbläsereien konnten auch nur den hundertstenTeil des Eindrucks hervorrufen, den das Verhalten der Regierung indieser Sache bei allen Petersburger Arbeitern, bei allen russischen Ar-beitern hervorgerufen hat! Die Arbeiter haben klar die Politik derRegierung erkannt - die Arbeiterstreiks zu verschweigen und zu ver-leumden. Die Arbeiter haben gesehen, wie ihr vereinter Kampf dieRegierung zwang, die heuchlerische Polizeilüge fallenzulassen. Sie habengesehen, wessen Interessen die Regierung wahrnimmt, die den Fabrikan-ten Unterstützung versprach. Sie haben begriffen, wer ihr wirklicherGegner ist, als man gegen sie, die weder Gesetz noch Ordnung verletzthatten, Militär und Polizei einsetzte, als wären sie Kriegsfeinde. Wievieldie Minister auch über die Erfolglosigkeit des Kampfes reden, die Ar-beiter sehen doch, wie die Fabrikanten überall klein beigegeben haben,und sie wissen, daß die Regierung bereits die Fabrikinspektoren zusam-menruft, um mit ihnen zu beraten, welche Zugeständnisse den Arbeiterngemacht werden müssen, da sie sieht, daß Zugeständnisse unumgänglichsind. Die Streiks der Jahre 1895 und 1896 waren nicht umsonst. Sie habenden russischen Arbeitern einen großen Dienst erwiesen, sie haben ihnengezeigt, wie sie den Kampf für ihre Interessen führen müssen. Sie habensie die politische Zage und die politischen 'Bedürfnisse der Arbeiterklasseverstehen gelehrt.

November 1896 Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterklasse33

Qesdhrieben im Qefängnis vor dem25. November {i. Dezember) 1S96.Vervielfältigt auf einem "Naöi dem 7ext des Flugblatts.Mimeograpben als Flugblatt.

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ZUR CHARAKTERISTIK

DER Ö K O N O M I S C H E N ROMANTIK

(Sismondi und unsere einheimischen Sismondisten)34

Qesdbrieben im Jrühjabr iS97.

Zuerst veröffentlicht in der "Nach dem 7ext des SammelbandesZeitsdbrift „"Nowofe Slowo"35, „ökonomische Studien und Auf-lieft 7-10, April-Juli 1S97. sätze", verglichen mit dem 7extUnterschrift: X. 7.-n. des „Nowoje Slowo" und demTJadhdrudk im Sammelband: Sammelband: Wt.Jljin,"Wladimir Jljin, „ökonomische ,T)ie Agrarfrage", i908.Studien und Aufsätze", i898.

9 Lenin, Werke, Bd. 2

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Umschlag der Zeitschrift „Nowoje Slowo", in der W. I. Lenins Artikel„Zur Charakteristik der ökonomischen Romantik" und „Anläßlich einer

Zeitungsnotiz" zuerst veröffentlicht wurden - 1897

"Verkleinert

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Dem Schweizer Ökonomen Sismondi (J. Ch. L. Simonde de Sismondi),der am Anfang unseres Jahrhunderts gewirkt hat, kommt im Hinblick aufdie Lösung der allgemeinen ökonomischen Fragen, die in Rußland gegen-wärtig im Vordergrund stehen, ein besonderes Interesse zu. Fügt manhinzu, daß Sismondi in der Geschichte der politischen Ökonomie eineSonderstellung einnimmt, da er abseits von den Hauptströmungen steht,daß er ein glühender Anhänger der Kleinproduktion ist und sich mitProtest gegen die Verteidiger und Ideologen des Großunternehmertumswendet (genauso, wie sich die heutigen russischen Volkstümler dagegenwenden), so wird der Leser verstehen, warum wir uns vorgenommenhaben, einen Abriß der Lehre Sismondis in ihren Hauptzügen und inihrem Verhältnis zu anderen - zeitgenössischen und späteren - Rich-tungen der ökonomischen Wissenschaft zu geben. Das Studium Sismondisgewinnt gerade gegenwärtig noch an Interesse, da wir in der Zeitschrift„Russkoje Bogatstwo" des vergangenen Jahres, 1896, einen Artikel fin-den, der ebenfalls der Darlegung der Lehre Sismondis gewidmet ist(B. Efrussi, „Die sozialökonomischen Anschauungen Simonde de Sis-mondis", „Russkoje Bogatstwo", 1896, Nr. 7 und 8)*.

Der Mitarbeiter des „Russkoje Bogatstwo" erklärt gleich zu Anfang,es gebe keinen Autor, dem „eine so falsche Beurteilung widerfahrenwäre" wie Sismondi, den man „ungerechterweise" bald als Reaktionär,bald als Utopisten hingestellt habe. - Genau umgekehrt ist es. Geradediese Einschätzung Sismondis ist durchaus zutreffend. Der Artikel des

* Efrussi ist 1897 gestorben. Ein Nekrolog auf ihn wurde im Märzheft des„Russkoje Bogatstwo" von 1897 veröffentlicht.

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126 IV. 1. Lenin

„Russkoje Bogatstwo" aber, der eine ausführliche und genaue Wieder-gabe Sismondis darstellt, charakterisiert dessen Theorie völlig falsch*,denn er idealisiert Sismondi gerade in den Punkten seiner Lehre, in denener den Volkstümlern am nächsten kommt, während er sein Verhältniszu den späteren Strömungen der ökonomischen Wissenschaft ignoriertoder falsch beleuchtet. Darum wird unsere Darlegung und Analyse derLehre Sismondis zugleich auch eine Kritik des Artikels von Efrussi sein.

KAPITEL I

DIE ÖKONOMISCHEN THEORIEN DER ROMANTIK

Die unterscheidende Besonderheit der Theorie Sismondis ist seineLehre vom Einkommen, vom Verhältnis des Einkommens zur Produktionund zur Bevölkerung. Sismondis Hauptwerk trägt denn auch den Titel:„Nouveaux Principes d'economie politique ou de la richesse dans sesrapports avec la population" (Seconde edition, Paris 1827, 2 vol.** Dieerste Ausgabe erschien 1819.) - „Neue Grundsätze der politischenÖkonomie oder über den Reichtum in seinen Beziehungen zu der Be-völkerung". Dieses Thema ist fast identisch mit der Frage, die in derrussischen Volkstümlerliteratur als „Frage des inneren Marktes für denKapitalismus" bekannt ist. Sismondi behauptete nämlich, die Entwicklungdes Großunternehmertums und der Lohnarbeit in Industrie und Land-wirtschaft führe dazu, daß die Produktion notwendigerweise die Kon-sumtion überholt und vor die unlösbare Aufgabe gestellt wird, Konsu-menten ausfindig zu machen; daß sie im Lande selbst keine Konsumentenfinden kann, weil sie die Masse der Bevölkerung in Tagelöhner, in ein-fache Arbeiter verwandelt und eine unbeschäftigte Bevölkerung hervor-bringt, während es mit dem Eintritt neuer kapitalistischer Länder in dieinternationale Arena immer schwieriger wird, einen äußeren Markt zu

* Es trifft durchaus zu, daß Sismondi kein Sozialist war, worauf Efrussiam Anfang des Artikels, Lipperts Worte wiederholend, hinweist (siehe „Hand-wörterbuch der Staatswissenschaften", V. Band, Artikel „Sismondi" von

. Lippert, Seite 678).** Zweite Auflage, Paris 1827, 2 Bände. Die Red.

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Zur Charakteristik der ökonomischen Romantik 127

finden. Wie der Leser sieht, sind es ganz dieselben Fragen, die die volks-tümlerischen Ökonomen mit den Herren W. W. und N.-on36 an derSpitze beschäftigen. Sehen wir uns nun die einzelnen Momente der Argu-mentation Sismondis und ihre wissenschaftliche Bedeutung näher an.

I

Wird der innere Markt durdb den JLuinder Kleinproduzenten verengt?

Im Gegensatz zu den klassischen Ökonomen, die bei ihren Systemeneine schon ausgebildete kapitalistische Gesellschaftsordnung im Augehatten und die Arbeiterklasse als gegeben und selbstverständlich voraus-setzten, hebt Sismondi gerade den Prozeß des Ruins des Kleinproduzentenhervor, den Prozeß, der zur Bildung der Arbeiterklasse geführt hat. Daßsich Sismondi durch den Hinweis auf diesen Widerspruch in der kapita-listischen Gesellschaftsordnung ein Verdienst erworben hat, ist unbe-streitbar, doch hat er als Ökonom nicht vermocht, diese Erscheinung zuverstehen, und hat seine Unfähigkeit zu einer konsequenten Analyse mit„frommen Wünschen" bemäntelt. Der Ruin des Kleinproduzenten istnach Meinung Sismondis der Beweis für eine Verengung des innerenMarktes.

In dem Kapitel „Wie der Verkäufer seinen Absatz vergrößert" (eh. III,livre IV, 1.1, p. 342 et suiv.*)** schreibt Sismondi: „Der Fabrikant wirdmehr verkaufen, wenn er billiger verkauft, weil die anderen weniger ver-kaufen werden. Darum wird das Bemühen des Fabrikanten ständig daraufgerichtet sein, Einsparungen an Arbeit oder an Rohmaterialien zu machen,um so billiger als die anderen Fabrikanten verkaufen zu können. Da dieRohstoffe ihrerseits das Produkt vergangener Arbeit sind, läuft seineEinsparung letzten Endes immer darauf hinaus, für die Herstellung des-selben Produktes weniger Arbeit zu verwenden." „Allerdings ist der ein-zelne Fabrikant nicht bestrebt, die Anzahl der Arbeiter zu verringern",sondern . . . „mehr zu produzieren. Angenommen, dies wird ihm gelingen:Er wird seinen Konkurrenten durch Senkung der Preise die Käufer ab-

* Kap. III, Buch IV, Bd. I, S. 342 ff. Die TKed.** Auch alle weiteren Zitate beziehen sich, soweit nicht besonders vermerkt,

auf die obengenannte Ausgabe der „Nouveaux Principes".

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128 W.l£enin

jagen. Was wird das ,nationale Resultat' davon sein?" „Die anderenFabrikanten werden die Produktionsverfahren des ersten übernehmen,-die Folge davon wird sein, daß die einen oder die anderen einen Teil ihrerArbeiter entlassen müssen, und zwar in demselben Verhältnis, in dem dieneue Maschine die Produktivkraft der Arbeit erhöht. Wenn die Konsum-tion unverändert bleibt, und wenn dieselbe Arbeit von einem Zehntel derArbeitskräfte verrichtet wird, dann wird der betreffende Teil der Ar-beiterklasse neun Zehntel seines Einkommens einbüßen, und seine ver-schiedenartige Konsumtion wird um ebensoviel gekürzt... Das Ergebnisder Erfindung wird - wenn die Nation keinen Außenhandel hat und wenndie Konsumtion unverändert bleibt - folglich ein Verlust für alle sein,eine Verminderung des Nationaleinkommens, die im folgenden Jahr zueiner Verringerung der allgemeinen Konsumtion führen wird." (I, 344.)„Und dies muß so sein; da die Arbeit an sich einen wichtigen Bestand-teil des Einkommens bildet" (Sismondi hat den Arbeitslohn im Auge),„so kann man die Nachfrage nach Arbeit nicht vermindern, ohne dieNation ärmer zu machen. Der Nutzen, den man von der Entdeckungeines neuen Produktionsverfahrens erwartet, bezieht sich daher fast stetsauf den auswärtigen Handel." (I, 345.)

Der Leser sieht, daß schon diese Sätze die ganze, uns so wohlbekannte„Theorie" der „Verengung des inneren Marktes" durch die Entwicklungdes Kapitalismus und der daraus folgenden Notwendigkeit eines äußerenMarktes enthalten. Sismondi kommt auf diesen Gedanken außerordent-lich oft zurück, indem er mit ihm sowohl seine Krisentheorie als auchseine Bevölkerungstheorie" verbindet; dieser Gedanke ist in seinerLehre ein ebenso dominierender Punkt wie in der Lehre der russischenVolkstümler.

Sismondi hat selbstverständlich nicht übersehen, daß Ruin und Ar-beitslosigkeit unter den neuen Verhältnissen von einer Vermehrung des„kommerziellen Reichtums" begleitet sind, daß man von einer Entwick-lung der Großproduktion, des Kapitalismus, sprechen muß. Er verstanddas sehr wohl und behauptete gerade, daß durch das Wachstum desKapitalismus der innere Markt verkleinert werde. „Ebensowenig wie esfür das Glück der Bürger gleichgültig ist, ob der Wohlstand und Ver-brauch aller nahezu gleich sind oder ob eine kleine Zahl im Überflußlebt, während die Masse auf das gerade Notwendige herabgedrückt wird,

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ebensowenig sind diese beiden Arten der Verteilung des Einkommensgleichgültig für den Fortschritt des kommerziellen Heidotums* (richessecommerciale). Die Gleichheit des Verbrauchs muß dazu führen, daß sichder Markt der Produzenten immer mehr ausdehnt, seine Ungleichheitdagegen bewirkt eine Verengung des Marktes (de le [le marche] resserrertoujours davantage)."(I, 357.)

Sismondi behauptet also, daß der innere Markt durch die dem Kapita-lismus eigene ungleiche Verteilung verengt wird, daß der Markt durcheine gleichmäßige Verteilung geschaffen werden muß. Auf welche Weiseaber kann dies bei kommerziellem Reidbtum geschehen, zu dem Sismondiunbemerkt übergegangen ist (und zu dem er übergehen mußte, da ersonst nicht vom Markte hätte reden können)? Das untersucht er nicht.Womit beweist er, daß die Gleichheit der Produzenten bei kommerziellemReichtum, d. h. bei Konkurrenz zwischen den einzelnen Produzenten, auf-rechterhalten werden kann? Absolut mit nichts. Er dekretiert einfach, daßes so sein muß. Anstatt den Widerspruch weiter zu analysieren, den errichtig festgestellt hat, ergeht er sich in Betrachtungen darüber, daßWidersprüche überhaupt unerwünscht seien. „Seit der landwirtschaftlicheGroßbetrieb den Kleinbetrieb abgelöst hat, sind vielleicht mehr Kapitalienim Boden angelegt und somit mehr Reichtümer als früher unter die Masseder Landwirte verteilt worden";. . . (d. h., „vielleicht" ist der innereMarkt gewachsen, der doch gerade durch die absolute Größe des kommer-ziellen Reichtums bestimmt wird? - gewachsen parallel mit der Entwick-lung des Kapitalismus?) „aber die Konsumtion einer Familie reicherPächter zuzüglich derjenigen von 50 elenden Tagelöhnerfamilien hat fürdie Nation nicht denselben Wert wie die von 50 Bauernfamilien, vondenen zwar keine reich ist, aber doch keine eines gewissen Wohlstands(une honnete aisance) entbehrt." (I, 358.) Mit anderen Worten: Es kannsein, daß die Entwicklung des Pachtwesens einen inneren Markt für denKapitalismus schafft. Sismondi war ein viel zu gebildeter und gewissen-hafter Ökonom, um diese Tatsache in Abrede zu stellen, aber . . . aberhier verläßt der Autor seine Untersuchung und macht aus einer „Nation"des kommerziellen Reichtums einfach eine „Nation" von Bauern. Bei sei-nem Versuch, um die unangenehme Tatsache herumzukommen, die seinen

* Hervorhebung hier, wie überall, von uns, falls nicht das Gegenteil ver-merkt ist.

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kleinbürgerlichen Standpunkt widerlegt, vergißt er sogar das, was erselbst kurz vorher gesagt hat, nämlich daß die „Pächter" eben dank derEntwicklung des kommerziellen Reichtums aus den „Bauern" hervorge-gangen sind. „Die ersten Pächter", sagt Sismondi, „waren einfache Acker-bauern . . . Sie hörten nicht auf, Bauern zu se in . . . Sie gebrauchten fürdie gemeinsamen Arbeiten fast niemals Tagelöhner, sondern nur Gesinde(Landarbeiter - des domestiques), das sie stets unter ihresgleichen aus-wählen, mit dem sie auf gleichem Fuße verkehren, an einem Tischessen. . . eine Klasse von Bauern bilden." (I, 221.) Alles läuft also daraufhinaus, daß diese patriarchalischen Bäuerlein mit ihren patriarchalischenLandarbeitern dem Autor zu sehr ans Herz gewachsen sind, so daß erden Veränderungen einfach den Rücken kehrt, die durch das Wachstumdes „kommerziellen Reichtums" in diesen patriarchalischen Beziehungenhervorgerufen wurden.

Sismondi ist aber keineswegs gewillt, das einzugestehen. Nach wievor ist er der Meinung, daß er die Gesetze des kommerziellen Reichtumsuntersucht, und alle seine Vorbehalte vergessend, behauptet er direkt:

„Also, infolge der Konzentration der Vermögen bei einer kleinen Zahlvon Eigentümern verengt sich der innere Markt immer mebr(l), und dieIndustrie ist immer mehr genötigt, für den Absatz fremde Märkte zusuchen, wo noch größere Umwälzungen (des plus grandes revolutions) siebedrohen." (1,361.) „Der innere Markt kann sich also nicht anders alsdurch Vermehrung des nationalen Wohlstands erweitern." (I, 362.) Sis-mondi meint den Wohlstand des Volkes, denn er hat soeben erst zu-gestanden, daß bei Bestehen des Pachtsystems ein „nationaler" Wohl-stand möglich ist.

Wie der Leser sieht, sagen unsere Volkstümler-Ökonomen wortwört-lich dasselbe.

Sismondi kehrt zu dieser Frage noch einmal am Schluß des Werkeszurück, und zwar in Buch VII, betitelt „Die Bevölkerung", in Kapitel VII„Von der Bevölkerung, die durch die Erfindung der Maschinen über-flüssig wird".

„Auf dem Lande hat die Einführung des Systems der großen Pachtun-gen aus Großbritannien die Klasse der bäuerlichen Pächter (fermierspaysans), die selbst arbeiteten, aber doch ein anständiges Auskommenhatten, verschwinden lassen; die Bevölkerung ist erheblich zurückgegan-

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gen; aber ihre Konsumtion ist noch viel erheblicher zurückgegangen alsihre Zahl. Die Tagelöhner, die alle Feldarbeiten verrichten und nur dasAllernötigste bekommen, geben der Industrie der Städte bei weitem nichtdieselbe Ermutigung (encouragement), die die reichen Bauern ihr ehemalsgegeben haben." (II, 327.) „Eine ähnliche Veränderung hat sich in derStadtbevölkerung vollzogen... So verschwinden auch die kleinen Kauf-leute und die kleinen Fabrikanten, und ein großer Unternehmer ersetztHunderte von ihnen, die alle zusammen nicht so reich waren wie er.Alle zusammen waren sie aber bessere Konsumenten als er. Sein kost-spieliger Luxus gibt der Industrie einen viel weniger großen Antriebals die mäßige Wohlhabenheit von hundert Haushaltungen, die er ersetzthat." (ib.)

Es fragt sich nun, worauf denn diese Theorie Sismondis von der Ver-engung des inneren Marktes bei Entwicklung des Kapitalismus hinaus-läuft? Darauf, daß ihr Autor, nachdem er kaum versucht hatte, sich nähermit der Sache zu befassen, einer Analyse der dem Kapitalismus entspre-chenden Bedingungen auswich („kommerzieller Reichtum" plus Groß-unternehmertum in Industrie und Landwirtschaft, denn Sismondi kenntden Ausdruck „Kapitalismus" nicht. Die Identität der Begriffe berechtigtdurchaus dazu, diesen Ausdruck zu gebrauchen, so daß wir künftig ein-fach „Kapitalismus" sagen werden) und seinen kleinbürgerlichen Stand-punkt und seine kleinbürgerliche Utopie an die Stelle einer Analysesetzte. Die Entwicklung des kommerziellen Reichtums und folglich auchder Konkurrenz soll die gleichartige, mittlere Bauernschaft mit ihrer„mäßigen Wohlhabenheit" und ihren patriarchalischen Beziehungen zuden Landarbeitern unangetastet lassen.

Es ist begreiflich, daß dieser fromme Wunsch das ausschließliche Ge-dankengut Sismondis und anderer Romantiker aus der „Intelligenz" ge-blieben ist, daß er mit jedem Tag mehr in immer schärferen Konflikt mitder Wirklichkeit gerät, die jene Widersprüche weiterentwickelt hat, derenTiefe Sismondi noch nicht abzuschätzen vermochte.

Begreiflicherweise hat die theoretische politische Ökonomie, die sichin ihrer Weiterentwicklung* den Klassikern anschloß, mit aller Genauig-keit gerade das festgestellt, was Sismondi leugnen wollte, daß nämlich die

* Gemeint ist der Marxismus. (Fußnote des Verfassers zur Ausgabe von1908. Die Red.)

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Entwicklung des Kapitalismus überhaupt und des Pachtwesens im be-sonderen den inneren Markt nicht einengt, sondern ihn sdhafft. Die Ent-wicklung des Kapitalismus geht mit der Entwicklung der Warenwirtschafteinher, und in dem Maße, wie die Hauserzeugung durch die Produktionfür den Verkauf und wie der Kustar durch die Fabrik verdrängt wird,bildet sich der Markt für das Kapital heraus. Die „Tagelöhner", die durchdie Verwandlung der „Bauern" in „Pächter" aus dem Ackerbau verdrängtwerden, stellen die Arbeitskräfte für das Kapital, während die Pächterals Käufer der Industrieprodukte auftreten und zwar nicht nur als Käufervon Konsumgütern (die früher von den Bauern zu Hause oder von länd-lichen Handwerkern hergestellt wurden), sondern auch als Käufer vonProduktionsinstrumenten, die nicht mehr dieselben bleiben konnten, seit-dem der landwirtschaftliche Großbetrieb den Kleinbetrieb ablöst* Derletzte Umstand verdient hervorgehoben zu werden, denn gerade ihn hatSismondi ignoriert. An der von uns zitierten Stelle hat er von der „Kon-sumtion" der Bauern und Pächter so gesprochen,. als gäbe es nur indi-viduelle Konsumtion (Verbrauch von Brot, Kleidung usw.), als wäre derKauf von Maschinen, Werkzeugen usw., die Errichtung von Gebäuden,Lagerhäusern, Fabriken usw. nidit ebenfalls Konsumtion, nur andererArt, nämlich produktive Konsumtion! nicht Konsumtion durch die Men-schen, sondern durch das Kapital. Und wiederum muß man feststellen,daß gerade diesen Fehler, den Sismondi, wie wir gleich sehen werden,Adam Smith entlehnt hat, in vollem Umfang auch unsere Volkstümler-ökonomen übernommen haben.**

* Auf diese Weise werden gleichzeitig Elemente sowohl des variablenKapitals (der „freie" Arbeiter) als auch des konstanten Kapitals geschaffen;zu dem letzteren gehören die Produktionsmittel, von denen der Kleinproduzentgetrennt wird.

** über diesen Teil der Doktrin Sismondis - über die Verengung desinneren Marktes durch die Entwicklung des Kapitalismus - sagt Efrussi nichts.Wir werden noch des öfteren sehen, daß er gerade das ausgelassen hat, wasSismondis Standpunkt und das Verhältnis der Volkstümler zu seiner Lehream anschaulichsten charakterisiert.

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II

Sismondis Auffassungen über "Nationaleinkommenund Kapita]

Sismondis Argumentation gegen die Möglichkeit des Kapitalismus undseiner Entwicklung bleibt nicht hierauf beschränkt. Dieselben Schlußfolge-rungen hat er auch aus seiner Lehre vom Einkommen gezogen. Es mußgesagt werden, daß Sismondi von Ad. Smith voll und ganz die Theoriedes Arbeitswerts und der drei Arten des Einkommens - Rente, Profit undArbeitslohn - übernommen hat. Er versucht sogar hier und da, die beidenersten Arten des Einkommens als Gegensatz zur dritten zu verallge-meinern: So faßt er sie zuweilen zusammen, um sie dem Lohn gegenüber-zustellen (I, 104/105); in bezug auf sie unterläuft ihm sogar das Wort:mieux-value (Mehrwert37) (I, 103). Man darf jedoch die Bedeutung die-ses Wortgebrauchs nicht überschätzen, wie es Efrussi zu tun scheint, wenner sagt, daß „Sismondis Theorie der Mehrwerttheorie nahekommt"(„Russkoje Bogatstwo" Nr. 8, S. 41). Sismondi hat im Grunde genommenkeinen einzigen Schritt über Ad. Smith hinaus getan, der gleichfalls sagte,Rente und Profit seien ein „Abzug von der Arbeit", seien ein Teil desWertes, den der Arbeiter dem Produkt hinzufügt (siehe „Untersuchungüber das Wesen und die Ursachen des Reichtums der Nationen", russ.Übersetzung von Bibikow, Band I, Kap. VIII „Vom Arbeitslohn" undKap. VI „Von den Bestandteilen des Warenpreises"). Weiter ist auchSismondi nicht gegangen. Aber er versuchte, diese Teilung des neu-geschaffenen Produkts in Mehrwert und Arbeitslohn mit der Theorie desgesellschaftlichen Einkommens und des inneren Marktes und mit derRealisierung des Produkts in der kapitalistischen Gesellschaft zu ver-binden. Diese Versuche sind für die Einschätzung der wissenschaftlichenBedeutung Sismondis und für die Klarstellung des Zusammenhangs zwi-schen seiner Doktrin und der Doktrin der russischen Volkstümler vonaußerordentlicher Bedeutung. Deshalb verlohnt es sich, ausführlicher aufsie einzugehen.

Sismondi, der überall die Frage des Einkommens, des Verhältnissesdes Einkommens zur Produktion, zur Konsumtion und zur Bevölkerungin den Vordergrund rückt, mußte natürlich auch die theoretischen Grund-lagen des Begriffs „Einkommen" untersuchen. So finden wir bei ihm ganz

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am Anfang des Werkes drei Kapitel, die der Frage des Einkommens ge-widmet sind (1. II, eh. IV-VI). Kapitel IV „Wie das Einkommen aus demKapital entsteht" handelt vom Unterschied zwischen Kapital und Ein-kommen. Sismondi beginnt ohne Umschweife damit, diesen Gegenstandin seinem Verhältnis zur gesamten Gesellschaft darzulegen. „Aber seit-dem jeder für alle arbeitete", sagt er, „mußte die Produktion aller vonallen konsumiert werden. . . Die Unterscheidung zwischen Kapital undEinkommen . . . hat für die Gesellschaft wesentliche Bedeutung gewon-nen." (I, 83.) Sismondi spürt aber, daß diese „wesentliche" Unterschei-dung für die Gesellschaft nicht so einfach ist wie für den einzelnenUnternehmer. Er sagt einschränkend: „Somit kommen wir zur abstrak-testen und schwierigsten Frage der politischen Ökonomie. Die Natur desKapitals und des Einkommens vermengen sich in unserer Vorstellung fort-während; wir sehen das, was für den einen Einkommen ist, zum Kapitalfür den andern werden, und denselben Gegenstand, während er aus einerHand in die andere geht, nach und nach die verschiedensten Bezeich-nungen annehmen" (I, 84), d. h. bald die Bezeichnung „Kapital", balddie Bezeichnung „Einkommen". „Aber sie zu vermengen", behauptetSismondi, „wäre ein Fehler" (leur confusion est ruineuse, p. 477). „In-dessen, so schwer es ist, das Kapital der Gesellschaft von ihrem Einkom-men zu unterscheiden, ebenso wichtig ist es, diesen Unterschied zumachen." (I, 84.)

Der Leser hat wahrscheinlich bemerkt, worin die Schwierigkeit besteht,von der Sismondi spricht: Wenn das Einkommen des einzelnen Unter-nehmers sein Profit ist, der für diese oder jene Konsumgüter verausgabtwird*, wenn das Einkommen des einzelnen Arbeiters sein Arbeitslohn ist,kann man dann diese Einkommen summieren, um auf das „Einkommender Gesellschaft" zu kommen? Was soll dann mit den Kapitalisten undArbeitern geschehen, die z. B. Maschinen produzieren? Die Form ihresProdukts läßt nicht zu, daß es in die Konsumtion (d. h. in die individuelleKonsumtion) eingeht. Dieses Produkt läßt sich nicht mit Konsumgüternzusammenzählen. Diese Produkte sind dazu bestimmt, als Kapital zudienen. Während sie also für ihre Produzenten Einkommen sind (nämlichin jenem. Teil, der Profit und Arbeitslohn ersetzt), werden sie für dieKäufer zu Kapital. Wie soll man sich nun in diesem Durcheinander

* Genauer: der 7eil des Profits, der nicht akkumuliert wird.

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zurechtfinden, das uns hindert, den Begriff des gesellschaftlichen Einkomrmens darzustellen?

Wie wir gesehen haben, ist Sismondi dieser Frage nur nahe gekommen,hat sich aber sogleich wieder von ihr abgewandt und darauf beschränkt,auf die „Schwierigkeit" hinzuweisen. Er erklärt geradeheraus, es sei„üblich, drei Arten des Einkommens anzuerkennen, welche man Rente,Profit und Arbeitslohn nennt" (I, 85), und er geht daran, die Lehre vonA. Smith über jede dieser Arten wiederzugeben. Die aufgeworfeneFrage - nach dem Unterschied zwischen Kapital und Einkommen derGesellschaft — bleibt jedoch unbeantwortet. Die Darlegung geht nunschon ohne strenge Scheidung des gesellschaftlichen Einkommens vomindividuellen weiter. Aber Sismondi nähert sich nodi einmal der fallen-gelassenen Frage. Er sagt, ähnlich wie es verschiedene Arten des Ein-kommens gibt, gebe es auch „verschiedene Arten des Reichtums" (I, 93),nämlich fixes Kapital - Maschinen, Werkzeuge u. dgl. - , zirkulierendesKapital, das im Unterschied zum ersteren rasch verbraucht wird und seineGestalt ändert (Saatgut, Rohstoffe, Arbeitslohn) und schließlich Kapital-einkommen, das ohne Reproduktion verzehrt wird. Für uns ist hier ohneBelang, daß Sismondi alle Fehler von Smith in der Lehre über das fixeund zirkulierende Kapital wiederholt, indem er diese Kategorien, die demZirkulationsprozeß angehören, mit den Kategorien vermengt, die ausdem Produktionsprozeß herrühren (konstantes und variables Kapital),Uns interessiert Sismondis Lehre vom Einkommen. Und in dieser Fragezieht er aus der genannten Einteilung des Reichtums in drei Arten fol-genden Schluß:

„Es muß bemerkt werden, daß diese drei Arten von Reichtum gleicher-weise zur Konsumtion bestimmt sind; denn alles, was geschaffen ist, hatfür den Menschen nur Wert, wenn er es für seine Bedürfnisse verwendenkann, und diese Bedürfnisse werden nur durch die Konsumtion befriedigt.Aber das fixe Kapital wird nur indirekt verwendet (d'une maniere indi-recte); es wird langsam konsumiert, um das wieder zu erzeugen, was derMensch seinem Verbrauch zuführt" (I, 94/95), während sich das zirku-lierende Kapital (Sismondi identifiziert es bereits mit dem variablenKapital) in den „Konsumtionsfonds des Arbeiters" (I, 95) verwandelt.Demnach zerfällt also die gesellschaftliche Konsumtion im Gegensatz zurindividuellen in zwei Arten. Diese beiden Arten unterscheiden sich sehr

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wesentlich voneinander. Es handelt sich natürlich nicht darum, daßdas fixe Kapital langsam konsumiert wird, sondern darum, daß eskonsumiert wird, ohne für irgendeine Klasse der Gesellschaft Einkommen(einen Konsumtionsfonds) zu bilden, daß es nicht individuell, sondernproduktiv konsumiert wird. Sismondi sieht das jedoch nicht, und da erfühlt, daß er auf seiner Sudie nach dem Unterschied zwischen gesell-schaftlichem Kapital und Einkommen wieder vom Wege abgeirrt ist*, er-klärt er hilflos: „Diese Bewegung des Reichtums ist so abstrakt undverlangt eine so angespannte Aufmerksamkeit, um richtig verstanden zuwerden (pour le bien saisir), daß wir es für nützlich erachten, das ein-fachste Beispiel zu wählen." (I, 95.) Er wählt tatsächlich das „einfachste"Beispiel: Ein isoliert lebender Pächter (un f ermier solitaire) hat 100 SackWeizen geerntet: einen Teil hat er selbst verbraucht, während ein Teilals Saatgut und ein weiterer Teil für den Konsum der von ihm be-schäftigten Arbeiter verwendet wird. Im nächsten Jahr erntet er bereits200 Sack. Wer wird sie verbrauchen? Die Pächterfamilie kann sich nichtso schnell vermehren. An diesem (im höchsten Grade unglücklichen) Bei-spiel legt Sismondi den Unterschied zwischen fixem Kapital (Saatgut),zirkulierendem Kapital (Arbeitslohn) und Konsumtionsfonds des Pächtersdar und sagt:

„Wir haben drei Arten von Reichtum in einer Einzelfamilie unter-schieden; versuchen wir jetzt jede Art im Hinblick auf die gesamteNation zu betrachten, und sehen wir zu, wie aus dieser Einteilung dasNationaleinkommen entsteht." (I, 97.) Weiter ist aber nur davon dieRede, daß auch in der Gesellschaft dieselben drei Arten von Reichtumreproduziert werden müssen: das fixe Kapital (wobei Sismondi betont,daß für dieses eine bestimmte Menge Arbeit aufgewandt werden muß,aber nicht erklärt, auf welche Weise das fixe Kapital gegen Konsumgütereingetauscht wird, die die mit dieser Produktion beschäftigten Kapitalistenund Arbeiter brauchen); ferner das Rohmaterial (das Sismondi hier

* Nämlich: Sismondi hat soeben nur das "Kapital vom Einkommen ge-schieden. Das erste wird für die Produktion, das zweite für die Konsumtionverwandt. Aber hier geht es doch um die Gesellschaft. Die Gesellschaft aber„verzehrt" auch das fixe Kapital. Der angeführte Unterschied wird hinfällig/und der sozialökonomische Prozeß, der „Kapital für den einen" in „Ein-kommen für den andern" verwandelt, bleibt ungeklärt.

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gesondert behandelt); dann der Unterhalt der Arbeiter und der Profit derKapitalisten. Das ist alles, was uns Kapitel IV bringt. Es liegt auf derHand, daß die Frage nach dem Nationaleinkommen offengeblieben istund daß Sismondi weder die Verteilung noch auch nur den Begriff desEinkommens .untersucht hat. Den in theoretischer Hinsicht äußerst wich-tigen Hinweis auf die Notwendigkeit, auch das fixe Kapital der Gesell-schaft zu reproduzieren, vergißt er sofort, und im folgenden Kapitel, woer die „Verteilung des Nationaleinkommens unter die verschiedenen Klas-sen der Bürger" (eh. V) behandelt, spricht er unvermittelt von drei Artendes Einkommens, faßt die Rente mit dem Profit zusammen und erklärt,das Nationaleinkommen bestehe aus zwei Teilen: Profit aus Reichtum(d. h. Rente und Profit im eigentlichen Sinne) und Unterhaltsmittel derArbeiter (I, 104/105). Mehr noch, er erklärt:

„Ebenso besteht die jährliche Produktion oder das Ergebnis aller imLaufe des Jahres von einer Nation geleisteten Arbeiten aus zwei Teilen:der e ine . . . ist der Profit, der sich aus dem Reichtum ergibt; der andereist die Fähigkeit zu arbeiten (la puissance de travailler), den wir demTeil des Reichtums gleichsetzen, gegen welchen er in Tausch gegebenwird, oder den Unterhaltsmitteln der werktätigen Klassen." „Somit hal-ten sich das Nationaleinkommen und das Jahresprodukt gegenseitig dieWaage und erscheinen als gleiche Größen. Das ganze Jahresprodukt wirdim Laufe des Jahres verzehrt: zum Teil von den Arbeitern, die ihreArbeit dagegen austauschen und es damit in Kapital verwandeln undreproduzieren, zum Teil von den Kapitalisten, die ihr Einkommen da-gegen austauschen und es verzehren." (I, 105.)

Somit hat Sismondi die Frage nach der Unterscheidung von nationalemKapital und Einkommen, die er selbst so kategorisch als äußerst wichtigund schwierig bezeichnete, ganz einfach fallengelassen und das, was erwenige Seiten vorher sagte, gänzlich vergessen! Und Sismondi bemerktauch schon nicht mehr, daß er durch die Abkehr von dieser Frage in einevöllig widersinnige Lage geraten ist: Auf welche Weise kann denn dasjährliche Produkt restlos in Gestalt von Einkommen in die Konsumtionder Arbeiter und Kapitalisten eingehen, wo doch für die ProduktionKapital nötig ist, genauer gesagt - Produktionsmittel und -instrumentenotwendig sind? Diese müssen erzeugt werden, und sie werden jahraus,jahrein erzeugt (wie Sismondi selbst soeben zugegeben hat). Hier aber

10 Lenin, Werke, Bd. 2

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werden alle Produktionsinstrumente, Rohstoffe .usw. plötzlich beiseite ge-lassen, und die „schwierige" Unterscheidung von Kapital und Einkommenwird mit der völlig ungereimten Behauptung gelöst, das jährliche Produktsei dem Nationaleinkommen gleich.

Diese Theorie, wonach das gesamte Produkt der kapitalistischen Ge-sellschaft aus zwei Teilen besteht: dem Anteil der Arbeiter (Arbeitslohnoder, nach der heutigen Terminologie, variables Kapital) und dem Anteilder Kapitalisten (Mehrwert), ist keine Besonderheit Sismondis. Siestammt nicht von ihm. Er hat sie gänzlich von Ad. Smith übernommen undhat in bestimmter Hinsicht sogar einen Schritt zurück getan. Die ganzenachfolgende politische Ökonomie (Ricardo, Mill, Proudhon, Rodbertus)hat diesen Fehler wiederholt, den erst der Verfasser des „Kapitals" imDritten Abschnitt von Band II aufgedeckt hat. Wir werden weiter untendarlegen, worauf er seine Ansichten gründet. Hier bemerken wir nur,daß auch unsere Volkstümler-Ökonomen diesen Fehler wiederholen. Sieneben Sismondi zu stellen, ist deshalb von besonderem Interesse, weil sieaus dieser fehlerhaften Theorie dieselben Schlußfolgerungen ziehen, dieauch Sismondi unmittelbar gezogen hat*, nämlich daß eine Realisierungdes Mehrwerts in der kapitalistischen Gesellschaft unmöglich sei; daß eineEntwicklung des gesellschaftlichen Reichtums unmöglich sei; daß man zumäußeren Markt Zuflucht nehmen müsse, weil im Lande selbst der Mehr-wert nicht realisiert werden könne; schließlich, daß die Krisen angeblichgerade dadurch hervorgerufen würden, daß es unmöglich wäre, dasProdukt mittels der Konsumtion der Arbeiter und der Kapitalisten zurealisieren.

III

Sismondis Schlußfolgerungen aus der fehlerhaften Lehrevon den zwei Bestandteilen des Jahresprodukts

in der kapitalistisdoenQesellsdhaft

Damit sich der Leser die Doktrin Sismondis in ihrer Gesamtheit vor-stellen kann, wollen wir zuerst seine wichtigsten Schlußfolgerungen ausdieser Theorie darlegen und dann zu der im „Kapital" von Marx ge-gebenen Korrektur seines Hauptfehlers übergehen.

* Und deren sich die anderen Ökonomen, die den Fehler Ad. Smiths wie-derholten, vernünftigerweise enthalten haben.

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Zur Charakteristik der ökonomischen "Romantik 139

Vor allem zieht Sismondi aus dieser fehlerhaften Theorie vonAd. Smith den Schluß, die Produktion müsse der Konsumtion entsprechen,die Produktion werde durch das Einkommen bestimmt. Dem ausführ-lichen Wiederkäuen dieser „Wahrheit" (die davon zeugt, daß der Autorden Charakter der. kapitalistischen Produktion absolut nicht begriffen hat)ist das ganze folgende. Kapitel VI „Wechselseitige Bestimmung der Pro-duktion durch die Konsumtion und der Ausgaben durch das Einkommen"gewidmet. Sismondi überträgt die Moral des sparsamen Bauern unmittel-bar auf die kapitalistische Gesellschaft und meint im Ernst, damit dieLehre von Smith berichtigt zu haben. Ganz am Anfang des Werkes, woer im einleitenden Teil (Erstes Buch, Geschichte der Wissenschaft) vonAd. Smith spricht, erklärt er, Smith mit der Feststellung zu ergänzen, daßdie „Konsumtion der einzige Zweck der Akkumulation ist" (I, 51). „DieKonsumtion", sagt er, „bestimmt die Reproduktion" (I, 119/120), „dasNationaleinkommen muß die nationalen Ausgaben regeln" (I, 113). Vonähnlichen Behauptungen wimmelt das ganze Werk. In unmittelbarem Zu-sammenhang damit stehen zwei weitere Charakterzüge der Doktrin Sis-mondis: erstens der Unglaube an eine Entwicklung des Kapitalismus, dasfehlende Verständnis dafür, wie der Kapitalismus ein immer stärkeresWachstum der Produktivkräfte bewirkt, die Leugnung der Möglichkeitdieses Wachstums - ganz genauso wie die russischen Romantiker „leh-ren", daß der Kapitalismus zu Vergeudung von Arbeit usw. führe.

Sismondi spricht vom „Irrtum derer, welche zu einer unbegrenztenProduktion anreizen" (I, 121). Ein Überschuß der Produktion über dasEinkommen erzeuge Überproduktion (I, 106). Ein Wachstum des Reich-tums sei nur dann von Vorteil, „wenn er sidi stufenweis steigert, wenn ermit sidi selbst im Verhältnis steht, wenn nicht einer seiner Teile sidiunverhältnismäßig schnell entwidcelt" (I, 409). Der biedere Sismondimeint, eine „nidit im Verhältnis stehende" Entwiddung sei keine Ent-wicklung (wie das ja audi unsere Volkstümler meinen), ein soldies Miß-verhältnis sei kein Gesetz des gegebenen Systems der Volkswirtsdiaftund ihrer Bewegung, sondern ein „Fehler" der gesetzgebenden Körper-sdiaft usw., die europäischen Regierungen ahmten hiermit England künst-lidi nadi, das einen falschen Weg eingesdilagen habe.* Sismondi leugnet

* Siehe z. B. II, 456/457 und viele andere Stellen. Weiter unten werdenwir hierfür einige Musterbeispiele anführen, und der Leser wird sehen, daß

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ganz und gar die von den Klassikern aufgestellte und von der MarxsdienTheorie durchaus akzeptierte These, daß der Kapitalismus die Produktiv-kräfte entwickelt. Mehr noch - er meint, daß jede Akkumulation bloß„stufenweise" realisierbar sei, und zeigt sich völlig außerstande, denAkkumulationsprozeß zu erklären. Das ist der zweite höchst charakte-ristische Zug seiner Ansichten. Seine Auslassungen über die Akkumulationnehmen sich höchst kurios aus:

„Schließlich und endlich wird das gesamte Jahresprodukt des gegebenenJahres immer gegen das gesamte Jahresprodukt des vorangegangenenJahres ausgetauscht." (I, 121.) Hier wird die Akkumulation schon gänz-lich geleugnet: demnach müßte ein Wachstum des gesellschaftlichenReichtums im Kapitalismus unmöglich sein. Den russischen Leser wirddiese These nicht besonders verwundern, denn er hat dasselbe sowohlvon Herrn W. W. als auch von Herrn N.-on gehört. Aber Sismondi warimmerhin ein Schüler von Smith. Er fühlt, daß er nun schon etwas ganzUngereimtes sagt und möchte sich korrigieren:

„Wenn die Produktion stufenweise anwächst", fährt er fort, „wirdder jährliche Austausch jedes Jahres nur einen kleinen Verlust (une petiteperte) verursachen, welcher zu gleicher Zeit die zukünftigen Bedingungenverbessert (en meme temps qu'elle bonifie la condition future). Wenndieser Verlust gering ist und gut verteilt wird, so erträgt ihn jeder, ohnezu klagen. . . Wenn aber ein großes Mißverhältnis zwischen der neuenund der früheren Produktion besteht, werden Kapitalien zugrunde gehen(sont entames), es entsteht ein Notstand, und die Nation geht zurückanstatt vorwärts." (1,121.) Die Grundthese der Romantik und der klein-bürgerlichen Auffassung vom Kapitalismus läßt sich wohl kaum prägnan-ter und treffender darlegen als in der zitierten Tirade. Je rascher dieAkkumulation, d. h. die Vergrößerung der Produktion über die Konsum-tion hinaus, vor sich geht - um so besser, haben die Klassiker gelehrt,die, wenn sie sich auch nicht im Prozeß der gesellschaftlichen Produktiondes Kapitals zurechtzufinden und sich auch nicht von dem Irrtum Smiths,wonach das gesellschaftliche Produkt aus zwei Bestandteilen bestehe, freizu machen vermochten, dennoch die völlig richtige These aufstellten, daßsich die Produktion selber einen Markt schafft, daß sie die Konsumtion

sich sogar die Ausdrucksweise unserer Romantiker in der Art des Herrn N.-onnicht im geringsten von der Sismondis unterscheidet.

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bestimmt. Und wir wissen, daß auch die Marxsche Theorie diese Ansichtder Klassiker von der Akkumulation übernommen hat, indem sie aner-kennt, daß sich, je rascher der Reichtum wächst, die Produktivkräfte derArbeit und ihre Vergesellschaftung desto vollständiger entwickeln, dieLage des Arbeiters desto mehr verbessert, soweit sie sich in dem ge-gebenen System der Volkswirtschaft überhaupt verbessern kann. DieRomantiker behaupten genau das Gegenteil und setzen alle ihre Hoff-nungen gerade auf eine schwache Entwicklung des Kapitalismus, weshalbsie dazu auffordern, diese Entwicklung zu hemmen.

Weiter ergibt sich aus dem Unverständnis dafür, daß sich die Pro-duktion den Markt schafft, die Lehre von der Unmöglichkeit, den Mehr-wert zu realisieren. „Aus der Reproduktion erwächst das Einkommen, aberdie Produktion selbst ist nidht das Einkommen-, sie nimmt seinen Namennur an (ce nom! Der Unterschied der Produktion, d. h. des Produkts, vomEinkommen liegt also bloß im Wort!), sie wirkt als solches (eile n'operecomme tel) erst nachdem sie realisiert worden ist, nachdem jeder produ-zierte Gegenstand einen Konsumenten gefunden hat, der ihn brauchteoder wünschte (qui en avait le besoin ou le desir)." (I, 121.) Auf dieseWeise folgt aus der Identifizierung des Einkommens mit der „Produk-tion" (d. h. mit allem, was produziert worden ist) eine Identifizierung derRealisation mit der individuellen Konsumtion. Daß die Realisation z. B.solcher Produkte wie Eisen, Kohle, Maschinen usw., überhaupt von Pro-duktionsmitteln, auf andere Weise erfolgt - das hat Sismondi bereitsvergessen, obwohl er früher ganz nahe an diese Erkenntnis herangekom-men war. Der Identifizierung der Realisation mit der individuellen Kon-sumtion entspringt natürlicherweise die Lehre, daß die Kapitalisten ebenden Mehrwert nicht realisieren können, denn von den beiden Teilen desgesellschaftlichen Produkts realisieren die Arbeiter den Arbeitslohn durchihre Konsumtion. Und tatsächlich ist Sismondi zu dieser Schlußfolgerunggelangt (die später von Proudhon ausführlicher entwickelt worden istund von unseren Volkstümlern ständig wiederholt wird). In seinerPolemik gegen MacCulloch weist Sismondi ausdrücklich darauf hin, daßdieser (in seiner Darlegung der Lehre Ricardos) die Realisierung desProfits nicht erklärt habe. MacCulloch hatte behaupte^ daß bei derTeilung der gesellschaftlichen Arbeit der eine Produktionszweig derMarkt für den anderen sei: die Getreideproduzenten realisieren die

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Waren im Produkt der Produzenten von Kleidung und umgekehrt.* Sis-mondi sagt: „Einmal nimmt der Verfasser eine Arbeit ohne Gewinn an(un travail sans benefice), eine Reproduktion, die nur den Konsum derArbeiter ersetzt" (II, 384, Hervorhebung von Sismondi)... „er läßt denEigentümern keinen Anteil" . . . „wir erforsdien, was aus dem Überschußder Produktion der Arbeiter über ihre Konsumtion wird." (ib.) Somitfinden wir bei diesem ersten Romantiker bereits die ganz eindeutige Be-hauptung, die Kapitalisten könnten den Mehrwert nicht realisieren. Ausdiesem Satz zieht Sismondi den weiteren Schluß - wiederum gerade denSchluß, den auch die Volkstümler ziehen - , daß schon die Bedingungender Realisation allein einen äußeren Markt für den "Kapitalismus not-wendig machen. „Da die Arbeit an sich einen wichtigen Bestandteil desEinkommens bildet, kann man die Nachfrage nach Arbeit nicht vermin-dern, ohne die Nation ärmer zu machen. Der Nutzen, den man von derEntdeckung eines Produktionsverfahrens erwartet, bezieht sich daher faststets auf den auswärtigen "Handel." (I, 345.) „Eine Nation, die zu diesenErfindungen den ersten Anstoß gegeben hat, ist in der Lage, ihren Marktlängere Zeit hindurch erfolgreich im Verhältnis zu der Zahl der Händezu erweitern, die jede neue Erfindung frei werden läßt. Sie verwendetsie sofort zur Vermehrung der Produkte, die diese Erfindung ihr billigerzu liefern gestattet. Aber endlich kommt die Zeit, da die ganze zivilisierteWelt nur einen einzigen Markt bildet und da man nicht mehr bei einerneuen Nation neue Käufer finden kann. Die Nachfrage auf dem Welt-markt wird dann eine ganz bestimmte (precise) Größe, die sich die ver-schiedenen Industrienationen gegenseitig streitig machen. Liefert eineNation mehr Produkte, so geschieht dies zum Schaden einer anderen.Der Gesamtabsatz kann nur durch eine Erhöhung des allgemeinen Wohl-stands vergrößert werden oder dadurch, daß Annehmlichkeiten, die früher

* Siehe den Nachtrag zu den „Nouveaux Principes", 2. Auflage, Bd. II,„Edaircissements relatifs ä la balance des consommations avec les produc-tions" (Aufklärungen über das Gleichgewicht zwischen Konsumtion undProduktion. Die Red}, wo Sismondi den Artikel, eines Schülers Ricardos(MacCullochs) aus der „Edinburgh Review" übersetzt und gegen ihn pole-misiert. Dieser Artikel trägt den Titel: „Beantwortung der Frage: wächst inder Gesellschaft zugleich mit der Produktionsfähigkeit auch stets die Konsum-tionsfähigkeit?"

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den Reichen allein vorbehalten waren, nunmehr auch den Armen zu-gänglich gemacht werden." (II, 316.) Wie der Leser sieht, vertritt Sis-mondi gerade die Doktrin, die sich unsere Romantiker so gut angeeignethaben, daß nämlich der äußere Markt den Ausweg aus der Schwierigkeitbei der Realisation der Produkte überhaupt und des Mehrwerts im be-sonderen darstellt.

Schließlich ergab sich aus dieser Doktrin von der Identität des National-einkommens mit der nationalen Produktion die Lehre Sismondis von denKrisen. Nach allem bisher Dargelegten erübrigt es sich wohl, die zahl-reichen Stellen des Sismondischen Werkes anzuführen, die sich mit dieserFrage befassen. Aus seiner Lehre über die Notwendigkeit, die Produktionmit dem Einkommen in Übereinstimmung zu bringen, folgt ganz selbst-verständlich die Ansicht, die Krise sei ein Resultat der Störung dieserÜbereinstimmung, ein Resultat übermäßiger Produktion, die die Kon-sumtion überholt hat. Aus dem soeben angeführten Zitat geht klar her-vor, daß Sismondi gerade dieses Mißverhältnis zwischen Produktion undKonsumtion für die Hauptursache der Krisen hielt, wobei er die Unter-konsumtion der Volksmassen, der Arbeiter, an den ersten Platz stellte.Eben deshalb ist die Krisentheorie Sismondis (die auch von Rodbertusübernommen worden ist) in der ökonomischen Wissenschaft als Muster-beispiel der Theorien bekannt, die die Krisen aus der Unterkonsumtion*ableiten.

IV

Worin besteht der Tehler der Lehren von Ad. Smilh und Sismondiüber das 'Nationaleinkommen?

Worin besteht denn nun Sismondis grundsätzlicher Fehler, der zu alldiesen Schlußfolgerungen geführt hat?

Sismondi hat seine Lehre vom Nationaleinkommen und dessen Teilungin zwei Teile (den Teil der Arbeiter und den Teil der Kapitalisten) gänz-lich von Ad. Smith übernommen. Sismondi hat nicht nur dessen Dar-legung nichts hinzugefügt, sondern sogar einen Schritt zurück getan,indem er Adam Smiths (freilich mißlungenen) Versuch außer acht ließ,diese Vorstellung theoretisch zu begründen. Sismondi scheint den Wider-spruch nicht zu bemerken, in den diese Theorie zu der Lehre von der

* „Unterkonsumtion" bei Lenin deutsch. Der Tibers.

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Produktion überhaupt geraten ist. In der Tat, in den Wert des einzelnenProdukts gehen nach der Theorie, die den Wert aus der Arbeit ableitet,drei Bestandteile ein: der Teil, der das Rohmaterial und die Produktions-instrumente ersetzt (konstantes Kapital), der Teil, der den Arbeitslohnoder den Unterhalt der Arbeiter ersetzt (variables Kapital) und der„Mehrwert" (mieux-value bei Sismondi). Das ist bei A.Smith dieAnalyse des Einzelprodukts seinem Werte nach, wie sie auch von Sismondiwiederholt wird. Es fragt sich nun, wie denn das gesellsdbaftlidbe Pro-dukt, das aus der Summe der £inzelprodukte besteht, nur aus den beidenletzten Teilen bestehen kann. Wo ist denn der erste Teil, das konstanteKapital, geblieben? Sismondi ist, wie wir gesehen haben, um diese Fragenur herumgegangen wie die Katze um den heißen Brei, A. Smith aberhat sie beantwortet. Er hat behauptet, dieser Teil existiere bloß imEinzelprodukt selbständig. Betrachte man aber das gesamte gesellschaft-liche Produkt, so zerfalle dieser Teil seinerseits in Arbeitslohn und Mehr-wert - nämlich der Kapitalisten, die dieses konstante Kapital erzeugen.

Mit dieser Antwort hat A: Smith jedoch nicht erklärt, aus welchemGrunde bei dieser Zerlegung des Wertes des konstanten Kapitals, nun,sagen wir der Maschinen, das konstante Kapital wiederum beiseite ge-lassen wird, d.h. in unserem Beispiel das Eisen, aus dem die Maschinenund die dabei verwendeten Werkzeuge usw. hergestellt sind. Schließt derWert jedes Produkts den Teil in sich ein, der das konstante Kapital ersetzt(und das wird von allen Ökonomen anerkannt), so ist es völlig willkürlich,diesen Teil aus irgendeinem Gebiet der gesellschaftlichen Produktion aus-zuschließen. Wenn Ad. Smith sagt, daß die Preise der Produktionsmittelihrerseits in Arbeitslohn und Profit zerfallen, erklärt der Verfasser des„Kapitals", so „vergißt A. Smith hinzuzusetzen: außerdem in den Preisder in ihrer eignen Erzeugung verzehrten Produktionsmittel". Ad. Smithschickt uns von Pontius zu Pilatus, „er verweist von einem Produktions-zweig auf den andern, und von dem andern wieder auf einen dritten"38,ohne zu merken, daß sidi die Frage durch diese Verschiebung keineswegsändert. Diese Antwort von Smith (die von der ganzen späteren politischenÖkonomie vor Marx übernommen wurde) ist einfach ein Ausweichen vorder Aufgabe, eine Flucht vor den Schwierigkeiten. Eine Schwierigkeitaber ist hier tatsächlich vorhanden. Sie besteht darin, daß sich der Begriffdes Kapitals und des Einkommens nicht unmittelbar vom individuellen

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auf das gesellschaftliche Produkt übertragen läßt. Die Ökonomen gebendies zu, wenn sie sagen, vom gesellschaftlichen Standpunkt aus werde„das, was für den einen Kapital ist, für den andern zum Einkommen"(siehe weiter oben bei Sismondi). Dieser Satz jedoch formuliert nur dieSchwierigkeit, ohne sie aber zu lösen.*

Die Lösung besteht darin, daß man bei der Untersuchung dieserFrage vom gesellschaftlichen Standpunkt aus nicht mehr von Produktenschlechthin, ohne Beziehung zu ihrer materiellen Form, reden kann. InWirklichkeit handelt es sich hier um das gesellschaftliche Einkommen, d. h.um das Produkt, das zur Konsumtion gelangt. Nicht jedes Produkt kannaber in der individuellen "Konsumtion verbraucht werden: Maschinen,Kohle, Eisen und dergleichen Dinge mehr werden nicht individuell, son-dern produktiv konsumiert. Vom Standpunkt des einzelnen Unternehmerswar diese Unterscheidung überflüssig: wenn wir sagten, die Arbeiterverzehren das variable Kapital, so unterstellten wir, daß sie auf demMarkt Konsumgüter gegen das Geld eintauschen, das die Kapitalisten fürdie von den Arbeitern erzeugten Maschinen erhalten und an diese aus-gezahlt haben. Hier interessiert uns dieser Austausch von Maschinengegen Brot nicht. Vom gesellschaftlichen Standpunkt aus kann man aberdiesen Austausch nicht mehr einfach unterstellen: man kann nicht sagen,die ganze Klasse der Kapitalisten, die Maschinen, Eisen usw. erzeugen,verkaufe sie und realisiere sie dadurch. Die Frage ist hier gerade die, wiedie Realisation, das heifit der Ersatz aller Teile des gesellschaftlichenProdukts, erfolgt. Deshalb muß der Ausgangspunkt einer Betrachtungüber gesellschaftliches Kapital und Einkommen - oder, was dasselbe ist,über die Realisation des Produkts in der kapitalistischen Gesellschaft - dieTeilung zwischen den beiden gänzlich verschiedenen Arten des gesell-schaftlichen Produkts: Produktionsmitteln und Konsumtionsmitteln sein.Jene können nur produktiv verbraucht werden, diese nur individuell. Dieersteren können nur als Kapital dienen, die letzteren müssen zu Einkom-men werden, d. h. durch die Konsumtion der Arbeiter und der Kapi-talisten verzehrt werden. Die ersteren fallen aussdhließidh den Kapi-

* Wir sprechen hier nur vom Wesen der neuen Theorie, die diese Lösunggebracht hat, und behalten uns vor, sie an anderer Stelle ausführlicher dar-zulegen. Siehe „Das Kapital", Band II, Abschnitt III.39 (Eine ausführlichereDarlegung siehe in der „Entwicklung des Kapitalismus", Kapitel I.40)

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talisten zu, die letzteren verteilen sidh zwischen den Arbeitern und denKapitalisten.

Hat man einmal diese Teilung begriffen und den Fehler von A. Smithkorrigiert, der aus dem gesellschaftlichen Produkt dessen konstantenTeil (d. h. den Teil, der das konstante Kapital ersetzt) eliminiert hat, sowird die Frage nach der Realisation des Produkts in der kapitalistischenGesellschaft bereits klar. Man kann offenbar nicht bloß davon reden, daßder Arbeitslohn durch die Konsumtion der Arbeiter und der Mehrwertdurch die Konsumtion der Kapitalisten realisiert werde - und es damitgenug sein lassen.* Die Arbeiter können den Arbeitslohn und die Kapi-talisten den Mehrwert nur dann verzehren, wenn das Produkt aus Kon-sumtionsmitteln besteht, d. h. nur aus der einen Abteilung der gesell-schaftlichen Produktion. Das aus Produktionsmitteln bestehende Produktaber können sie nicht „verzehren": es muß gegen Konsumtionsmittel ge-tausdbt werden. Aber gegen welchen Teil (dem Wert nach) der Konsum-tionsmittel können sie nun ihr Produkt eintauschen? Offenbar nur gegenden konstanten Jeil (das konstante Kapital), denn die anderen beidenTeile bilden den Konsumtionsfonds der Arbeiter und der Kapitalisten,die Konsumtionsmittel erzeugen. Indem er den Mehrwert und den Ar-beitslohn in den Produktionsmittel erzeugenden Produktionszweigenrealisiert, realisiert dieser Austausch das konstante Kapital in den Kon-sumtionsmittel erzeugenden Produktionszweigen. Und in der Tat hatbei dem Kapitalisten, der, sagen wir, Zucker produziert, der Teil des Pro-dukts, der das konstante Kapital (d. h. die Rohstoffe, die Hilfsstoffe, dieMaschinen, die Baulichkeiten usw.) ersetzen soll, die Form von Zucker.

* Gerade so aber argumentieren unsere Volkstümler-Ökonomen, dieHerren W. W. und N.-on. Wir sind oben absichtlich besonders ausführlichdarauf eingegangen, wie Sismondi um die Frage der produktiven und indi-viduellen Konsumtion, der Konsumtionsmittel und der Produktionsmittelherumgeht. (A. Smith näherte sich der Unterscheidung zwischen ihnen nochmehr als Sismondi.) Wir wollten dem Leser zeigen, daß die klassischen Ver-treter der fehlerhaften Theorie deren Unzulänglichkeit fühlten, den Wider-spruch sahen und versuchten, aus ihm herauszukommen. Unsere „eigen-ständigen" Theoretiker dagegen sehen nichts und fühlen nichts, ja sie kennennicht einmal die Theorie oder die Geschichte der Frage, über die sie so eifrigschwatzen.

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Um diesen Teil zu realisieren, muß man für dieses Konsumtionsmittel dieentsprechenden Produktionsmittel erhalten. Die Realisierung dieses Teilswird folglich aus dem Tausch eines Konsumtionsmittels gegen Produktebestehen, die als 'Produktionsmittel dienen. Nunmehr bleibt nur noch dieRealisation eines Teils des gesellschaftlichen Produkts ungeklärt, nämlichdes konstanten Kapitals in der Abteilung, die Produktionsmittel herstellt.Dieser wird zum Teil dadurch realisiert, daß ein Teil des Produkts, inseiner Naturalf orm, wieder in die Produktion eingeht (z. B. wird ein Teilder in einer Steinkohlengrube gewonnenen Kohle wieder für die Kohlen-gewinnung verwandt,- von Pächtern geerntetes Korn wird wieder zurAussaat verwandt usw.); zum Teil wird er aber auch durch den Aus-tausch zwischen den einzelnen Kapitalisten derselben Abteilung realisiert:z. B. ist für die Eisenproduktion Steinkohle, für die Steinkohlengewin-nung wiederum Eisen erforderlich. Die Kapitalisten, die diese beiden Pro-dukte gewinnen, realisieren denn auch durch gegenseitigen Austausch denTeil dieser Produkte, der ihr konstantes Kapital ersetzt.

Diese Analyse (die wir, wie gesagt, aus dem genannten Grunde ingedrängtester Form durchgeführt haben) hat die von allen Ökonomenerkannte Schwierigkeit behoben, die sie durch den Satz ausdrückten:„Was für den einen Kapital ist, ist für den anderen Einkommen." DieseAnalyse hat gezeigt, wie falsch es ist, die gesellschaftliche Produktionallein auf die individuelle Konsumtion zurückzuführen.

Nunmehr können wir uns der Untersuchung der Schlußfolgerungenzuwenden, die Sismondi (und die anderen Romantiker) aus seiner fehler-haften Theorie gezogen hat. Zunächst aber wollen wir das Urteil an-führen, das der Autor der angeführten Analyse über Sismondi gefällthat, nachdem er die Theorie von A. Smith eingehend und allseitig unter-suchte, eine Theorie, zu der Sismondi nicht das geringste hinzugefügt hat,nur daß er Smiths Versuch überging, seinen Widerspruch zu rechtfertigen.

„Sismondi, der sich besonders mit dem Verhältnis von Kapital undRevenue zu schaffen und in der Tat die besondre Fassung dieses Ver-hältnisses zur differentia specifica* seiner ,Nouveaux Principes' macht,hat nicht ein" (Hervorhebung vom Verfasser) „wissenschaftliches Wortgesagt, nicht ein Atom zur Klärung des Problems beigetragen." („DasKapital", II, S. 385, I.Auflage.41)

* kennzeichnenden Besonderheit. T)ie Red.

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V

Die Akkumulation in der kapitalistischen Gesellschaft

Die erste fehlerhafte Schlußfolgerung aus der fehlerhaften Theoriebezieht sich auf die Akkumulation. Sismondi hat die kapitalistische Akku-mulation absolut nicht begriffen, und in dem heißen Streit, den er indieser Frage mit Ricardo geführt hat, war die Wahrheit im wesentlichenauf Seiten Ricardos. Dieser behauptete, die Produktion schaffe sich selbsteinen Markt, während Sismondi dies verneinte und darauf seine Krisen-theorie aufbaute. Allerdings war auch Ricardo nicht imstande, den ge-nannten Hauptfehler Smiths zu korrigieren, und. konnte daher auch dieFrage nach dem Verhältnis des gesellschaftlichen Kapitals zum Einkom-men und nach der Realisation des Produkts nicht lösen (Ricardo hattesich diese Frage auch gar nicht gestellt) - aber er charakterisierte instink-tiv das eigentliche Wesen der bürgerlichen Produktionsweise, indem erdie ganz unbestreitbare Tatsache hervorhob, daß Akkumulation ein über-wiegen der Produktion über das Einkommen bedeutet. Vom Standpunktder neuesten Analyse bestätigt sich das auch. Die Produktion schafft sichtatsächlich selber einen Markt: zur Produktion bedarf es der Produktions-mittel, und diese bilden eine besondere Sphäre der gesellschaftlichen Pro-duktion, die einen bestimmten Teil der Arbeiter beschäftigt und ein be-sonderes Produkt liefert, das teilweise innerhalb dieser Sphäre selbst,teilweise im Austausch mit der anderen Sphäre - der Produktion vonKonsumtionsmitteln — realisiert wird. Die Akkumulation bedeutet tat-sächlich ein überwiegen der Produktion über das Einkommen (über dieKonsumtionsmittel)- Um die Produktion zu erweitern (um zu „akkumu-lieren" in der kategorischen Bedeutung dieses Terminus), ist es not-wendig, zunächst Produktionsmittel zu erzeugen*; und dazu bedarf esfolglich der Erweiterung der Abteilung der gesellschaftlichen Produktion,die Produktionsmittel herstellt, zu diesem Zweck aber müssen ihr Arbeiterzugeführt werden, die bereits eine "Nachfrage auch nach Xonsumtions-

* Wir wollen den Leser daran erinnern, wie Sismondi an diese Frageherangetreten ist, indem er diese Produktionsmittel für eine Einzelfamiliedeutlich heraushob und das auch für die Gesellschaft zu tun versuchte. Eigent-lich war es also Smith, der an diese Frage „herantrat", und nicht Sismondi,der jenen nur darlegt.

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mittein geltend tnadhen. Die „Konsumtion" entwickelt sich demnach imQefolge der „Akkumulation" oder im Gefolge der „Produktion" - sosonderbar dies auch erscheinen mag, aber anders kann es in der kapita-listischen Gesellschaft auch gar nicht sein. In der Entwicklung dieserbeiden Abteilungen der kapitalistischen Produktion ist also Gleichmäßig-keit nicht nur nicht unbedingt notwendig, sondern im Gegenteil, die Un-gleichmäßigkeit ist unvermeidlich. Bekanntlich besteht das Entwicklungs-gesetz des Kapitals darin, daß das konstante Kapital schneller wächst alsdas variable, d. h., ein immer größerer Teil der sich neu bildenden Kapi-talien wendet sich der Produktionsmittel erzeugenden Abteilung dergesellschaftlichen Produktion zu. Folglich wächst diese Abteilung not-wendigerweise schneller als die Konsumtionsmittel erzeugende Abteilung,d. h., es tritt gerade das ein, was Sismondi als „unmöglich", „gefährlich"usw. hinstellte. Folglich nehmen die Produkte der individuellen Konsum-tion in der Gesamtmasse der kapitalistischen Produktion einen immergeringeren Platz ein. Und das entspricht völlig der historischen „Mission"des Kapitalismus und seiner spezifischen sozialen Struktur: die erste be-steht gerade in der Entwicklung der Produktivkräfte der Gesellschaft(Produktion für die Produktion); die zweite schließt ihre Utilisationdurch die Masse der Bevölkerung aus.

Wir können nun Sismondis Auffassung von der Akkumulation voll-ständig einschätzen. Seine Behauptungen, eine rasdbe Akkumulationführe einen Notstand herbei, sind absolut falsch und rühren bloß daher,daß er die Akkumulation nicht versteht, genauso wie seine wiederholtenErklärungen und Forderungen, die Produktion möge nur nicht die Kon-sumtion überholen, denn die Konsumtion bestimme die Produktion. InWirklichkeit ist es gerade umgekehrt, und Sismondi kehrt der Wirklich-keit in ihrer besonderen, historisch bestimmten Form kurzerhand denRücken und setzt an die Stelle der Analyse die kleinbürgerliche Moral.Besonders kurios wirken Sismondis Versuche, diese Moral durch eine„wissenschaftliche" Formel zu bemänteln. Nach Meinung von Sismondisind, wie er in der Vorbemerkung zur 2. Auflage der „Nouveaux Prin-cipes", schreibt, „Say und Ricardo zu dem Glauben gelangt, d a ß . . . dieSchranken der Konsumtion lediglich durch die der Produktion bestimmtwürden, während sie doch tatsächlich durch das Einkommen begrenztw i r d . . . Sie hätten die Produzenten warnen sollen, daß sie nur auf Kon-

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sumenten rechnen können, die ein Einkommen haben." (I, XIII.)* überso viel Naivität kann man heute nur lächeln. Aber strotzen die Elaborateunserer heutigen Romantiker von der Art der Herren W. W. und N.-onnicht von derartigen Dingen? „Sollen es sich die Bankunternehmer gutüberlegen" . . . , ob sich ein Markt für die Waren finden wird. (II, 101 bis102.) „Wenn man die Vermehrung des Reichtums als den Zweck derGesellschaft ansieht, so bringt man den Zweck unaufhörlich den Mittelnzum Opfer." (II, 140.) „Wenn man aber, anstatt den Antrieb abzu-warten, der von der Nachfrage nach Arbeit ausgehen muß (d. h. dendurch die Nachfrage der Arbeiter nach Produkten hervorgerufenen An-trieb für die Produktion), glaubt, daß die vorhergehende Produktion ihngeben werde, so würde man handeln, als drehe man bei einer Uhr, anstattdas Rad mit dem Kettchen (la roue qui porte la chainette) zurückzu-drehen, ein anderes Rad zurück: man würde sie zerbrechen, und derganze Mechanismus würde stehenbleiben." (II, 454.) Das sagt Sismondi.Nun hören wir uns Herrn Nikolai-on an. „Wir haben außer acht ge-lassen, auf wessen Kosten eine solche Entwicklung (d. h. die Entwicklungdes Kapitalismus) vor sich geht, wir haben auch vergessen, welchemZweck jede wie immer geartete Produktion d ien t . . . Ein höchst ver-hängnisvoller Irrtum" (N.-on, „Abhandlungen über unsere Volkswirt-schaft nach der Reform", 298). Beide Autoren reden vom Kapitalismus,von kapitalistischen Ländern; beide bekunden ein völliges Unverständnisfür das Wesen der kapitalistischen Akkumulation. Wer würde aber aufden Gedanken kommen, daß der zweite 70 Jahre nach dem erstenschreibt?

Wie das Unverständnis für die kapitalistische Akkumulation mit derirrigen Methode zusammenhängt, alle Produktion auf die Produktion vonKonsumtionsmitteln zu reduzieren, das geht anschaulich aus einem, vonSismondi in Kapitel VIII „Ergebnisse des Kampfes zur Erzielung billigerProduktion" (Viertes Buch „Vom kommerziellen Reichtum") angeführtenBeispiel hervor.

* Bekanntlich hat die neueste Theorie sich in dieser Frage (ob die Produk-tion sich selbst einen Markt schafft) ganz und gar den Klassikern ange-schlossen, die sie bejahend beantworteten, entgegen der Romantik, die sieverneinte. „Die wahre Säoranke der kapitalistischen Produktion ist das Kapitalselbst." („Das Kapital", III, I, 231.42)

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Zur Charakteristik der ökonomischen Romantik 151

Angenommen, sagt Sismondi, ein Manufakturbesitzer habe ein zirku-lierendes Kapital von 100 000 Franken, das ihm jährlich 15 000 Frankeneinbringt, von welcher Summe 6000 Franken den Zins vom Kapital bildenund an den Kapitalisten zurückgehen, 9000 Franken aber den Unter-nehmergewinn des Fabrikanten bilden. Angenommen, er beschäftigt100 Arbeiter, deren Lohn 30 000 Franken beträgt. Ferner sei angenom^men, daß eine Vermehrung des Kapitals, eine Erweiterung der Produk-tion (eine „Akkumulation") stattfinde. Anstatt der 100 000 Fr. würdedas Kapital 200 000 Fr. betragen, die in fixem Kapital, und 200 000 Fr.,die in zirkulierendem Kapital angelegt sind, im ganzen also 400 000 Fr. ;Profit und Zins = 32 000 + 16 000 Fr., denn der Zinsfuß ist von 6% auf4 % gesunken. Die Zahl der Arbeiter hat sich verdoppelt, der Arbeitslohnaber ist von 300 Fr. auf 200 Fr. gesunken, mächt also im ganzen 40 000 Fr.aus. Die Produktion hat sich also vervierfacht.* Und Sismondi errechnetdie Resultate: „Einkommen" oder „Konsumtion" waren zuerst 45 000 Fr.(30 000 Arbeitslohn + 6000 Zinsen+ 9000 Profit), jetzt aber 88 000 Fr.(40 000 Arbeitslohn + 16 000 Zinsen+ 32 000 Profit). „Die Produktionhat sich vervierfacht", sagt Sismondi, „die Konsumtion aber nicht einmalverdoppelt. Die Konsumtion der Arbeiter, die die "Maschinen hergestellthaben, darf nicht in Rechnung gestellt werden, da sie durch die200 000 Tranken gedeckt ist, die auf diese Maschinen verwandt wurden;sie bildet bereits einen Posten in der Rechnung einer anderen Manu-faktur, wo sich dieselben Verhältnisse zeigen werden." (I, 405/406.)

Sismondis Rechnung beweist, daß sich bei einer Vermehrung derProduktion das Einkommen verringert. Eine unbestreitbare Tatsache.

* „Die erste Wirkung der Konkurrenz", sagt Sismondi, „war ein Sinkender Löhne und zugleich ein Anwachsen der Zahl der Arbeiter.* (I, 403.) Wirwollen hier nicht auf die Fehler der Sismondischen Rechnung eingehen: ermeint z. B., der Profit werde 8 Prozent vom fixen Kapital und 8% vomzirkulierenden Kapital betragen, die Zahl der Arbeiter werde proportionalzur Vergrößerung des zirkulierenden Kapitals (das er nicht recht vomvariablen Kapital zu trennen versteht) steigen, das fixe Kapital gehe ganz inden Preis des Produkts ein. In diesem Falle ist das alles nicht von Belang,denn er kommt zu einer richtigen Schlußfolgerung: Verringerung des Anteilsdes variablen Kapitals am Gesamtkapital als notwendiges Ergebnis derAkkumulation. .

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152 W. 3. Centn

Sismondi merkt aber nicht, daß er mit seinem Beispiel seine eigene Theorievon der Realisation des Produkts in der kapitalistischen Gesellschaft wider-legt. Kurios nimmt sich seine Bemerkung aus, die Konsumtion der Ar-beiter, die die Maschinen hergestellt haben, dürfe nicht „in Rechnunggestellt werden". Warum denn nicht? Erstens darum, weil sie durch die200 000 Fr. gededkt sei. Also ist das Kapital in die Sphäre übertragenworden, in der Produktionsmittel erzeugt werden - doch das bemerktSismondi nicht. Also erstreckt sich der „innere Markt", der nach Sismondi„eingeschnürt" wird, nicht bloß auf Konsumtionsmittel, sondern auch aufProduktionsmittel Diese Produktionsmittel bilden ja ein besonderes Pro-dukt, dessen „Realisation" nicht in der individuellen Konsumtion besteht,und je rascher die Akkumulation erfolgt, desto stärker entwickelt sichfolglich die Sphäre der kapitalistischen Produktion, die Produkte nichtfür die individuelle, sondern für die produktive Konsumtion liefert.Zweitens, sagt Sismondi, sind es Arbeiter einer anderen Manufaktur, wosich dieselben Verhältnisse zeigen werden (oü les memes faits pourrontse representer). Wie man sieht, wiederholt sich hier die Smithsche Manier,den Leser „von Pontius zu Pilatus" zu schicken. Aber in dieser „anderenManufaktur" wird ja ebenfalls konstantes "Kapital angewandt, und seineProduktion schafft ebenfalls einen Markt für die Abteilung der kapita-listischen Produktion, die Produktionsmittel herstellt! Soviel wir dieFrage auch von dem einen Kapitalisten zum anderen und vom anderenzu einem dritten verschieben - die genannte Abteilung verschwindet des-wegen nicht, und der „innere Markt" reduziert sich nicht nur auf Kon-sumtionsmittel. Wenn Sismondi daher sagt: „Diese Berechnung wider-legt . . . ein Axiom, auf dem man in der politischen Ökonomie am meistenbestanden hat, nämlich daß die größte Freiheit der Konkurrenz für dieindustrielle Entwicklung am vorteilhaftesten sei" (I, 407), so merkt ernicht, daß „diese Berechnung" auch ihn selbst widerlegt. Unbestreitbarist die Tatsache, daß durch die Einführung von Maschinen Arbeiter ver-drängt werden und sich damit ihre Lage verschlechtert, und unbestreitbarist es auch ein Verdienst Sismondis, als einer der ersten darauf hinge-wiesen zu haben. Aber das bewahrt seine Theorie von der Akkumulationund dem inneren Markt keineswegs davor, völlig fehlerhaft zu sein, hebtdoch seine eigene Berechnung anschaulich eben die Erscheinung hervor,die Sismondi nicht nur in Abrede stellte, sondern sogar zu einem Argu-

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ment gegen den Kapitalismus erhob, wenn er behauptete, Akkumulationund Produktion müßten der Konsumtion entsprechen, sonst werde eseine Krise geben. Die Berechnung zeigt gerade, daß Akkumulation undProduktion die Konsumtion Überholen und daß es auch nicht anders seinkann, denn die Akkumulation vollzieht sich hauptsächlich auf der Linieder Produktionsmittel, die nicht in die „Konsumtion" eingehen. Was Sis-mondi einfach ein Fehler, ein Widerspruch in der Doktrin Ricardos er-schien, nämlich daß die Akkumulation ein Überschuß der Produktionüber das Einkommen ist, das entspricht tatsächlich voll und ganz derWirklichkeit und drückt einen dem Kapitalismus eigenen Widerspruchaus. Dieser Überschuß ist unumgänglich bei jeder Akkumulation, durchdie ein neuer Markt für Produktionsmittel erschlossen wird, ohne daßsich der Markt für Konsumtionsmittel dementsprechend erweitert, jaselbst dann, wenn dieser Markt kleiner wird* Wenn Sismondi weiter dieLehre von den Vorzügen der freien Konkurrenz beiseite schiebt, so be-merkt er nicht, daß er zusammen mit dem hohlen Optimismus auch eineunzweifelhafte Wahrheit über Bord wirft, nämlich daß die freie Kon-kurrenz die "Produktivkräfte der Qesellsdsaft entwickelt, wie dies wie-derum deutlich aus seiner eigenen Berechnung hervorgeht. (Eigentlichist dies nur ein anderer Ausdruck für die gleiche Tatsache, daß eine be-sondere Abteilung der Produktion geschaffen wird, die Produktionsmittelerzeugt, und daß sie sich besonders rasch entwickelt.) Diese Entwicklungder Produktivkräfte der Gesellschaft ohne entsprechende Entwicklung derKonsumtion ist natürlich ein Widerspruch, aber eben solch ein Wider-spruch, der in der Wirklichkeit besteht, der sich aus dem eigensten Wesendes Kapitalismus ergibt und über den man nicht mit sentimentalen Phra-sen hinwegkommen kann.

Geradeso aber suchen sich die Romantiker herauszureden. Und damitder Leser uns nicht im Verdacht hat, daß wir die Fehler eines so „ver-alteten" Autors wie Sismondi zum Anlaß nehmen, um gegen heutigeÖkonomen aus der Luft gegriffene Anklagen zu erheben, wollen wir ein

* Aus der oben angeführten Analyse geht ohne weiteres hervor, daß auchein solcher Fall möglich ist, je nachdem, in welchem Maße das neue Kapitalin einen konstanten und einen variablen Teil aufgeteilt wird und in welchemMaße die Verringerung des relativen Anteils des variablen Kapitals die altenProduktionszweige erfaßt.

11 Lenin, Werke, Bd. 2

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kleines Musterstück von einem „neuesten" Autor, dem Herrn N.-on,anführen. Auf S. 242 seiner „Abhandlungen" bespricht er die Entwick-lung des Kapitalismus im russischen Mühlenwesen. Der Autor verweistauf das Aufkommen großer Dampfmühlen mit vervollkommneten Pro-duktionsinstrumenten (für den Umbau der Mühlen wurden seit densiebziger Jahren nahezu 100 Millionen Rubel ausgegeben) und mit einerArbeitsproduktivität, die sich mehr als verdoppelt hat, und er charak-terisiert diese Erscheinung folgendermaßen: „Das Mühlenwesen hat sichnicht entwickelt, sondern lediglich in Großbetrieben konzentriert." Hier-auf dehnt er diese Charakteristik auf sämtliche Industriezweige aus(S. 243) und zieht die Schlußfolgerung, daß „in ausnahmslos allen Fälleneine Menge Arbeitskräfte freigesetzt wird, die keine Beschäftigung fin-det" (243), und daß „sich die kapitalistische Produktion auf Kosten desVolkskonsums entwickelte" (241). Wir fragen den Leser: Unterscheidetsich eine solche Betrachtung auch nur im geringsten von der soeben ange-führten Betrachtung Sismondis? Dieser „neueste" Autor konstatiert zweiTatsachen, dieselben Tatsachen, die wir auch in Sismondis Beispiel an-getroffen haben, und tut diese beiden Tatsachen mit einer ebenso senti-mentalen Phrase ab. Erstens zeigt sein Beispiel, daß die Entwicklung desKapitalismus gerade auf der Linie der Produktionsmittel erfolgt. Dasbedeutet, daß der Kapitalismus die Produktivkräfte der Gesellschaft ent-wickelt. Zweitens zeigt sein Beispiel, daß diese Entwicklung sich aufgerade dem spezifischen Wege der Widersprüche vollzieht, der demKapitalismus eigen ist: Die Produktion entwickelt sich (durch den Auf-wand von 100 Millionen Rubel wird ein innerer Markt für Produktegeschaffen, die durch nichtindividuelle Konsumtion' realisiert werden)ohne eine entsprechende Entwicklung der Konsumtion (die Ernährung desVolkes verschlechtert sich), d. h., es rindet eben Produktion um der Pro-duktion willen statt. Herr N.-on meint nun, dieser Widerspruch derWirklichkeit werde verschwinden, wenn er ihn, mit der Naivität des gutenalten Sismondi, bloß als Widerspruch einer Doktrin, bloß als „verhängnis-vollen Irrtum" hinstellt: „Wir haben den Zweck der Produktion ver-gessen"!! Was kann charakteristischer sein als ein Satz wie „sie hat sidinicht entwickelt, sondern lediglich konzentriert"? Offenbar kennt HerrN.-on einen Kapitalismus, in dem die Entwicklung anders verlaufenkönnte als auf dem Wege der Konzentration. Wie schade, daß er uns

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mit diesem „eigenständigen" Kapitalismus, der der ganzen ihm vorauf-gegangenen politischen Ökonomie verborgen geblieben ist, nicht bekanntgemacht hat!

VIDer äußere Markt als „Ausweg aus der Sdowierigkeit"

bei der Realisation des Mehrwerts

Sismondis nächster Fehler, der aus der fehlerhaften Theorie vom gesell-schaftlichen Einkommen und Produkt in der kapitalistischen Gesellschaftentspringt, ist die Lehre von der Unmöglichkeit, das Produkt überhauptund den Mehrwert im besonderen zu realisieren, und der daraus folgen-den Notwendigkeit des äußeren Marktes. Was die Realisation des Pro-dukts überhaupt anbelangt, so zeigt die oben angeführte Analyse, daßdie „Unmöglichkeit" sich in der fälschlichen Ausschaltung des konstantenKapitals und der Produktionsmittel erschöpft. Ist dieser Fehler einmalkorrigiert, so verschwindet auch die „Unmöglichkeit". Dasselbe muß aberauch vom Mehrwert im besonderen gesagt werden: diese Analyse erklärtauch seine Realisation. Es gibt absolut keinen vernünftigen Grund dafür,den Mehrwert hinsichtlich seiner Realisation aus dem Gesamtproduktauszuscheiden. Die gegenteilige Behauptung Sismondis (und unsererVolkstümler) resultiert einfach aus dem Unverständnis für die Grund-gesetze der Realisation überhaupt, aus der Unfähigkeit, das Produkt nachdem Wert in drei (und nicht zwei) Teile und nach der stofflichen Formin zwei Arten von Produkten (Produktionsmittel und Konsumtionsmittel)zu zerlegen. Die Behauptung, die Kapitalisten könnten den Mehrwertnicht verzehren, ist nur eine vulgarisierte Wiederholung der SmithschenMißverständnisse bezüglich der Realisation überhaupt. Nur ein 7eil desMehrwerts besteht aus Konsumtionsmitteln, der andere Teil aber ausProduktionsmitteln (z. B. der Mehrwert des Eisenfabrikanten). Die„Konsumtion" dieses letzteren Mehrwerts vollzieht sich auf die Art, daßer in der. Produktion angelegt wird, die Kapitalisten aber, die das Produktin Form von Produktionsmitteln erzeugen, konsumieren selber nicht denMehrwert, sondern das bei anderen Kapitalisten eingetauschte konstanteKapital. Eben deshalb müssen die Volkstümler, wenn sie davon reden,daß es unmöglich sei, den Mehrwert zu realisieren, logischerweise dazugelangen, auch die Realisation des konstanten Kapitals für unmöglich zu

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erklären - und damit wären sie wohlbehalten wieder bei Adam an-gelangt... Es versteht sich, daß eine solche Rückkehr zum „Vater derpolitischen Ökonomie" ein gigantischer Fortschritt wäre für Autoren,die uns alte Fehler als Wahrheiten auftischen, zu denen sie „aus eigenemVerstand gelangt sind" . . .

Und der äußere Markt? Leugnen wir nicht die Notwendigkeit einesäußeren Marktes für den Kapitalismus? Nein, natürlich nicht. Nur hat dieFrage des äußeren Marktes absolut nidots mit der 7rage der Realisationgemein, und der Versuch, diese beiden Fragen zu einem Ganzen zu ver-binden, kennzeichnet lediglich den romantischen Wunsch, den Kapitalis-mus „aufhalten" zu wollen, sowie die romantische Unfähigkeit, logisch zudenken. Die Theorie, von der die Frage der Realisation geklärt wordenist, hat das mit aller Genauigkeit dargetan. Der Romantiker sagt: DieKapitalisten können den Mehrwert nicht konsumieren und müssen ihndeshalb im Ausland absetzen. Geben denn etwa, fragt es sich, die Kapi-talisten ihre Produkte umsonst an die Ausländer ab, oder werfen sie sieetwa ins Meer? Sie verkaufen sie, also erhalten sie ein Äquivalent; sieführen Produkte aus, also führen sie andere ein. Wenn wir von derRealisation des gesellschaftlichen Produkts sprechen, so lassen wir damitbereits die Geldzirkulation beiseite und unterstellen bloßen Austauschvon Produkten gegen Produkte, denn die Frage der Realisation bestehteben darin, den Ersatz aller Teile des gesellschaftlichen Produkts nachdem Wert und nach der stofflichen Form zu analysieren. Mit der Unter-suchung der Realisation anzufangen und damit abzuschließen, „manwerde das Produkt gegen Geld absetzen", das ist daher ebenso lächerlich,wie auf die Frage nach der Realisation des konstanten Kapitals in Kon-sumtionsmitteln zu antworten: „Man wird es verkaufen." Das ist ein-fach ein grober logischer Schnitzer: man kommt von der Frage der Reali-sation des gesellschaftlichen Gesamtprodukts ab und stellt sich auf denStandpunkt des einzelnen Unternehmers, den außer dem „Verkauf anden Ausländer" nichts weiter interessiert. Den Außenhandel, die Aus-fuhr in die Frage der Realisation hineinziehen - heißt, der Frage aus demWege gehen, sie lediglich auf ein breiteres Feld verlegen, ohne sie aberim geringsten zu klären* Die Frage der Realisation kommt um kein Jota

* Das ist so einleuchtend, daß sogar Sismondi die Notwendigkeit erkannte,bei der Analyse der Realisation vom Außenhandel zu abstrahieren. „Um diesen

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voran, wenn wir an Stelle des Marktes eines einzelnen Landes den Markteines bestimmten Komplexes von Ländern nehmen. Wenn die Volks-tümler versichern, der äußere Markt sei der „Ausweg aus der Schwierig-keit"*, die der Kapitalismus sich bei Realisation des Produkts schafft, sobemänteln sie mit dieser Phrase nur den traurigen Umstand, daß der„äußere Markt" für sie der „Ausweg aus der Schwierigkeit" ist, in die siegeraten, weil sie die Theorie nicht verstehen... Aber nicht genug damit.Die Theorie, die den äußeren Markt mit der Frage der Realisation desgesellschaftlichen Gesamtprodukts verbindet, zeigt nicht nur Nichtver-stehen der Realisation, sondern schließt überdies auch eine äußerst ober-flächliche Auffassung der dieser Realisation eigenen Widersprüche in sichein. „Die Arbeiter werden den Arbeitslohn konsumieren, die Kapitalistenaber können den Mehrwert nicht konsumieren." Man denke sich einmalvom Standpunkt des äußeren Marktes in diese „Theorie" hinein! Woherwissen wir, daß „die Arbeiter den Arbeitslohn konsumieren werden"? Mitwelchem Recht kann man annehmen, daß die Produkte, die die gesamteKapitalistenklasse eines gegebenen Landes für die Konsumtion aller Ar-beiter dieses Landes bestimmt hat, sich wirklich dem Werte nach als ihremArbeitslohn gleich erweisen und ihn ersetzen werden, daß also für dieseProdukte ein äußerer Markt nicht notwendig sein wird? Es liegt ent-schieden kein Grund zu einer solchen Annahme vor, und es ist in Wirk-lichkeit durchaus nicht so. Nicht nur die Produkte (oder die Teile derProdukte), die den Mehrwert ersetzen, sondern auch die Produkte, diedas variable Kapital ersetzen; nicht nur die Produkte, die das variableKapital ersetzen, sondern auch die Produkte, die das konstante Kapitalersetzen (das unsere „Ökonomen" vergessen, ohne sich ihrer Verwandt-schaft . . . mit Adam zu erinnern); nicht nur die Produkte, die in Form vonKonsumtionsmitteln existieren, sondern auch die Produkte, die in Formvon Produktionsmitteln existieren, sie werden alle in gleicher Weise nur

Berechnungen genauer folgen zu können", sagt er über die Übereinstimmungder Produktion mit der Konsumtion, „und zur Vereinfachung dieser Fragenhaben wir bis jetzt vollständig vom auswärtigen Handel abgesehen und eineisolierte Nation unterstellt: die menschliche Gesellschaft ist eine isolierteNation, und alles, was für eine Nation ohne Außenhandel gilt, gilt ebenso fürdas ganze Menschengeschlecht." (I, 115.)

* N.-on, S. 205.

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unter „Schwierigkeiten", unter ständigen Schwankungen realisiert, diemit der weiteren Entwicklung des Kapitalismus immer stärker werden, ineiner wütenden Konkurrenz, die jeden Unternehmer zwingt, nach schran-kenloser Ausdehnung der Produktion zu streben, indem er die Grenzendes betreffenden Staates überschreitet und sich auf der Suche nach neuenMärkten Ländern zuwendet, die noch nicht in die kapitalistische Waren-zirkulation einbezogen sind. Jetzt sind wir audi bei der Frage angelangt,warum der äußere Markt für ein kapitalistisches Land notwendig ist. •Durchaus, nicht darum, weil das Produkt in der kapitalistischen Ordnungüberhaupt nicht realisiert werden kann. Das ist Unsinn. Der äußereMarkt ist notwendig, weil der kapitalistischen Produktion das Strebennach schrankenloser Ausdehnung eigen ist — im Gegensatz zu allen altenProduktionsweisen, die durch die Grenzen der Dorfgemeinde, des Erb-guts, des Stammes, des territorialen Gebiets oder des Staates gebundenwaren. Während in allen alten Wirtschaftsordnungen die Produktion je-weils in der gleichen Form und in dem gleichen Ausmaß wie vorher fort-gesetztwurde -wird in der kapitalistischen Gesellschaft diese Fortführungin gleicher Form unmöglich, und die schrankenlose Ausdehnung unddauernde Vorwärtsbewegung wird zum Gesetz der Produktion.*

Somit führt die unterschiedliche Auffassung der Realisation (richtigerdas Verständnis einerseits und das völlige Unverständnis bei den Roman-tikern anderseits) zu zwei diametral entgegengesetzten Ansichten überdie Bedeutung des äußeren Marktes. Für die einen (die Romantiker) istder äußere Markt ein Gradmesser der „Schwierigkeit", die der Kapitalis-mus der gesellschaftlichen Entwicklung entgegenstellt. Den andern da-gegen zeigt der äußere Markt, wie der Kapitalismus die Schwierigkeitenfür die gesellschaftliche Entwicklung beseitigt, die im Laufe der Geschichtedurch die verschiedenen dorfgemeindlichen, stammesmäßigen, territoria-len, nationalen Schranken geschaffen worden sind.**

Wie man sieht, besteht der ganze Unterschied nur im „Stand-punkt" . . . Ja, „nur"! Die romantischen Richter des Kapitalismus unter-scheiden sich von den anderen überhaupt „nur" durch den „Standpunkt",

* Vgl. Sieber, „David Ricardo usw.", St. Petersburg 1885, S. 466, Anmer-kung, russ.

** Vgl. weiter unten: „Rede über die Frage des Freihandels". (Von XarlMarx. Die Red.)

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„nur" dadurch, daß die einen vom Standpunkt der Vergangenheit und dieandern vom Standpunkt der Zukunft urteilen, die einen vom Standpunktder Gesellschaftsordnung, die durch den Kapitalismus zerstört wird, dieandern vom Standpunkt der Ordnung, die durch den Kapitalismus ge-schaffen wird.*

Die falsche Auffassung des äußeren Marktes verbindet sich bei denRomantikern gewöhnlich mit Hinweisen auf die „Besonderheiten" derinternationalen Stellung des Kapitalismus in dem betreffenden Lande, aufdie Unmöglichkeit, einen Markt zu finden, usw.; alle diese Argumente ver-folgen den Zweck, die Kapitalisten von der Suche nach einem äußerenMarkt „abzubringen". Wenn wir „Hinweise" sagen, so drücken wir unsübrigens ungenau aus, denn eine tatsächliche Analyse des Außenhandelseines Landes, seines Vordringens auf neuen Märkten, seiner Kolonisie-rungstätigkeit usw. gibt der Romantiker nicht. Ihn interessiert die Unter-suchung des wirklichen Prozesses und seine Klärung überhaupt nicht; erbraucht nur die Moral gegen diesen Prozeß. Damit sich der Leser von dervölligen Identität dieser Moral der heutigen russischen Romantiker unddes französischen Romantikers überzeugen kann, wollen wir aus den Be-trachtungen des letzteren einige Beispiele anführen. Wie Sismondi denKapitalisten drohte, sie würden keinen Markt finden, haben wir schongesehen. Er behauptete aber nicht nur dies. Er behauptete, daß „derWeltmarkt bereite genügend versorgt" sei (II, 328), und bemühte sich umden Nachweis, daß es unmöglich sei, den Weg des Kapitalismus zu gehenund daß man einen anderen Weg finden müsse . . . Er versicherte denenglischen Unternehmern, der Kapitalismus werde nicht imstande sein,alle die Arbeiter zu beschäftigen, die durch das Pachtsystem in der Land-wirtschaft freigesetzt werden (I, 255/256). „Fänden die, denen man sodie Landwirte geopfert hätte, darin irgendeinen Vorteil? Diese Land-wirte sind doch die nächsten und sichersten Konsumenten der englischenManufakturwaren. Das Aufhören ihrer Konsumtion würde der Industrieeinen Schlag versetzen, der verhängnisvoller sein müßte als die Schließungeines der größten ausländischen Märkte." (I, 256.) Er versicherte denenglischen Pächtern, sie würden der Konkurrenz des armen polnischen

* Ich spreche hier nur von der Bewertung des Kapitalismus und nichtdavon, wie er verstanden wird. In dieser Hinsicht stehen die Romantiker, wiewir gesehen haben, nicht höher als die Klassiker.

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Bauern, den das Getreide fast nichts kostet, nicht standhalten können(I, 257), es drohe ihnen die noch furchtbarere Konkurrenz des russischenGetreides aus den Häfen des Schwarzen Meeres. Er rief aus: „Die Ameri-kaner haben den neuen Grundsatz angenommen: zu produzieren, ohneden Markt zu berechnen (produire sans calculer le marche), und immermehr zu produzieren", und nun „ist der charakteristische Zug des Handelsder Vereinigten Staaten von einem Ende des Landes bis zum andern, derÜberschuß von Waren jeder Art über die Bedürfnisse der Konsumtionhinaus... tägliche Zahlungseinstellungen sind die Folge dieses Über-maßes an Handelskapitalien, die man nicht gegen Einkommen eintauschenkann." (I, 455/456.) Der gute Sismondi! Was würde er über das heutigeAmerika sagen, das sich gerade durch diesen „inneren Markt" so kolossalentwickelt hat, der sich nach der Theorie der Romantiker „verengen"mußte.

VIIDie "Krise

Der dritte Fehlschluß, den Sismondi aus der von Ad. Smith übernom-menen falschen Theorie zieht, ist seine Krisenlehre. Aus Sismondis Auf-fassung, die Akkumulation (das Wachstum der Produktion überhaupt)werde durch die Konsumtion bestimmt, und aus der unrichtigen Erklärungder Realisation des gesellschaftlichen Gesamtprodukts (das auf den Anteilder Arbeiter und den Anteil der Kapitalisten am Einkommen reduziertwird) ergab sich natürlich und unvermeidlich die Lehre, daß die Krisenaus der Diskrepanz zwischen Produktion und Konsumtion zu erklärenseien. Eben diese Theorie hat Sismondi voll und ganz vertreten. Siewurde auch von Rodbertus übernommen, der sie nur ein wenig andersformulierte: Er erklärte die Krisen damit, daß sich beim Anwachsen derProduktion der Anteil der Arbeiter am Produkt verringere, wobei er dasgesellschaftliche Gesamtprodukt ebenso falsch wie A. Smith in Arbeits-lohn und „Rente" teilte („Rente" ist in seiner Terminologie der Mehr-wert, d. h. Profit und Grundrente zusammen). Die wissenschaftliche Ana-lyse der Akkumulation in der kapitalistischen Gesellschaft* und der

* Mit der Lehre, daß in der kapitalistischen Wirtschaft das Gesamtproduktaus zwei Teilen besteht, hängt bei A. Smith und den späteren Ökonomenauch die irrige Auffassung von der „Akkumulation des Einzelkapitals" zu-

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Realisation des Produkts untergrub alle Grundlagen dieser Theorie undwies außerdem nach, daß gerade in Zeiten, die den Krisen vorausgehen,die Konsumtion der Arbeiter steigt, daß es Unterkonsumtion (die an-geblich die Krisen erklärt) bei den verschiedensten Wirtschaftsordnungengegeben hat, während die Krisen das Unterscheidungsmerkmal nur einesSystems sind, des kapitalistischen. Diese Theorie erklärt die Krisen auseinem anderen Widerspruch, nämlich dem Widerspruch zwischen demgesellschaftlichen Charakter der Produktion (die durdi den Kapitalismusvergesellschaftet worden ist) und der privaten, individuellen Aneignungs-weise. Der große Unterschied zwischen diesen Theorien liegt, wie manannehmen sollte, auf der Hand, doch müssen wir ausführlicher auf ihneingehen, weil gerade die russischen Anhänger Sismondis diesen Unter-schied zu verwisdben und die Sache zu verwirren suchen. Die beidenKrisentheorien, von denen wir sprechen, erklären die Krisen völlig ver-schieden. Die erste Theorie erklärt sie aus dem Widerspruch zwischen derProduktion und der Konsumtion der Arbeiterklasse, die zweite aus demWiderspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktionund dem privaten Charakter der Aneignung. Die erste sieht also dieWurzel der Erscheinung außerhalb der Produktion (daher bei Sismondiz. B. die allgemeinen Ausfälle gegen die Klassiker, daß sie die Konsumtionignoriert und sich nur mit der Produktion beschäftigt hätten); die zweitesieht sie gerade in den Produktionsbedingungen. Mit einem Wort: dieerste erklärt die Krisen aus der Unterkonsumtion, die zweite aus der Un-ordnung der Produktion. Während also beide Theorien die Krisen auseinem Widerspruch in der Wirtschaftsordnung selbst erklären, gehen siein der Bestimmung dieses Widerspruchs völlig auseinander. Es fragt sichaber: Bestreitet die zweite Theorie etwa die Tatsache eines Widerspruchszwischen Produktion und Konsumtion, die Tatsache der Unterkonsum-tion? Selbstverständlid) niäot. Sie erkennt diese Tatsache durchaus an,weist ihr aber als einer Tatsache, die sich nur auf eine Abteilung der ge-samten kapitalistischen Produktion bezieht, den ihr zukommenden, unter-geordneten Platz an. Sie lehrt, daß diese Tatsache die Krisen .nicht zu

sammen. Sie lehrten nämlich, daß der akkumulierte Teil des Profits restlosfür Arbeitslohn ausgegeben werde, während er in Wirklichkeit 1. für kon-stantes Kapital und 2. für Arbeitslohn ausgegeben wird. Sismondi wiederholtauch diesen Fehler der Klassiker.

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erklären vermag, die durch einen anderen, tiefer liegenden, grundlegendenWiderspruch des modernen Wirtschaftssystems hervorgerufen werden,nämlich durch den Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Cha-rakter der Produktion und dem privaten Charakter der Aneignung. Wassoll man daher von Leuten sagen, die eigentlich zwar der ersten Theoriefolgen, sich aber hinter der Berufung darauf verstecken, daß die Repräsen-tanten der zweiten den Widerspruch zwischen Produktion und Konsum-tion konstatieren? Offensichtlich haben diese Leute sich nicht vorzustellenvermocht, was die Wurzel des Unterschieds der beiden Theorien ist undhaben die zweite Theorie nicht richtig verstanden. Zu diesen Leuten ge-hört z. B. Herr N.-on (von Herrn W. W. schon gar nicht zu reden). Daßsie zu den Anhängern Sismondis gehören, hat in unserer Literatur bereitsHerr Tugan-Baranowski gezeigt („Die Industriekrisen", S. 477, in bezugauf Herrn N.-on freilich mit dem merkwürdigen Vorbehalt „anschei-nend"). Herr N.-on aber, der von einer „Verengung des inneren Marktes"und von der „Verminderung der Konsumtionsfähigkeit des Volkes"spricht (die zentralen Punkte seiner Anschauungen), beruft sich nichts-destoweniger auf die Repräsentanten der zweiten Theorie, die die Tat-sache des Widerspruchs zwischen Produktion und Konsumtion, die Tat-sache der Unterkonsumtion konstatieren. Diese Berufung zeigt natürlichnur die für diesen Autor überhaupt charakteristische Fähigkeit, unan-gebrachte Zitate anzuführen, und weiter nichts. So werden sich beispiels-weise alle Leser, die seine „Abhandlungen" kennen, gewiß an folgendes„Zitat" erinnern: „Die Arbeiter als Käufer von Ware sind wichtig fürden Markt. Aber als Verkäufer ihrer Ware - der Arbeitskraft - hat diekapitalistische Gesellschaft das Bestreben, sie auf das Minimum desPreises zu beschränken" („Abhandlungen", S. 178),-.sie werden sich aucherinnern, daß Herr N.-on daraus sowohl eine „Verengung des innerenMarktes" (ib., S. 203 u.a.) als auch die Krisen ableiten will (S. 298 u. a.).Bei diesem Zitat (das, wie wir gezeigt haben, gar nichts beweist) läßtaber unser Autor von der Fußnote, der dieses Zitat entnommen ist, auchnoch den Sdrfuß jort. Bei diesem Zitat handelt es sich um eine 'Notiz, diein das Manuskript des zweiten Abschnitts von Band II des „Kapitals"eingeschaltet worden war. Sie wurde eingeschaltet „für künftige Aus-führung", und der Herausgeber des Manuskripts brachte sie als An-merkung. Nach den zitierten Worten heißt es in dieser Notiz-. „Dies

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gehört jedodh erst in den nädosten Abschnitt"*, d. h. in den dritten Ab-schnitt. Und was ist das für ein dritter Abschnitt? Es ist gerade der Ab-schnitt, der die Kritik der Theorie A. Smiths von den zwei Teilen desgesellschaftlichen Gesamtprodukts (zusammen mit der oben zitiertenÄußerung über Sismondi) und die Analyse der „Reproduktion und Zir-kulation des gesellschaftlichen Gesamtkapitals", d.h. der Realisation desProdukts, enthält. Also zitiert unser Autor zur Bestätigung seiner, Sis-mondi wiederholenden, Anschauungen eine Notiz, die „erst in den Ab-schnitt" gehört, in dem Sismondi widerlegt wird, „erst in den Abschnitt",in dem gezeigt wird, daß die Kapitalisten den Mehrwert realisieren könnenund daß es Unsinn ist, den Außenhandel in die Analyse der Realisationeinzubeziehen...

Ein anderer Versuch, den Unterschied zwischen den beiden Theorienzu verwischen und den alten romantischen Plunder durch Berufung aufdie neuesten Lehren zu verteidigen, findet sich in dem Artikel von Ef russi.Efrussi führt Sismondis Krisentheorie an und bemerkt, daß sie falsch sei.(„Russkoje Bogatstwo" Nr. 7, S. 162). Seine Ausführungen sind äußerstunklar und widerspruchsvoll. Einerseits wiederholt er die Argumente dergegensätzlichen Theorie, indem er erklärt, die Nachfrage einer Nationerstrecke sich nicht nur auf Gegenstände der unmittelbaren Konsumtion.Anderseits behauptet er, Sismondis Erklärung der Krisen „stellt nur einenvon vielen Umständen fest, die die Verteilung der nationalen Produktionentsprechend der Nachfrage der Bevölkerung und ihrer Kaufkraft er-schweren". Man will also den Leser glauben machen, die Erklärung derKrisen sei gerade in der „Verteilung" zu suchen und Sismondis Fehlerbeschränke sich darauf, daß er die Ursachen, die diese Verteilung er-schweren, nur unvollständig aufgezeigt habe! Aber nicht das ist dieHauptsache... „Sismondi", schreibt Efrussi, „blieb nicht bei der obenangeführten Erklärung stehen. Schon in der ersten Auf läge der ,NouveauxPrincipes' finden wir ein höchst lehrreiches Kapitel, betitelt: ,De la con-naissanse du marche'**. In diesem Kapitel deckt uns Sismondi die Grund-ursachen der Störung des Gleichgewichts zwischen Produktion und Kon-sumtion (dies beachte man!) mit einer Klarheit auf, wie wir sie in dieser

*~J)as Kapital", II. Band, S. 30443; russ. übers. S. 232. Hervorgehobenvon uns.

** „Von der Kenntnis des Marktes." Die Red.

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Frage nur bei wenigen Ökonomen antreffen." (ib.) Und nachdem erZitate angeführt hat, die besagen, daß der Fabrikant den Markt nichtkennen kann, erklärt Efrussi: „Fast dasselbe sagt Engels" (S. 163), woraufein Zitat folgt, in dem es heißt, daß der Fabrikant die Nachfrage nichtkennen kann. Efrussi bringt dann noch weitere Zitate über „andere Hin-dernisse für die Herstellung des Gleichgewichts zwischen Produktion undKonsumtion" (S. 164) und versichert, daß „in ihnen eben jene Erklärungder Krisen enthalten ist, die sich immer mehr durchsetzt"! Noch mehr:Efrussi findet, daß „wir in der Frage nach den Ursachen der volkswirt-schaftlichen Krisen mit Fug und Recht Sismondi als den Stammvater derAnsichten betrachten können, die sich später konsequenter und klarerentwickeln" (S. 168).

Mit älledem aber verrät Efrussi sein völliges Unverständnis für dieSache! Was sind Krisen? - Überproduktion, Produktion von Waren, dienicht realisiert werden können, die keine Nachfrage finden können. WennWaren keine Nachfrage finden, so bedeutet das, daß der Fabrikant, aker sie produzierte, die Nachfrage nicht kannte. Nun fragt es sich: Heißtes etwa die Krisen erklären, wenn man auf diese Bedingung hinweist, dieKrisen möglich macht? Hat Efrussi denn wirklich nicht begriffen, daßes etwas anderes ist, auf die Möglichkeit einer Erscheinung hinzuweisen,als ihre Notwendigkeit nachzuweisen? Sismondi sagt: Krisen sind mög-lich, denn der Fabrikant kennt die Nachfrage nicht; sie sind notwendig,denn in der kapitalistischen Produktion kann es kein Gleichgewichtzwischen Produktion und Konsumtion geben (d. h., das Produkt kannnicht realisiert werden). Engels sagt: Krisen sind möglich, denn derFabrikant kennt die Nachfrage nicht; sie sind notwendig durchaus nichtdeshalb, weil das Produkt überhaupt nicht realisiert werden könne. Dasist falsch: das Produkt kann realisiert werden. Die Krisen sind notwendig,weil der kollektive Charakter der Produktion mit dem individuellenCharakter der Aneignung in Widerspruch gerät. Und da findet sich einÖkonom, der versichert, Engels sage „fast dasselbe" wie Sismondi,-Sismondi gebe „die gleiche Erklärung der Krisen"! „Mich wundert des-halb", schreibt Efrussi, „daß Herr Tugan-Baranowski... das Wichtigsteund Wertvollste in Sismondis Lehre außer acht gelassen hat." (S. 168.)Aber Herr Tugan-Baranowski hat nichts außer acht gelassen.* Im

* In der „Entwicklung des Kapitalismus" (S. 16 und 19) (siehe Werke,

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Gegenteil, er hat ganz genau auf den Grundwiderspruch hingewiesen,auf den die neue Theorie die Sache zurückführt (S. 455 u. a.), und er hatKlarheit über die Bedeutung Sismondis geschaffen, der schon früher aufden in den Krisen zutage tretenden Widerspruch hingewiesen, es abernicht verstanden hat, ihn richtig zu erklären. (S. 457: Sismondi hat vorEngels darauf hingewiesen, daß die Krisen aus der modernen Organi-sation der Wirtschaft entspringen; S. 491: Sismondi hat dargelegt, unterwelchen Bedingungen Krisen möglich sind, aber „nicht jede Möglichkeitwird zur Wirklichkeit"). Efrussi aber hat sich hier absolut nicht zurecht-gefunden, hat alles in einen Topf geworfen und „wundert sich", daß beiihm ein Durcheinander herauskommt! „Wir finden allerdings", sagt derÖkonom des „Russkoje Bogatstwo", „bei Sismondi nicht die Ausdrücke,die heute allgemein Bürgerrecht erhalten haben, wie .Anarchie der Pro-duktion', .Planlosigkeit der Produktion', aber das Wesentliche, das sichhinter diesen Ausdrücken verbirgt, ist bei ihm durchaus klar hervor-gehoben." (S. 168.) Mit welcher Leichtfertigkeit restauriert der neuesteRomantiker den Romantiker vergangener Tage! Die ganze Frage wirdauf einen Unterschied in Worten reduziert! In Wirklichkeit reduziert sichdie Frage darauf, daß Efrussi die Worte, die er nachspricht, nicht ver-steht. „Anarchie der Produktion", „Planlosigkeit der Produktion" - wasist mit diesen Ausdrücken gemeint? Der Widerspruch zwischen dem ge-gesellschaftlichen Charakter der Produktion und dem individuellen Charak-ter der Aneignung. Und wir fragen jeden, der die hier untersuchte öko-nomische Literatur kennt: Haben Sismondi oder Rodbertus diesenWiderspruch anerkannt? Haben sie die Krisen aus diesem Widerspruchabgeleitet? Nein, das haben sie nicht getan und konnten es auch gar nichttun, denn keiner von beiden hat diesen Widerspruch auch nur begriffen.Schon der bloße Gedanke, daß man die Kritik am Kapitalismus nicht aufPhrasen über allgemeine Wohlfahrt* oder über die Untauglichkeit einer„sich selbst überlassenen Zirkulation"** aufbauen darf, sondern daß es

Bd. 3, Kap. I, Abschnitt VI. Die 'Red.) habe ich bereits auf die Ungenauig-keiten und Fehler bei Herrn Tugan-Baranowski hingewiesen, die ihn späterdaza geführt haben, völlig ins Lager der bürgerlichen Ökonomen hinüber-zuwechseln. (Anmerkung des Verfassers zur Ausgabe von 1908. Die Red.)

* Gf. Sismondi, 1. c , I, 8.** Rodbertus. Nebenbei bemerkt, hat Bernstein, der überhaupt die Vor-

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notwendig ist, sie auf den Charakter der Evolution der Produktions-verhältnisse zu gründen - war ihnen absolut fremd.

Wir verstehen durchaus, warum unsere russischen Romantiker sich diegrößte Mühe geben, den Unterschied zwischen den beiden angeführtenKrisentheorien zu verwischen. Sie tun es, weil mit den angeführten Theo-rien aufs unmittelbarste und engste prinzipiell verschiedene Einstellungenzum Kapitalismus verbunden sind. In der Tat, wenn wir die Krisen ausder Unmöglichkeit, die Produkte zu realisieren, aus dem Widerspruchzwischen Produktion und Kosumtion erklären, so gelangen wir dazu,die Wirklichkeit, die Tauglichkeit des Weges zu verneinen, den der Kapi-talismus geht, so erklären wir ihn für einen „falschen" Weg und be-ginnen nach „anderen Wegen" zu suchen. Wenn wir die Krisen ausdiesem Widerspruch ableiten, müssen wir annehmen, daß der Auswegaus dem Widerspruch um so schwieriger wird, je weiter er sich entwickelt.Und wir haben gesehen, wie Sismondi mit größter Naivität gerade dieseMeinung aussprach, als er sagte, es sei noch erträglich, wenn das Kapitallangsam akkumuliere, unerträglich werde es aber, wenn die Akkumulationschnell vonstatten ginge. — Umgekehrt, wenn wir die Krisen aus demWiderspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktionund dem individuellen Charakter der Aneignung erklären, so erkennenwir damit die Wirklichkeit und die Fortschrittlichkeit des kapitalistischenWeges an und verwerfen die Suche nach „anderen Wegen" als unsinnigeRomantik. Wir erkennen damit an, daß der Ausweg aus diesem Wider-spruch um so leidhter wird, je weiter er sich entwickelt, und daß derAusweg gerade in der Entwicklung der gegebenen Ordnung liegt.

Wie der Leser sieht, stoßen wir auch hier auf den Unterschied der„Standpunkte" . . .

Es ist durchaus natürlich, daß unsere Romantiker eine theoretische Be-stätigung für ihre Anschauungen suchen. Es ist durchaus natürlich, daßdiese Suche sie zu dem alten Plunder führt, den Westeuropa längst bei-

urteile der bürgerlichen Ökonomie restauriert, auch in dieser Frage durch dieBehauptung Verwirrung gestiftet, die Marxsche Krisentheorie unterscheidesich nicht sonderlich von der Rodbertusschen („Die Voraussetzungen etc.",Stuttg. 1889, S. 67) und Marx widerspräche sich, wenn er als letzten Grundder Krisen die Konsumtionsbeschränkung der Massen anerkenne. (Anmerkungdes Verfassers zur Ausgabe von 1908. Die Red.)

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seite geworfen hat. Und weil sie das fühlen, ist es durchaus natürlich, daßsie diesen Plunder zu restauiieren versuchen, indem sie bald die Roman-tiker Westeuropas offen beschönigen, bald die Romantik mittels unpassen-der und entstellter Zitate einschmuggeln. Aber sie irren sich sehr, wennsie glauben, diese Konterbande werde unentdeckt bleiben.

Indem wir hiermit die Darlegung der grundlegenden theoretischenDoktrin Sismondis und seiner hauptsächlichen, theoretischen Schluß-folgerungen daraus beenden, müssen wir noch eine kleine Ergänzungmachen, die sich wiederum auf Efrussi bezieht. In seinem anderen Artikelüber Sismondi (die Fortsetzung des ersten) sagt er: „Noch interessanter(im Vergleich zu der Lehre vom Einkommen aus Kapital) sind SismondisAnschauungen über die verschiedenen Arten des Einkommens" („Rus-skoje Bogatstwo" Nr. 8, S. 42). Sismondi teile ebenso wie Rodbertus dasNationaleinkommen in zwei Teile: „Den einen erhalten die Eigentümerdes Bodens und der Produktionsinstrumente, den anderen die Vertreterder Arbeit." (ib.) Es folgen Zitate, in denen Sismondi von einer solchenTeilung nicht nur des Nationaleinkommens, sondern auch des Gesamt-produkts spricht. „Ebenso besteht die Produktion oder das Ergebnis allerJahresarbeiten aus zwei Teilen" usw. („Nouveaux Principes", I, 105,zitiert in „Russkoje Bogatstwo" Nr. 8, S. 43). „Die zitierten Stellen",so schließt unser Ökonom, „beweisen klar, daß Sismondi sich vollständigdie Klassifizierung des Nationaleinkommens zu eigen gemadit hat (!), diebei den neuesten Ökonomen eine so wichtige Rolle spielt, nämlich dieTeilung des Nationaleinkommens in Einkommen, das sich auf Arbeitgründet, und in arbeitsloses Einkommen*. Obwohl, allgemein gesehen,Sismondis Ansichten über das Einkommen nicht immer klar und bestimmtsind, lassen sie doch das Bewußtsein des Unterschieds zwischen demprivatwirtschaftlichen und dem volkswirtschaftlichen Einkommen er-kennen." (S. 43.)

Die zitierte Stelle - erwidern wir hierauf - beweist klar, daß sichEfrussi ganz die Weisheit der deutschen Lehrbücher zu eigen gemacht,aber ungeachtet dessen (oder vielleicht gerade deshalb) vollständig über-sehen hat, welche theoretisdien Schwierigkeiten die Frage nach dem Natio-naleinkommen zum Unterschied vom individuellen Einkommen bereitet.Efrussi drückt sich sehr unvorsichtig aus. Wir haben gesehen, daß er in

* „arbeitsloses Einkommen" bei Lenin deutsch. Der Tibers.

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der ersten Hälfte seines Artikels als „neueste Ökonomen" die Theoretikereiner bestimmten Schule bezeichnet. Der Leser wird mit Recht annehmen,von ihnen sei auch diesmal die Rede. In Wirklichkeit aber meint derAutor hier etwas ganz anderes. Als neueste Ökonomen figurieren bei ihmnunmehr die deutschen Kathedersozialisten. Die Verteidigung Sismondisbesteht darin, daß der Autor Sismondis Theorie deren Lehre annähert.Worin besteht aber die Lehre dieser „neuesten" Autoritäten Efrussis?Darin, daß sich das Nationaleinkommen in zwei Teile teilt.

Das ist doch aber die Lehre von Ad. Smith und keineswegs die der„neuesten Ökonomen"! Als A. Smith das Einkommen in Arbeitslohn,Profit und Rente teilte (Buch I, Kap. VI, den „Reichtum der Nationen";Buch II, Kap. II), stellte er dem ersten Teil die beiden letzten gerade alsarbeitsloses Einkommen gegenüber, bezeichnete beide als Abzug von derArbeit (Buch I, Kap. VIII) und wandte sich gegen die Meinung, derProfit sei eben der Arbeitslohn für eine besondere Art Arbeit (Buch I,Kap. VI). Sowohl Sismondi wie Rodbertus als auch die „neuesten" Ver-fasser deutscher Lehrbücher wiederholen einfach diese Lehre von Smith.Der Unterschied zwischen ihnen besteht nur darin, daß A. Smith sichbewußt war, es werde ihm nicht ganz gelingen, das Nationaleinkommenaus dem Nationalprodukt auszusondern; daß er sich bewußt war, in einenWiderspruch zu geraten, wenn er das konstante Kapital (nach dermodernen Terminologie), das er in das Einzelprodukt einbezogen hatte,aus dem Nationalprodukt ausschließt. Die „neuesten" Ökonomen aber,die A. Smiths Fehler wiederholen, haben seine Lehre bloß in ge-spreiztere Worte („Klassifizierung des Nationaleinkommens") gekleidetund dabei die Erkenntnis des Widerspruchs eingebüßt, vor dem A. Smithstehengeblieben war. Das sind vielleicht gelahrte, aber auf keinen Fallwissenschaftliche Methoden.

VIIIKapitalistische Rente und kapitalistische "Übervölkerung

Setzen wir die Betrachtung der theoretischen Anschauungen Sismondisfort. Wir haben bereits alle seine grundlegenden Ansichten untersucht,die ihn von allen anderen Ökonomen unterscheiden und für ihn charak-teristisch sind. Die weiteren Ansichten spielen in seiner Gesamtlehre ent-

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weder keine so große Rolle oder bilden eine Folgerung aus den vorher-gehenden.

Es sei bemerkt, daß Sismondi, ebenso wie Rodbertus, Ricardos Theorieder Rente nicht geteilt hat. Ohne eine eigene Theorie aufzustellen, ver-suchte er, Ricardos Lehre durch Argumente zu erschüttern, die mehr alsschwach sind. Er tritt hier als der reine Ideologe des Kleinbauern auf; erwiderlegt nicht so sehr Ricardo, als daß er vielmehr die Übertragung derKategorien der Warenwirtschaft und des Kapitalismus auf die Land-wirtschaft überhaupt ablehnt. In beiderlei Hinsicht ist sein Standpunktfür einen Romantiker höchst charakteristisch. Kapitel XIII des drittenBuches* behandelt „Ricardos Theorie über die Bodenrente". Sismondierklärt von vornherein, die Doktrin Ricardos stehe in völligem Wider-spruch zu seiner eigenen Theorie, und führt folgende Einwände an: Dasallgemeine Niveau des Profits (auf dem Ricardos Theorie aufgebaut ist)bilde sich niemals heraus, eine freie Bewegung des Kapitals gebe es in derLandwirtschaft nicht. In der Landwirtschaft müsse man den inneren Wertdes Produkts (la valeur intrinseque) behandeln, der von den Markt-schwankungen unabhängig sei und dem Besitzer das „Nettoprodukt"(produit net), die „Arbeit der Natur", liefere (I, 306). „Die Arbeit der

* Charakteristisch ist auch schon das ganze System der Darlegung: dasdritte Buch handelt vom „Bodenreichtum" (riebesse territoriale), d. h. von derLandwirtschaft. Das folgende vierte Buch handelt „Vom kommerziellenReichtum" (de la richesse commerciale), ven der Industrie und dem Handel.Als würden das Bodenprodukt und der Boden selbst unter der Herrschaft desKapitalismus nicht ebenfalls zur Ware! Deshalb besteht zwischen diesenbeiden Büchern auch keine Übereinstimmung. Die Industrie wird nur in ihrerkapitalistischen Form behandelt, wie sie zu Sismondis Zeit bestand. Die Land-wirtschaft dagegen wird an Hand einer buntscheckigen Aufzählung aller mög-lichen Systeme der Bodennutzung beschrieben, als da sind: patriarchalischeWirtschaft, Sklavenwirtschaft, Halbbauernwirtschaft, Fronwirtschaft, Wirt-schaft mit einer Kopfsteuer, das System der Pachtkontrakte, das System deremphyteutischen Pacht (Erbpacht). Das Ergebnis ist ein völliges Durchein-ander: der Autor gibt weder eine Geschichte der Landwirtschaft, da alle diese„Systeme" nicht miteinander verbunden sind, noch eine Analyse der Land-wirtschaft in der kapitalistischen Wirtschaft, obgleich diese der eigentlicheGegenstand seines Werkes ist und er die Industrie nur in ihrer kapitalistischenForm behandelt.

12 Lenin, Werke, Bd. 1

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N a t u r . . . ist also der Ursprung, die Quelle des Nettoprodukts der Erde,betrachtet nach seinem inneren Wert (intrinsequement)." (I, 310.) „Wirbetrachten die Rente (le fermage) oder vielmehr das Nettoprodukt als .unmittelbar der Erde entstammend, zum Vorteil des Eigentümers; esnimmt nichts dem Pächter und nichts dem Konsumenten." (I, 312.) Unddiese Wiederholung der alten physiokratischen Vorurteile wird noch mitder Moral beschlossen: „Im allgemeinen muß man sich in der politischenÖkonomie vor absoluten Sätzen ebenso hüten (se defier) wie vor Ab-straktionen" (I, 312)! In einer solchen „Theorie" gibt es nichts zu unter-suchen, denn schon die eine kleine Bemerkung Ricardos gegen diese„Arbeit der Natur" ist mehr als genug.* Es ist einfach ein Verzicht aufjede Analyse und im Vergleich mit Ricardo ein gigantischer Schritt zurück.Mit aller Deutlichkeit zeigt sich auch hier die Romantik Sismondis, dersich beeilt, den betreffenden Prozeß zu verurteilen, der sich fürchtet, ihndurch eine Analyse auch nur zu streifen. Wohlgemerkt, er leugnet garnicht die Tatsache, daß sich die Landwirtschaft in England kapitalistischentwickelt, daß Pächter und Tagelöhner an die Stelle der Bauern treten,daß sich die Dinge auf dem Kontinent in der gleichen Richtung ent-wickeln. Er wendet sich einfach von diesen Tatsachen ab (die er bei einerBetrachtung der kapitalistischen Wirtschaft unbedingt hätte untersuchenmüssen) und zieht es vor, sich in sentimentalen Redensarten über denVorzug des Systems der patriarchalischen Bodennutzung zu ergehen.Ganz genauso verfahren auch unsere Volkstümler: keiner von ihnen hatauch nur zu bestreiten versucht, daß die Warenwirtschaft in die Land-wirtschaft eindringt, daß sie den gesellschaftlichen Charakter der Land-wirtschaft radikal verändern muß; zugleich aber stellt keiner von ihnenin seinen Betrachtungen über die kapitalistische Wirtschaft die Frage nach

* Ricardo, Werke, russ. übers, von Sieber, S. 35: „Hilft die Natur demMenschen in der Manufaktur nicht? Sind Wind- und Wasserkraft, die unsereMaschinen antreiben und der Schiffahrt dienen, nichts? Der atmosphärischeDruck und die Dampfkraft, die es uns ermöglichen, erstaunliche Maschinenzu benutzen - sind sie keine Naturgaben? Dabei sprechen wir gar nicht überdie Wirkungen der Hitze beim Entihärten und Schmelzen von Metallen, überdie Zersetzung der Luft beim Färb- und Gärungsprozeß. Es kann keineManufaktur genannt werden, in der die Natur nicht dem Menschen großzügigund unentgeltlich hilft"

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dem Wachstum der warenproduzierenden Landwirtschaft, sondern ziehtes vor, die Sache mit Sentenzen über eine „Volksproduktion" abzutun.Da wir uns hier einstweilen nur mit der theoretischen Ökonomie Sis-mondis beschäftigen, behalten wir es uns für später vor, auf diese „patri-archalische Nutzung" näher einzugehen.

Ein anderer theoretischer Punkt, um den Sismondis Darstellung kreist,ist die Bevölkerungslehre. Sehen wir uns einmal Sismondis Stellung zurTheorie von Malthus und zur Frage der vom Kapitalismus geschaffenenÜbervölkerung an.

Efrussi versichert, Sismondi stimme Malthus nur darin zu, daß sichdie Bevölkerung außerordentlich schnell vermehren und somit zur Quelleaußerordentlicher Leiden werden könne. „Weiterhin sind sie absoluteAntipoden. Sismondi stellt die ganze Bevölkerungsfrage auf sozial-historischen Boden." („Russkoje Bogatstwo" Nr. 7, S. 148.) Auch in dieserFormulierung vertuscht Efrussi völlig den charakteristischen (nämlichkleinbürgerlichen) Standpunkt und die Romantik Sismondis.

Was bedeutet „die Bevölkerungsfrage auf sozialhistorischen Bodenstellen"? Das bedeutet, das Bevölkerungsgesetz jedes historischen Wirt-schaftssystems gesondert zu erforschen und seine Verbindung und Wech-selbeziehung mit dem jeweils gegebenen System zu untersuchen. WelchesSystem hat Sismondi untersucht? Das kapitalistische. Der Mitarbeiter des„Russkoje Bogatstwo" ist also der Meinung, Sismondi habe das kapi-talistische Bevölkerungsgesetz untersucht. In dieser Behauptung steckt einTeil Wahrheit, aber nur ein 7eil. Da es nun Efrussi nicht in den Sinn kamzu untersuchen, woran es in den Betrachtungen Sismondis über die Be-völkerung mangelte, und da Efrussi behauptet, daß „Sismondi hier als einVorläufer der hervorragendsten neuesten Ökonomen"* erscheint (S.148),so ergibt sich schließlich genau die gleiche Verherrlichung des kleinbürger-lichen Romantikers, wie wir sie in der Frage der Krisen und des National-einkommens gesehen haben. Worin bestand in diesen Fragen die Ähnlich-keit der Lehre Sismondis mit der neuen Theorie? Darin, daß Sismondiauf die der kapitalistischen Akkumulation eigenen Widersprüche hin-

* Wir machen allerdings den Vorbehalt, daß wir nicht mit Bestimmtheitwissen können, wer hier bei Efrussi als „hervorragendster neuester Ökonom"figuriert, ob ein Vertreter der bekannten, der Romantik unbedingt fremdenSchule oder der Verfasser des dicksten Handbuchs.

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gewiesen hat. Efrussi hat diese Ähnlichkeit vermerkt. Worin bestand derUnterschied Sismondis von der neuen Theorie? Erstens darin, daß er diewissenschaftliche Analyse dieser Widersprüche nicht um ein Jota vor-wärtsgebracht und in gewissen Beziehungen im Vergleich zu den Klas-sikern sogar einen Schritt rückwärts getan hat; zweitens darin, daß erseine Unfähigkeit zu einer Analyse (zum Teil seinen mangelnden Willen,eine Analyse vorzunehmen) mit der kleinbürgerlichen Moral bemäntelte,das Nationaleinkommen müsse mit den Ausgaben, die Produktion mit derKonsumtion usw. in Übereinstimmung gebracht werden. Diesen Unter-schied hat Efrussi bei keinem der genannten Punkte vermerkt, und damithat er die wahre Bedeutung Sismondis und sein Verhältnis zur neuestenTheorie völlig falsch dargestellt. Genau dasselbe sehen wir auch in dervorliegenden Frage. Sismondis Ähnlichkeit mit der neuesten Theorie be-schränkt sich auch hier darauf, daß er auf den Widerspruch hinweist.Der Unterschied besteht auch hier darin, daß er keine wissenschaftlicheAnalyse vornimmt und diese Analyse durch eine kleinbürgerliche Moralersetzt. Wir wollen das erläutern.

Die Entwicklung der kapitalistischen maschinellen Industrie hat seitdem Ende des vorigen Jahrhunderts die Bildung einer überschüssigenBevölkerung zur Folge gehabt, so daß sich die politische Ökonomie vordie Aufgabe gestellt sah, diese Erscheinung zu erklären. Malthus suchtesie bekanntlich durch naturgeschichtliche Ursachen zu erklären, leugneteganz und gar ihren Ursprung in dem bestimmten historisch gegebenenSystem der gesellschaftlichen Wirtschaft und verschloß die Augen völligvor den Widersprüchen, die durch diesen Tatbestand zutage gefördertwurden. Sismondi wies auf diese Widersprüche wie auch auf die Ver-drängung der Bevölkerung durch die Maschinen hin. In diesem Hinweisliegt sein unbestreitbares Verdienst, denn zu der Zeit, da er wirkte, wardiese Feststellung neu. Sehen wir uns aber an, wie er sich zu dieserTatsache verhalten hat.

Im siebenten Buch („Die Bevölkerung") handelt das siebente Kapitelspeziell „Von der Bevölkerung, die durch die Erfindung von Maschinenüberflüssig wird". Sismondi konstatiert, daß „die Maschinen die Men-schen verdrängen" (p. 315, II, VII), und sofort stellt er die Frage, ob dieErfindung von Maschinen der Nation zum Vorteil oder zum Unglückgereiche. Es versteht sich, daß eine „Lösung" dieser Frage für alle Länder

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und Zeiten überhaupt, und nicht für ein kapitalistisches Land, auf einevöllig inhaltlose Banalität hinausläuft: Eine Wohltat sei es, wenn „dieNachfrage nach Konsumgütern die Produktionsmittel der Bevölkerung(les moyens de produire de la population) übersteigt" (II, 317), und zueinem Unglück führe es, „wenn die Produktion vollständig für die Kon-sumtion ausreicht". Mit anderen Worten: Die Konstatierung des Wider-spruchs dient Sismondi bloß als Anlaß zu Betrachtungen über irgendeineabstrakte Gesellschaft, in der es keine Widersprüche mehr gibt und aufdie man die Moral des umsichtigen Bauern anwenden kann! Sismondiversucht nicht einmal, diesen Widerspruch zu analysieren und heraus-zufinden, wie er in der gegebenen kapitalistischen Gesellschaft entsteht,wozu er führt usw. Nein, er benutzt diesen Widerspruch lediglich alsMaterial für seine moralische Entrüstung über einen derartigen Wider-spruch. Der ganze weitere Inhalt des Kapitels trägt zu dieser theoretischenFrage absolut nichts bei, da er sich in Klagen, Lamentationen und frommenWünschen erschöpft. Die Arbeiter, die verdrängt werden, waren Kon-sumenten . . . der innere Markt verengt sich . . . was den äußeren Marktbetrifft, so ist die Welt schon genügend versorgt... ein mäßiger Wohl-stand der Bauern hätte den Absatz besser garantiert... es gibt kein er-schütternderes und erschreckenderes Beispiel als England, dem die Staatendes Kontinents nacheifern - solche Sentenzen liefert Sismondi an Stelleeiner Analyse der behandelten Erscheinung! Seine Stellung zu der Fragestimmt haargenau mit der unserer Volkstümler überein. Die Volks-tümler beschränken sich gleichfalls lediglich darauf, die Tatsache zukonstatieren, daß es eine überschüssige Bevölkerung gibt, und nutzendiese Tatsache lediglich für Klagen und Lamentationen über den Kapi-talismus aus (vgl. N.-on, W. W. usw.). Ebensowenig wie Sismondi, dernicht einmal zu analysieren versucht, in welchem Verhältnis diese über-schüssige Bevölkerung zu den Erfordernissen der kapitalistischen Pro-duktion steht, haben sich auch die Volkstümler jemals eine derartigeFrage vorgelegt.

Die wissenschaftliche Analyse dieses Widerspruchs hat gezeigt, wiefalsch eine derartige Methode ist. Diese Analyse hat festgestellt, daß dieüberschüssige Bevölkerung, die (neben der überschüssigen Produktionund der überschüssigen Konsumtion) zweifellos einen Widerspruch dar-stellt und ein notwendiges Resultat der kapitalistischen Akkumulation

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ist, zu gleicher Zeit einen notwendigen Bestandteil des kapitalistischenMechanismus bildet.* Je mehr sich die Großindustrie entwickelt, destogrößeren Schwankungen unterliegt die Nachfrage nach Arbeitern - jenach den Krisen oder Prosperitätsperioden in der gesamten nationalenProduktion oder in ihren einzelnen Zweigen. Diese Schwankungen sind eiaGesetz der kapitalistischen Produktion, die nidht existieren könnte, wennes keine überschüssige Bevölkerung gäbe (d. h. eine Bevölkerung, die diedurdhsdhnittlidhe Nachfrage des Kapitalismus nach Arbeitern übersteigt),die in jedem gegebenen Augenblick bereit ist, für jeden beliebigenIndustriezweig oder Betrieb Arbeitskräfte zn stellen. Die Analyse hatgezeigt, daß sich eine Übervölkerung in allen Industriezweigen bildet,in die der Kapitalismus eindringt - in der Landwirtschaft ebenso wie inder Industrie - , und daß die Übervölkerung verschiedene Formen hat.Es gibt drei Hauptformen**: \.fließende Tlbewölkerung. Dazu gehörendie unbeschäftigten Arbeiter in der Industrie. Mit der Entwicklung der

* Soweit ans bekannt ist, wurde diese Auffassung von der überschüssigenBevölkerung zum erstenmal von Engels in seinem Buch „Die Lage der arbei-tenden Klasse in England" (1845) ausgesprochen. Nachdem der Verfasser denüblichen industriellen Zyklus der englischen Industrie geschildert hat, sagt er:

„Hieraus geht hervor, daß zu allen Zeiten, ausgenommen in den kurzenPerioden höchster Blüte, die englische Industrie eine unbeschäftigte Reservevon Arbeitern haben muß, um eben während der am meisten belebten Monatedie im Markte verlangten Massen von Waren produzieren zu können. DieseReserve ist mehr oder minder zahlreich, je nachdem die Lage des Marktesminder oder mehr die Beschäftigung eines Teiles derselben veranlaßt. Undwenn auch bei dem höchsten Blütenstande des Marktes wenigstens zeitweisedie Ackerbaudistrikte... und die weniger von dem Aufschwung ergriffenenArbeitszweige eine Anzahl Arbeiter liefern können, so bilden diese einer-seits doch eine Minderzahl und gehören andrerseits ebenfalls zur Reserve,nur mit dem Unterschiede, daß der jedesmalige Aufschwung es erst zeigt, daßsie dazu gehören."44

Es muß als wichtig hervorgehoben werden, daß in den letzten Worten einTeil der agrikolen Bevölkerung, die sich zeitweise der Industrie zuwendet, zuder Reservearmee gezählt wird. Das ist eben das, was die spätere Theorieals latente Form der Übervölkerung bezeichnete (siehe „Das Kapital" vonMarx).

** Siehe Sieber, „David Ricardo usw.", St. Petersburg 1885, S.552/553, russ.

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Industrie wächst notwendigerweise auch ihre Zahl. 2. Latente "Über-völkerung. Dazu gehört die Landbevölkerung, die mit der Entwicklungdes Kapitalismus ihre Wirtschaft verliert und außerhalb der Landwirt-schaft keine Beschäftigung findet Diese Bevölkerung ist stets bereit, fürbeliebige Unternehmungen Arbeitskräfte zu stellen. 3. Stockende Über-völkerung. Sie ist „durchaus unregelmäßig" beschäftigt, und zwar zu Be-dingungen, die unter dem üblichen Niveau stehen. Hierher gehörenhauptsächlich Hausarbeiter, die sowohl auf dem Lande als auch in derStadt für Fabrikanten und Warenhäuser tätig sind. Die Gesamtheit allerdieser Bevölkerungsschichten bildet eben die relative "Übervölkerungoder die Reservearmee. Der letzte Terminus zeigt deutlich, von welcher .Bevölkerung die Rede ist. Es sind die Arbeiter, die der Kapitalismus füreine eventuelle Erweiterung der Betriebe braucht, die aber niemals ständigbeschäftigt werden können.

Somit ist die Theorie auch in dieser Frage zu einer Schlußfolgerunggekommen, die derjenigen der Romantiker diametral entgegengesetzt ist.Für diese bedeutet die Übervölkerung, daß der Kapitalismus nichtmöglich oder „irrig" sei. In Wirklichkeit aber ist gerade das Gegenteil derFall: die Übervölkerung, die eine notwendige Ergänzung der Über-produktion darstellt, ist ein notwendiges Zubehör der kapitalistischenWirtschaft, ohne das diese weder existieren nodh sidh entwickeln könnte.Efrussi hat auch hier die Sache völlig falsch dargestellt, indem er dieseThese der neuesten Theorie verschwiegen hat.

Es genügt, die beiden genannten Auffassungen einander gegenüber-zustellen, um sich ein Urteil darüber zu bilden, welcher von ihnen sichunsere Volkstümler anschließen. Das oben dargelegte Kapitel aus Sis-mondi hätte mit vollstem Recht in Herrn N.-ons „Abhandlungen überunsere Volkswirtschaft nach der Reform" stehen können.

Wenn die Volkstümler die Bildung einer überschüssigen Bevölkerungin dem Rußland in der Zeit nach der Reform konstatierten, stellten sieniemals die Frage, ob der Kapitalismus eine Reservearmee von Arbeiternbraucht. Hätten denn die Eisenbahnen gebaut werden können, wenn nichtständig eine Übervölkerung entstanden wäre? Es ist doch, bekannt, daßdie Nachfrage nach Arbeit dieser Art starken Jahresschwankungen unter-liegt. Könnte sich die Industrie ohne diese Bedingung entwickeln? (In denPerioden der Erhitzung braucht sie eine Masse Bauarbeiter für neu zu

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errichtende Fabriken, Gebäude, Lagerhäuser usw. und für alle möglicheim Tagelohn bezahlte Hilfsarbeit, die den größten Teil der sogenanntennichtagrikolen Wandergewerbe ausmacht) Hätte denn ohne diese Be-dingung die kapitalistische Landwirtschaft unserer Randgebiete entstehenkönnen, die Hunderttausende und Millionen von Tagelöhnern erfordert,wobei die Schwankungen der Nachfrage nach diesen Arbeitskräften be-kanntlich ungeheuer groß sind? Hätten denn die Holzhändler und Holz-industriellen ohne die Bildung einer Übervölkerung die Wälder so phäno-menal rasch für den Bedarf der Fabriken abholzen können? (Die Wald-arbeiten gehören ebenfalls zu den am schlechtesten bezahlten undunter den schlechtesten Bedingungen stehenden Arbeiten, ebenso wie dieanderen Formen der Arbeit, die von der ländlichen Bevölkerung fürUnternehmer geleistet wird.) Hätte sich denn ohne diese Bedingung dasSystem der Vergebung von Hausarbeit durch Kaufleute, Fabrikanten undWarenhäuser in den Städten und Dörfern entwickeln können, das inden sog. Kustargewerben eine so weitverbreitete Erscheinung gewordenist? In allen diesen Arbeitszweigen (die sich hauptsächlich nach derReform entwickelt haben) sind die Schwankungen in der Nachfrage nachLohnarbeit überaus groß. Die Größe der Schwankungen in dieser Nach-frage bestimmt aber den Umfang der für den Kapitalismus erforderlichenÜbervölkerung. Die volkstümlerischen Ökonomen haben nirgends ge-zeigt, daß ihnen dieses Gesetz bekannt ist. Wir haben natürlich nicht dieAbsicht, uns hier auf eine allseitige Untersuchung dieser Frage einzu-lassen.* Das gehört nicht zu unserer Aufgabe. Gegenstand unserer Ab-handlung ist die westeuropäische Romantik und ihr Verhältnis zur russi-schen Volkstümlerrichtung. Auch im vorliegenden Fall zeigt es sich, daßdieses Verhältnis das gleiche ist wie in allen vorhergehenden Fällen: in derFrage der Übervölkerung stehen die Volkstümler voll und ganz auf demStandpunkt der Romantik, die dem Standpunkt der neuesten Theoriediametral entgegengesetzt ist. Der Kapitalismus beschäftigt die freige-setzten Arbeiter nicht, sagen sie. Folglich sei er nicht möglich, „irrig" usw.Dies „folgt" aber keineswegs. Widerspruch ist nicht dasselbe wie Wider-

* Deshalb lassen wir hier auch den sehr originellen Umstand unberück-sichtigt, daß die Volkstümler-Ökonomen alle diese vielen Arbeiter mit derBegründung nidbt mitzählen, diese seien noch nicht registriert.

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sinn*. Die kapitalistische Akkumulation, die wahrlich eine Produktion umder Produktion willen ist, ist ebenfalls ein Widerspruch. Das hindert sieaber nicht, zu existieren und das Gesetz eines bestimmten Wirtschafts-systems zu sein. Dasselbe ist auch von allen anderen Widersprüchen desKapitalismus zu sagen. Aus der angeführten Betrachtung der Volkstümler„folgt" nur, wie tief in der russischen Intelligenz das Übel verwurzelt ist,alle diese Widersprüche mit Phrasen abzutun.

Sismondi hat also absolut nichts zu einer theoretischen Analyse derÜbervölkerung beigetragen. Wie hat er sie aber aufgefaßt? Seine An-sichten setzen sich aus einer originellen Verbindung von kleinbürgerlichenSympathien und Malthusianertum zusammen. „Das große Übel derheutigen sozialen Ordnung", sagt Sismondi, „besteht darin, daß derArme niemals wissen kann, auf welche Nachfrage nach Arbeit er rechnenkann" (II, 261), und Sismondi träumt von den Zeiten, da der „Dorf-schuhmacher" und der Kleinbauer ihre Einnahmen genau kannten. „Jemehr der Arme jedes Eigentums beraubt ist, um so mehr ist er in Gefahr,sich hinsichtlich seines Einkommens zu irren und zum Anwachsen einerBevölkerung beizutragen (contribuer ä accroltre une population...), diein keinem Verhältnis zur Nachfrage nach Arbeit steht und infolgedessenkeine Unterhaltsmittel findet." (II, 263/264.) Diesem Ideologen desKleinbürgertums genügt es also nicht, daß er um der Erhaltung derpatriarchalischen Beziehungen in einer halbbarbarischen Bevölkerungwillen die ganze gesellschaftliche Entwicklung aufhalten möchte. Er istbereit, der menschlichen Natur jedes Gebresten zu oktroyieren, wennes nur der Erhaltung des Kleinbürgertums dient. Hier noch einige Aus-züge, die über diesen letzten.Punkt keinen Zweifel lassen:

Die wöchentliche Lohnzahlung in der Fabrik habe den bettelarmenArbeiter daran gewöhnt, nicht weiter in die Zukunft zu schauen als biszum nächsten Sonnabend, und hat so „in ihm die moralischen Qualitätenund die Gefühle derSympathie abgestumpft" (II, 266), die, wie wir gleichsehen werden, in der „ehelichen Vernunft" bestehen!... „Seine Familiewird um so zahlreicher werden, je mehr sie der Gesellschaft zur Lastfällt,- und die Nation wird unter der Last einer Bevölkerung seufzen(gemira), die zu den Unterhaltsmitteln in keinem Verhältnis (dispropor-

* „Widerspruch" und ;, Widersinn" bei Lenin deutsch. Der Tibers.

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tionnee) steht." (II, 267.) Erhaltung des Kleinbesitzes um jeden Preis,das ist die Parole Sismondis, selbst um den Preis einer Senkung desLebensniveaus und der Entartung der menschlichen Natur! Und nunwidmet Sismondi, nachdem er sich mit staatsmännischer Miene darüberausgelassen hat, wann denn ein Wachstum der Bevölkerung „wünschens-wert" sei, ein besonderes Kapitel Angriffen auf die Religion, weil diesedie „unvernünftigen" Ehen nicht verurteilt habe. Sobald es um seinIdeal - den Kleinbürger - geht, wird Sismondi malthusianischer alsMalthus selber. „Die Kinder, die nur zum Elend geboren werden"-, be-lehrt Sismondi die Religion, „werden auch nur zu Lastern geboren. . .Die Unkenntnis der sozialen Ordnung hat sie (die Vertreter der Religion)die Keuschheit aus der Zahl der Tugenden, die der Ehe eigentümlich sind,streichen lassen und ist eine der Ursachen gewesen, die ohne Aufhörendahin gewirkt haben, das Verhältnis, das sich sonst auf natürliche Weisezwischen der Bevölkerung und ihren Unterhaltsmitteln entwickelt hätte,zu stören." (II, 294.) „Die religiöse Moral sollte die Männer lehren, daßs i e . . . wenn sie ihre Familie erneuert haben . . . kaum weniger verpflichtetsind, mit ihren Frauen in Keuschheit zu leben, wie Junggesellen mitFrauen, die ihnen nicht gehören." (II, 298.) Nun rechnet Sismondi, derüberhaupt darauf prätendiert, nicht nur Theoretiker und Ökonom, son-dern auch ein großes Verwaltungstalent zu sein, gleich auf der Stelle aus,daß es zur „Erneuerung der Familie" „im allgemeinen durchschnittlich . . .dreier Geburten" bedürfe, und gibt der Regierung den Rat, „die Bürgernicht durch die Hoffnung auf eine unabhängige Stellung zu täuschen, dieihnen erlauben würde, eine Familie zu gründen, da diese trügerische Ein-richtung (cet etablissement illusoire) sie zu Leiden, Elend und hoherSterblichkeit verurteilen wird" (II, 299). „Wo die soziale Ordnung diewerktätige Klasse noch nicht von der Klasse der kleinen Besitzer getrennth a t t e . . . genügte die öffentliche Meinung allein, um die Bettelplage (lefleau) in Schranken zu halten. Es bedeutet immer eine Schande für den Land-mann, wenn er das Erbteil seiner Väter verkauft, für den Handwerker,wenn er sein kleines Kapital verschleudert h a t . . . Aber in dem Zustand,in dem sich heute Europa befindet... können Menschen, die dazu ver-urteilt sind, niemals etwas ihr Eigen zu nennen, nicht Scham empfinden,daß sie an den Bettelstab gekommen sind." (II, 306/307.) Stumpfsinnund Hartherzigkeit des Kleinbesitzers lassen sich wohl kaum prägnanter

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zum Ausdruck bringen! Sismondi verwandelt sich hier aus einem Theore-tiker in einen praktischen Berater, der die Moral predigt, die bekanntlichder französische Bauer mit soviel Erfolg beherzigt. Das ist nicht nurMalthus, sondern obendrein ein Malthus, der peinlich genau nach demMaß des Kleinbourgeois zugeschnitten ist. Bei der Lektüre dieser KapitelSismondis erinnert man sich unwillkürlich der leidenschaftlich zornigenAusfälle Proudhons, der den Nachweis zu führen versuchte, das Malthu-sianertum predige die eheliche Praktizierung... eines gewissen wider-natürlichen Lasters.*

IXDie Maschinen in der kapitalistischen QeseUschaft

Mit der Frage der Übervölkerung hängt die Frage nach der Bedeutungder Tdasdhinen überhaupt zusammen.

Efrussi spricht immer wieder von Sismondis „glänzenden Bemerkun-gen" über die Maschinen und sagt, „es wäre ungerecht, in ihm einenGegner technischer Vervollkommnungen zu sehen" (Nr. 7, S. 155), „Sis-mondi war kein Feind der Maschinen und Erfindungen" (S. 156). „Sismondihat wiederholt betont, daß nicht die Maschinen und Erfindungen an undfür sich für die Arbeiterklasse schädlich sind, sondern daß sie erst infolgeder modernen Wirtschaftsverhältnisse schädlich wirken, bei denen eineErhöhung der Arbeitsproduktivität weder die Konsumtion der Arbeiter-klasse steigert noch die Arbeitszeit verkürzt." (S. 155.)

Alle diese Feststellungen sind durchaus richtig. Und doch zeigt einesoldbe Beurteilung Sismondis wiederum äußerst prägnant, wie der Volks-tümler absolut außerstande war, den Romantiker zu begreifen, wie ernicht vermochte, den der Romantik eigentümlichen Standpunkt gegenüberdem Kapitalismus und den radikalen Unterschied zwischen diesem Stand-punkt und dem der wissenschaftlichen Theorie zu begreifen. Der Volks-tümler konnte das auch nicht begreifen, weil die Volkstümlerrichtungselber über die Romantik nicht hinausgekommen ist. Wenn aber Sis-mondis Hinweise auf den widerspruchsvollen Charakter der kapitali-stischen Anwendung von Maschinen in den zwanziger Jahren des 19. Jahr-

* Siehe Beilage zur russischen Übersetzung des „Aufsatzes über das Be-völkerungsprinzip" von Malthus (übersetzt von Bibikow, St. Petersburg 1866).Die zitierte Stelle entstammt dem Werk Proudhons „Von der Gerechtigkeit".

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hunderts ein bedeutender Fortschritt waren, so ist es heutzutage absolutunverzeihlich, sich auf eine derart primitive Kritik zu beschränken undnicht zu begreifen, wie kleinbürgerlich beschränkt sie ist.

3n dieser "Hinsidbt (d. h. bezüglich des Unterschieds zwischen SismondisLehre und der neuesten Theorie)* beharrt Efrussi fest auf seiner Ansicht.Er versteht nicht einmal, die Frage zu stellen. Er begnügt sich mit derFeststellung, Sismondi habe den Widerspruch gesehen - als hätte dieGeschichte nicht die verschiedenartigsten Methoden und Verfahren einerKritik der Widersprüche des Kapitalismus gezeigt. Efrussi spricht davon,daß Sismondi die Maschinen an und für sich nicht für schädlich hielt,sondern nur wegen ihrer Wirkung in der gegebenen sozialen Ordnung,er merkt aber nicht, welchen primitiven, oberflächlich sentimentalen Stand-punkt allein schon diese Bemerkung erkennen läßt. Sismondi überlegtetatsächlich: sind die Maschinen schädlich oder nicht? und er „löste" dieFrage mit der Sentenz: die Maschinen sind nur dann nützlich, wenn die Pro-duktion mit der Konsumtion übereinstimmt (siehe die Zitate im „RusskojeBogatstwo" Nr. 7, S. 156). Nach allem oben Gesagten brauchen wir hiernicht erst zu beweisen, daß eine derartige „Lösung" nichts anderes bedeu-tet, als an die Stelle einer wissenschaftlichen Analyse des Kapitalismus einekleinbürgerliche Utopie zu setzen. Man darf es Sismondi nicht zum Vor-wurf machen, daß er eine solche Analyse nicht vorgenommen hat. HistorischeVerdienste werden nicht danach beurteilt, was historische Persönlich-keiten, gemessen an den heutigen Erfordernissen nidht geleistet haben,sondern danach, was sie im Vergleich zu ihren Vorgängern Neues geleistethaben. Wir aber beurteilen hier schon nicht mehr Sismondi und auchnicht seinen primitiven, sentimentalen Standpunkt, sondern den Öko-nomen des „Russkoje Bogatstwo", der bis auf den heutigen Tag denUnterschied zwischen diesem Standpunkt und dem neuesten Standpunktnidit begreift. Er begreift nicht, daß zur Kennzeichnung dieses Unter-schieds nicht zu fragen ist, ob Sismondi ein Feind der Maschinen waroder nicht, sondern ob Sismondi die Bedeutung der Maschinen in derkapitalistischen Gesellschaft verstanden, ob er die Rolle der Maschinenin dieser Ordnung als einen fortsdhrittlidjen 7akXor begriffen hat. Beidieser Fragestellung hätte der Ökonom des „Russkoje Bogatstwo" be-

* Wir haben schon mehrfach gesehen, daß Efrussi überall bemüht war,diesen Vergleich Sismondis mit der modernen Theorie durchzuführen.

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merken können, daß Sismondi von seinem kleiribürgerlidben, utopisdhenStandpunkt aus diese Frage gar nidbt stellen konnte und daß das unter-scheidende Merkmal der neuen Theorie gerade darin besteht, diese Frageaufgeworfen und gelöst zu haben. Dann hätte Efrussi begreifen können,daß Sismondi, als er die Frage nach der historischen Rolle der Maschinenin der gegebenen kapitalistischen Gesellschaft durch die Frage ersetzte,unter welchen Bedingungen die Maschinen überhaupt „vorteilhaft" und„nützlich" seien, natürlicherweise zu der Lehre gelangte, der Kapitalismusund die kapitalistische Anwendung von Maschinen seien „gefährlich",und die Notwendigkeit verkündete, die Entwicklung des Kapitalismusmüßte „aufgehalten", „gemäßigt", „reglementiert" werden, und so zumReaktionär wurde. Die Verkennung der historischen Rolle der Maschinenals eines Fortschrittsfaktors ist eben eine der Ursachen, weshalb die neuesteTheorie Sismondis Lehre als reaktionär gekennzeichnet hat.

Wir werden hier selbstredend nicht die neueste Lehre (d.h. dieMarxsche Lehre) von der maschinellen Produktion darlegen. Wir ver-weisen den Leser etwa auf die obengenannte Untersuchung von N. Sieber,Kapitel X „Maschinen und Großindustrie" und besonders Kapitel XI„Untersuchung der Theorie der maschinellen Produktion"*. Hier sei nurdas Wesen dieser Lehre ganz knapp umrissen. Sie läuft auf zwei Punktehinaus: 1. auf eine historische Analyse, die den Platz der maschinellenProduktion in der Reihe der anderen Entwicklungsstadien des Kapita-lismus und das Verhältnis der maschinellen Industrie zu den vorher-gehenden Stadien feststellt (der einfachen kapitalistischen Kooperationund der kapitalistischen Manufaktur); 2. auf eine Analyse der Rolle derMaschinen in der kapitalistischen Wirtschaft und insbesondere auf eineAnalyse der durch die maschinelle Industrie bewirkten Umwälzung allerLebensbedingungen der Bevölkerung. Zum ersten Punkt hat die Theoriefestgestellt, daß die maschinelle Industrie nur ein Stadium (und zwar einhöheres) der kapitalistischen Produktion ist, und hat ihre Entstehung aus

* „Um die Wahrheit zu sagen", bemerkt Sieber am Anfang dieses Kapitels,„bietet die dargelegte Lehre von den Maschinen und der Großindustrie eineso unerschöpfliche Quelle neuer Gedanken und origineller Untersuchungen,daß jemand, der die relativen Vorzüge dieser Lehre vollständig beurteilenwollte, allein über diesen einen Gegenstand fast ein ganzes Buch schreibenmüßte." (S. 473.)

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der Manufaktur nachgewiesen. Zum zweiten Punkt hat die Theorie fest-gestellt, daß die maschinelle Industrie nicht nur deshalb ein riesiger Fort-schritt in der kapitalistischen Gesellschaft ist, weil sie die Produktivkräftegewaltig steigert und die Arbeit in der ganzen Gesellschaft vergesell-schaftet*, sondern auch weil sie die manufakturmäßige Arbeitsteilungzerstört, weil sie es notwendig macht, daß die Arbeiter von einer Be-schäftigung zur anderen übergehen, weil sie die rückständigen patriarcha-lischen Verhältnisse - besonders im Dorf e - endgültig zerstört** und weilsie sowohl aus den genannten Ursachen als auch infolge der Konzen-tration der industriellen Bevölkerung einen überaus starken Anstoß zueiner fortschrittlichen Bewegung der Gesellschaft gibt. Begleitet wird die-ser Fortschritt, wie jeder andere Fortschritt des Kapitalismus, von einem„Fortschritt" der Widersprüche, d. h. von ihrer Verschärfung und Er-weiterung.

Der Leser wird vielleicht fragen, welches Interesse denn an einerUntersuchung der Ansichten Sismondis in einer so allbekannten Frageund an einem so summarischen Hinweis auf die neue Theorie be-steht, die ja allgemein „bekannt" ist, mit der ja alle „einverstanden"sind?

Um uns dieses „Einverständnis" einmal anzusehen, wollen wir denbekanntesten volkstümlerischen Ökonomen, Herrn N.-on, vornehmen,der Anspruch erhebt, die neueste Theorie exakt anzuwenden. Bekannt-lich hat es sich Herr N.-on in seinen „Abhandlungen" zu einer seinerSpezialaufgaben gemacht, die kapitalistische Umwälzung der russischenTextilindustrie zu studieren, die gerade durch die stärkste Anwendungvon Maschinen gekennzeichnet ist.

Es fragt sich nun, auf welchem Standpunkt Herr N.-on in dieser Fragesteht: auf dem Standpunkt Sismondis (mit dem er, wie wir gesehen haben,über sehr viele Seiten des Kapitalismus einer Ansicht ist) oder auf dem

* Sieber vergleicht die „Kombination der Arbeit" in der Dorfgemeindeund in der kapitalistischen Gesellschaft mit der maschinellen Industrie undbemerkt mit vollem Recht: „Zwischen dem ,Summanden' der Dorfgemeindeund dem jSummanden' der Gesellschaft mit maschineller Produktion bestehtungefähr derselbe Unterschied wie z. B. zwischen der Einheit 10 und derEinheit 100." (S. 495.)

** Sieber, a. a. O., S. 467.

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Standpunkt der neuesten Theorie? Ist er in einer so wichtigen FrageRomantiker o d e r . . . Realist*?

Wir haben gesehen, daß der erste Vorzug der neuesten Theorie in derhistorischen Analyse der Entstehung der maschinellen Industrie aus derkapitalistischen Manufaktur besteht. Hat Herr N.-on die Frage nach derEntstehung der russischen maschinellen Industrie gestellt? Nein. Zwarhat er darauf hingewiesen, daß ihr die Hausarbeit für den Kapitalistenund die manuelle „Fabrik"** voraufgegangen sind, aber die Frage nachdem Verhältnis der maschinellen Industrie zu dem vorhergehendenStadium hat er keineswegs geklärt, ja, er hat nicht einmal „bemerkt",daß das vorhergehende Stadium (manuelle Produktion in der Hausarbeitoder in der Werkstatt des Kapitalisten) nach der wissenschaftlichen Ter-minologie nicht als fabrik bezeichnet werden durfte, sondern zweifellosals kapitalistische Manufaktur charakterisiert werden muß.***

Der Leser möge nicht glauben, dieses „Versehen" sei bedeutungslos.Im Gegenteil, es ist von größter Wichtigkeit. Erstens identifiziertHerr N.-on damit den 'Kapitalismus mit der maschinellen Industrie. Dasist ein grober Fehler. Die Bedeutung der wissenschaftlichen Theorie be-steht gerade darin, daß sie den richtigen Platz der maschinellen Industrieals eines Stadiums des Kapitalismus klargestellt hat. Hätte sich Herr N.-onden Standpunkt dieser Jheorie zu eigen gemacht, wie könnte er dann

* Das Wort „Realist" steht hier ausschließlich wegen der Zensur an Stelledes Wortes Marxist. Aus demselben Grunde sind alle Berufungen auf„Das Kapital" durch Berufungen auf das Buch von Sieber ersetzt, der Marx'„Kapital" wiedergegeben hat. (Anmerkung des Verfassers zur Ausgabe von1908. Die Kei.)

** S. 108. Zitat aus der „Sammlung statistischer Daten für das Gouv.Moskau", Bd. VII, Lief. III, S. 32 (die Statistiker geben hier Korsaks „Oberdie Formen der Industrie" wieder): „Die ganze Organisation des Gewerbeserfährt seit 1822 eine völlige Veränderung - aus selbständigen Kustarprodu-zenten werden die Bauern zu bloßen Ausführenden einiger Operationen dergroßen Fabrikproduktion, sie beschränken sich auf die Arbeit gegen Stück-lohn."*** Sieber hat mit vollem Recht darauf hingewiesen, daß die übliche Ter-

minologie (Fabrik, Werk usw.) für wissenschaftliche Untersuchungen untaug-lich ist und daß man die maschinelle Industrie von der kapitalistischen Manu-faktur unterscheiden müsse (S. 474).

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das Wachstum und den Sieg der masdbinetten Industrie als einem „Kampfzwischen zwei Wirtschaftsformen" darstellen: zwischen einer unbekann-ten „Form, die darauf beruht, daß der Bauernschaft die Produktions-instrumente gehören"*, und des „Kapitalismus" (S. 2, 3, 66, 198 u. a.),während wir in Wirklichkeit den "Kampf der masdhinellen Industrie mitder kapitalistischen Manufaktur beobachten? über diesen Kampf hatHerr N.-on kein Wort gesagt, obwohl gerade in der Textilindustrie, dieer zum Gegenstand seiner speziellen Untersuchung gemacht hat (S. 79)und worauf er selber hinweist, eben ein solcher Wechsel zweier formendes Kapitalismus stattgefunden hat, den Herr N.-on in eine Ablösungder „Volksproduktion" durch den „Kapitalismus" verdreht hat. Liegt esdenn nicht auf der Hand, daß ihn im Grunde die Entwicklung der maschi-nellen Industrie, wie sie sich in Wirklichkeit vollzogen hat, nicht imgeringsten interessierte und daß sich hinter der „Volksproduktion" eineUtopie ganz nach dem Geschmack Sismondis verbirgt? Zweitens, hätteHerr N.-on die Frage aufgeworfen, wie sich die historische Entwicklungder russischen maschinellen Industrie vollzogen hat, wie hätte er dannvom „Anpflanzen des Kapitalismus" reden (331, 283, 323 u. a.) und sichdabei auf Fälle einer Unterstützung und Hilfe seitens der Regierung be-rufen können, Fälle, wie sie auch in Europa zu verzeichnen waren! Esfragt sich: Eifert er Sismondi nach,der ja ganz genauso vom „Anpflanzen"sprach, oder dem Vertreter der neuesten Theorie, der die Ablösung derManufaktur durch die maschinelle Industrie untersucht hat? Drittens,hätte Herr N.-on die Frage aufgeworfen, wie sich die Formen des Kapi-talismus in Rußland (in der Textilindustrie) historisch entwickelt haben,wie hätte er dann die Existenz der kapitalistischen Manufaktur in denrussischen „Kustargewerben"** ignorieren können? Wäre er tatsächlich

* N.-on, S. 322. Unterscheidet sich denn das auch nur um ein Jota von derIdealisierung der patriarchalischen Bauernwirtschaft bei Sismondi?

** Wir setzen hier voraus, daß es sich erübrigt, diese allgemein bekannteTatsache zu beweisen. Man erinnere sich des Schlossergewerbes von Pawlowo,des Ledergewerbes von Bogorodskoje, des Schuhmachergewerbes von Kimry,des Mützenmachergewerbes im Distrikt Molwitino, der Harmonika- und derSamowarfertigung in Tula, des Juweliergewerbes im Dorfe Krasnoje und inRybnoslobodsk, des Löffelmachergewerbes von Semjonow, der Hornverarbei-tung in der „Ustjanschtschina"; der Filzwalkerei im Kreise Semjonow, Gouv.Nishni-Nowgorod, usw. Wir zitieren hier nach dem Gedächtnis,- man braucht

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der Theorie gefolgt und hätte er versucht, auch nur ein Eckchen dieserProduktion, .die ja auch „Volksproduktion" ist, mit einer wissenschaft-lichen Analyse zu streifen - was wäre dann aus seinem nach SusdalerArt hingehauenen Bild von der russischen Volkswirtschaft geworden,einem Bild, das eine nebelhafte „Volksproduktion" und einen von ihrlosgerissenen „Kapitalismus" darstellt, der bloß ein „Häuflein" Arbeitererfaßt (S. 326 u. a.)?

Resümieren wir: In bezug auf den ersten Punkt, durch den sich dieneueste Theorie der maschinellen Industrie von der romantischen unter-scheidet, kann Herr N.-on in keinem lalle als Anhänger der neuestenIheorie betrachtet werden, denn er begreift nicht einmal, daß es not-wendig ist, danach zu fragen, wie die maschinelle Industrie als ein beson-deres Stadium des 'Kapitalismus entstanden ist, und verschweigt dieExistenz der kapitalistischen Manufaktur, dieses den Maschinen voran-gegangenen Stadiums des Kapitalismus. An die Stelle einer historischenAnalyse setzt er die Utopie der „Volksproduktion".

Der zweite Punkt betrifft die Lehre der neuesten Theorie von derdurch die maschinelle Industrie bewirkten Umgestaltung der gesellschaft-lichen Beziehungen. Herr N.-on hat nicht einmal versucht, diese Fragezu klären. Er hat viel über den Kapitalismus gejammert, er hat die Fabrikbeweint (ganz so wie Sismondi sie beweint hat), aber er hat nicht einmalversucht, die durch die Fabrik* hervorgerufene Umgestaltung der gesell-schaftlichen Verhältnisse zu erforschen. Dazu müßte ja gerade die ma-schinelle Industrie mit den vorhergehenden Stadien verglichen werden, diees bei Herrn N.-on gar nicht gibt. Ebenso ist ihm die Ansicht der neuestenTheorie völlig fremd, nach der die Maschinen ein Faktor des Fortschrittsder heutigen kapitalistischen Qesellsdhaft sind. Wiederum hat er dieseFrage nicht einmal aufgeworfen**, und er konnte sie auch gar nicht auf-

bloß eine beliebige Untersuchung über die Kustarindustrie zu nehmen, umdie Liste ins Unendliche verlängern zu können.

* Wir bitten nicht zu vergessen, daß die wissenschaftliche Bedeutung diesesTerminus nicht dieselbe ist wie die alltägliche. Die Wissenschaft beschränktseine Anwendung lediglich auf die maschinelle Großindustrie.

** Wie es z. B. A. Wolgin in seiner Schrift „Die Begründung der Volks-tümlerrichtung in den Arbeiten des Herrn Woronzow (W. W.)", St. Peters-burg 1896, getan hat.

13 Lenin, Werke, Bd. 2

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werfen, denn diese Frage kann nur das Resultat einer historischen Unter-suchung der Ablösung der einen 7orm des Kapitalismus durch eine anderesein, bei Herrn N.-on aber löst der „Kapitalismus" tout court*... die„Volksproduktion" ab.

Wollten wir auf Qrund der „Untersuchung" des "Herrn "N.-on Über diekapitalistisdie Umgestaltung der "Jextilindustrie in Rußland fragen: Washält Herr N.-on von den Maschinen? so könnten wir keine andere Ant-wort bekommen als die, die wir schon von Sismondi kennen. HerrN.-on gibt zu, daß die Maschinen die Produktivität der Arbeitsteigern (wie könnte er das auch nicht zugeben!), genauso wie es auchSismondi zugegeben hat. Herr N.-on sagt, nicht die Maschinen seienschädlich, sondern ihre kapitalistische Anwendung, wie das auch Sismondigesagt hat. Herr N.-on ist der Meinung, „wir" hätten bei der Einführungder Maschinen außer acht gelassen, daß die Produktion der „Konsum-tionsfähigkeit des Volkes" entsprechen müsse - wie das auch Sismondigemeint hat.

Und sonst nichts. Weiter meint Herr N.-on nichts. Von den Fragen,die die neueste Theorie aufgeworfen und gelöst hat, will Herr N.-onnichts wissen, denn er hat nicht einmal den Versuch unternommen, denhistorischen Wechsel der verschiedenen Formen der kapitalistischen Pro-duktion in Rußland (sei es auch nur an dem von ihm gewählten Beispielder Textilindustrie) oder die Rolle der Maschinen als Faktor des Fort-schritts in der heutigen kapitalistischen Ordnung näher zu untersuchen.

Also auch in der Frage der Maschinen - dieser so bedeutenden Frageder theoretischen Ökonomie - bezieht Herr N.-on den Standpunkt Sis-mondis. Herr N.-on urteilt ganz und gar wie ein Romantiker, was ihnnatürlich keineswegs hindert, zu- zitieren und immer wieder zu zitieren.

Das bezieht sich nicht allein auf das Beispiel der Textilindustrie, son-dern überhaupt auf alle Betrachtungen des Herrn N.-on. Man erinneresich nur des oben angeführten Beispiels der Mühlenproduktion. Der Hin-weis auf die Einführung von Maschinen dient Herrn N.-on bloß als Anlaßzu sentimentalen Lamentationen darüber, daß diese Steigerung der Ar-beitsproduktivität nicht der „Konsumtionsfähigkeit des Volkes" ent-spreche. Er dachte nicht einmal daran, die Umwälzungen in der Gesell-schaftsordnung zu untersuchen, die die maschinelle Industrie überhaupt

* schlankweg. Die Red.

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herbeiführt (und die sie tatsächlich in Rußland herbeigeführt hat). DieFrage, ob diese Maschinen in der heutigen kapitalistischen Gesellschaft einFortschritt waren, ist ihm völlig unverständlich.*

Was über Herrn NT.-on gesagt worden ist, bezieht sich a fortiori** auchauf die anderen Ökonomen der Volkstümler: Die Volkstümlerrichtungsteht in der Frage der Maschinen bis zum heutigen Tag auf dem Stand-punkt der kleinbürgerlichen Romantik, indem sie sentimentale Wünschean die Stelle einer ökonomischen Analyse setzt.

X

Der Protektionismus*5

Die letzte uns im System der Anschauungen Sismondis interessierendetheoretische Frage ist der Protektionismus. In den „Nouveaux Principes"ist dieser Frage nicht wenig Platz eingeräumt, aber sie wird dort - imZusammenhang mit der Bewegung gegen die Korngesetze in England -mehr von der praktischen Seite her untersucht. Die letztere Frage werdenwir später behandeln, denn sie schließt noch andere, umfassendere Fragenein. Hier interessiert uns einstweilen nur Sismondis Einstellung zumProtektionismus. Das Interesse an dieser Frage besteht nicht in nochirgendeinem neuen ökonomischen Begriff Sismondis, der in der vorauf-gegangenen Darlegung unberücksichtigt geblieben wäre, sondern darin,wie er den Zusammenhang zwischen „Ökonomik" und „überbau" auf-faßt. Efrussi versichert den Lesern des „Russkoje Bogatstwo", Sismondisei „einer der ersten und talentiertesten Vorläufer der modernen histo-rischen Schule", er wende sich „gegen die Isolierung der ökonomischenErscheinungen von allen anderen sozialen Faktoren". „In Sismondis Wer-ken wird die Ansicht vertreten, daß die wirtschaftlichen Erscheinungennicht von den anderen sozialen Faktoren isoliert werden dürfen, daß siein Verbindung mit den Gegebenheiten sozialpolitischen Charakters unter-sucht werden müssen." („Russkoje Bogatstwo" Nr. 8, S. 38/39.) Prüfen

* Im Text sind auf der Grundlage der Marxschen Theorie die Aufgabeneiner Kritik an den Auffassungen des Herrn N.-on skizziert, denen ich späterin der „Entwicklung des Kapitalismus" nachgekommen bin. (Anmerkung desVerfassers zur Ausgabe von 1908. Die Red.)

** um so mehr. Die Red.

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wir nun einmal an diesem Beispiel, wie Sismondi den Zusammenhangder wirtschaftlichen Erscheinungen mit den sozialpolitischen aufgefaßthat.

„Einfuhrverbote", sagt Sismondi in dem Kapitel „Von den Zöllen"(Buch IV, eh. XI), „sind ebenso unklug und verderblich wie Ausfuhr-verbote: man hat sie erfunden, um einer Nation eine Manufaktur zuschenken, die sie noch nicht hatte, und es läßt sich nicht leugnen, daß siefür eine erst beginnende Industrie der stärksten Förderungsprämie gleich-kommen. Diese Manufaktur produziert vielleicht kaum ein Hundertsteldessen, was die Nation an den betreffenden Waren verbraucht: hundertKäufer werden miteinander wetteifern müssen, um die Ware von demeinzigen Verkäufer zu bekommen, und die neünundneunzig, die er zu-rückweist, werden gezwungen sein, sich Schmuggelware zu verschaffen.In diesem Fall wird der Verlust für die Nation gleich 100 und der Nutzengleich 1 sein; welcher Vorteil einer Nation aus dieser neuen Manufakturauch erwachsen möge, er ist zweifellos zu gering, um so große Opfer zurechtfertigen. Es wäre immer möglich, weniger verschwenderische Mittelausfindig zu machen, am eine solche Manufaktur in Gang zu bringen."(1,440/441.)

So einfach also löst Sismondi diese Frage: Protektionismus sei „un-klug", da die „Nation" an ihm verliert!

Von welcher „Nation" spricht unser Ökonom eigentlich? Auf welchewirtschaftlichen Verhältnisse bezieht er diese sozialpolitische Tatsache?Er untersucht keine bestimmten Verhältnisse, er spricht von der Nationim allgemeinen, wie sie nadb seinen Vorstellungen von dem, was sein soll,sein müßte. Und diese Vorstellungen von dem, was sein soll, beruhen,wie wir wissen, auf der Ausschaltung des Kapitalismus und auf der Herr-schaft der selbständigen Kleinproduktion.

Aber es ist doch völliger Unsinn - einen sozialpolitischen Faktor, derfür die heutige Wirtschaftsordung und nur für diese zutrifft, auf irgend-eine angenommene Ordnung zu beziehen. Der Protektionismus ist ein„sozialpolitischer Faktor" des Kapitalismus, Sismondi aber stellt ihn nichtdem Kapitalismus gegenüber, sondern einer Nation schlechthin (oder einerNation selbständiger Kleinproduzenten). Er hätte ja den Protektionismusschließlich auch auf die indische Dorfgemeinde beziehen und dabei einenoch augenfälligere „Unklugheit" und „Schädlichkeit" herausbekommen

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können, aber diese „ Unklugheit" würde genauso seine Konzeption betreffenund nicht den Protektionismus. Sismondi stellt eine Milchmädchenrech-nung auf, um zu beweisen, daß Schutzzölle nur sehr wenigen, auf Kostender Masse, zum Vorteil gereichen. Aber das braucht nicht erst bewiesenzu werden, denn es geht ja schon aus dem Begriff Protektionismus hervor(einerlei, ob er die Form einer direkten Prämienverteilung oder die einerFernhaltung der ausländischen Konkurrenten hat). Daß der Protektionis-mus einen gesellschaftlicher. Widerspruch zum Ausdruck bringt, unter-liegt keinem Zweifel. Gibt es denn aber im Wirtschaftsleben der Ord-nung, die den Protektionismus geschaffen hat, keine Widersprüche? ImGegenteil, es ist voller Widersprüche, und Sismondi selbst hat in seinerganzen Darlegung von diesen Widersprüchen gesprochen. Anstatt nundiesen Widerspruch aus den Widersprüchen der Wirtschaftsordnungabzuleiten, die er ja selbst festgestellt hat, ignoriert Sismondi die öko-nomischen Widersprüche und läßt so seine Betrachtungen zu einem völliginhaltlosen „frommen Wunsch" werden. Anstatt diese Einrichtung, die,wie er sagt, nur einer kleinen Gruppe zum Vorteil gereicht, mit der Lagedieser Gruppe im gesamten Wirtschaftsleben des Landes und mit denInteressen dieser Gruppe in Verbindung zu bringen, stellt er sie derabstrakten These vom „Gemeinwohl" gegenüber. Wir sehen folglich,daß Sismondi, im Gegensatz zu der Behauptung Efrussis, die wirtschaft-lichen Erscheinungen von den übrigen isoliert (indem er den Protektionis-mus außerhalb des Zusammenhangs mit der Wirtschaftsordnung be-trachtet) und den zwischen den ökonomischen und den sozialpolitischenGegebenheiten bestehenden Zusammenhang ganz und gar nicht versteht.Die von uns angeführte Tirade enthält alles, was er als Theoretiker zurFrage des Protektionismus zu geben imstande ist: alles übrige ist nichtsals eine Wiederholung. „Man kann bezweifeln, daß die Regierungenklar erkannt haben, welchen Preis sie für diesen Vorteil (die Entwicklungder Manufakturen) zahlen und welche unsagbaren Opfer sie den Kon-sumenten auferlegen." (I, 442/443.) „Die Regierungen Europas wolltender Natur Gewalt antun" (faire violence ä la nature). Welcher Natur?Der Protektionismus tut doch nicht etwa der Natur des Kapitalismus„Gewalt an"? „Man zwingt die Nation sozusagen (en quelque sorte)zu einer falschen Rührigkeit." (I, 448.) „Einige Regierungen sind soweit gegangen, ihren Kaufleuten Geld zu zahlen, um sie in den Stand

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zu setzen, billiger zu verkaufen; je seltsamer dieses Opfer erscheint,je mehr es den einfachsten Berechnungen widerspricht, um so mehrhat man es als hohe Politik gepriesen... Die Regierung bezahlt ihreKaufleute auf Kosten ihrer Untertanen" (I, 421) usw. usf. Das alsosind die Betrachtungen, die uns Sismondi auftischt! An anderen Stellenzieht er gewissermaßen die Schlußfolgerung aus diesen Betrachtungenund bezeichnet den Kapitalismus als „künstlich" und „angepflanzt"(I, 379, opulence factice), als „Treibhausgewächs" (II, 456) usw. Er hatdamit begonnen, daß er an die Stelle einer Analyse der gegebenen Wider-sprüche fromme Wünsche setzte, und gelangt, diesen Wünschen zuliebe, zueiner direkten Entstellung der Wirklichkeit. Es kommt so heraus, als wäredie kapitalistische Industrie, die man so eifrig „unterstützt", schwach, ohneBasis usw., als spielte sie nicht die dominierende Rolle in der Wirtschaftdes Landes, als käme diese dominierende Rolle folglidh der Kleinproduk-tion zu usw. Die ausgemachte und unbestreitbare Tatsache, daß derProtektionismus erst aus einer bestimmten Wirtschaftsordnung und ausbestimmten Widersprüchen dieser Ordnung resultiert und daß er einAusdruck realer Interessen einer realen Klasse ist, die in der Volkswirt-schaft die dominierende Rolle spielt - diese Tatsache wird mit Hilfe eini-ger gefühlvoller Phrasen in ein Nichts, ja sogar in ihr Gegenteil ver-wandelt! Hier ein weiteres Musterstück (zum Protektionismus in derLandwirtschaft, I, 265, im Kapitel über die Korngesetze):

„Die Engländer behaupten, daß ihre Großfarmen das einzige Mittelseien, die Agrikultur zu verbessern, d. h., sich eine größere Fülle land-wirtschaftlicher Erzeugnisse bei größter Billigkeit zu verschaffen, währendsie tatsächlich im Gegenteil teurer produzieren—"

Wie charakteristisch ist doch diese Stelle, wie treffend zeigt sie dieMethoden der romantischen Argumentation, die sich die russischen Volks-tümler völlig zu eigen gemacht haben! Die Entwicklung des Pachtwesensund der damit verbundene technische Fortschritt werden als das Ergebniseines vorsätzlich eingeführten Systems hingestellt: die Engländer (d. hdie englischen Ökonomen) bezeichnen dieses System als das einzige Mittelzur Vervollkommnung der Landwirtschaft. Sismondi will sagen, daßaußer dem Pachtwesen auch noch andere Mittel zu ihrer Vervollkomm-nung „möglich wären", d. h. wiederum, daß sie in einer abstraktenGesellschaft „möglich wären", nicht aber in der realen Gesellschaft

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einer bestimmten historischen Periode, nämlich in der auf Waren-produktion beruhenden „Gesellschaft", von der die englischen Öko-nomen sprechen und von der auch Sismondi hätte sprechen sollen.„Vervollkommnung der Landwirtschaft, das heißt, sich (der Nation?)die größte Fülle landwirtschaftlicher Erzeugnisse zu verschaffen." „Dasheißt" es keineswegs. Vervollkommnung der Landwirtschaft und Ver-besserung der Ernährungslage der Massen sind keineswegs ein und das-selbe,- eine Diskrepanz zwischen beiden ist nicht nur möglich, sondernauch unumgänglich in einer Wirtschaftsordnung, über die hinwegzuredensich Sismondi so sehr bemüht. So kann z. B. die Erweiterung des Kar-toffelanbaus eine Steigerung der Arbeitsproduktivität in der Landwirt-schaft (Einführung der Wurzelfrüchte) und eine Vergrößerung des Mehr-werts bedeuten - zugleich aber auch eine Verschlechterung der Ernährungfür die Arbeiter. Es ist immer wieder dieselbe Manier des Volks-tümlers . . . will sagen, des Romantikers, die Widersprüche des wirk-lichen Lebens mit Phrasen abzutun.

„Wir sehen ja", fährt Sismondi fort, „Wie diese reichen, intelligentenPächter, die von allen Errungenschaften der Wissenschaft so unterstützt(secondes) werden, deren Gespanne so schön, deren Zäune so gut imStande, deren Felder so rein von Unkraut sind, sich gegen die Konkurrenzdes elenden polnischen Bauern nicht behaupten können, obwohl dieserdurch die Sklaverei abgestumpft ist und seinen Trost nur im Trankesucht und obwohl seine Agrikultur noch in den Kinderschuhen steckt.Das Getreide, das man im Innern Polens erntet, ist nach Abzug derKosten für den Transport über mehrere hundert Meilen, auf Strömen,über Land und Meer, nach Bezahlung der Einfuhrzölle von 30 und 40%des Wertes, immer noch billiger als das der reichsten Grafschaften Eng-lands." (1,265.) Dieser Kontrast hat „die englischen Ökonomen völligverwirrt". Sie beriefen sich auf die Steuern usw. Aber nicht darum gingees. „Es ist das System der Bodennutzung, das schlecht ist, das auf einergefährlichen Grundlage beruht... Es ist dies dasselbe System, welchesalle Schriftsteller erst neuerdings unserer Bewunderung empfohlen haben,das wir jedoch, im Gegenteil, gut kennenlernen müssen, um uns zu hüten,es nachzuahmen."(1,266.)

Nicht wahr, wie grenzenlos naiv ist doch dieser Romantiker, der denenglischen Kapitalismus (das Pachtwesen) als ein fehlerhaftes System

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der Ökonomen hinstellt und sich einbildet, die „Verwirrung" der Öko-nomen, die vor den Widersprüchen des Pachtwesens die Augen ver-schließen, sei ein ausreichendes Argument gegen die Pächter? Wie ober-flächlich ist doch seine Auffassung, die die wirtschaftlichen Prozesse nichtaus den Interessen der verschiedenen Gruppen, sondern aus Irrtümernder Ökonomen, Schriftsteller und Regierungen zu erklären sucht! Dergute Sismondi will die englischen Pächter ermahnen und beschämen undmit ihnen auch die Pächter auf dem Kontinent, damit sie so „schlechte"Systeme nicht „nachahmen"!

Man vergesse übrigens nicht, daß das vor 70 Jahren geschrieben wor-den ist, daß Sismondi die ersten Anzeichen dieser damals noch völligneuen Erscheinungen beobachtet hat. Seine Naivität ist noch verzeihlich,denn auch die klassischen Ökonomen (seine Zeitgenossen) hielten dieseneuen Erscheinungen mit nicht geringerer Naivität für ein Produkt ewigerund natürlicher Eigenschaften der menschlichen Natur. Wir aber fragen,haben unsere Volkstümler bei ihren „Entgegnungen" auf den in Rußlandsich entwickelnden Kapitalismus den Argumenten Sismondis auch nurein einziges originelles Wörtchen hinzugefügt?

Sismondis Betrachtungen über den Protektionismus zeigen also, daßihm der historische Standpunkt völlig fremd ist. Im Gegenteil, er argu-mentiert wie die Philosophen und Ökonomen des 18. Jahrhunderts völligabstrakt und unterscheidet sich von diesen nur dadurch, daß er nicht diebürgerliche Gesellschaft als normal und natürlich bezeichnet, sondern eineGesellschaft selbständiger Kleinproduzenten. Deshalb begreift er über-haupt nicht, daß der Protektionismus mit einer bestimmten Wirtschafts-ordnung zusammenhängt, und schafft sich diesen Widerspruch aufsozialpolitischem Gebiet mit den gleichen sentimentalen Phrasen über„Fehlerhaftigkeit", „Gefährlichkeit", Widersinnigkeit, Unvernunft usw.vom Halse, mit denen er auch die Widersprüche im Wirtschaftslebenabzutun versucht hat. Deshalb legt er die Sache äußerst oberflächlich dar,indem er die Frage Protektionismus und Freetradertum46 als Frage eines„falschen" und „richtigen" Weges hinstellt (d. h., seiner Terminologienach, als Frage des Kapitalismus oder eines nichtkapitalistischen Weges).

Die neueste Theorie hat diese Irrtümer vollständig aufgedeckt, indemsie den Zusammenhang des Protektionismus mit einem bestimmten histo-rischen System der gesellschaftlichen Wirtschaft, mit den von der

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Regierung geförderten Interessen der in diesem System dominierendenKlasse nachgewiesen hat. Sie hat gezeigt, daß die Frage des Protektionis-mus und des Freihandels eine Frage des Verhältnisses zwischen denUnternehmern ist (zuweilen zwischen Unternehmern verschiedener Län-der, zuweilen zwischen verschiedenen Fraktionen der Unternehmer einesLandes).

Wenn wir die Stellungnahme der Volkstümler-Ökonomen zum Pro-tektionismus mit diesen beiden Auffassungen vergleichen, so sehen wir,daß sie auch in dieser Frage völlig auf dem Standpunkt der Romantikerstehen, indem sie den Protektionismus nicht auf ein kapitalistisches, son-dern auf irgendein abstraktes Land, auf „Konsumenten" tout court be-ziehen und ihn als „irrige" und „unvernünftige" Unterstützung eines„im Treibhaus aufgezogenen" Kapitalismus usw. hinstellen. In der Frageder zollfreien Einfuhr von landwirtschaftlichen Maschinen z. B., die einenKonflikt zwischen industriellen und landwirtschaftlichen Unternehmernhervorruft, setzen sich die Volkstümler selbstverständlich mit allenKräften für die ländlichen . . . Unternehmer ein. Wir wollen nicht sagen,daß sie unrecht haben. Aber das ist eine Tatsachenfrage, eine Frage desgegebenen historischen Augenblicks, es ist die Frage, welche Unter-nehmerfraktion die allgemeinen Interessen der kapitalistischen Entwick-lung stärker zum Ausdruck bringt. Wenn die Volkstümler auch rechthaben, so natürlich nicht, weil die Erhebung von Zöllen eine „künstliche"„Unterstützung des Kapitalismus", die Abschaffung der Zölle dagegeneine Unterstützung des „althergebrachten" Volksgewerbes bedeutet,sondern einfach deshalb, weil die Entwicklung des landwirtschaftlichenKapitalismus (der Maschinen braudit) das Verschwinden der mittel-alterlichen Verhältnisse im Dorfe und die Schaffung des inneren Marktesfür die Industrie beschleunigt und also eine breitere, freiere und raschereEntwicklung des Kapitalismus überhaupt bedeutet.

Wenn wir so die Volkstümler in dieser Frage zu den Romantikernzählen, so sehen wir einen Einwand voraus. Man wird vielleicht sagen,daß man hierbei den Herrn N.-on ausnehmen müsse, der ja direkt erklärt,die Frage des Freihandels und Protektionismus sei eine kapitalistischeFrage, der das immer wieder erklärt und sogar „zitiert" . . . Jawohl, HerrN.-on zitiert sogar! Wenn man uns aber mit dieser Stelle aus seinen„Abhandlungen" kommen sollte, so werden wir andere Stellen anführen,

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wo er sagt, den Kapitalismus unterstützen bedeute ihn „anzupflanzen"(und noch dazu in den „Ergebnissen und Schlußfolgerungen"! S. 331,323, ferner 283), und in denen er erklärt, die Förderung des Kapitalismussei eine „verhängnisvolle Verirrung", „wir ließen außer acht", „wir ver-gäßen", „man habe unseren Blick getrübt" usw. (S. 298. Man vergleicheSismondi!) Wie soll man das mit der Behauptung in Einklang bringen,eine Unterstützung des Kapitalismus (durch Ausfuhrprämien) sei „einerder vielen Widersprüche, von denen es in unserem Wirtschaftsleben nurso wimmelt"*, und „dieser Widerspruch" habe „wie alle übrigen auch,sein Bestehen der Form zu verdanken, die die ganze Produktion an-nimmt" (S. 286)? Man beachte: die ganze Produktion! Wir fragen denerstbesten unvoreingenommenen Menschen: Auf welchem Standpunktsteht dieser Autor, der eine Unterstützung der „7orm, die die ganzeProduktion annimmt", als eine „Verirrung" bezeichnet? Auf SismondisStandpunkt oder dem der wissenschaftlichen Theorie? Die „Zitate" desHerrn N.-on entpuppen sich auch hier (wie in den oben analysiertenFragen) als abseitige, plumpe Einschiebsel, die nicht im geringsten dieechte Überzeugung ausdrücken, daß diese „Zitate" auf die russischeWirklichkeit anwendbar sind. Die „Zitate" des Herrn N.-on sind eineDrapierung im Sinne der neuesten Theorie, deren einziger Zweck ist,die Leser irrezuführen. Es ist das die ungeschickte Verkleidung eines„Realisten", hinter der sich ein waschechter Romantiker versteckt.**

* Ebenso wie es in den „Abhandlungen" von Appellen an „uns", von Aus-rufen: „wir" und von ähnlichen Phrasen „wimmelt", die diese Widersprücheignorieren.

** Wir haben den Verdacht, daß Herr N.-on diese „Zitate" für einenTalisman hält, der ihn vor jeder Kritik schützen soll. Anders ließe sich nurschwer erklären, warum Herr N.-on, der von den Herren Struve und Tugan-Baranowski weiß, daß seine Lehre mit der Doktrin Sismondis verglichenwird, in einem seiner Artikel im „Russkoje Tiogatstwo" (1894, Nr. 6, S. 88) dieÄußerung eines Vertreters der neuen Theorie „zitiert hat", der Sismondi zuden kleinbürgerlichen Reaktionären und Utopisten zählt. Wahrscheinlich ister zutiefst überzeugt, durch ein solches „Zitat" den Vergleich seiner eigenenPerson mit Sismondi „widerlegt" zu haben.