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Psychotherapie und religiöse Erfahrung Ein Tagungsbericht Herausgegeben von Professor Dr. med. Dr. phil. Wilhelm Bitter ERNST KLETT VERLAG STUTTGART

Psychotherapie und religiöse Erfahrung - karl-schlecht.de · der Schicksalsanalysevon Leopold Szondi. AbschließendwurdenKurz verfahren besprochen: Hypnose, Autogenes Training, das

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Psychotherapie

und religiöse Erfahrung

Ein Tagungsbericht

Herausgegeben von

Professor Dr. med. Dr. phil. Wilhelm Bitter

ERNST KLETT VERLAG

STUTTGART

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Die Frage nach dem Sinn des

Daseins stellt sich heute in

neuer Form. Religiöse Pro

blematik, die verdrängt, ins

Unbewußte verbannt wird,

kann zu körperlichen und

seelischen Störungen führen.

UmgekehrterzeugteineReli

giosität, die nicht wirklich er

fahren ist, sondern sich in

strenger Unterwerfung unter

kirchliche Regeln erschöpft,

manchmal sogenannte „ek-

klesiogene Neurosen". In

welcher Beziehung steht nun

die Tiefenpsychologie zur

Religion? Was versteht sie

unter ihr? Wie beurteilt sie

nüm'nose Erlebnisse ? Wie

stellt sich die Seelsorge zur

Psychotherapie ?

Die „Stuttgarter Gemein

schaft Arzt und Seelsorger"

hat auf einer Tagung diese

Fragen untersucht. Es kamen

Vertreter der verschiedenen

Richtungen der Psychothera

pie zuWort, unter ihnen auch

analytisch ausgebildete Theo

logen. So gibt das Bucheinen

ausgezeichneten Überblick

überden gegenwärtigenStand

der Tiefenpsychologie, über

das, was die einzelnen Schu

len unterscheidet und was

ihnen allen gemeinsam ist.

Die Psychotherapiewill, dar

in stimmen fast alle ihre Ver

treter überein, nicht missio

nieren und die Grenzen zur

Theologie nicht überschrei

ten, sie will den Patienten

reif machen für eine indivi

duelle Beziehung zum Glau

ben und eigene religiöse Er

fahrung, und sie will ihn zu

größerer Kontakt- und Lie

besfähigkeit bringen.

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Die Vorträge wurden gehalten auf der Elmauer Tagung derStuttgarter Gemeinschaft „Arzt und Seelsorger" im Herbst 1964

Alle Rechte vorbehalten

Fotomechanische "Wiedergabe nur mit Genehmigung des Verlages

(c) Ernst Klett Verlag, Stuttgart 1965 - Printed in Germany

Satz und Druck: Feindruck Franz Pistotnik oHG, Stuttgart

INHALT

Vorwort 7

EröffnungsanspracheRudolf Daur, Pfarrer i. R., Stuttgart 9

Über eine synoptische Psychotherapie —Ergebnisse der TagungWilhelm Bitter, Professor Dr. med. Dr. phil., Nervenfacharzt undSozialökonom, Stuttgart 16

Freud und die ReligionJoachim Scharfenberg,Dr., protestantischer Theologe und Psychoanalytiker, Oferdingen —Tübingen 54

C. G. Jung und die ReligionJosef Rudin, Dr. phil., katholischerTheologe und Psychotherapeut,Zürich 73

Religiöse Probleme in der Psychotherapievom individualpsychologischen Standpunkt

Erwin Ringel, Privatdozent Dr. med., Oberarzt an der Psychiatrisch-Neurologischen Universitäts-Klinik, Wien 87

Logotherapie und ReligionViktor E. Frankl, Professor Dr. med., Vorstand der NeurologischenPoliklinik, Wien 97

Die Neoanalyse Schultz-Henckes und ihreBeziehungzurReligionMelitta Mitscherlich, Dr. med., Psychotherapeutin, Düsseldorf . . 112

Personale Psychotherapie und ReligionJohanna Herzog-Dürck, Dr. phil., Psychotherapeutin, München . . 117

Podiumsgespräch 133

Seelsorge und PsychotherapieGustav Bally, Professor Dr. med., Psychotherapeut, Zürich .... 145

Der Beitrag der Schicksalsanalyse SzondisArmin Beeli, Vikar Dr., katholischer Theologe und Psychotherapeut, Luzern 157

5

DaseinsanalyseGion Condrau, Privatdozent Dr. med. et phil., Spezialarzt fürNeurologie, Zürich 177

Aussprache I 191

Psychotherapie im Geiste des ZenKarlfried Graf v. Dürckheim, Professor Dr., Todtmoos 196

Religionspsychologie —mit besonderer Berücksichtigungvon C. G. Jung

A. Inge Allenby, Dr. Dr., Psychotherapeutin, London 212

Aussprache II 226

Psychotherapie und Religion in der ärztlichen PraxisWolfram Kurth, Dozent Dr. med. habil., Dr. phil., Nervenarzt,Wiesbaden 231

Aussprache III 243

Bericht überGruppenaussprachen 246

Katholische Kirche und PsychoanalyseOliver Brachfeld, Professor Dr. phil., Universität Münster .... 251

Aus der Ansprache von Papst Pius XII. am 13. April 1953 vor Teilnehmern des 5. Internationalen Kongresses für Psychotherapie undklinische Psychologie in Rom 261

VORWORT

Bald nach der Gründung der Stuttgarter Gemeinschaft „Arzt undSeelsorger" haben wir 1949 eine Tagung unter fast gleichlautendemThema veranstaltet: „Psychotherapie und Seelsorge". Uns lag daran,im Gespräch mit Theologen beider Konfessionen den damaligen Standder psychotherapeutischen Forschung darzulegen und über folgendeSchulen zu informieren: die Freudsche Psychoanalyse, die AdlerscheIndividualpsychologie und die aus ihr erwachsene Künkelsche Wir-Psychologie, die Neoanalyse von Schultz-Hencke und nicht zuletzt dieanalytische (komplexe) Psychologie von C. G. Jung1.

Auf unserer Tagung 1964 haben wir dieseSchulen in ihrer Beziehungzur Religion zum Gegenstand unserer Verhandlungen gewählt unddabei ihren Wandlungen und Fortentwicklungen in den letzten fünfzehn Jahren Rechnung getragen. Es mußten aber auch neue Richtungen zu Worte kommen: die Personale Psychotherapie, der Einfluß desZen-Buddhismus und die in Deutschland weniger bekannten Schulender Logotherapie von Viktor E. Frankl und der Daseinsanalyse sowieder Schicksalsanalysevon Leopold Szondi. Abschließendwurden Kurzverfahren besprochen: Hypnose, Autogenes Training, das psychotherapeutische Gespräch. In der einleitenden Übersicht über das Ergebnisder Tagung hat der Herausgeber den Versuch einer synoptischenPsychotherapie unternommen: die Zusammenschau wesentlicher Elemente aller Schulen.

Wie auch aus diesem zwölften Band unserer Kongreßberichte ersichtlich ist, ringen wir Ärzte und Seelsorger um eine neue, religiösfundierte Anthropologie. Dazu liefern uns in erster Linie die Tiefenpsychologie, die neuere Theologie und Philosophie entscheidende

1 Im Selbstverlag als Kongreßbericht, Psychotherapie und Seelsorge, 2. A.,Stuttgart 1954.

Beiträge. Wir hoffen, daß auch die Fernstehenden durch die hierveröffentlichten Referate und durch die Wiedergabe der Ausspracheneinen Einblick bekommen in den Geist unserer Gemeinschaft und ihr

Bemühen um ein neues Menschenbild.

Wilhelm Bitter

ERÖFFNUNGSANSPRACHE

von Rudolf Daur

Es ist zum Beginn unserer Tagung zweifellos nötig, und es ist wohlmeine Aufgabe, ein einführendes, klärendes Wort zu sagen zurDefinition dessen, worüber wir hier miteinander reden wollen. Nichtvon Psychotherapie brauche ich zu sprechen, dafür bin ich nicht zuständig. Es werden ja überdies die Vertreter der mannigfaltigstenSchulen und Richtungen zu Wort kommen.

Wohl aber muß ich ein Wort sagen über den Begriff, über das Wesender Religion. Wenn wir darüber nicht von vornherein wenigstens einegewisse Klarheit gewonnen haben, dann ist die Gefahr groß, daß wiraneinander vorbeireden. Wenn der eine Religion für eine Illusion hält,deren Ende er nahe herbeigekommen glaubt, ein anderer sie als Opiumfür das Volk erklärt, wieder ein anderer aber sie die Wurzel und dieschönste Blüte menschlicher Kultur nennt — man denke etwa an Goe

thes Wort: Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, der hat auch Religion,wer diese beiden nicht besitzt, der habe Religion —, so ist ohne weiteres klar, daß zwischen solchen Partnern ein Streit sinn- und hoffnungslos ist. Denn jeder versteht unter Religion etwas anderes. Wenn dereine, sagen wir Karl Barth oder Dietrich Bonhoeffer, erklärt, das Christentum sei keine Religion, wenn Bernhard Müller ein Buch seinesVaters, das einstens den Titel trug „Jesus, wie ich ihn sehe", neu herausgibt unter dem Titel „Jesus, der Überwinder der Religion", während andere das Christentum für die Erfüllung all dessen erklären, wasdie Religionen der Menschheit meinen, so ist hier wie dort mit Religionoffenbar ganz Verschiedenes gemeint. Wenn Sigmund Freud als eintief religiöser Mensch bezeichnet wird, während andere das rundwegbestreiten und er selbst es ablehnte, so ist wiederum deutlich: Das WortReligion ist hier und dort völlig verschieden aufgefaßt. Und darumscheint es mir nötig, daß wir uns zunächst besinnen, was wir eigentlichReligion nennen.

Vielleicht wäre es gut und nützlich gewesen, einen ganzen grund-

sätzlichen Vortrag über das Wesen der Religion unseren Gesprächenvorauszuschicken. Aber der Regisseur dieser Tagung hat wohl gefürchtet, wir kämen dann ins Uferlose. Darum nur einiges wenige, wasklärend sein und dazu helfen mag, daß wir uns nicht um des KaisersBart streiten.

Ich verzichte auf Definitionen von Religion nach dem Wortsinn.Ich erinnere nur daran, daß die einen es auf religere = Beachten, Vorschriften, heilige Gebote beachten zurückführen, andere auf religare =eine verlorene Verbindung wieder neu anknüpfen. Das mag dahingestellt sein. Ich will auch nicht lange auf Begriffsbestimmungen vonCicero und Augustin bis zu Schleiermacher und Troeltsch, Rudolf Ottound Leopold Ziegler, Wilhelm Hauer, Romano Guardini, oder an wenwir hier denken mögen, eingehen. Ich frage ganz einfach praktisch nachden Wurzeln der Religion und nach ihren Erscheinungsformen.

Wenn ich recht sehe, hat das, was wir Religion nennen, eine dreifache Wurzel. Die erste ist paradoxerweise die Wurzellosigkeit desMenschen. Alle anderen Wesen, Pflanzen, Tiere, Sterne, alles ist eingebettet in ein großes Ganzes, in einen unverbrüchlichen Zusammenhang. Sie alle leben und atmen im Ganzen, und das Ganze lebt undatmet in ihnen. Das ist anders beim Menschen. Der Mensch ist einsam,losgelöst aus der Gesamtheit, preisgegeben, geworfen, mit einem Ausdruck Heideggers. Er empfindet es auch,sobald er wirklich zum Lebenerwacht, empfindet es früher oder später, fühlt als sein eigenes Schicksal das „Weh dem, der keine Heimat hat". Solange der Mensch dasnicht empfindet, ist er wohl noch nicht zum eigentlichen Menschseindurchgedrungen, auchwenn er sich zu der species homo sapiensrechnet,wie wir ja den Menschen stolz, aber vielleicht nicht ganz zutreffendbezeichnen. Dieses „nicht mehr" ist für den Menschen charakteristischund ist eine der Wurzeln der Religion. Dazu kommt als zweites ein„noch nicht". Der Mensch ist noch nicht verwirklicht. Der Fels, derBaum, die Blume, das Tier, sie alle sind, was sie ihrer Bestimmung,ihrer Idee nach sind, auch in ihrer Verwirklichung. Der Mensch alleinist nicht bloß „das unbekannte", sondern auch das noch nicht verwirklichte, noch nicht wirklich in Erscheinung getretene „Wesen". „Es istnoch nicht erschienen, was wir sein werden", heißt es im Neuen Testament. Ein Pfeil der Sehnsucht ist der Mensch nach Nietzsche — Zara-

thustra. Wir stehen noch,kann man wohl auch sagen,mitten im sechstenSchöpfungstag. Man denke an das, was etwa Teilhard de Chardin überden Menschen und seinen noch nicht vollendeten Werdegang sagte. Jo-

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hannes Müller erzählte gelegentlich, daß er einmal hier oben im Waldeinsam gegangen sei. Da sei ihm ein großer Hirsch begegnet. Der bliebwenige Schritte vor ihm stehen, und sie schauten einander an. Dannwendete sich der Hirsch um und ging mit ruhigen Schritten weg. Johannes Müller sagte: «... und ich schämte mich." Warum hat er sichgeschämt? Er hatte dem Hirsch nichts zuleid getan, aber er empfanddie Vollkommenheit dieser Schöpfung und die Unvollkommenheit desMenschen. Dieses „noch nicht" ist ebenso charakteristisch für den Menschen und ebenso eine Wurzel dessen, was wir Religion nennen, wiedas „nicht mehr", von dem wir vorher sprachen.

Endlich die dritte und wohl tiefste Wurzel: die Schuld. Der Mensch

allein kann schuldig werden. Das Tier lebt schuldlos aus seinen Trieben,Instinkten, Kräften. Der Mensch aber weiß, daß er Verantwortunghat, und er weiß es, wenn er schuldig geworden ist.

Wo dieses Heimweh, diese Sehnsucht,diesesSchuldgefühl empfundenund wo es überwunden wird, da ist Religion. Das, was diese dreifacheEmpfindung aufhebt, auflöst, das nennen wir Religion. Der Streit darüber, ob das, was wir hier meinen, aus dem eigenen Inneren kommtoder aus einer höheren Welt, ja selbst die Frage, ob es Wahn ist oderWirklichkeit, ist wesenlos für den, der diese Befriedung erfahren, dererlebt hat, daß damit erst sein Leben wirklich begonnen hat. Wasfruchtbar ist allein ist wahr, sagt Goethe. Der Mensch, der die Fruchtbarkeit solcher Erfahrung erlebt hat, hat nur den Wunsch, immer mehrzu schöpfen aus dem heiligen Born, aus dem ihm die Stillung seinerSehnsucht kam.

Und nun ein kurzes Wort über die dreifache Gestalt, in der Religionin Erscheinung tritt. Ich möchte von drei Stufen reden, aber man verstehe das nicht so, als ob damit objektive Wertunterschiede gemeintseien. Für jeden Menschen und jede Menschengemeinschaft kann dieseoder jene „Stufe" in einer bestimmten Phase der Entwicklung die besteund heilsamste sein. Auch sind diese Stufen nicht scharf gegeneinanderabgegrenzt; sie gehen ineinander über. Es ist wie bei den Farben desPrismas; man kann genau unterscheiden, was blau und was rot ist,und doch verschwimmen die Grenzen. So ist es mit den drei Stufen

dessen, was wir unter Religion in der Erscheinung verstehen.

Die erste Stufe möchte ich nennen die Kultfrömmigkeit. Es ist dieReligion, an die man gewöhnlich denkt, wenn man von Religionsgeschichte redet. In dieser Kultfrömmigkeit geht es um Verehrunghöherer Mächte, Götter, eines Gottes; man dient ihm und ihnen durch

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Opfer, durch Gebet. Diese Stufe umfaßt einen weiten Bereich, von dernaiven und primitiven Magie mit Zauber, Beschwörung, allerlei Aberglauben, mit Menschen- und Tieropfer bis zur herrlichsten liturgischenFeier im ehrwürdigen Dom. Hier gibt es heilige Orte, heilige Zeiten,heilige Namen, einen Stand, der Dienst tut an dieser Frömmigkeit,priesterliche Menschen, priesterliche Funktionen; kurz, es geht auf dieser Stufe um die reine Kultfrömmigkeit.

Die zweite Stufe möchte ich bezeichnen als die persönliche Herzensfrömmigkeit. Sie kann durchaus verbunden sein mit jener ersten, kannaber auch von ihr weithin oder ganz unabhängig sein. Hier lebt derMensch von Gebet und Andacht, von der Lektüre heiliger Schriftenund dergleichen. Diese Frömmigkeit des Herzens wirkt sich aus inTaten der Liebe. Charakteristisch für diese Stufe, diese Form und Gestalt der Religion sind wohl der ursprüngliche, echte Pietismus und, imjüdischenBereich, der Chassidismus, den uns Martin Buber so lebendigvor die Augen gestellt hat, oder auch die Lehre der Quäker und ähnlicher Gruppen.

Und nun die dritte, die letzte Stufe: das freie Leben im Geist, ichwürde lieber sagen: im Pneuma, wenn ich nicht nach MöglichkeitFremdwörter vermiede. Aber es geht nicht um den Esprit, um denmenschlichen Verstand, um die Vernunft, die Ratio. Dieses Leben imGeist ist nicht einfach zu beschreiben. Es ist ein Leben in einer großenVerantwortung vor einer letzten, höchsten, waltenden Macht, die unterUmständen gar nicht mit Namen bezeichnet wird. Es ist das Lebenim Gehorsam gegen die innere Führung, es ist ein unerschütterlichesVertrauen auf das Waltende oder den Waltenden, als dessen Organder Mensch sich weiß, im Sinn jenes Wortes von Goethe: Mache einOrgan aus dir. Der Mensch, der in dieser Welt des Geistes lebt, ist vielleicht durchaus noch zu Haus auch in der Kultfrömmigkeit, in der persönlichen Herzensfrömmigkeit; aber er ist doch im Innersten darüberhinausgewachsen. Man denke etwa an jene bekannten Worte GerhardTersteegens: „Ich suchte vormals Ort und Zeit zum Beten und zur Einsamkeit, jetzt bet' ich stets in stillem Sinn, jetzt bin ich einsam, wo ichbin." Christoph Schrempf, der schwäbische Theologe und Philosoph,hat uns einmal einen sehr eindrucksvollen Vortrag gehalten mit demThema: Religion ohne Religion. Mit dieser „Religion ohne Religion"meint er wohl eben jenes freie Leben im Geist, im Pneuma. Oder wennDietrich Bonhoeffer in den letzten Monaten seines Lebens, seiner Gefängniszeit, von der Welt des mündigen Menschen redet, der religions-

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los geworden und der doch unmittelbar vor das Letzte zu stellen sei,meint er wohl auch dieses freie Leben im Geist. Wenn der Christus im

Johannesevangelium sagt: „Es kommt die Zeit, wo die wahrhaftigenAnbeter den Vater im Geist und in der Wahrheit anbeten werden",wenn in der Offenbarung des Johannes von dem neuen Jerusalem dieRede ist, in dem kein Tempel mehr steht, so ist wohl eben jene Welteiner Religion dieser dritten Stufe gemeint, eines freien Lebens imGeist. Ich glaube, diesem freien Leben im Geist zu dienen ist SchloßElmau einst begründet worden.

Diese drei Stufen der religiösen Verwirklichung sind nun in derGeschichte nicht einfach aufeinander gefolgt. Sie stehen vielfach nebeneinander, es ist hier eine Entwicklung von äußerlicher Kultfrömmigkeit zu persönlicher Herzensfrömmigkeit und weiter zum freien Lebendes Geistes zu beobachten, dort wiederum ein Zurückschwingen desPendels. So kann es geschehen, daß ein Mensch, aus diesem Leben imGeiste heraus, andere zu einem solchenLeben zu führen sucht,bei ihnenaber wird es dann zu einer Herzensfrömmigkeit und schließlich zueiner kultischen Frömmigkeit. Ist es nicht im Buddhismus, ist es nichtauch im Christentum vielfach so gegangen? Aber immer wieder wirdalles durcheinander, ineinander und miteinander wirksam sein.

Darf ich noch im Vorübergehen erinnern an jenen mittelalterlichenMönch Joachim von Fiore und seine großartige Schau von den dreiReichen, dem Reich des Vaters, des Sohnes und des Geistes,eine Schau,die von Schelling, unserem schwäbischen Denker, erneuert worden ist.Unter dem Reich des Vaters versteht er die Welt der alttestamentlichen

Frömmigkeit. Hier waltet ein mächtiger Gott, dem in Ehrfurchtgedientwird, dem Opfer gebracht werden, der Gebote über seine Geschöpfegestellt hat, deren Nichtbeachtung er bestraft; das ist die Welt desVaters. Darüber steht die Welt des Sohnes, die Herzensreligion desNeuen Testaments, die Religion des Christus, der dem Kind wiederden Weg zum Vater gezeigt hat, den Weg in die Heimat, den Weg zueinem großen, schlichten, einfältigen Vertrauen. Und nun verkündigtJoachim die kommende Welt des Geistes, eines Lebens in der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes, eines Lebens ohne äußere kultischeFormen und Zeremonien, das ganz zum Gottesdienst geworden ist. Erhat, rührenderweise möchte ich fast sagen, den Anbruch dieses Reichesauf das Jahr 1260 errechnet, das übrigens dann das Geburtsjahr desMeisters Eckehart, des großen Bahnbrechers eines Reiches des Geistes,gewesen ist.

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Aber nun zu unserem Thema: das Verhältnis der Psychotherapiezur Religion, also zu einem mannigfaltigen Gebilde, wie ich es in Andeutungen zu beschreiben versucht habe. Mit welcher dieser drei Stufen hat es der Psychotherapeut, hat es die Psychotherapie zu tun? Ichglaube, mit allen dreien.

Zur ersten, zur Kultfrömmigkeit, hat die Psychotherapie offenbarein zwiespältiges Verhältnis. Der Psychotherapeut wird in seiner Praxis immer wieder die positiven wie auch die negativen Wirkungen derKultfrömmigkeit erfahren. Man redet nicht ohne Grund von ecclesio-genen Neurosen, von Neurosen, die durch kirchliche Bindungen undVorstellungen, durch religiösen Zwang hervorgerufen sind. So hörteich von einer ausgezeichneten Berliner Psychotherapeutin, unter ihrenPatienten seien besonders viele Theologen. Vor einigen Tagen starb inmeiner Nachbarschaft eine Frau, die einen Nierenstein hatte. Der Arzthatte ihr dringend geraten, die Niere entfernen zu lassen. Aber siehatte das abgelehnt. An demAuferstehungsleib des Christus sehe man,daß er seine Wundenmale noch trage, und so wolle auch sie mit denbeiden Nieren, die ihr Gott gegeben habe, in der Auferstehung erscheinen. Ihr religiöser Wahn ist ihr zum Verhängnis geworden. —Aber esist ebenso deutlich, daß die Kultfrömmigkeit auch sehr positive Wirkungen haben kann, daß der Mensch, der in einem geordneten, heiligen Dienst Gottes geborgen und daheim ist, daraus große Kräfteempfängt. Ich erinnere an Hermann Hesses Roman „Narziß und Goldmund", die Geschichte jener beiden Freunde, die so verschiedene Lebenswege gehen. Goldmund, das Weltkind, das hinausgeht in die weite,freie Welt, dort lebt und liebt, ungebunden und ohne Schranken, aberdann schließlich müde, enttäuscht, resigniert, krank zu seinem FreundNarziß zurückkehrt, der als Asket und Mönch im Kloster lebt. Erbeichtet ihm und erzählt ihm seine innere und äußere Not. Und nun

tadelt Narziß seinen Freund nicht so sehr wegen seiner Sündhaftigkeit,sondern weil er so lange nicht gebeichtet, so lange nicht die Messe besucht hat. Er rät ihm, das nun wieder treulich zu tun, denn er weiß,daß das Wiedereintauchen in eine heile Welt von größter Bedeutungsein kann für die Heilung von Leib und Seele. Seelenheilkunde undSeelenheil-Kunde gehören aufs engste zusammen.

Zu der zweiten Stufe, zur persönlichen Herzensfrömmigkeit, wirdder Psychotherapeut wohl immer eine achtungsvolle Haltung einnehmen. Er wird wissen, daß aus solcher Herzensfrömmigkeit Kräfte erwachsen, die dem Menschen helfen, Schwierigkeiten seines Lebens zu

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bewältigen. Er wird freilich auch wissen, daß mit dieser Herzensfrömmigkeit nicht selten gefährliche Illusionen verbunden sind, daß auchMoralismus, Selbstgerechtigkeit aus ihr entstehen können. Je nach dem,ob ein Psychotherapeut mehr die positiven oder mehr die negativenWirkungen dieser Herzensfrömmigkeit sieht, wird auch seine Haltungzu dieser Stufe der Religion verschieden sein. Das hängt, meine ich,nicht sosehrdavon ab, ob er sich als christlichen Psychotherapeuten bezeichnet, wogegen ich, nebenbei bemerkt, immer leise Bedenken undHemmungen habe. Wilhelm Busch, nicht der Humorist, sondern derbekannte Jugendpfarrer, sagt einmal: wir reden von bläulich, wennetwas nicht ganz blau ist, von rötlich, wenn etwas nicht ganz rot ist,von christlich, wenn einer nicht ganz Christ ist. Darum erscheint mirdiese Bezeichnung etwas fragwürdig.

Deutlich ist aber dies: das freie Leben im Geist, die Religion aufjener dritten Stufe, wird das Ziel auch des echten Psychotherapeutensein. Und das scheint mir dieGrundfrage auf dieser unserer Tagung zusein: wie wird dieses Ziel in der rechten Weise erstrebt und erreicht?Unsere Aufgabe wird, neben der schlichten sachlichen Klärung vonmancherlei Fragen, die wir in Spruch und Widerspruch suchen, diesein, daß wir versuchen, miteinander und aneinander tiefer hineinzuwachsen in diese Welt, in dieses Leben im freien Geist. Daß wir einander dabei Helfer werden möchten, das ist wohl der innerste Sinnunserer Tagung und unserer ganzen Arbeit, das ist auch die Bestimmung dieses Hauses, für die die Erben Johannes Müllers mit solcherTreue und Hingabe leben. Daß wir dieses hohe Ziel nicht durch unsereMühen und Anstrengungen erreichen, daß es schließlich, wenn es erreicht wird, immer Geschenk und Gnade ist, ich denke, das wissen wiralle.

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ÜBER EINE

SYNOPTISCHE PSYCHOTHERAPIE

Ergebnisse der Tagung

von Wilhelm Bitter

Wer in wenigen Kongreßtagen die zahlreichen Schulen und Richtungen der neueren Psychotherapie auf sich einwirken läßt, wird, durchdie Fülle der Theorien und Aspekte verwirrt, sich fragen, ob undworin etwas Gemeinsames über die Heilung mit psychischen Mittelnzu finden ist. Diese auch unter Fachpsychotherapeuten aufgeworfeneFrage wird noch komplizierter, wenn die religiöse Problematik miteinbezogen, das heißt, wenn nach den Möglichkeiten und der Bedeutung religiöser Erlebnisse und Erfahrungen gesucht wird. Wie und inwelchem Umfang können sie in der Psychotherapie — einschließlichder Freudschen Psychoanalyse — Berücksichtigung finden?

Zunächst zum Begrifflichen: Der Gegenstand der Psychotherapie istder ganze Mensch in seiner Geist-Seele-Leib-Einheit. Zwei Faktoren,die in der Praxis zu einer Einheit verschmelzen müssen, der wissenschaftlich-methodische und der menschlich-persönliche, bedürfen derDarstellung: der erste befaßt sich mit den Störungen der seelischenFunktionen und Schichten, der zweite mit der Beziehung zwischenArzt und Patient. Wie bei der ärztlichen Kunst allgemein, kreist Psychotherapie um diese beiden Pole,den wissenschaftlichen und den „irrationalen"; dieser ist am treffendsten mit Liebe zu bezeichnen: das unbegrenzte Vertrauen als Voraussetzung für ein völliges Sichaufschließen auf der Seite des Patienten, die Einfühlung bis zur Identifikationauf der Seite des Arztes, die Wir-Gemeinschaft als tragender Grund.Damit läßt sich die Einzigartigkeit der mitmenschlichen Beziehung inder Psychotherapie andeuten.

Umstrittener ist neuerdings der Begriff der Religion. Nur mit Scheukann man heute von Religion, von Christus und Gott sprechen, ohnemißverstanden zu werden. Mit Rudolf Daur fassen wir Religion inihrer höchsten Stufe auf als Leben im Pneuma, im Geist und in derWahrheit. Der in dieser Sicht religiös Mündige ist Glied der unsichtbaren Gemeinschaft der Gläubigen, der ecclesia spiritualis. Wie der„Kultfromme" hat auch er das Bedürfnis nach einer sichtbaren Ge-

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meinschaft, nach einem Zusammenschluß in Gestalt einer organisiertenKirche. Jedoch haben Dogma und Organisation die Tendenz zur Erstarrung. Ihre ständige innere und äußere Erneuerung ist notwendig1.Mit der neueren Theologie stimmen wir überein in der Forderung nacheinem „religionslosen" Glauben (Bonhoeffer). „Wir sind immer in derGefahr, Jesus mißzuverstehen, wenn wir behaupten, er sei der Gründer einer neuen Religion ... Er macht uns frei von der Religion . . .Das Joch Jesu ist . . . keine neue . . . Lehre oder Moral, sondern eineneue Wirklichkeit, ein neues Sein . . ."2 Diese neue Verfassung zeigtsich an der Kraft zum Einsatz für den andern, an der Liebesfähigkeit.Wenn wir von einer religiösen Anthropologie sprechen, so denken wirnicht an das in der christlichen Tradition erstarrte Menschenbild.

Zwei wichtige und für viele überraschende Ergebnisse des Kongresses sind voranzustellen: In der praktischen Arbeit aller Richtungenläßt sich — entgegen den oft überspitzten Theorien — viel Gemeinsames feststellen, das sichseit der Begründung unserer Wissenschaft voretwa siebzig Jahren entwickelt hat. Wird der Begriff der Religion imangeführten Sinne aufgefaßt, so geht aus allen Referaten eine positiveEinstellungzum Religiösen hervor.

Ich möchte zunächst das in allen Schulen Übereinstimmende und sie

Verbindende darstellen. Dies führt uns zu einer synoptischen Psychotherapie, wie sie von den meisten Fachkollegen unserer Gemeinschaft„Arzt und Seelsorger" zunehmend vertreten wird. Synopsis bedeutet,wie Adolf Köberle im Podiumsgespräch hervorgehoben hat, nicht Synthese, auch nicht eine Addition der verschiedenen Hypothesen undTheorien, ebenso nicht ein Amalgam, zu dem etwa Schultz-Henckeseine Neoanalyse aus Freudschen und Adlerschen Theorien zusammenzuschmelzen versucht hat, schließlich auch keinen Eklektizismusoder Synkretismus. Vielmehr versucht die Synopsis, wie das griechischeWort sagt, eine Zusammenschau aller bewährten wesentlichen Elementebei Aufgeschlossenheit für neue Erkenntnisse und Fortschritte. Alleindie Tatsache, daß Vertreter der verschiedenen Schulen über Erfolgeberichten können, läßt ja auf Gemeinsames schließen.

Das weitgesteckte Ziel sollte sein, die Indikation für die jeweiligeMethode von der individuellen Situation des Patienten, also von der

1 Papst Paul hat vor kurzem vor hohen geistlichen Würdenträgern dieseForderung eindringlich aufgestellt, weil sonst das religiöse Leben in großemUmfange nicht überdauere.

2 P. Tillich, In der Tiefe ist Wahrheit, Stuttgart 1952, S. 94 f.

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jeweiligen Struktur des Hilfesuchenden abhängig zu machen. Die Methode sollte nicht durch die vom einzelnen Analytiker vertreteneSchulrichtung mit ihrer unvermeidlichen Beschränkung bestimmt werden. Die notwendige Breite der anzuwendenden Methoden setzt einegründliche Kenntnis der Theorien wenigstens der beiden wichtigstenSchulen — Freud und Jung — voraus. Sie stellt hohe Ansprüche anAusbildung und Fortbildung des Psychotherapeuten. Ein universales,lebendiges Christentum, „die Freiheit eines Christenmenschen", sollteden Abbau der Schranken erleichtern. Unabhängig von der verschiedenen religiösen Ausgangsposition haben die mutige, leidenschaftlicheWahrheitsliebe und Forschernatur der beiden Klassiker der analytischen Psychotherapie am Ende ihrer fünfzigjährigen Forschung ineinigen wichtigen Punkten gemeinsame Ergebnisse erbracht.

Die Entdeckung unbewußter Bezirke der Psyche hat zur Begründung der Tiefenpsychologie geführt. Sie steht im Gegensatz zur Psychologie des vorigen Jahrhunderts, die im wesentlichen Bewußtseinspsychologie war. Die Tiefenpsychologie hat aufgewiesen, daß unserDenken, Fühlen, Wollen und Handeln, ja unsere Weltanschauung weitgehend durch unbewußte psychische Inhalte beeinflußt, wenn nicht garbestimmt sind.

Gestützt auf die französische Hypnoseschule gelangten die beidenKlassiker unseres Fachs, Sigmund Freud und Carl Gustav Jung, aufverschiedenen Wegen zum Bereich des Unbewußten. Freud entdeckte1893 den Vorgang der Verdrängung, auf den er die Erkrankung einerPatientin zurückführen konnte3. Jung stieß 1902 bei seinen Assoziations-Experimenten, unabhängig von Freud, auf das Phänomen der„gefühlsbetonten Vorstellungsgruppen im Unbewußten", die er „Komplexe" nannte4.

Die Bewußtmachung unbewußter Inhalte und Prozesse ist der Praxis aller Schulen gemeinsam.

Unter den weiteren Gemeinsamkeiten ist die vorurteilsfreie Annah

me und Bejahung des Patienten in seinem So-Sein, wie es sich aus seiner Lebensgeschichte ergebenhat, hervorzuheben; eine innere Haltung,die ohne vertiefte Selbsterkenntnis des Therapeuten auf Grund derErforschung des eigenen Unbewußten nicht in dem notwendigen Ausmaß erreichbar ist. In Abweichung von der Medizin, die auch heute

3 J. Breuer und S. Freud, Über den psychischen Mechanismus hysterischerPhänomene, Wien 1895; in Freud, Ges. W. I, London 1952, S. 81 ff.

4 C. G. Jung, Diagnostische Assoziationsstudien, Leipzig 1904—1906.

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noch Organe und Organ-Systeme zum Objekt von Wissenschaft undTherapie macht, auch von der praktischen Haltung der meisten Theologen, ist hier ein Novum mitmenschlicher Beziehung begründet worden. Für den Patienten bedeutet es meist ein überwältigendes Erlebnis,in der Totalität des Daseins mit seiner dunklen Seite, den krankmachenden innerseelischen Konflikten, den gestörten mitmenschlichenKontakten, den Schuldgefühlen und der existentiellen Schuld bedingungslos angenommen und bejaht zu werden. Diese mitmenschlicheBeziehung ist mit den Begriffen Güte und Freundschaft nur angedeutet.Der analytische Prozeß gründet — jenseits der Phänomene der sogenannten Übertragung und Gegenübertragung — in einer ungewöhnlichen, ja einzigartigen Gemeinschaft zwischen Therapeut und Patient.Der persönliche Einsatz des Analytikers erfordert, besonders bei schweren Neurosen und Psychosen, Liebe im Sinne von Paracelsus. So nähern sich die Schulen aus verschiedenen Ansatzpunkten dem, was dasChristentum als tätige Nächstenliebe bezeichnet.

Die Beziehung zum christlichen Glauben faßt der Theologe Professor Hans-Rudolf Müller-Schwefe in einer Mitteilung über eine Aussprache zwischen Theologen und Psychotherapeuten zusammen:

„In der Schlußaussprache nach fruchtbaren Gesprächen stand ein Psychotherapeut auf und berichtetevon seinemUmgang mit den Schizophrenen, alsomit jenen Kranken, deren Wesen durch Spaltung bedroht ist. Er beschrieb,eine Heilung dieser Kranken sei dadurch möglich, daß der Arzt, der relativGesunde, sich bei seinem Angriff auf die Krankheit ganz dem Kranken zurVerfügung stelle. Er müsse den Kranken auch in seinen Sonderlichkeiten ganzernst nehmen. Er müsse ihn ,annehmen', so lautete der Ausdruck. Nur insolcher Solidarität sei Aussicht, daß man gemeinsam die Komplexe aufarbeiteund die Zerspaltung heile. Nur Liebe und Vertrauen könne die kranke Personso stärken, daß sie zum Frieden mit sich selbst finde. Just dies nun und diesesallein ist die rechte Angriffshaltung der Theologie. Sie muß so verfahren, wieder Psychotherapeut es andeutete: Sie muß den modernen Menschen, diemoderne Welt angreifen, indem sie sie annimmt. Indem sie sie in ihrem Wesen,in ihrer Zerrissenheit ernst nimmt, indem sie mit ihr in echte Solidarität trittund mit ihr um den Sinn ringt, kann sie allein Siege gewinnen, nämlich dieWelt und den Menschen in ihr zum Frieden führen"5.

Mit der Würdigung des Unbewußten und der besonderen mitmenschlichen Beziehung sind nicht nur fundamentale Gemeinsamkeitenzwischen den therapeutischen Schulen festgestellt; diese beiden Faktoren sollten eine revolutionäre Wandlung in der Medizin und der

5 H. R. Müller-Schwefe, Der Standort der Theologie in unserer Zeit, Göttingen 1961, S. 17.

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Seelsorge herbeiführen und zugleich eine gemeinsame Grundlage fürdie Zusammenarbeit beider Berufe bilden.

Bevor auf die Konfrontation der Schulen mit ihren Gemeinsam

keiten und Abweichungen eingegangen wird, soll eine von allen Seitengeforderte Bedingung für die Ausbildung zur Sprache kommen: dieobligatorische Lehranalyse. Das Selbsterlebnis, die eigene analytischeErfahrung, ist auch für die Erarbeitung einer Synopsis unentbehrlich.Besonders schwierig gestaltet sich für Menschen in der zweiten Lebenshälfte die Umstellung auf die Jungsche Psychologie nacheiner längerenFreudschen Lehranalyse. Die Bearbeitung der Träume vorwiegend aufder Subjektstufe, die Wirkung von Archetypen und Symbolen sowiedie Beziehung zwischen Arzt und Patient, um nur diese drei Gesichtspunkte hervorzuheben, weichen wesentlich von der Freudschen Analyseab. Trotz der mit inneren und äußeren Opfern verbundenen „Umstellung" ist ein solcher Wechsel dringend zu empfehlen. Das kommtauch in den Ausbildungsbedingungen der deutschen wissenschaftlichenGesellschaft der Analytiker („Deutsche Gesellschaft für Psychotherapieund Tiefenpsychologie") zum Ausdruck. In den Richtlinien vom Januar 1953 heißt es: „Dringend empfohlen wird, daß die Analyse inzwei Phasen durchgeführt wird, und zwar möglichst bei einem männlichen und einem weiblichen Analytiker verschiedener Richtungen"6.Die Situation für den Ausbildungskandidaten ist wesentlich günstiger,wenn der Lehranalytiker in synoptischer Weise arbeitet, also mindestens die beiden Hauptrichtungen in der Lehranalyse anwendet. —An dieser Stelle möchte ich interessierten Theologen eine kurze, didaktische Analyse empfehlen. Sie ist nicht durch Lektüre zu ersetzen. Ichhabe wiederholt solche Informations-Analysen durchgeführt mit demErgebnis, daß der theologische Analysand in wenigen Wochen einevöllig neue Beurteilung unseres Faches gewann, die sich meist für ihnpersönlich wie für die praktische Seelsorge günstig ausgewirkt hat.

Diese Empfehlung stößt bei klassischen Freudianern auf Widerstand, obwohl Freud selbst die Erfahrungen seines langjährigen Freundes, des Pfar-

6 Ich darf bemerken, daß ich nach dervorgeschriebenen vierjährigen Freudschen Analyse eine gleich lange Ausbildung in der Jungschen Psychologie unddarüber hinaus noch ein Stück Lehranalyse bei einem christlichen Synoptikerabsolviert habe. Keine dieser Erfahrungen möchte ich missen; die übermäßigeLänge der Freudschen Analyse erscheint mir heute unnötig. —Die von Jungzuerst geforderte Lehranalyse wurde von Freud und allen anderen Schulenübernommen.

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rers Oskar Pfister, offenbar gebilligt hat. Pfister schreibt von einem „führenden Theologen Dänemarks, einem Bischof, Domprediger und Universitätsprofessor, der vor vier Jahren zu mir kam, um sich analysieren zu lassen.Leider konnte er nur ein paar Wochen hier bleiben, nahm aber starke Eindrücke von der Tiefe und Gewalt der Psychoanalyse mit sich, wie übrigensauch ein zweiter nordischer Bischof. Ich bekam einen großen Respekt vor derIntelligenz und Ehrlichkeit beider Männer, die an Wirklichkeitssinn manchenvoreingenommenen Naturforscher weit übertreffen und ihre Zweifel erstnach stärksten Widerständen aufgaben"7.

Mehrere Jahre lang gab es nur eine „analytische Bewegung" unterFührung von Sigmund Freud. Zu ihr gehörten unter anderen AlfredAdler, Wilhelm Stekel, Alfonse Maeder; 1906 schloß sich Carl GustavJung an. Wegen wesentlicher wissenschaftlicher Differenzen trenntensich die vorgenannten Forscher vor dem Ersten Weltkrieg von Freudund seinem Arbeitskreis und gründeten eigene Schulen. Die AdlerscheIndividual-Psychologie und die Jungsche Komplexe (Analytische) Psychologie sind als Sonderrichtungen allgemein bekannt geworden. Aufsie erstrecken sich unsere synoptischen Betrachtungen, desgleichen aufdie Modifikationen dieser Schulen: die Neoanalyse von Schultz-Henckeund die Wir-Psychologie von Fritz Kunkel. Darüber hinaus entstanden in den folgenden Jahrzehnten eine Reihe neuer Schulen und Richtungen, von denen die wichtigsten auf unserer Tagung zu Wort gekommen sind: die Schicksalsanalyse von Leopold Szondi, die Daseinsanalyse von Ludwig Binswanger, Medard Boss und anderen, diePersonale Psychotherapie und die Logotherapie von Viktor Frankl.

Um die einzelnen Schulen vom Standpunkt der Synopsis zu beleuchten, beginnen wir mit der Individualpsychologie von Alfred Adler.Sie ist von ihnen allen weitgehend akzeptiert worden, so daß wir beiunseren späteren Auseinandersetzungen nicht näher auf sie eingehenmüssen. Grundlegend für diese Psychologie ist der Begriff des Minderwertigkeitskomplexes und seiner Uberkompensation, die zu einem„Krankheitsarrangement", zu einer neurotischen Leitlinie führen.Auch im religiösen Bereich gibt es ein solches neurotisches Arrangement, hinter dem sich die Sehnsucht nach echter religiöser Erfahrungverbirgt. Die neurotische Lebenslinie wird auf falsche Erziehung oderkörperliche Defekte, sogenannte Organminderwertigkeiten, zurückgeführt und dem Patienten bewußt gemacht. Der neurotische Überlegenheitsdrang, die Machtimpulse gegenüber der Umwelt werden abgebaut,

7 S. Freud/O. Pfister, Briefe 1909—1939, Frankfurt 1963, S. 154.

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der Patient bekommt ein neues Wertgefühl, worauf Johannes Neumann, einer der bekanntesten Vertreter der Adler-Schule in Deutschland, besonderes Gewicht legt. Der Abbau des sozial bedingten Insuffizienzgefühls und des religiösen Arrangements führt zur Gemeinschaftsfähigkeit, zu einer unmittelbaren Beziehung zum Du. Der Religionsphilosoph Martin Buber hat die religiöse Bedeutung der Du-Fin-dung als dialogischen Vorgang besonders hervorgehoben. Innerhalbder synoptischen Therapie sind die Adlerschen Aspekte bei der Therapie von Jugendlichen eine wertvolle Hilfe; bei Erwachsenen aberreichen sie trotz desverbreitetenWertmangelgefühls meistens nicht aus.Die Begriffe Kompensation und Überkompensation gehen quer durchalle Schulen und bilden eine weitere Gemeinsamkeit.

Fritz Kunkel, der bedeutendste aus der Adlerschen Schule hervorgegangene Psychotherapeut, begründete die Wir-Psychologie. DemUr-Wir, der infantilen Verbundenheit mit der Mutter, folgt der Wir-Bruch und diesem wiederum das reifende Wir. So wird die Ichhaftig-keit („die Egozentrizität" Adlers) überwunden und der Weg frei zumWir, demOrt der Liebe. Nach Kunkel führt der Weg zu Gott über dieWir-Krisis und das reifende Wir.

Sowohl Fritz Kunkel8 wie Johannes Neumann haben in ihrer späteren Forschungsarbeit wesentliche Faktoren der Jungschen Psychologieübernommen, während sie wichtige Positionen von Freud nicht genügend berücksichtigt haben.

Bei unserer weiteren Betrachtung der Übereinstimmungen und Abweichungen der einzelnen Schulen, besonders der von Freudund Jung,gehen wir von den Kriterien aus, die Freud als unabdingbare Grundlagen seiner Psychoanalyse postuliert hat9.

Entscheidend ist für ihn die Übertragung, das heißt die Projektioninfantiler, meist ambivalenter Gefühlsregungen auf den Therapeuten.Durch sie wird die primäre Neurose in eine neue, künstliche „Übertragungsneurose" umgewandelt. Diese wird dadurch gefördert, daß

8 Besonders in dem Spätwerk von F. Kunkel, Ringen um Reife, Konstanz 1962.

• S. Freud, Ges. W. XIII, S. 223: (Die) „Übertragung ... (tritt) ... in denDienst des Widerstandes". (Sie) „wird ... zum mächtigsten Hilfsmittel derBehandlung..." „Die Annahme unbewußter seelischer Vorgänge, dieAnerkennung der Lehre vom Widerstand und der Verdrängung, die Einschätzung derSexualität und des Ödipus-Komplexes sind die Hauptinhalte der Psychoanalyse und die Grundlagen ihrer Theorie,und wer sie nicht alle gutzuheißenvermag, sollte sich nicht zu den Psychoanalytikern zählen."

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der Therapeut hinter dem auf einer Couch liegenden Patienten sitztund mit spärlichen, zum Teil deutenden Interventionen die Traum-berichte und das andere vom Patienten in freien Assoziationen gebrachte „Material" in „freischwebender Aufmerksamkeit" verfolgt.

Jung stimmt in der Beurteilung der Übertragung als Hauptproblemder ärztlichen Psychotherapie mit Freud überein10, jedoch legt er ihraußer den persönlichen Projektionen die der archetypischen Bilder zugrunde. Hinsichtlich der Gegenübertragung geht er sogar so weit, zusagen, daß der Psychotherapeut „psychische Infektionen" riskierenmüsse. Damit fordert Jung, daß der Analytiker gleichsam „existentiell"in die Analyse „einspringt". Die Übertragung und Gegenübertragungsind nach ihm ein totaler Dialog von Mensch zu Mensch, in dem „derArzt mit seinem ganzen Sein herausgefordert" wird11. Die durch dieDaseinsanalyse, die Personale Psychotherapie und andere neuere Schulen geforderte personale Beziehung zwischen Analytiker und Patientist also in der Jungschen Psychotherapie enthalten.

In christlicher Terminologie gipfelt „das liebende Miteinander" zwischen Arzt und Patient in der Agape. Es reicht über den „psychotherapeutischen Eros" hinaus in die Dimension des Religiösen. Diese Liebesfähigkeit ist nicht lehr- und lernbar, weder durch Philosophie nochdurch Theologie. Sie ist ein Charisma, ein Gnadengeschenk12. Hiermüssen Grenzen zwischen Wissenschaft und Glauben klar erkanntwerden, wenn beide in der Praxis miteinander verschmelzen.

Einer besonderen Erwähnung bedarf die negative Übertragung. Sieresultiert aus infantilen Haßgefühlen infolge Frustrierung durch Vater oder (und) Mutter, die auf den Psychotherapeuten übertragenwerden. Der Patient stellt sich der Aufhebung der Verdrängung entgegen, will schmerzhafte Erkenntnisse und Erschütterungen vermeiden.Letztere Haltung, aber auch eine zu starke positive Übertragung führen zum Widerstand, jenem Phänomen, das für den Analytiker

10 Kennzeichnend für diese Würdigung der Übertragung im personalenBereich ist ein von Jung angeführter Fall einer sogenannten Wunderheilung;siehe W. Bitter, Magie und Wunder in der Heilkunde, Stuttgart 1959, S. 8.

11 C. G. Jung, Erinnerungen, Träume, Gedanken, Zürich und Stuttgart1962, S.216; ders., Ges. W. XVI, Zürich 1958, S. 18,66, 80, 123 f. Diese Auffassung Jungs wird mit Unrecht von zahlreichen Autoren in Zweifel gezogen,insbesonderevon H.Trüb in seinem Buch„Heilung aus der Begegnung", Stuttgart 1949.

12 Ich verweise im besonderen auf die Stellen im Neuen Testament: Joh.13, 35; l.Kor. 13, 13.

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Freudscher Schule — besonders seit Wilhelm Reich13 — ein Kardinalproblem jeder analytischen Arbeit ist. Charakter-Analysen sind nachReich im wesentlichen Widerstandsanalysen. Von der subtilen Kenntnis dieser Vorgänge und deren Handhabung hängt oft der Erfolg derTherapie ab. Die synoptische Psychotherapie übernimmt das Wissenum den Widerstand — allerdings nicht in der engen Freudschen Sicht —und die entsprechende „Technik", denn die mangelnde Berücksichtigung des Widerstandsphänomens führt nicht selten zu einem vorzeitigen Abbruch der Analyse odergefährdet zumindest ihrenErfolg. Wiegesagt, fördert der Freudsche Psychoanalytiker dieÜbertragung, indemer dem auf einer Couch liegenden Patienten in überwiegend passiverHaltung als „Spiegel" dient. Die daseinsanalytische Schule und diemeisten Neoanalytiker übernehmen diese Technik. Im Gegensatz dazu erfolgt die Behandlung bei Jung, den Synoptikern und neuerenSchulen in der Art, daß der Patient, unabhängig davon, ob er liegtoder sitzt, den Therapeuten sehen kann. Dadurch wird die Tendenz zuprojektiven Mechanismen herabgesetzt und der mitmenschliche Kontakt erleichtert.

Eine wesentliche Erweiterung des Übertragungsbegriffs verdankenwir Jung. Die Freudschen Mechanismen beschränken sich bei der Übertragung auf das persönliche Unbewußte mit seinem verdrängtenMaterial. Jung entdeckte darüber hinaus das überpersönliche,kollektiveUnbewußte mit den Archetypen als Dominanten. Außer der Übertragung aus dem persönlichen Unbewußten gibt es eine solche aus archetypischen Quellen. Wie alle Erkenntnisse Jungs aus seinen therapeutischen Erfahrungen resultieren, so auch diese bahnbrechende Entdek-kung. In den zwanziger Jahren behandelte Jung eine Philosophie-Studentin, deren Analyse durch eine starke positive Übertragung festgefahren war. Der nachfolgende Traum der Patientin illustriert, wasJung unter archetypischer Übertragung versteht:

„Ihr Vater (der in Wirklichkeit von kleiner Statur war) stand mit ihr aufeinem Hügel, der mit Weizenfeldern bedeckt war. Sie war klein im Vergleichzu ihm, der wie ein Riese erschien. Er hob sie vom Boden auf und hielt siewie ein kleines Kind auf den Armen. Der Wind strich über die Weizenfelder,und wie diese im Winde wogten, so wiegte er sie in seinen Armen"14.

Nicht das Bild des konkreten Vaters wird hier auf den Arzt übertragen, vielmehr gewinnt der Vater-Geliebte übermenschliche Quali-

13 W. Reich, Charakteranalyse, Selbstverlag des Verf. 1933.14 C. G. Jung, Ges. W. VII, Zürich 1964, S. 144.

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täten, er wird zum Riesen, zum Naturdämon inmitten eines vomWinde bewegten Weizenfeldes. Erst als die überpersonale Bedeutung,die archetypische Natur diesesTraumes und der nachfolgenden Träumeder Patientin bewußt wurde, war der Weg frei für die Ablösung vomTherapeuten und damit für die Gesundung. Durch die Entdeckung derArchetypen des kollektiven Unbewußten und der Symbole, in denensie sich manifestieren, hat Jung der Psychotherapie und darüber hinausder Anthropologie bahnbrechende Erkenntnisse vermittelt, die sich diesynoptische Psychotherapie zu eigen gemacht hat. Bedauerlicherweisewird das überaus reiche Material von den meisten Schulen nicht be

achtet. Wir werden später noch einmal darauf zurückkommen.Für Freud ist außer der Übertragung die Berücksichtigung der Sexu

alität entscheidend für seine gesamte Lehre. Im Laufe seiner Forschungen hat er den Begriff der Libido mit dem des Eros gleichgesetzt. Einmal weist er sogar in einem Brief an seinen Freund Oskar Pfister aufdie Liebe im Paulinischen Sinne hin15. Eine nüchterne Prüfung des Gesamtwerkes von Freud ergibt jedoch, daß Libido in praxi auf Sexualität zurückgeführt wird. Ein Überblick über die klassisch-psychoanaly-tische Literatur bestätigt diese Feststellung. Bei der Deutung von einschlägigen Träumen und Phantasien wird entsprechend verfahren.Liebe ist de facto bei Freud und den meisten seiner Schüler ein Epi-phänomen. Wenn fortschrittliche Analytiker Freudscher Schule —wieunsere Referenten —den Freudschen Libido-Begriff mit Eros und Liebegleichsetzen, so liegt dem meines Erachtens eine extensive Auslegungzugrunde. Wir möchten nur hoffen, daß sich diese Auffassung unterden Freudschen Analytikern allgemein durchsetzt.

Abweichend von Freuds Libido-Begriff definiert Jung Libido alsseelische Energie, die alle psychischen Prozesse reguliert. Zu dieser gehört im besonderen auch das „Gefälle" zwischen den Geschlechtern, derEros. Bei den Griechen war Eros eine zeugende Gottheit. Bei Jung entfaltet er eine numinose Wirkung in den Seelenbildern Animus undAnima, die die Verbindung zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen herstellen. Auch die Neoanalyse mit ihrer Lehre von den Triebansprüchen und ihrer Hemmung macht einen Unterschied zwischenSexualität und Eros, der in dieser Psychologie als autonomer Zärtlichkeitsantrieb aufgefaßt wird. Einer Angleichung der Schulen wäre gedient, wenn mit dem Eros-Begriff des späteren Freud unter seinen

15 S. Freud/O. Pfister, Briefe 1909—1939, a. a. O., S. 47.

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Schülern ernst gemacht würde im Sinne der Auslegung von GustavBally: „Liebe gründet zwar im Raum-, Zeit- und Namenlosen, daswir ,Ewigkeit' nennen . . . Selbst zum Feind schlägt sie eine Brücke; erwird ihr zum Nächsten . . . Der Theoretiker Freud aber verstand die

Liebe als Streben nach Lust. Wir dürfen diese Auskunft nicht falsch

nennen, wohl aber genügt sie nicht... (Sie) verschiebt das Problemweg aus dem menschlichen Bereich in den eines naturwissenschaftlichenGlaubens." Gustav Bally weist auf die Evangelien als Ursprung der„Menschwerdung" hin. Nach ihm befinden wir uns bei der Annahmeder „Liebe als ordnendes Prinzip" in „der christlichen Welt". Diese inder „Ewigkeit" gründendeLiebe ist identisch mit der eingangs erwähnten christlichen Liebe, der Agape. Wir stimmen mit Bally voll überein,wenn er aus der ärztlichen Erfahrung des Psychotherapeuten „heute inneuer Weiseden Sinn für den Weg, den Christus ging", geöffnet sieht16.

Eros und Liebe sind autonome Mächte und nicht Epiphänomene derSexualität und des Luststrebens.

Wir kommen nunmehr zu dem dritten unabdingbaren Charakteristikum Freudscher Psychoanalyse, dem Ödipus-Komplex. Auch ihmhaftet die konkret sexuelle Interpretation an. Freud behauptet, daßder etwa dreijährige Knabe die Mutter körperlich zu besitzen wünschtund daß Mutter oder Vater ihm wegen der Masturbation das Gliedabzuschneiden droht. So gelangt Freud zum Kastrations-Komplex.Beim Mädchen tritt an dessen Stelle der Penisneid. Die Schwäche

letzterer Theorie gibt Freud zu, dessen im Patriarchat wurzelndePsychologie im wesentlichen auf das Männliche beschränkt ist — imGegensatz zu der Jungs, die das Weibliche tiefer erfaßt.

Jung hebt diese beiden für die FreudschePsychologie grundlegendenKomplexe über die einseitige Auslegung hinaus und weist das Arche-typische und Symbolhafte dieser Vorgänge nach. Anstelle des ödipus-Komplexes tritt die viel umfassendere und auch geistige Bereiche einschließende ödipus-Situation. Was bei Freud konkret-sexuell als ödi-pus- und Kastrations-Komplex bezeichnet wird, ist in diesem erweiterten Sinne also die Angst vor dem Verlust des Ichs, beziehungsweisedes individuellen Bewußtseins durch Rückfall in den archaischen Zu

stand, den mütterlichen Urschoß der völligen Unbewußtheit17.

16 G. Bally in: A. Sborowitz und E.Michel, Der leidende Mensch, Düsseldorf-Köln 1960, S. 40 ff.

17 Siehe W. Bitter, Gut und Böse in der Psychotherapie, Stuttgart 1959,S. 50ff.; ders., Psychotherapie und Seelsorge, Stuttgart 2. A. 1954, S. 86 ff.

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Aus dem Untergang des Kastrations-Komplexes geht nach Freuddas Über-Ich hervor. Es ist die dem Ich übergeordnete psychische Instanz, die kollektive, aus Erziehung und Tradition resultierende Moralprinzipien vertritt. In der Spannung von Ich und Über-Ich entstehen Schuldbewußtsein und Gewissensfunktion.

Mit der Frage nach dem Gewissen kommen wir in die Nähe des Religiösen. Obwohl Freud vom homo natura (Ludwig Binswanger) undJung vom homo religiosusls ausgehend, in ihrem Typ und ihrer Forschungsmethode divergieren, nähern sich ihre Standpunkte in der letzten Phase ihres Schaffens in zwei wesentlichen Aspekten der Tiefenpsychologie: Über-Ich und Ethik sowie kollektives Unbewußtes. Junganerkennt das Über-Ich in seiner fast dämonischen Wirksamkeit. Freud

bezeichnet die dem jüdischen Volk durch Moses „auferlegte" Religiosität als kulturelle Errungenschaft unter besonderer Hervorhebung derEthik, allerdings ohne sie als autonome Funktion anzuerkennen. Junghat die ethische Instanz, das Ur-Gewissen, als Archetypus beschriebenund damit die Freudsche Auffassung psychologisch vertieft und fruchtbar gemacht. Er sieht das Ethisch-Religiöse in der Überwindung desGegensatzes zwischen Über-Ich und archetypischer Gewissensfunktion.Freud gelangte erst spät zur Anerkennung des kollektiven Unbewußten durch die Entdeckung einer Urschuld. Diese führt er auf den Mordam „Urvater" in prähistorischen Zeiten zurück, auf das „Wiederkehren von längst vergessenen, bedeutsamen Vorgängen in der Urgeschichte der menschlichen Familie." Er fährt fort: „Wir entschließenuns endlich zur Annahme, daß die psychischen Niederschläge jenerUrzeiten Erbgut geworden waren, in jeder neuen Generation nur derErweckung, nicht der Erwerbung bedürftig. Wir denken hierbei an dasBeispiel der sicherlich .mitgeborenen' Symbolik, die aus der Zeit derSprachentwicklung stammt, allen Kindern vertraut ist, ohne daß sieeine Unterweisung erhalten hätten, und die bei allen Völkern trotzder Verschiedenheit der Sprachen gleich lautet"19. Diese Definition

18 Das geht besonders deutlich aus seiner Autobiographie hervor (C. G.Jung, Erinnerungen, Träume, Gedanken, a. a. O., S. 6). Er schrieb 1952 einemjungen Ordensgeistlichen: „Ich finde, daß alle meine Gedanken um Gott kreisen wie die Planeten um die Sonne und wie diese von Ihm als der Sonne

unwiderstehlich angezogen sind. Ich müßte es als gröbste Sünde empfinden,wenn ich dieser Gewalt Widerstand entgegensetzen sollte." Die tiefe religiöseBewegtheit zeigt sich bereits in der Kindheit. Siehe die Vision des Zwölfjährigen, a. a. O., S. 42 ff.

19 S.Freud, Der Mann Moses, in: Ges.W.XVI, London 1950, S.75 u.241.

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deckt sich fast wörtlich mit der Jungschen für das kollektive Unbewußte. Es ist zu hoffen, daß die Übernahme des kollektiven Unbewußten durch Freud von seinen Schülern allgemein anerkannt werdenwird, und daß die vom späten Freud angebahnte Entwicklung Anstöße zu weiteren Forschungen gibt, die auch in der psychotherapeutischenPraxis fruchtbar werden. Damit würden wir in der synoptischenBetrachtung der beiden Schulen ein erhebliches Stück weiterkommen.

Ich fasse zusammen: weitgehende Übereinstimmung in bezug aufdie seelischen Instanzen, das heißt Über-Ich, persönliches und kollektives (archaisches) Unbewußtes, sowie eine gewisse Annäherung durchdie Freudsche späte Würdigung der ethischen Funktionen, die Jung alsarchetypisches Gewissen definiert; ferner Annäherung aller Schulen beiweiter Auslegung des Freudschen Eros-Begriffes.

Dem Freudschen a priori der Sexualität entspricht bei Jung das desArchetypus. Wir müssen uns bei der vielschichtigen Bedeutung diesesgrundlegenden Elements auf eine kurze Definition beschränken. Jungversteht unter Archetypus ein Struktur-Element des kollektiven Unbewußten, eine ererbte Disposition, die bei allen Menschen aller Zeiten identisch ist: „ein an sich leeres, formales Element, das nichts anderes ist als eine facultas praeformandi, eine a priori gegebene Möglichkeit der Vorstellungsform"20. Der Archetypus erscheint in besonderen Lebenssituationen vor allem als Symbol im Traum. Er manifestiert sich auch in den Urbildern aller Religionen, insbesondere bildetdas christliche Dogma einen Niederschlag archetypischer Erfahrungen.Die Entdeckung der Archetypen und der ganzmachenden Wirkungder Symbole war es neben der Abweichung von der Libido-Theorie,die den Anstoß dazu gab, daß sich Jung von Freud trennte.

Die Behandlung der Archetypen und der Symbole führt uns zu denwesentlichen Abweichungen gegenüber fast allen anderen Schulen.

Zu den Archetypen gehören vor allem die erwähnten psychischenFunktionen der gegengeschlechtlichen Seelenbilder (Animus-Anima),dieeine Brücke schlagen zu den tiefsten Schichten des kollektiven Unbewußten und zum Selbst. Als Brücke nach außen, zum Kollektiv dientdie Persona als Anpassungsfunktion. Als gleichfalls autonome Teilpersönlichkeit ist der Schatten zu nennen. Er umfaßt die Anteile des

Freudschen Es, die aus der Verdrängung von sexuellen und feindseligenAntrieben entstehen. Mit dem Schatten verbinden sich aber auch unent-

20 C. G. Jung, Von den Wurzeln des Bewußtseins, Zürich 1954, S. 95 f.

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wickelte und vernachlässigte Einstellungen (Extraversion —Introversion) und Funktionen (Denken, Fühlen, Intuieren, Empfinden). DerSchatten, der im Traum meist als gleichgeschlechtliches Charakter-Gegenbild erscheint, ist deshalb als Kompensation zum Bewußtennicht nur negativ zu werten21. Wenn er vom persönlichen ins kollektive Unbewußte hineinragt, dann ist er mit dem Destruktiv-Satanischen, mit demnegativen „Weltschatten" kontaminiert. Die Bewußt-machung des persönlichen Schattens ist der erste wichtige Schritt in deranalytischen Arbeit. Wer sie leistet, besteht — um mit Jung zu sprechen —die „Gesellenprüfung". Problematisch ist die Einstellung zumKollektivschatten, dem Satanischen. Für den religiösen Menschen liegthier der Grund zur existentiellen Schuld, deren Erkenntnis ihn zurDemut und zur Erlösungsbedürftigkeit führt.

Freud stößt — wie bereits erwähnt — in seinen späten Forschungenauf eine Urschuld, die er auf den Mord am „Urvater" durch seine Söhne zurückführt, eine auch ethnologisch anfechtbare Hypothese. In biblischer Sicht ist der Brudermord Kains an Abel die erste Folge der Auflehnung gegen Gott im Paradies. Die Annahme des Schattens dienteiner vertieften Selbsterkenntnis in einer Weise, die in der Regel weitüber die übliche Gewissenserforschung des religiösen Menschen hinausgeht, wie die analytische Erfahrung zeigt. „Für die Wiederentdeckungdes zentralen Evangeliums von derAnnahme desSünders" (siehe S.56)leistet dieser Teil der Tiefenpsychologie den größten Beitrag, wie PaulTillich in Bezug auf Freud feststellt. Tillich hat das Gemeinsame derFreudschen und der Jungschen Psychologie weitgehend in seine Theologie aufgenommen.

Eine weitere Phase in der Jungschen Psychologie besteht in der Be-wußtmachung der gegengeschlechtlichen Seelenbilder, des Animus undder Anima. Sie ist nicht nur Voraussetzung für die Lösung vieler Ehe-und Liebes-Konflikte, sondern sie bildet einen wesentlichen Teil desIndividuationsprozesses: als Logos-Funktion für die Frau und als dasInspirierend-Schöpferische beim Mann sind Animus und Anima verknüpft mit der seelischen Ganzheit22. Die Bewältigung des Animus-Anima-Problemspflegte Jung mit dem Bestehen der „Meisterprüfung"

21 Er ist in gewisser Hinsicht die psychologische Entsprechung des simul(justus et) peccator der Lutherschen Anthropologie und die felix culpa.

22 Genaue Angaben über Animus-Anima siehe: W. Bitter, Krisis und Zukunft der Frau, Stuttgart 1962, S. 52 ff.

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zu vergleichen. Die Integrierung desSchattens wie des gegengeschlechtlichen Seelenbildes sind die wichtigsten Etappen auf dem Wege zumSelbst.

Das Selbst ist der zentrale Archetypus, unter religiösen Aspekten„vielleicht ein Gefäß für die göttliche Gnade" (C. G. Jung in einemBrief an den katholischen Theologen G. Frei), das „Symbol" Christi23.Im Selbst zentriert sich die bewußte und unbewußte Psyche, das Individuelle und das Kollektive. Seine Funktion tendiert auf die Ganzheit; es vermittelt die „Große Erfahrung" im Sinne der PersonalenPsychotherapie vonGrafKarlfriedvonDürckheim (sieheS. 198). Während der Begriff der Person in der Personalen Psychotherapie philosophisch-religiös gefaßt wird, ist das Selbst eine psychologische Funktion,die sich in zahlreichen Symbolen präsentiert und sich im analytischenProzeß ohne philosophische Prämissen angehen läßt. Das Selbst erscheint in Träumen als Kreis, Kugel, Goldschatz, Edelstein, Rose, Rad,Quadrat; allgemein im Mandala, einer Kombination von Kreis- undVierer-Struktur. Wenn auch der Begriff des Selbst nicht identisch istmit dem der Person, so kann doch der Individuationsprozeß als Analogie zur Person-Werdung, dem Ziel der Personalen Psychotherapie,aufgefaßt werden. DerArchetypus des Selbst ermöglicht die Beziehungzwischen Mensch und Gott.

Wir müssen uns hier aus Raumgründen mit dieser Darstellung wesentlicher Elemente der Jungschen Psychologie begnügen und könnennur noch kurz auf die Bedeutung des Symbols eingehen. In Abweichung von dem, was Freud bei seiner Traumdeutung unter Symbolversteht, faßt Jung das Symbol nicht als Zeichen oder Allegorie auf,sondern als Sinn-Bild, als vollkommene Durchdringung von Sinn undBild. Das Symbol ist der bestmögliche Ausdruck für nur Geahntes undaus sich Wirkendes, das ein unmittelbar seelisches Erleben bedingt undgegensätzliche Positionen, Bewußtes und Unbewußtes, Rationales undIrrationales verbindet. Die Jungsche Auffassung deckt sich im wesentlichen mitdervon Dichtern undDenkern aller Zeiten24. Oscar Doeringcharakterisiert die Symbole als „Gleichnisse des Unvergänglichen in

23 Siehe dazu: G. Zacharias, Psyche und Mysterium, Zürich 1954. Über denIndividuationsprozeß hat Wilhelm Laiblin auf unserer Tagung vor einerGruppe von Teilnehmern referiert. Siehe S. 246.

24 Eine gute Zusammenfassung findet sich in demWerk von J. Jacobi, Komplex, Archetypus, Symbol, Zürich-Stuttgart 1957, S.90 ff.

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Erscheinungsformen der Vergänglichkeit; beides ist in ihnen zusammengeworfen', miteinander zur Sinneseinheit verschmolzen"25.

Das Symbol und seine Wirkung lassen sich begrifflich nicht scharffassen. Das Symbol wird als Bild, besonders im Traum und in denentsprechenden Manifestationen des Unbewußten erlebbar. Wir wollen am Schluß einige Träume bringen, die das Symbol anschaulichmachen. Darüber hinaus verweise ich auf die vorgetragenen Träumein den Referaten von A. Inge Allenby und Johanna Herzog-Dürck.Das Studium des Traumes lehrt uns auch die für die Jungsche Psychologie wesentliche Wirksamkeit des Symbols bei der Vereinigung derGegensätze. Diese wird ermöglicht durch die transzendente Funktion.Sie hat keine metaphysische Bedeutung, sondern kennzeichnet diefortlaufende Auseinandersetzung zwischen polaren Instanzen undFunktionen. Durch die transzendente Funktion werden kontinuierlich

neue Verfassungen geschaffen, welche die alten Einstellungen übersteigen. Sie führt schließlich zu einer Synthese im Sinne des Indivi-duationsprozesses und gipfelt in dem vereinigendenSymbol des Selbst.Über die Vereinigung der Gegensätze, die „Coniunctio Opposito-rum", hat Jung ein umfangreiches Werk geschrieben26. Die synthetische Funktion des Symbols mit dem Ergebnis der unio oppositorumist also ein zentraler Gedanke Jungs.

Dieser relativ autonome Prozeß wird gelegentlich als Automatismusmißverstanden, zumal von christlicher Seite. Die Kritiker vergessenaber, daß die freie innere Zustimmung bei diesem Vorgang entscheidend ist. Jung weiß von der Freiheit als Wesensmerkmal des Menschseins. Das wird besonders deutlich bei den ethischen Entscheidungenim Konflikt zwischen dem archetypischen und dem Moralgewissen.

Freud wie Jung sind Kinder ihrer Zeit. Während Freud bis kurzvor seinem Tode im kausal-deterministischen Denken des neunzehnten

Jahrhunderts wurzelte, machte sein neunzehn Jahre jüngerer großerGegenspieler Jung einen Vorstoß in die über das naturwissenschaftlicheDenken hinausgehende Geisteswissenschaft, indem er psychologischeElemente aus den Religionen, besonders auch den christlichen, für diepraktische Psychologie fruchtbar machte. Und dennoch vermißt der

25 O. Doering, Christliche Symbole, Freiburg/Brsg. 1933, S. 1; zit. bei J. Jacobi (Fußnote 22), S. 90. — Wesentliches über Symbole auch bei G. Heyer(s. Fußnote 30).

26 C. G. Jung, Mysterium Coniunctionis, Zürich 1955.

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gläubige Christ bei Jung eine um die neuere Existenzphilosophie bereicherte religiöse Anthropologie. Freilich spricht Jung auch davon, daßdem Archetypus ein Prägendes, ein Über-Psychologisches zugrundeliegen muß, und er bekannte sich in Privatgesprächen und in seinerBiographie persönlich zumGottesglauben,unter Einschluß ontologisch-philosophischer Gesichtspunkte27.

Jung vertritt zwar immer wieder den Standpunkt, keine Neurose,zumal bei Menschen der zweiten Lebenshälfte, könne endgültig geheiltwerden ohne die Lösung des religiösen Problems, in seiner Psychologiemöchte er jedoch ausschließlich mit naturwissenschaftlichen Methodenvorgehen. So unterstreicht er stets, daß nicht Gott, sondern das BildGottes seinen religionspsychologischen Funden zugrunde liegt. Denentscheidenden Schritt über die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise hinaus hat Jung also wohl für sich persönlich, nicht aber in seinem psychologischen Werk getan. Jung wurzelt im beginnenden zwanzigsten Jahrhundert. Im Gegensatz zu den Naturwissenschaftlern unserer Tage hat er über die Grenzen der empirischen Erfahrungen nichthinausblicken, nicht zu einer das Religiöse und Philosophische umfassenden Anthropologie durchstoßen wollen. Gewiß ist es nichtAufgabe der Psychotherapie, zu missionieren oder gar zu einem Bekenntnis-Christentum zu führen. Daß aber nur eine solche neue christ

liche Anthropologie im Abendland gemeint sein kann und nicht etwaeine fernöstliche (Buddhismus, Hinduismus, Chinesische Weisheit), ist

27 Unter dem Eindruck eines großen Wildreservats bei Nairobi mit denriesigen Tierherden bis an den fernen Horizont, allein meditierend, berichtetJung in: Erinnerungen (a.a.O., S. 259 f.): „Hier wurde mir die kosmischeBedeutung des Bewußtseins überwältigend klar . . . Der Mensch, ich, gab derWelt in unsichtbarem Schöpferakt erst die Vollendung, das objektive Sein.Man hat diesen Akt dem Schöpfer allein zugeschrieben und nicht bedacht,daß wir damit Leben und Sein als eine auskalkulierte Maschine ansehen, diesinnlos, mitsamt der menschlichen Psyche, nach vorbekannten und -bestimmten Regeln weiterläuft. In einer solchen trostlosen Uhrwerkphantasie gibt eskein Drama von Mensch, Welt und Gott; keinen ,neuen Tag', der zu ,neuenUfern" führt, sondern nur die Öde errechneter Abläufe . .. der Mensch istunerläßlich zur Vollendung der Schöpfung, ja er ist der zweite Weltschöpferselber, welcher der Welt erst das objektive Sein gibt, ohne das sie ungehört,ungesehen, lautlos fressend, gebärend, sterbend, köpfenickend durch Hundertevon Jahrmillionen in der tiefsten Nacht des Nicht-Seins zu einem unbestimmten Ende hin ablaufen würde. Menschliches Bewußtsein erst hat objektivesSein und den Sinn geschaffen, und dadurch hat der Mensch seine im großenSeinsprozeß unerläßliche Stellung gefunden."

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aus rein psychologischen Gründen schon von Jung immer wieder betont worden.

Dieser Standpunkt wird auch von Vertretern der neueren Naturwissenschaft eingenommen. Geben wir dem Atomphysiker Carl Friedrich von Weizsäcker das Wort:

„Wissenschaft beruht auf Erfahrung... Auch Religion beruht auf Erfahrung. Erfahrung ist, in der Religion ebenso wie in der Wissenschaft, stetsspezielle Erfahrung ... nicht (zu) gewinnen ohne eine persönliche Entscheidung .. . (Sie) ist selbst ein integrierender Bestandteil der religiösen Erfahrung." Von Weizsäcker erklärt weiter in seiner Vorlesung: „Ich schulde Ihnen,daß ich meinen Standort klarmache. Ich bin Christ. Bescheidener müßte ich

sagen: ich versuche, Christ zu sein ... das Wort von Christus hat mich berührt ... Ich weiß nicht, ob ich ohne es überhaupt einen möglichen Weg desLebens gefunden hätte"28.

Ähnliche Feststellungen ließen sichauch von anderen Atomphysikernund Vertretern der Naturwissenschaften anführen. Den Ansatz zu der

hier gemeinten Anthropologie gibt der Jungsche Begriff des Archetypus, „hinter" dem ein Prägendes von ihm zwar festgestellt, abergrundsätzlich nicht in sein Werk einbezogen worden ist.

Praktische Bedeutung im Rahmen der Anthropologie gewinnt dasProblem des „negativen Weltschattens" mit seinen rein destruktivenTendenzen im Menschen. Die sich hieraus ergebende Urschuld kannnur durch die lebendige Verbindung mit Gott aufgehoben werden. Ichverweise auf die Ausführungen von Gustav Bally, der diese Verbindung allein im Ursprung unserer abendländischen christlichen Weltsieht, in den Evangelien als Heilsweg29. Auch Gustav Heyer, der Jungnahesteht, wagt den Brückenschlag zum Über-Weltlichen (wirksam imWeltlichen). Das ist besonders in seinem Spätwerk „Seelenkunde imUmbruch der Zeit" erkennbar30. Das Buch wird von Jean Gebser eingeführt. Auch dieser Kultur-Anthropologe kommt in seiner Konzeption von den Entwicklungsphasen zu einer in den Evangelien von

28 C. F. v. Weizsäcker, Die Tragweite der Wissenschaft, l.Bd., Stuttgart1964, S. 74 f. Siehe dazu auch E. Anrieh, Moderne Physik und Tiefenpsychologie. Zur Einheit der Wirklichkeit und damit der Wissenschaft. Ein Versuch,Stuttgart 1963.

29 G. Bally in: Der leidende Mensch, a. a. O., S. 38 f,30 G. Heyer, Seelenkunde im Umbruch der Zeit, Stuttgart 1964. Die Ana

logie zwischen Atomphysik und Tiefenpsychologie ist am klarsten herausgearbeitet in Gustav Heyers Buch: Geist und Psyche — Vom Kraftfeld derSeele, Stuttgart 1949, jetzt auch Taschenbuchausgabe Kindler-Verlag München.

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Christus verkündeten und vorgelebten Ich-Freiheit. Er schreibt in seinem Buch „In der Bewährung" über den neuen Zeitbegriff und denMenschen:

„. . . er wächst über sich selbst hinaus in jene Freiheit vom Ich, die zugleichFreiheit von Todes-Angst und Zukunfts-Ungewißheit, die stets zeitgebundensind, in sich schließt. In ihm vollzieht sich eine Steigerung des Bewußtseinsund nicht bloß eine quantitative Bewußtseins-Erweiterung... Dem christlichen Glauben (sollte) die aufgezeigte Haltung hinsichtlich der Zeit nichtfremd sein ... Es will scheinen, als ob das christliche Europa, das in seinerChristlichkeit immer einen unversiegbaren Kraftquell besaß, heute, da es umseinen Weiterbestand kämpft, auch wissensmäßig und mit vollem verantwortendem Bewußtsein zutiefst christliche Gedanken intensiviert, die ihm vonlebendiger Hilfe sein könnten"31.

Weder der Daseinsanalyse noch der anthropologischen Psychotherapie liegt dieses Wesens-Bild vom Menschen eindeutig zugrunde. Diedaseinsanalytische Psychotherapie versucht die Lücke auszufüllen,indem sie sich einem großen „Denker in dürftiger Zeit", MartinHeidegger, verschreibt. Gewiß kann die Theologie die Konfrontationmit der Existentialphilosophie nicht entbehren.

Aber können wir Psychotherapeuten uns deswegen auf eine der vielen Ausprägungen dieser Philosophie stützen, auf Heidegger, Jaspers,Sartre oder Gabriel Marcel? Und wenn wir uns auf Heidegger stützen,wie unsere Freunde von der Daseinsanalyse es tun, ist es der Heideggervor oder nach der „Kehre" — einer Art Rückkehr zu seinem theolo

gischen Anfang — die er nach dem zweiten Weltkrieg gemacht hat32?Vermittelt nicht die Sprache des Neuen Testaments, zumal wenn esdem heutigen Menschen vergegenwärtigt und nahegebracht wird, dieletzten Wahrheiten über Sein und Dasein klarer und unmittelbarer?

Ist es nicht bezeichnend, daß einer der Begründer der Daseinsanalyse,Ludwig Binswanger, nach jahrzehntelanger intensiver Beschäftigungmit Heidegger bekennt, dessen zentralen Begriff der Sorge mißverstanden zu haben33?

Über Heideggers oft kaum verständliche Sprache mit seinen Neologismenund seinem Spiel mit Worten schreibt K. Löwith: „Man darf sich fragen, obman dieses denkerische Spiel mit Worten tödlich ernst nehmen kann, ohne vor

31 J. Gebser, In der Bewährung, Bern und München 1962, S. 79.32 K. Löwith, Heidegger, Denker in dürftiger Zeit, Göttingen 1960, S. 17 f.

u. S. 21.

33 L. Binswanger, Acta Psychotherapeutica et Psychosomatica, Basel — NewYork 1960, Nr. 4, S. 258; ebenda R. Sarr6, S. 281.

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sich selber komisch zu werden." Als Beispiel führt er an: In einem VortragHeideggers über „Das Ding" wurde vom „Reigen des Ereignisses" gesprochen.„Die Einheit des ,Gevierts' von Himmel und Erde, Sterblichen und Unsterblichen ,west' als das ereignende Spiegel-Spiel der einfältig einander Zugetrauten." „Die Vierung west als das Welten von Welt. Das Spiegel-Spiel vonWelt ist der Reigen des Ereignens. Deshalb umgreift der Reigen auch die Viernicht erst wie ein Reif. Der Reigen ist der Ring, der ringt, indem er als dasSpiegeln spielt. Ereignend lichtet er die Vier in den Glanz ihrer Einfalt. Erglänzend vereignet der Ring die Vier überallhin offen in das Rätsel ihresWesens. Das gesammelte Wesen des also ringenden Spiegel-Spiels der Weltist das Gering. Im Gering des spiegelnd-spielenden Rings schmiegen sich dieVier in ihr einiges und dennoch je eigenes Wesen. Also schmiegsam fügen siefügsam weitend die Welt". So der Heidegger-Kenner Löwith (a.a.O., S. 42).

Nachdem wesentliche Elemente der Existenzphilosophie in die moderne Theologie — besonders durch Paul Tillich — eingebaut wordensind und diese den alten Gegensatz zwischen Glauben und Wissen zuüberbrücken im Begriff ist, erhält auch der Psychotherapeut eine christlich-religiöse Basis für seine praktische Arbeit. Es bedarf keiner Hervorhebung, daß hier nicht Religion oder gar Konfession im engen traditionellen Sinne gemeint ist.

Gewiß weist die Jungsche Psychologie nach, daß die anima natura-liter religiosa ist. Wir würden den Psychotherapeuten die Erkenntniswünschen, daß sie nicht nur religiosa, sondern auch christiana ist. Dazumüßte das Christentum aus seinen engen konfessionellen Fesseln gelöst werden, und es müßten viele Schlacken, die in zweitausendjährigerTradition entstanden sind, weggeräumt werden. Aber ist nicht dieserProzeß in unseren Tagen in vollem Gang, so daß wir geradezu einenrevolutionären Durchbruch des christlichen Denkens und Glaubens er

leben? Wir wollen hier nur einige christliche Autoren anführen, dieeine Erneuerung vor Augen führen: im katholischen Raum Papst Johannes, Hugo Rahner, Karl Rahner, Teilhard de Chardin, Arnold,Küng, Goldbrunner; im protestantischen neben Tillich, Bonhoeffer,Bultmann, der späte Barth, Brunner, Gollwitzer, Gogarten, Ebeling.Die Bereitschaft zur Vergegenwärtigung der Botschaft sehen wir an denMassenauflagen des Buchesvon John A.T. Robinson „Gott ist anders"34.Dieser englische Bischof beruft sich in Übereinstimmung mit seinemvorgesetzten Bischof hauptsächlich auf die drei erstgenannten protestantischen Theologen. Ohne Einzelheiten seiner Theologie, insbeson-

34 A.T.Robinson, Gott ist anders, München7.A. 1964; siehe auchW.Augu-stin (Hrsg.), Diskussion zu Bischof Robinsons „Gott ist anders", München1964.

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dere seiner Christologie kritiklos übernehmen zu wollen, erscheint mirsein Buchals ein aufrüttelnder Appell zu einem neuen Aufbruch.

Wir kommen auf die synoptische Auffassung zurückund stellen fest,daß sie uns am meisten in der Jungschen Psychologie angewendet erscheint. Jung wird den Schulen von Freud und Adler gerecht, ohnederen Einseitigkeiten zu übernehmen. Ihre Konzeptionen wendet ervorwiegend bei jungen Patienten an: „Die Neurosen junger Leute entstehen in der Regel aus einem Zusammenstoß zwischen den Mächtender Realität und einer ungenügenden, infantilen Einstellung, welchekausal durch eine abnorme Abhängigkeit von den realen oder imaginären Eltern, final durch unzulängliche Fiktionen, das heißt Zweckabsichten und Strebungen, charakterisiert ist. Hier sind Freudsche undAdlersche Reduktionen durchaus am Platz . .. Das Gegensatzproblem...ist in der Regel ein Problem des reiferen Alters"35. Auch bei schweren Neurosen von Menschen in der zweiten Lebenshälfte kann es not

wendig sein, „die Kindheitsphantasien, die Abhängigkeit von denEltern usw. bewußt zu machen"; die Reduktion auf die Kindheit istalso ein „notwendiger Teil der Prozedur. . . Bei jungen Leuten magdie Befreiung vom Vergangenen genügen"36. Jung nennt seine Richtung „analytische oder komplexe Psychologie", weil „(ich) damit etwaswie einen Allgemeinbegriff meine, der .Psychoanalyse', ,Individual-psychologie' und andere Bestrebungen ... in sich faßt"37.

Jung pflegte zu sagen: „Ichbin kein Jungianer" — was man einigenseiner Schüler ins Gedächtnis rufen möchte! Bei aller Bewunderungfür das geniale Werk will die synoptische Psychologie die JungschePsychologie nicht kritiklos übernehmen. Wir wissen aus häufigenmündlichen Bemerkungen von Jung, daß er die schülerhafte Übernahme aller seiner Thesen durch einzelne „Jungianer" ablehnte, daßer abfällige Bemerkungen über solch kritikloses Verhalten machte.

Bedauerlich erscheint dem Synoptiker, daß der ältere Jung nichts

35 C. G. Jung, Ges. W. VII, S. 64 f.36 Ebd.

37 C. G. Jung, Ges. W. XVI, S. 57; siehe auch: W. Bitter, die Angstneurose,Entstehung und Heilung. Mit zwei Analysen nach Freud und Jung, Bern 1948.In Anlehnung an die Jungsche Einstellung hat der Verfasser zwei charakte-ristisdie Freudsche und Jungsche Behandlungen ausführlich beschrieben unterBerücksichtigung der verschiedenen Ubertragungssituationen und Trauminhalte. In vielen weiteren Falldarstellungen sind außerdem die AdlerschenGesichtspunkte enthalten.

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von einer Differential-Diagnose innerhalb der Neurosenlehre wissenwollte. Während er noch in seiner Typenlehre 1920 die bekannteDifferenzierung zwischen Schizoidie, Depression, Zwang, Phobie,Hysterie usw. vornahm, hat er später nur noch die Global-DiagnoseNeurose gelten lassen. Zugegeben, daß in der Praxis meist Mischzustände vorkommen, so ist doch eine spezielle Neurosenlehre unentbehrlich. Allein schon wegen der Zuschüsse aus Sozialversicherungenund wegen der Frage, ob eine ambulante oder stationäre Therapieindiziert ist, sind Differentialdiagnosen notwendig.

Eine weitere Kritik scheint uns angebracht gegenüber der Ausdehnung des Archetypen-Begriffs auf eine immer größere Anzahl vonErscheinungen. Dieser Begriff sollte den großen Ur-Erlebnissen derMenschen aller Zeiten und Völker vorbehalten bleiben: Geburt, Tod,Wiedergeburt, Vater, Mutter, Mann-Frau-Beziehung, Kind, Schatten,Gewissen, Selbst und wenigen anderen. Dann behält die Entdeckungin Verbindung mit der Symbolkunde ihre bahnbrechende Wirkung aufTheorie und Praxis38.

Die der synoptischen Psychotherapie zugrunde zu legende religiöse,im engeren Sinne christliche Anthropologie kann von jedem Therapeuten wohl theoretisch erarbeitet werden. Aber nur die eigene Erfahrung der Geschöpflichkeit und des Angenommenseins, der Schuldund Vergebung, des Ergriffenseins von dem, „was uns unbedingt angeht" (Tillich), wird sich in der analytischen Arbeit auswirken, und

38 Der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker bemerkte1965 in einer Versammlung vor Psychotherapeuten und Förderern unseresFachs: „Er (Jung) hat .. . genau das (gesehen), was Piaton so wichtig war,daß diese Ideen Mächte sind, und zwar . . . diejenigen Mächte sind, ohne diewir überhaupt nichts verstehen können, nur durch die wir etwas verstehenkönnen . .., indem wir uns ihnen in einer adäquaten Weise öffnen und stellen. Die Wissenschaft beruht ja selbst auf Archetypen ... In diesen Bereichhinein scheint mir Jung einen Blick getan zu haben, sei es auch nur zwischenzwei fliegenden Wolkenfetzen hindurch, einmal rasch eine Kontur sehend."Von Weizsäcker bemerkte im Hinblick auf die weltpolitischen Probleme,nachdem er auch die Freudschen Forschungsergebnisse gewürdigt hatte, daßnicht jedes Haupt — in Variierung eines Uhlandschen Satzes —, das überdiese Dinge nachdenkt, „mit einem vollen Tropfen tiefenpsychologischen Öls"gesalbt ist. — Als Wegbereiter der hier gemeinten Anthropologie seien nochangeführt die Atomphysiker A. Einstein, M. Planck, W. Heisenberg, P. Jordan sowie W. Pauli, der gemeinsam mit C. G. Jung „Naturerklärung undPsyche" herausgab (Zürich 1953). Beiträge der neueren Biologie liefernA. Portmann u. a.

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dies, ohne daß darüber gesprochen werden muß. Daß nicht nur derIntellekt, sondern der ganze Mensch Ausdruck für die innere Wandlung sein muß, gilt sowohl für den Offenbarungsglauben wie für dasDenken im Sinne der Existentialphilosophie, den „philosophischenGlauben" (Jaspers). Damit soll nicht einer „christlichenPsychotherapie"das Wort geredet werden. Wenn auf unserer Tagung die Parole lautwurde, wir brauchten ebensowenig christliche Psychotherapeuten wiechristliche Schneider oder Schuhmacher, so kann ich dem dann beipflichten, wenn es sich um jüngere Patienten ohne religiöse Problematikoder um Kurzbehandlung älterer Menschen handelt. Um jedoch Patienten in religiösen Konflikten gerecht zu werden, sollte der Therapeut selbst ein religiös Ergriffener sein. Wie oben ausgeführt, stellensich diese Konflikte selten in der ersten Lebenshälfte ein, es sei denn,es handle sich um schöpferische Anlage und Berufung bei Künstlern,Gelehrten, Theologen. Bei Reifungsprozessen in der zweiten Lebenshälfte ist die eigene religiöse Reifung des Therapeuten Voraussetzungfür den optimalen Verlauf des „Prozesses". Mit Nachdruck sei nocheinmal die strikte Trennung zwischen Psychotherapie einerseits undPhilosophie und Religion andererseits gefordert. So sehr die beidenBereiche sich berühren und überschneiden können und gegebenenfallsaufeinander angewiesen sind, so muß doch grundsätzlich eine klareAbgrenzung im Auge behalten werden, da sich die Gebiete in verschiedenen Dimensionen bewegen. Wir können nicht auf die Zeit vorHippokrates zurückgehen und den Priesterarzt anstreben.

Ehe wir zum Schluß auf einige typische Störungen im religiösenBereich zu sprechen kommen, müssen wir den Begriff der Religionerörtern. Ob wir Religion von religare — rückbinden — oder vonreligere —sorgfältig beachten —ableiten: immer werden wir auf denGrund des Seins geführt und von ihm angesprochen, werden ihm verbunden. Im „unruhigen Herzen" (Augustinus) bewirkt „das Waltende" —psychologisch der Archetypus des Heilbringers —eine neueVerwurzelung des Wurzellosen im Ewigen, wobei die heutige Theologie den Akzent darauf legt, daß das Ewige im Zeitlichen, imDiesseitigen, erlebt wird. Die Erscheinungsweisen des Religiösen siehtRudolf Daur dreifach gestuft (wobei er eine Wertung ausschließenmöchte): Kultfrömmigkeit, persönliche Herzensfrömmigkeit undschließlich das freie Leben im Geist (Pneuma), nicht mehr gebundenan Tempel und Zeichen, weil Worte nicht ausreichen und Zeichen nur

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hinweisen können (siehe S. 11ff). Der Theologe und PsychotherapeutScharfenberg hält, in Übereinstimmung mit Pfarrer Oskar Pfister,Freud für einen religiösen Menschen, weil er „Heilung durch Liebe"auf sein Banner geschrieben habe und von ihm der demütige Satz geprägt wurde: „Wer die Großartigkeit des Weltzusammenhangs unddessen Notwendigkeiten zu ahnen begonnen hat, der verliert leichtsein eigenes kleines Ich"; derselbe Freud, der sich bis ans Ende seinerTage einen „ganz gottlosen Juden" nannte und in früheren Schriftenvon der Religion als Illusion, als Infantilismus und zwangsneurotischer Erscheinung sprach, der — im Sinne von Marx — Religion alsOpium fürs Volk betrachtete, er stand ihr also ambivalent gegenüber.

Alle psychotherapeutischen Schulen, einschließlich des späteren Freud,stimmen darin überein, die vom Patienten aufgeworfenen religiösenKonflikte vorurteilslos und in Ehrfurcht anzunehmen. Soweit derPatient im kirchlichen Leben steht und im Daurschen Sinne Kultfrömmigkeit mit persönlicher Herzensfrömmigkeit verbindet, wirdkein Psychotherapeut diesen Zustand antasten; auch dann nicht, wennsein Gottesbild ein kindlich-anthropomorphes sein sollte. Erst wennbewußt oder unbewußt religiöse Konflikte in der analytischen Arbeitauftauchen, wenn religiöse Traumsymbole „angeboten" werden, wirdder mit diesen Symbolen vertraute Analytiker sie im Jungschen Sinnezusammen mit dem Patienten be-trachten, das heißt „trächtig" machen.Hier trennen sich die Wege der analytischen Schulen. Es ist, wie obenüber die Bedeutung der Symbole dargelegt, das Verdienst Jungs, daßer anhand eines ungeheuren, noch nicht ausgeschöpften Materialsder vergleichenden Religionsgeschichte, der Mythologie, der Gnosisund der Alchemie es dem Therapeuten ermöglicht, den religiösen Prozeß zu verstehen und dem Patienten zugänglich zu machen.Das Ergebnis dieser Arbeit ist nicht vorauszusehen. Es wird auf alle Fälle einen

neuen Zugang zum Lebendig-Religiösen und zum ureigenen religiösenErlebnis eröffnen. Es kann den Kirchen-Entfremdeten in seine Ge

meinschaft zurückführen, indem er zu Kult und Dogma eine neue, bejahende Einstellung gewinnt. Es kann auch zur endgültigen Trennungvon der Kirche führen. In einzelnen Fällen kann es zur Konversion,

zum Übertritt in eine andere kirchliche Gemeinschaft kommen. Daraus

ergibt sich, mit welcher Behutsamkeit dieses Geschehen begleitet werden muß.Gelegentlich entstehen dabei Schwierigkeiten, besonders dann,wenn der Seelsorger von der Analyse erfährt und bewußt oder unbewußt in ihr eine Gefahr erblickt. Allein aus diesem Grund ist es

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dringend erwünscht, daß sich Theologen elementare Kenntnisse derTiefenpsychologie aneignen.

Fragen wir nun nach einigen Ursachen gestörter und damit psycho-therapie-bedürftiger Religiosität. Der Patient hat sich etwa im SinneAdlers in ein religiöses Arrangement geflüchtet, in eine unechte Religiosität. Die Analyse demaskiert dieses wie andere neurotische Arrangements, deretwegen er in Behandlung gekommen ist. Eine großeGruppe von Patienten hat die Religiosität der Eltern übernommen.Solche Patienten können inKonflikte geraten,wenn diese ihnen wesensfremd geworden ist und ihrer Entfaltung im Wege steht. Dann kannes zu beständigem Unbehagen kommen, das sich zu ernsten neurotischen Störungen entwickelt. Nicht selten übernimmt das Kind, vorallem der an die Mutter gebundene Sohn, deren Religiosität. Auchkann sich in einer religiösen Einstellung der Protest gegen einen unreligiösen Vater manifestieren. Wenn in unharmonischen Ehen Vaterund Mutter konträre religiöse Haltungen einnehmen, kann es geschehen, daß das Kind sich mit einem Elternteil — im Protest gegenden andern — identifiziert. Eine solche aus Bindungen oder Protestbegründete Form der Religiosität entspricht oft nicht demindividuellenWesen. Bei Ablösung von den Eltern, bei der Selbstfindung, gibt esdann die oben angeführten Konflikte.

Eine der häufigsten Störungsquellen ist der Moralismus, der seineEntstehung dem Kollektivbewußtsein verdankt, in Freudscher Terminologie dem Über-Ich. Diese Instanz wird von neurotischen Christenmit dem Ur-Gewissen, der vox dei, verwechselt. Sie ist weder ein ureigenes noch göttliches, sondern ein introjiziertes System von Gebotenund Verboten der Eltern und anderer moralischer Autoritäten der

Außenwelt. Das Ergebnis ist die Gesetzestreue, das sich darausbildende,oft unbewußte Pharisäertum, die Be- und Verurteilung der Mitmenschen als schlechte Christen oder Nicht-Christen. Die Schärfe des eigenen moralischen Gesetzes richtet sich auch gegen die eigene Person,gegen den eigenen Schatten und kann sich zu skrupelhafter Selbstanklage und zur Zwangsneurose steigern. Für jeden Theologen, besonders den mit einer großen Beichtpraxis, sind die skrupulösen,zwangsneurotischen Beichtkinder eine schwere Belastung. Es ist besonders die Leiblichkeit und die mit ihr verbundene Geschlechtlichkeit,gegen die diese religiösen Neurotiker opponieren, in Verkennung derSchöpfungsgeschichte, nach der der Mensch als Mann und Frau erschaffen ist. Die Psychotherapie hat die Aufgabe, den Patienten zur

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Einsicht in diese ihm unbewußten Zusammenhänge zu führen, seinenPerfektionismus als Ergebnis der Gesetzes-Abhängigkeit abzubauenund ihn aufgeschlossen zu machen dafür, daß er in seinem So-Sein mitallen Schwächen, mit den durch seine Leiblichkeit bedingten Aufgabenund Lasten von Gott angenommen worden ist. Wenn sich der Patientselbst bejahen lernt, wird auch die Gewissensangst der Freiheit desChristenmenschen weichen. Die Schuldangst ist ein Teil der Lebensangst überhaupt, die wie die existentielle Schuld mit dem Menschsein eng verbunden ist. „In der Welt habt ihr Angst" (Joh. 16,33b).Dieses Christuswort wendet sich nicht nur an den Neurotiker, sondern zeigt die Angst als eine Weise „Des-in-der-Welt-Seins" auf. DasMaß der Angstfreiheit ist zugleich das der Liebesfähigkeit: „Furcht istnicht in der Liebe" (1. Joh. 4, 18).

Zuletzt noch zu einem der hartnäckigsten Widerstände gegen religiöse Erfahrung und Reifung. Er geht vom Beharrungsvermögen, derTrägheit aus. „Des Herzens Härtigkeit", Stumpfheit und Feigheitkönnen sich gegen Reifungstendenzen aus der Tiefe stemmen, dieseverdrängen und zu neurotischen Störungen führen (quieta non movere!).

Und nun zur religiösen Erfahrung, dargestellt an Tra«m-Material.Damit die nachfolgenden Träume im synoptischen Sinne verstandenwerden können, möchte ich einige Worte zu unserer Auffassung vomTraum vorausschicken. Jung würdigt das Verdienst Freuds um dieTraumdeutung: „Die wichtigste Methode aber, zur Erkenntnis derpathogenen Konflikte zu gelangen, ist, wie Freud zuerst gezeigt hat,die Analyse der Träume"39. Während Freud Träume überwiegend aufdie objektiv-reale Umwelt (Objektstufe) bezieht, bearbeiten wir sieauch auf der Subjektstufe, das heißt in ihrer Beziehung zu innerseelischen Vorgängen. Einige „Mechanismen", wie Verdichtung und Verschiebung, werden aus der Freudschen Deutung übernommen, nicht jedoch das starre Festhalten am Traum als Wunscherfüllung und Abwehrmechanismus sowie die Einteilung in latente und manifeste Trauminhalte. Nach Freud ist die „Traumarbeit" das Ergebnis einer im Unbewußten wirksamen Zensur. Jung hingegen betrachtet den Traum alsSelbstabbildung des psychischen Lebensprozesses, als „natürliches" psychisches Phänomen; seine Bilder sind zunächst nicht rational zu erfassen. Die Vorgänge im Traum sind auf die Ganzheit der Psyche be-

C. G. Jung, Ges. W. VII, S. 22.

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zogen und lassen sich als Kompensation zum Verhalten des Träumersauffassen. Eine geglückte Traum-Bearbeitung zeigt dem Träumer seineihm nicht bewußten Motive und hilft bei der BerichtigungseinesStandpunktes. Der Traum führt somit zur vertieften Selbsterkenntnis. Er istfür Freud, Jung und alle Schulen die via regia zum Unbewußten. Dassoll an folgenden Träumen verdeutlicht werden, wiederum unter demBlickwinkel der religiösen Prozesse.

Kasuistik

Der Analysand war ein verheirateter, schweizerisch-reformierterTheologe, Anfang dreißig. Er hatte sich in eine längere Analyse begeben, weniger wegen einiger leichterer Symptome, als um sich gründlich über die Tiefenpsychologie zu informieren. Nachdem anfangs dieFreudschen und in geringerem Umfange die Adlerschen Gesichtspunktebesondere Berücksichtigung verlangten, kam eine Reihe von Träumenmit deutlicher oder verborgener religiöser Symbolik zur Sprache.

Über die Biographie kurz folgendes: Die wichtigsten Beziehungspersonen sind außer seiner Ehefrau der Vater, die Mutter und einjüngerer Bruder. Die Mutter wurde etwa zwanzigjährig von dem damals vierzigjährigen Vater in zweiter Ehe geheiratet. Offenbar hateine unbewußte Vater-Tochter-Faszination zu dieser Ehe geführt. DieMutter hatte gleich nach der Geburt ihres ersten Kindes (des Analysanden) drei Todesfälle in ihrer nächsten Verwandtschaft, die sie jeweils für mehrere Wochen von dem Neugeborenen trennten. Wegendieser Schicksalsschläge im Zusammenwirken mit der Ehe-Enttäuschungfiel die Mutter in eine schwere Depression. Der Vater — eine starkeautoritäre Persönlichkeit — nahm sich des kleinen Knaben intensiv an

und ließ ihn schon früh an seinen Liebhabereien teilnehmen. Der Träu

mer hat also in der frühesten Kindheit die Mutter entbehren müssen

und ist in eine starke positive Fixierung an den Vater geraten. Seineeigentliche Trotzphase erlebte er erst als Heranwachsender. Sie äußertesich darin, daß er die naturwissenschaftlichen Interessen, die er bisdahin mit dem Vater geteilt hatte, aufgab und Theologie studierte.Diese Berufswahl diente ihm zugleich als Ablösung von dem überragenden Vater, der religiös indifferent war. Er stürzte sich schon alsStudent in eine fanatisch-missionarische Tätigkeit. — Durch die Analyse verlor er weitgehend die Symptome und verhielt sich im religiösen

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wie persönlichen Bereich zurückhaltender. Im privaten Leben wirktesich diesso aus, daß er seinerFrau gegenüber nichtmehr die Vaterrolleeinnahm, wie früher auf Grund der Identifikation mit seinem Vater.

Erster Traum: Verfolgungszeit, Deutsche Christen mit fanatischen Gesichtern und Mienen. Pfarrer und junge Professoren mit gut geschnittenen Gesichtern halten trotz Verbot Vorträge, wobei sie damit rechnen müssen, anschließend verhaftet zu werden. Ich muß mir ein Neues Testament der letzteren besorgen. Die Deutschen Christen (hören, sehen) mit abweisendem Gesicht (zu).

Fanatismus ist immer ein Zeichen von innerer Unsicherheit und Gespaltenheit. So erschienen im Traum die fanatischen Deutschen Christender Hitlerzeit auf der einen und positiv erlebte Theologen auf deranderen Seite. Der Träumer versteht den Traum so, daß er sich trotzder Gefahr der Verhaftung mit den guten Theologen identifiziert undsich von seinem religiösen Fanatismus distanziert.

Der zweite Traum führt in andersartige, tiefere Konflikte: Ich bin mitmeiner Frau in der Ostzone. Wir besichtigen eine Kirche, die, wie mir auffällt, eine Schwingtür hat. Da kommt ein Stier in den feierlichen Raum gerannt.

Zur Ostzone assoziiert der Träumer: Hinter der „Mauer" ist dasHerrschaftsgebiet derBolschewisten; er ist wiederum einem -ismus verfallen wie oben beim Nationalsozialismus. Auf der Subjektstufe: eshandelt sich um einen abgespaltenen Seelenanteil, der nicht von derVernunft beherrscht wird, vielmehr die ungebrochene Primitivität zurEntfaltung kommen läßt, kurz um das Unbewußte. Die Gegensätzesind symbolisiert durch die Kirche und den Stier. Seit alten Zeitenversinnbildlicht der Stier die Kraft und Fruchtbarkeit. Er ist für denTräumer als Phallus-Symbol teils eine Kompensation der verdrängtenSexualität im Freudschen Sinne, teils symbolisiert er die schöpferische,geistige Seite. Indem der Stier in den feierlichen Kirchenraum rennt,werden die beiden Pole, dasTriebhafte und das Religiöse, miteinanderverbunden. In der Mithras-Religion, die sich während des frühenChristentums in ganz Europa ausgebreitet hatte, springt der GottMithras auf den Rücken des Stieres, um ihn in seine Gewalt zu bekommen und tötet ihn (Opfersymbol); sein Blut muß über den Täufling fließen. Das mächtige Triebtier wird also gezähmt und bewirktdann durch sein Opfer die Wiedergeburt40. Für den Träumer ist das

40 Weiteres über die Symbolik des Stieres in: C. G. Jung, Ges.W. XI, S. 246,sowie in: Symbolik des Geistes, Zürich 1947, S. 196f., 331.

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Symbol der Schwingtür wesentlich. Das Unbewußte bringt beide Polein fluktuierende Verbindung (synthetische Funktion des Symbols). —Der Träumer hat dieses Erlebnis zusammen mit seiner Frau, der Repräsentantin seiner Fühlfunktion, der Gemütswelt.

Dritter Traum: Ein Vorgesetzter kommt und entpuppt sich als unbekannterPfarrer. Ich bin bei ihm zu Hause, seine Frau, seine Tochter und er sitzen vormir, gleichsam zur Eröffnungsbegrüßung in dem neuen Ort. Frau und Tochterverhüllen sich; ich spreche mit ihm, ob er sich für tiefenpsychologische-mytho-logische Dinge interessiere. Da zeigt er auf ein Bild an der Wand mit einemStammbaum in mythologischer Darstellung. Dann bewundert er eine indischeBrosche bei mir, die eine Tänzerin und einen Christuskopf zeigt. Nachherkommt die Frau aus ihrer Verhüllung wieder hervor und hält einen Säuglingim Arm.

Über die einzelnen Bilder wäre viel zu sagen. Hier sollen nur einigeAspekte, die uns jetzt wichtig erscheinen, hervorgehoben werden. Zunächst wird eine heileFamilien-Situation mit Entfaltung der Weiblichkeit hergestellt. Statt der eigenen, frustrierenden Mutter erscheint einezunächst verhüllte Frau. Mit dem Erscheinen der Tochter ist dieVater-Tochter-Situation demonstriert und darüber hinaus die väterliche Einstellung des Analysanden seiner Frau gegenüber aufgezeigt.Bei demPfarrer-Vorgesetzten klingt die Wandlung des Vaterbildes an.Die überragende väterliche Autorität in früher Kindheit und Jugendwird nun zum Pfarrer gemacht. Damit sind die Differenzen zwischenden Interessen des Träumers und denen des Vaters überbrückt.

Zum zweiten Teil des Traumes (indische Brosche mit Tänzerin undChristuskopf) assoziiert der Träumer: Ex Oriente lux. Indien ist fürmich noch stärker als Rußland mit dem Mystischen verbunden. — DerTraum-Vaterbelehrt den Träumer über die Zusammenhänge zwischendemMythologischen und demChristuskopf einerseits und derTänzerinals Ausdruck des Weiblichen und Musischen andererseits. — Am Schlußtritt die Mutter ohneVerhüllung mit einem Säugling im Arm auf. Hiersind in synoptischer Schau zwei Aspekte dargestellt: Im persönlichenUnbewußten des Träumers holt er gleichsam nach, was er als Säuglingentbehren mußte; im kollektiven Unbewußten ist der Archetypus desGöttlichen Kindes konstelliert41.

Vierter Traum: Ich knie betend in meinem Zimmer. Da entdecke ich einenDieb, der heimlich eingedrungen sein muß und hinter mir steht. Er nimmt

41 C. G. Jung — K. Kerenyi, Einführung in das Wesen der Mythologie,Zusammenfassung von „Das Göttliche Kind" und „Das Göttliche Mädchen",Zürich 4. A. 1951.

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eine der vier roten Blumen aus der Vase. Ich stelle sie wieder hinein, schenkeihm etwas später eine davon und bedeute ihm, daß er es nicht nötig habe, siezu stehlen. In diesem Augenblick ist die Blume voll aufgeblüht. Sodann entferne ich mich aus dem Raum. Als ich zurückkomme, befindet sich der Dieb,im Dunkeln stehend, nur in den Konturen sichtbar, noch da. Ich stelle fest,daß nichts gestohlen ist und auch die Blumen noch in der Vase stehen. Icherwache mit Herzklopfen.

Seiner Gewohnheit gemäß verrichtet der Analysand kniend seineGebete. Die Stellung des Diebes im Rücken des Träumers deutet darauf hin, daß es sich um eine nefaste, abgespaltene Seite handelt, alsoum eineSchattenfigur. Bezeichnend ist dessen Eindringen in die innersteWelt des Träumers, die der Gebets-Meditation. Wiederum steht hinterdem Heiligen das extrem Profane. Bemerkenswert ist, daß der Diebeine der vier Blumen stehlen will. Die Vier ist ein Symbol der Ganzheit; die rote Blume repräsentiert die warme, blutnahe Gefühlswelt.Der Fortschritt besteht darin, daß sich der Träumer im Unbewußtenseiner Schattenfigur, dem Dieb, zuwendet und ihm eine der Blumenfreiwillig übereignet. Die abgewertete, „sündige" Seite muß mit derDreiheit (dargestellt durch die verbleibenden drei Blumen), die für dasmännliche und geistige Prinzip steht, in Verbindung gebracht werden.Für den hypermoralischen, religiösen Menschen ist die dunkle, abgewertete Seite durch den Einbrecher besonders eindrucksvoll dargestellt.

Aus einer weiteren Analyse möchte ich einen Traum mitteilen, indem gleichfalls das persönliche sowie das kollektive Unbewußte wirksam sind. Es handelt sich um einen damals in Ausbildung begriffenenReligionslehrer aus Österreich, katholisch, Mitte zwanzig. Biographischlag eine ähnliche Problematik vor: Der Analysand hatte sich aus Trotzgegen den areligiösen, unkirchlichen Vater in eine intensive Kirchlichkeit begeben und schon im Knabenalter als Ministrant fungiert. Völliganders war dagegen die Situation des Patienten in bezug auf seineMutter. Sie war eine starke, in der Familie dominierende Persönlichkeit, eine magna mater. Sie hat den Analysanden von frühester Kindheit an mit übertriebener Fürsorge und geradezu hypochondrischerÄngstlichkeit umgeben und verzärtelt. Das hatte die üblichen Folgen,daß der Knabe in der Schule ein Einzelgänger wurde, vom Turnunterricht befreit werden mußte usw. Der Vater hatte sich resigniert ausdem Familienleben zurückgezogen und in seineBerufsarbeit gestürzt. —Da die Auseinandersetzung mit den Eltern und seine Sexualprobleme

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im Vordergrund standen, ergab sich eine überwiegend Freudsche Analyse. Im Verlauf der längeren Behandlung kamen dann aber Träumevor, die um die Messe und Beichte kreisten. Der folgende Messe-Traumverbindet die religiöse mit der Eltern-Problematik.

Traum: Ich wohne einer Messe bei. Auf dem Altar steht ein Tannenbaumwie zu Weihnachten. Er steht aber nicht auf einem Christbaumständer, sondern ist auf einem Brettchen festgenagelt. Pfarrer H. hält die Messe; es istaber merkwürdigerweise ein Passionsgottesdienst; Pfarrer H. nimmt denTannenbaum, stellt ihn vor den Altar und singt: Ecce lignum crucis . . . , sowie in der Karfreitagsmesse. Ich bin erstaunt, denke aber: „Nun, aus Holzist der Tannenbaum ja auch." Dann zündet der Pfarrer die Spitze desTannenbaumes an. Die Zuschauer lachen etwas hilflos.

Assoziationen des Träumers: Zu „Ecce lignum . . .": Der Traum wurde inder Karwoche geträumt. Schlechtes Gewissen wegen sexueller Versuchungenam Vorabend. Zu „Abbrennen der Tannenspitze": Am Vorabend ging mirder Spruch im Kopf herum: „Und wenn der ganze Schnee verbrennt..."Frühere Kirchenträume. Zu „Pfarrer H.": Er war mein Gemeindepfarrer zuBeginn meines Skrupulantentums, das heißt im Alter von etwa zwölf Jahren.

Baum und Holz sind exquisit mütterliche Symbole. Wir dürfen vermuten, daß die Auseinandersetzung mit der Mutter in die religiöseProblematik hineinspielt. Der Gekreuzigte hängt am Baum, dem mütterlichen Holz. Es gibt Versionen, nach denen das Kreuz aus Tannenholz hergestellt war. Die übermächtige, beherrschende Mutter hat ihnin seiner Fühlfunktion und damit in seiner Beziehung zum Weiblichentief gestört. Aber auch die Auseinandersetzung mit dem Vater klingtan: Der Pfarrer im Traum war sein Gemeindepriester in der Vorpubertät, als er sich in einer besonders starken Trotzphase befand. DieFreudsche Reduktion auf die Kindheit ist indiziert, zumal der Träumer das Zeichen des Kinderfestes, einen Weihnachtsbaum, in die Karwoche hineinversetzt. Der Tannenbaum ist auch eine Form des Lebens

baums, also des Mütterlichen. Der Baum hat keinen festen Stand: das„Mütterliche" im Patienten ist nicht fundiert. Der Träumer macht den

Pfarrer zum guten, hilfreichen Vater, der den Baum auf den Bodenstellt; er holt ihn aus der erhöhten und unsicher befestigten Lage herunter auf festen Grund. Dann aber muß die Spitze des Tannenbaumeszum Brennen und damit zum Leuchten gebracht werden. Brennen istVerwandlung, so wie der Träumer den „verbrannten Schnee" hierzuassoziiert (nach dem Scherzwort: „Und wenn der ganze Schnee verbrennt, die Asche muß doch bleiben!"). Seine kindliche, aus Oppositiongegen den Vater begründete Religiosität bedarf einer Läuterung. Erstwenn die infantile Religiosität überwunden ist, an Stelle des Christ-

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baumes mit seinem Zauber der Kreuzesbaum mit Tod und Auf

erstehung getreten ist, kann der Analysand den Wandlungsvorgang inder Karfreitags- und Ostermesse mitvollziehen.

In der Analyse bahnte sich eine Wandlung seiner Einstellung zumVater und zur Mutter an. Auch gewann er eine gesündere Einstellungzum Sexuellen. Sein übermäßiger Kircheneifer wurde abgebaut, ohnedaß das Band mit der Kirche zerschnitten wurde.

Dieser kurze Überblick über das Ergebnis unserer Tagung bedarfnoch einiger Ergänzungen. Eine subjektive Begrenzung ist unvermeidlich, wie bereits die Auswahl der zu Wort gekommenen Schulen undReferenten. Viele wichtige Gesichtspunkte konnten aus Raumgründen nur gestreift werden, andere mußten unerörtert bleiben. Besonders bedauerlich ist die kurze Behandlung der in deutschsprachigenLändern und Amerika verbreiteten Neoanalyse, die sich wiederum inverschiedene Richtungen teilt. Die deutsche Schule von Schultz-Henckewurde bereits erwähnt. Das religiöse Problem tritt in der neoanalytischen Schule in den Hintergrund. Sie bemüht sich, in ihren weltanschaulichen Voraussetzungen neutral zu sein. Die Jungschen Fundefinden kaum Anklang. Mein Vorschlag, auch diese beim InternationalenKongreß über „Heutige Richtungen der Psychoanalytischen Theorieund Therapie" in Amsterdam 1962 zur Diskussion zu stellen, bliebunberücksichtigt. Die bedeutendste Neoanalytikerin Amerikas, KarenHorney, hat dem Verfasser freimütig bekannt, daß sie persönlich keinOrgan, kein Verständnis für die Jungsche Lehre habe, zumal nicht fürdie archetypischen Symbole. Andere Autoren verwerfen die JungschePsychologie als Mystizismus und Psychologismus, einzelne sprechenihr jede praktische Bedeutung für die Therapie ab. —Erwähnung verdienen noch die amerikanischen Neo- oder Reform-Analytiker Frommund Rank. Für Rank ist der schöpferische Mensch das Ziel der Therapie, für Fromm Freiheit von Angst in einer humanitären, sozialistischen Gesellschaft.

Fast alle amerikanischen Autoren messen den kulturellen und öko

nomischen Umweltfaktoren bei der Entstehung der Neurose entscheidendes Gewicht bei. Die Religiosität erschöpft sich in Amerika in derHauptsache in kirchlicher Betriebsamkeit ohne religiösen Tiefgang. Derregelmäßige Kirchenbesuch ist verbreiteter als in Europa; er gilt alsgesellschaftliche Verpflichtung. Wegen der aus der Sinnentleerung desDaseins entstehenden Störungen geht man nicht zum Seelsorger, son-

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dem zum Psychotherapeuten, eine Tendenz, die auch in Europa zunimmt. So wird der Psychotherapeut ein „Statthalter des Seelsorgers".Die tiefere Ursache für diese Erscheinung ist die geistige, besser ungeistige Situation im gesamten Abendland und zunehmend auch in denvon ihm abhängigen Entwicklungsländern in Afrika und Asien. DieAnbetung der Wissenschaft, die erklärte Religion der kommunistischenLänder, ist eine Erscheinung in der ganzen Welt. Die Beherrschungder äußeren Welt durch ständige Fortschritte der Technik ist Trumpf.Sie beruht auf der Pflege der extravertierten Verstandes- und Realitäts-Funktionen. Bally hat in seinem Referat nachgewiesen, daß damit dieUngeborgenheit des Kindes und Heranwachsenden in der Kleinfamilie,der Mangel an mütterlicher Liebe und väterlicher Autorität zusammenhängt. Es wäre kurzsichtig, die ungeheure Bedeutung der Technik, derRatio bei der Beseitigungvon Seuchen und Hunger in der ganzen Weltzu verkennen. Im Rahmen der Aufgabe „Machet euch die Erde Untertan" scheint diese Entwicklungsphase unentbehrlich. Zur Gefahr, ja zurLebensbedrohung wird sie in der extremen Einseitigkeit, in dem Verfallensein der Menschen an den äußeren Fortschritt und Wohlstand.

Das ist auch der tiefere Grund für die Vernachlässigung des religiösenFaktors in der Psychotherapie, die besonders in Amerika zu beklagenist. Erst wenn die Menschheit die Selbstgefährdung infolge Vernachlässigung und Verkümmerung der Seele erkennt, wenn ihr bewußtwird, daß mit dem äußeren Fortschritt die auf religiöser Reife beruhende Ethik und Liebesfähigkeit Schritt halten sollte, erst dann wirddie Zeit kommen für die Erneuerung und Vertiefung des religiösenLebens. Die zunehmende Neurotisierung des abendländischen Menschen, der die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebensverloren hat, seine Disharmonie und sein Uneinssein mit sich selbstkönnen als Anzeichen für eine sich anbahnende Wendung, als eineEnantiodromie, als die Ankündigung einer rückläufigen Bewegung angesehen werden.

Die Forschung auf dem Gebiet der modernen Psychotherapie kannfür eine Neubesinnung entscheidende Hilfen bieten.

Zu den einzelnen Schulen ist noch folgendes nachzutragen: Die Begegnung mit der östlichen Weisheit für unser Fach fruchtbar gemachtzu haben, ist das Verdienst von Graf Dürckheim. Auf Grund jahrelanger Erfahrungen bei Meistern des Zen-Buddhismus hat er dessennahe Verwandtschaft mit deutschen Mystikern, allen voran MeisterEckehart, aufgewiesen und mit der modernen Psychotherapie verbun-

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den. Zu der Aufarbeitung des Schattens, des unbereinigten Unbewußten kommt hinzu die stärkere Einbeziehung der leibhaften Verfassung.So erstrecken sich die Exerzitien im besonderen auf das Atmen und dieKörperhaltung. Als Ziel der Therapie bezeichnet Dürckheim „das zumOffenbarwerden drängende und verpflichtende übermenschliche undüberweltliche göttliche Leben und Sein, personal gesprochen Gott".Für Dürckheim besteht kein Zweifel, daß im Abendland „in einerechten Seinserfahrung Christus gegenwärtig ist". Wie bei Jung sinddie psychologischen Begriffe nur Hilfsmittel, Modellvorstellungen, diein der Begegnung mit dem Patienten „vergessen" werden müssen. „DieVorstellung von einer völlig voraussetzungslosen, auf alleBegriffe verzichtenden Therapie (ist) eine Utopie, die nur auf eine Verhärtungeiner unbewußt vorhandenen Theorie hinausläuft" (S.201).

Die Daseinsanalyse, in geringerem Umfang auch die Neo-Analyseund die Individualpsychologie stoßen sich an den in der Tiefenpsychologie üblichen Begriffen, vor allem an der Unterscheidung zwischenbewußt und unbewußt. So begrüßenswert es erscheint, die Ganzheitund Einheitdes Menschseins gegenüber einerstarren theoretischen Klassifizierung von Provinzen und Funktionen zu unterstreichen, so glauben wir doch mit Graf Dürckheim und C. G. Jung, daß die Verwendung der Begriffe als heuristische Hilfsmittel unentbehrlich ist. AufUmwegen kommen sie auch bei den Kritikern der Begriffseinteilungwieder zum Vorschein: statt unbewußt wird mit den Begriffen „unwissentlich", „noch nicht Gewußtes" usw. operiert und damit aufden Begriff des vom Bewußtsein abgegrenzten Unbewußten zurückgegriffen.

Mit Rechtunterstreicht Graf Dürckheimdie phasenhafte Reifung beider Selbstfindung. Die Psychotherapie geschieht „stufenweise". Unseresynoptische Psychotherapie beginnt in der Regel mit der Bewußt-machung des persönlichen Unbewußten und endet in der Bewußtseinsweitung durch Integration des Selbst. Wir erwähnten bereits, daß JeanGebser auf Grund seinerkultur-anthropologischen Forschungen gleichfalls zu Reifungs- beziehungsweise Entwicklungsphasen des Menschengelangt. Er unterscheidet fünf Bewußtseinsstrukturen: die archaische,magische, mythische, mentale und integrale. Die letztere führt zur Freiheit vom Ich und von Todes- und Zukunftsangst42. Der Psychotherapeut Werner Klosinski erkennt sieben Stadien derGlaubensreifung aufder Grundlage von vier psychischen Strukturen: der bildlosen Un-

42 J. Gebser, Ursprung und Gegenwart, Stuttgart 1963.

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bewußtheit, dem kollektiven Unbewußtsein, dem kollektiven Bewußtsein als familiäres Unbewußtes und dem individuellen Bewußtsein43.

Die Personale Psychotherapie von Graf Dürckheim wird meist alsKurzbehandlung durchgeführt. Dasgleiche scheint überwiegend für diePraxis der Logotherapie von Viktor Frankl zu gelten. Als Reaktionauf die positivistische, naturwissenschaftliche Freudsche Psychoanalyse hat diese Schule in Amerika wie in Europa zunehmend Beachtung gefunden. Wie aus dem Referat ihres Begründers hervorgeht,will sie zur Sinnerhellung und Selbstverantwortung hinführen, wobeiderPatient in seiner je individuellen Situation die Lösung seiner Sinnfrage selbst finden muß. Wir stimmen Frankl durchaus zu, wenn erPsychotherapie nicht allein bei Neurosen, sondern zum Beispiel auchbei Moribunden und endogen Depressiven für indiziert hält. Beiletzteren ist sowohl Persuasion wie rein suggestive Therapie unentbehrlich. Bei unserer Tagung haben wir uns bewußt auf die analytische Therapie der Neurosen beschränkt und Psychopathien und Psychosen unberücksichtigt gelassen.

In dem Referat von Wolfram Kurth sind weitere Kurzverfahrenbehandelt worden. Zu ihnen gehören in erster Linie das AutogeneTraining und das therapeutische Gespräch, das nicht als reines Per-suasions- und Suggestionsverfahren aufgefaßt werden darf.

Auch diese Methoden sind für die synoptische Psychotherapie unentbehrlich. Die Oberstufe des Autogenen Trainings ist als Große Psychotherapie anzusehen, zumal wenn die von Jung angegebene aktiveImagination dabei zur Anwendung gelangt44. Diese Methode ist vonunschätzbarem Gewinn bei Patienten, die wenig oder kaum Traummaterial bringen (was nicht immer aufWiderstand zurückzuführen ist).

Auf die feineren Unterschiede zwischen Daseinsanalyse und personaler Psychotherapie wollen wir hier nicht eingehen, also auch nichtauf die ihnen zugrunde liegenden Begriffe des Mensch-Seins und desIn-der-Welt-Seins. In den Referaten von Johanna Herzog-Dürck undGion Condrau, besonders in den Aussprachen, ist darüber mehr gesagtworden. Die Personale Psychotherapie ist in eine Reihe von Richtungen aufgesplittert, die entweder von Freud oder Kunkel oder Jung

43 W.Klosinski nach unveröffentlichten Manuskripten, Tabellen und denKursen, die er in seinem Studio für angewandte Tiefenpsychologie, Stuttgart,hält.

44 Näheres über aktive Imagination in: W. Bitter, Meditation in Religionund Psychotherapie, Stuttgart 1958, S. 136 ff.

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ausgehen. Einige ihrer Vertreter, so Johanna Herzog-Dürck, GustavR. Heyer, Arthur Jores, Alfonse Maeder, gelangen zu einer unsererSynopsis nahen Schau45. Auf die Schwierigkeit der Abgrenzung desPersonbegriffs in der medizinischen Psychologie hat Paul Christianhingewiesen46.

Eine in Deutschland kaum praktizierte neuere Schule ist die vonSzondi. Sie nennt sich Schicksalsanalyse und fügt zu dem Freudschenpersönlichen und dem Jungschen kollektiven Unbewußten dasjenigedes familiären Unbewußten hinzu. Szondi weist die bestimmende Rolle

genetischbedingter Triebfaktoren in Liebe,Freundschaft, Beruf, Krankheit und Tod an einem großen Material nach. Bei den Vertretern derNervenheilkunde würden sich entsprechende Dispositionen für psychiatrische, neurotische und neurologische Erkrankungen ergeben. Viktorv. Weizsäcker berichtete dem Verfasser, daß er als Neurologe unterseinen Fachkollegen eine kleine Statistik gemacht habe, auf Grundderer etwa 50 Prozent der Erfaßten an neurologischen Erkrankungengestorben sind (v. Weizsäcker selbst ist einer solchen Erkrankung erlegen).

Bei allen psychotherapeutischen Schulen — mit der oben beschriebenen Einschränkung der Freudschen Psychoanalyse — wird eine Aufgeschlossenheit für die Wirklichkeit des Religiösen, eine apertura adcoelum (Szondi), angestrebt. Soweit die Jungsche Symbolkunde bei derTraumarbeit berücksichtigt wird, können wir von einer psychologischfundierten Sinnerhellung und Sinnfindung sprechen, von einer derAnalyse folgenden Synthese. —Der kritischeTheologe muß wissen, daßalleSchulen die größte Zurückhaltung üben hinsichtlich der Auswirkungauf das individuelle religiöse Geschehen, auf die ihm folgenden Entscheidungen des Patienten.

Mit Recht bedauern der Außenstehende und der Synoptiker, daßeinzelne Analytiker, obwohl ihre „Meister" längst gestorben sind, ihreSchulen mit einer an religiösen Fanatismus grenzenden Einseitigkeitvertreten. Der mangelnde Austausch macht sich darin bemerkbar, daßzum Beispiel Freudianer sichum die Erweiterung ihrer Schule bemühenund Jungsche Erkenntnisse verwerten, ohne die Quellen in der wissenschaftlich üblichen Weise anzugeben.

45 Siehe den Beitrag von Herzog-Dürck und ihr Buch: Menschsein alsWagnis, Stuttgart 1960, sowie die oben erwähnte Literatur von Heyer.

46 P.Christian, Das Personverständnis im modernen medizinischen Denken, Tübingen 1952.

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Ein Lehrbuch oder ein Leitfaden für die synoptische Psychotherapieexistiert noch nicht. Wohl haben sich einzelne Autoren um eine mehr

oder weniger geglückte Zusammenarbeit bemüht, so Clara Thompsonin Zusammenarbeit mit Patrick Mullahy47 und Dieter Wyss in seinemumfangreichen Werk „Die tiefenpsychologischen Schulen von den Anfängen bis zur Gegenwart"48, in dem er eine umfassende Übersicht überalle Schulen gibt und im Anhang Grundprobleme und ihre möglicheLösung aufzeichnet, ohne allerdings die in diesem Überblick gegebenenFolgerungen aus den späten Freudschen und Jungschen Arbeiten zuziehen. Ernst Spengler49 und Helmut Harsch50 haben das Problem desGewissens beziehungsweise der Schuld bei Freud und Jung unter philosophischen und religiösen Aspekten bearbeitet. Die Stuttgarter Gemeinschaft „Arzt und Seelsorger" hat in den zwölf Bänden der Reihe ihrerKongreßberichte nicht nur Vertreter der verschiedenen Schulen, sondern auch der Synopsis zu Wort kommen lassen.

Wie stehen Theologie und Kirchenleitungen zur Psychotherapie undTiefenpsychologie? Obwohl unser Fach die Medizin, die Natur- undGeisteswissenschaften, die Soziologie und die Staatswissenschaften, jaselbst die Kunst immer stärker beeinflußt hat, nehmen Kirchenleitungen wie Universitäts-Theologen, im ganzen gesehen, bis heute eineskeptische oder ablehnende Haltung ein51. Die theologischen Mitarbeiter unserer Gemeinschaft bilden eine Ausnahme. Rühmend hervor

zuheben sind Professoren der Theologie und Pfarrer, die sich einervollständigen oder teilweisen Ausbildung in der Tiefenpsychologieunterzogen haben oder bejahend zu ihr stehen. Ohne alle aufzählenzu können, seien auf protestantischer Seite erwähnt: Adolf Allwohn,Gerhard Bartning, Rudolf Daur, Max Frischknecht, Otto Haendler,Adolf Köberle, Ulrich Mann, Karl Bernhard Ritter, Hans Schär, Joa-

47 P. Mullahy, Die Psychoanalyse. Ihre Entstehung und Entwicklung, Zürich 1952.

48 D. Wyss, Die tiefenpsychologischen Schulen von den Anfängen bis zurGegenwart, Göttingen 1961.

49 E. Spengler, Das Gewissen bei Freud und Jung, Zürich 1964.50 H. Harsch, Das Schuldproblem in Theologie und Tiefenpsychologie,

Heidelberg 1964.51 Eine erfreuliche Ausnahme ist der Bischof der Evangelischen Kirche in

Württemberg, Dr. Erich Eichele, der unsere Arbeit fördert; er hat einer Reihevon protestantischen Theologen die Teilnahme an der Elmauer Tagung über„Psychotherapie und Religion" durch finanzielle Zuschüsse erleichtert.

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chim Scharfenberg, Walter Uhsadel; aufkatholischer Seite: PaulAdenauer, Franz Xaver Arnold, Armin Beeli, Hermann Breucha, GebhardFrei, JosefGoldbrunner, Wilhelm Heinen,ElieHumbert, Otto Karrer,Ignaz Lepp, Johannes B. Lotz, Hugo Rahner, Karl Rahner, JosefRudin, Victor White.

Da die praktische Seelsorge besonders in der Ehe- und Erziehungsberatung sowie in der Sozialarbeit die Tiefenpsychologie nicht mehrentbehren kann, haben die Kirchenleitungen beider Konfessionen inDeutschland eigene Beratungsstellen gegründet, die sich die Funde derTiefenpsychologie zunehmend nutzbar machen. Das Entsprechende giltauch für die Telefonseelsorge, leider kaum für den Strafvollzug. Demdringenden Bedürfnis entsprechend lassen diese Stellen einen Teil ihrerMitarbeiter tiefenpsychologisch ausbilden, und zwar sowohl Theologenwie Ärzte.

Es ist tief beklagenswert, daß Kirchen und Theologen beider Konfessionen an unserer großen wissenschaftlichen Bewegung nur in demgenannten geringen Umfang teilgenommen haben. Damit haben sie derKirchenentfremdung, die sich ohnehin unter Verantwortlichen desKulturlebens ausbreitet, Vorschub geleistet. Es scheint sich ein tragischesVersäumnis, wie es sich in der Mitte und am Ende des vorigen Jahrhunderts in bezug auf die sozialistische Bewegung ereignet hat, zuwiederholen. Hoffen wir, daß der Appell an das Konzil, von demOliver Brachfeld in seinem Beitrag über die Stellung der katholischenKirche zu unserem Fach, vor allem in Frankreich, berichtet, von Erfolggekrönt sei!

Wir stehen in einer Zeitenwende, an der Schwelle einer neuen Religiosität. Religiöse Wahrheiten werden erfahren in Grenzsituationenmenschlicher Existenz, in Liebe, Tod, Geburt und Schicksalsschlägen.Durch Versenkung in symbolisches Erleben erlangen wir, um mit IngeA. Allenby zu sprechen, ein Mehr an Bewußtheit, eine Weitung desBewußtseins und dadurch mehr Freiheit (S. 217). Daraus erfahren wirein göttliches Gegenüber und ein Du. In weltpolitischer Hinsicht wirddurch die Versöhnung der eigenen Gegensätze auch eine versöhnendeWirkung nach außen zwischen Völkern, Rassen und Nationen erreicht.

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FREUD UND DIE RELIGION

von Joachim Scharfenberg

„Wer die Großartigkeit des Weltzusammenhanges und dessen Notwendigkeiten zu ahnen begonnen hat, der verliert leicht sein eigeneskleines Ich. In Bewunderung versunken, wahrhaft demütig geworden,vergißt man zu leicht, daß man selbst ein Stück jener wirkendenKräfte ist und es versuchen darf, nach dem Ausmaß seiner persönlichenKraft ein Stückchen jenes notwendigen Ablaufes der Welt abzuändern, der Welt, in der das Kleine doch nicht minder wunderbar undbedeutsam ist als das Große"1.

Auch das ist das Bekenntnis eines Mannes, der sich selbst als „einenganz gottlosen Juden"8 bezeichnete, der bis zu seinem Lebensende eine„durchaus ablehnende Einstellung zur Religion in jeder Form undVerdünnung"3 einnahm und den auch die beschwörenden Ermahnungen seiner Freunde nicht dazu bewegen konnten, irgendein religiösesGefühl, wie etwa das „ozeanische", in seinem eigenen Inneren zu entdecken4. Gemessen an den Kriterien der Religionspsychologie5 ist daseingangs zitierte Wort ohne Zweifel eine religiöse Aussage, ja einfrommes Bekenntnis. Freud selbst war anderer Meinung. Er wollteunter keinen Umständen zugeben, daß sich in seiner eigenen Haltungetwas „Religiöses" manifestieren könne.

„Das Gefühl der menschlichen Kleinheit und Ohnmacht macht nochnicht das Wesen der Religiosität aus, sondern erst der nächste Schritt,die Reaktion darauf, die gegen dies Gefühl eine Abhilfe sucht. Wernicht weiter geht, wer sich demütig mit der geringfügigen Rolle des

1 S.Freud, Gesammelte Werke, London 1952ff., Bd.VIII, S.142f.2 S. Freud/O. Pfister, Briefe 1909-1939, Frankfurt 1963, S. 64.3 Ebd., S. 116.4 So in seiner Antwort an R. Roland, vgl. Ges. W. XIV, S.422.5 Vgl. W. Hellpach, Übersicht über die Religionspsychologie, Leipzig 1939,

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Menschen in der großen Welt bescheidet, der ist vielmehr irreligiös imwahrsten Sinne des Wortes"6.

Abgesehen davon, daß damit die Frage, was Freud wohl unter„Religion" verstand, energisch nach einer Klärung verlangt, zeigt sichdoch hier schon eine der Hauptschwierigkeiten der Freudinterpretationüberhaupt: Die Spannung der Gegensätze, die er bei seinem konsequent dualistischen Ansatz auszuhalten in derLage war; die Spannungder Gegensätze auch, die ihn in späteren Jahren mit größter Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst das Gegenteil von dem aussagen ließ,was er zuvor behauptet hatte. Vielleicht läßt sich tatsächlich keinbesseres Schlüsselwort für dieHaltung Freuds auch zur Religionfindenals das Stichwort, das Bleuler prägte, und das eine zentrale Stelle inFreuds Gedankenwelt einnehmen sollte: der Begriff Ambivalenz7.

Seine eigene Ambivalenz stimulierte immer wieder die Ambivalenzder Interpreten, und im Oktober 1964, zu seinem 25. Todestag,erlebte die deutsche Öffentlichkeit das makabre Schauspiel, daß eineangesehene Wochenzeitschrift sich genötigt sah, gleich zwei Gedenkaufsätze zu veröffentlichen. In dem einen wurde Freuds „gedacht"als in einer Linie stehend mit Robespierre, Mussolini und Hitler.Wegen seiner —später widerrufenen —Forderung nach einer „Diktatur der Vernunft" und seines angeblich militärischen Jargons, mitdem er einmal die psychoanalytische Bewegung als so etwas Ähnlicheswie eine moderne Heilsarmee bezeichnet hatte, wurde ihm „ein beträchtliches Maß an faschistischer Affinität"8 unterstellt. In schönerOffenheit heißt es dann weiter: „Man möchte ihn lieben, und manmöchte ihm im nächsten Augenblick den Rock vom Leib reißen"9. Indem anderen Aufsatz wird Freud als ein Apostel der Liebe gefeiert,der „von der Liebe zur Wahrheit" geführt habe10.

Die Tatsache, daß Freud fünfundzwanzig Jahre nach seinem Todenoch so starkeAffekte zu entfachen vermag, zeugt vonderLebendigkeitseines Werkes. Einesolche lebendige Entwicklung zeigt sich auch in derBewertung und Würdigung, die Freuds Bemühungen um das Phänomen Religion von Seiten einiger —allerdings immer wieder bestürzend und erschreckend weniger —Theologen fand. War zuerst auch

0 Ges. W. XIV, S. 355.7 Vgl. Ges.W. V, S. 99.8 P. R. Hofstätter in: Die Zeit, Nr. 39 vom 25. 9. 1964, S.22.9 P. R. Hofstätter, a. a. O. S.23.10 A. Mitscherlich in: Die Zeit, a. a. O. S. 12.

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die Ablehnung - abgesehen von dem „getreuen Eckehard" OskarPfister —allgemein und fand man nur, daß Freud auf verbrecherischeund dämonische Weise den Glauben auflöse11, so wich diese mit Beschimpfungen und Verleumdungen nicht gerade sparsame Apologetikdoch allmählich einer besonneneren Haltung, die ihre Ablehnungimmerhin sachlich und nicht emotional zu begründen wußte12. In derGegenwart gibt es sogar Stimmen, die sehr energisch bestreiten, „daßReligion und Psychoanalyse logisch unvereinbar"13 seien, wird dieFruchtbarkeit der Freudschen Denkmodelle für die theologische undphilosophische Diskussion anerkannt14, und kann man sogar dieFreudsche Psychologie als „besonders geeignet" bezeichnen, „die psychologischen Kriterien zur Erschließung des relativen Wertes der religiösen Verhaltensformen"15 zur Verfügung zu stellen. Vor wenigen Jahren hat Paul Tillich die Meinung vertreten, daß Freuds Umgestaltungdes intellektuellen Klimas „der größte intellektuelle Beitrag für dieWiederentdeckung des zentralen Evangeliums von der Annahme desSünders"16 gewesen sei.

Die Tatsache, daß vor allem eine ganze Fülle von provozierendenGedanken des späten Freud in der theologischen Diskussion bisherweithin völlig unbekannt und unerwähnt geblieben sind17, läßt esnicht überflüssig erscheinen, noch einmal eine zusammenfassende Darstellung der Freudschen Position im Lichte der theologischen Gegenwartsfragen zu versuchen.

Eines sei jedoch dabei von vornherein völlig klargestellt: es kannund soll bei diesem Versuch keineswegs darum gehen, Freud posthumchristlich „zu vereinnahmen". Freuds bewußte Lebensentscheidung warbis zu seinem Tode ein sehr klares und eindeutiges „Nein" zur Reli-

11 H.Asmussen, Die Seelsorge, München 4. A. 1937, S. 30.12 W. Rorarius, Sigmund Freud und der christliche Glaube, Wege zum

Menschen, 1963, H. 12, S. 442 ff.13 J. Klauber, Freuds Ansichten zur Religion aus der heutigen Sicht, Psyche,

1, 1962, S. 57.14 So Ph. Rieff, The Meaning of History and Religion in Freuds thought,

in: Journal of Religion, Vol. XXXI, Nr. 2, 1951, S.114ff.15 R.S.Lee, Psychology and Worship, London 1955, S.9; vgl. auch R.S.

Lee, Freud and Christianity, London 1951.16 P.Tillich, Der Einfluß der Pastoralpsychologie auf die Theologie in:

Neue Zeitschrift für systematische Theologie, 2. Bd., H. 2, 1960, S. 132.17 Als rühmliche Ausnahme sei die Studie von W.Bernet, Verkündigung

und Wirklichkeit, Tübingen 1961, erwähnt!

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gion, wenn auch seine gefühlsmäßige Einstellung ganz sicher eine ambivalente war und man ihn vielleicht —wie Novalis Spinoza —aucheinen „Gottbesessenen" nennen könnte. Diese persönlicheEntscheidungFreuds sei in Ehrfurcht respektiert. Es ist jedoch nicht einzusehen,warum dieses Nein des Autors nun auch auf ewige Zeiten mit demWerke selbst verbunden bleiben solle. Hat doch Freud nicht nur sei

nem Freund Pfister ohne weiteres zugestanden, die Psychoanalyse inden Dienst der Seelsorge zu stellen, sondern es durchaus auch selbstals eine Zukunftsmöglichkeit angesehen, daß seine eigenen Gedankenzur Stützung und Förderung der Religion benützt werden könnten18.

Es war meines Wissens C. G. Jung, der Freud zum ersten Mal miteinem alttestamentlichen Propheten verglichen hat, der „falsche Götzen stürzt und mitleidlos die Fäulnis der zeitgenössischen Seele amTageslicht ausbreitet"19. In der evangelischen Theologie ist in jüngsterZeit in der Auseinandersetzung mit den soziologischen Veränderungenin der Welt der Ausdruck „Fremdprophetie" geprägt worden, diegegen die Christen aufgestanden sei und deren eigene Sache betriebenhabe20. In diesem Sinne sollten wir uns als Christen durch die Fremdprophetie eines SigmundFreud nachvorn rufen, „provozieren" lassen!

Freuds Stellung zur Religion ist wie sein gesamtes Forscherlebenvielfachen Wandlungen unterworfen gewesen. Es soll im folgendenversucht werden, vier Themenkreise, die in etwa der historischen Entwicklung entsprechen, voneinander abzuheben:

1. Freuds Anschauung von derReligion im Banne des Entwicklungsgedankens,

2. die Auseinandersetzung mit der mythologischen Betrachtungsweise,

3. die Religion als Illusion und die Wirklichkeit,4. die Wahrheit der Religion.

1. FreudsAnschauung von der Religionim Banne des Entwicklungsgedankens

Es ist wahrscheinlich nicht ohne Bedeutung, daß Freud sich demPhänomen der Religion von einer bestimmten Seite seiner klinischen

18 S. Freud/O. Pfister, Briefe, a. a. O., S. 120.19 C. G. Jung, Sigmund Freud als kulturhistorische Erscheinung, in: Wirk

lichkeit der Seele, Zürich 1957, S. 125.20 H. Ringeling, Die Frau zwischen gestern und morgen, Hamburg 1962,

S. 119.

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Erfahrung aus zugewandt hatte: von dem Zeremoniell der Zwangsneurotiker aus. Das höchst eigentümliche Verhalten dieser Kranken,nämlich die Errichtung einesZwangsrituals, dessen ursprünglicher Sinnals eine Abwehr und Schutzmaßregel und als dadurch möglicher Verzicht auf verwerfliche Triebregungen21 vergessen wurde, inspirierteFreud zu einemVergleich mit der Religionsausübung, wie er sie kennengelernt hatte. Auch hier glaubte er, ein Zeremoniell beobachten zukönnen, das eine „Verschiebung des psychischen Wertes"22 erfahrenhat, deren ursprüngliche symbolischeBedeutung dem „gemeinenMann"nicht mehr zugänglich ist, von dem er aber überzeugt ist, dadurchdie Gottheit irgendwie zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Freudbeobachtete außerdem voll heimlicher und uneingestandener Bewunderung, daß die Religion auch in der Lage war, Sexualstrebungen zu„bändigen", indem sie „Sublimierung und feste Verankerung" durchdie Eröffnung sozialer Beziehungen bietet23, vor allem aber eine Gemeinschaft zustande bringt, durch das Gefühl, „daß Christus alle einzelnen der Masse mit der gleichen Liebe liebt"24. Die Feststellungschließlich, daß die Neurosen in dem Maße zunehmen, in dem derallgemeine Einfluß der Religion zurückgeht25, brachte ihn auf dieIdee, daß man beides miteinander vertauschen könne: Wer religiösist, erspart es sich, eine individuelle Neurose zu entwickeln, ergo istdie Religion psychologisch gesehen nichts anderes als eine „universelleZwangsneurose"26. Ihre großartige kompensatorische Leistung desLustverzichts glaubte sich Freud so erklären zu können, daß die Religion ja „ein ungleich höheres Maß von wertvollerer Lust in einemJenseits verspreche"27 und „den Wert des Lebens herabzudrücken unddas Bild der realen Welt wahnhaft zu entstellen"28 versuche.

Forschte Freud nach dem Ursprung der Neurose, so geriet er mitNotwendigkeit immer wieder in die frühe Kindheit. Er lernte denVorgang der Reifung und seine Hemmung, die Regression, verstehen. Mit Hilfe dieses entwicklungsgeschichtlichen Schemas glaubte

21 Ges. W. VII, S. 136 ff.22 Ebd., S. 138.28 Ges.W. XII, S.150.24 Ges.W. XIII, S. 102.25 Ges.W. VIII, S.109.26 Ges.W. VII, S. 139.27 Ges.W. VIII, S.236, Totem und Tabu S.365.28 Ges.W. XIV, S.443.

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er, zunächst auch die Entwicklung der Religion verstehen zu könnenals eine „regressive Erneuerung der infantilen Schutzmächte"29, diedem Menschen vor allem helfen sollen, mit dem offenbar mit demMenschsein gegebenen rätselhaften Schuldbewußtsein fertig zu werden.Der persönliche Gott ist also „psychologisch nichts anderes als einerhöhter Vater"30, und die von den Erziehungsmächten künstlichaufgerichtete „religiöse Denkhemmung"31 sorgt dafür, daß der Gläubige in dem unmündigen und infantilen Stadium verharrt. Ähnlichwie Schleiermacher das religiöse Grundphänomen im „Gefühl derschlechthinnigen Abhängigkeit" sah, glaubte Freud: „bis zum Gefühlder kindlichen Hilflosigkeit kann man den Ursprung der religiösenEinstellung in klaren Umrissen verfolgen"32. Das also, „was der gemeine Mann unter Religion versteht"33 - und nur damit will Freudsich auseinandersetzen -, bietet gewaltige Vorteile: „Sie gibt Aufschluß über Herkunft und Entstehung der Welt, sie versichert Schutzund endliches Glück in den Wechselfällen des Lebens, und sie lenktGesinnungen und Handlungen durch Vorschriften"34.

Auf eine solche unreife, unrealistische und unheroische Lebenseinstellung kann Freud nur in Verachtung herabsehen. Sie ist ein Zustand, der überwunden werden muß. „Ich versuchte dies zunächst ander eigenen Person, dann an anderen und endlich im kühnen Übergriff auch am Menschengeschlecht im Ganzen"35. Und ganz im Banneder Lehre Darwins, die ihn zu Zeiten „mächtig anzog"36, wird dasLeitmotiv „Entwicklung" und „Anstieg von der animistischen überdie religiöse zur wissenschaftlichen"37 Stufe. Das Agens in diesemProzeß heißt „Vernunft", denn „auf die Dauer kann der Vernunftund Erfahrung nichts widerstehen"38. „Es gibt keine Instanz über dieVernunft"39 und: „Es ist unsere beste Zukunftshoffnung, daß dieVernunft mit der Zeit die Diktatur im menschlichen Seelenleben er-

29 Ges.W. VIII, S.195.30 Ebd.

31 Ges.W. VIII, S. 147.32 Ges.W. XIV, S.430, XV, S. 175.33 Ges.W. XIV, S.431.34 Ges.W. XV, S. 174.35 Ges.W. XVI, S.250.36 Ges.W. XIV, S.34.37 Ges.W. VIII, S.416.38 Ges.W. XIV, S. 378.39 Ges.W. XIV, S.350.

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ringen wird"40. Eine andere Hoffnung als die einer „Entwicklung derMenschheit zur verständigen Resignation"41 hatte diese Anschauungfreilich nicht zu bieten, und wie trügerisch diese Hoffnung war, hatFreud später unumwunden selbst zugegeben. Seine Konzeption vonder vernunftgemäßen Entwicklungsgeschichte der Menschheit sah eraber zunächst an einer anderen Stelle durchlöchert. Das zwang ihnzu einer Auseinandersetzung mit der Mythologie.

2. Die Auseinandersetzung mit der mythologischen Betrachtungsweise

Die Gleichsetzung von Zwangsneurose und Religionsübung ließFreud nach deren Vorstufen forschen, und er fand überraschendeParallelen zur Klinik der Neurosen bei den Totem- und Tabuvorstellungen der Primitiven. Er gerät auf ein Gebiet, das zunächst füreinen Psychiater höchst befremdlich wirken muß. Durch Zufall bekommt er ein literarisches Dokument einer mittelalterlichen Teufelsverschreibung in die Hand und macht an ihr eine höchst folgenschwere Entdeckung, die er in die lapidare Formel faßt: „Die dämo-nologische Theorie jener dunklen Zeiten hat gegen alle somatischenAuffassungen der ,exakten' Wissenschaftsperiode recht behalten"42.Das hieß jedoch nicht mehr und nicht weniger, als daß die Psychoanalyse zur legitimen Nachfolgerin der alten Dämonologie und Mythologie geworden war. Freud versuchte die Gleichung Mythologie= Tiefenpsychologie, und siehe da, die Rechnung ging auf. In derPsychoanalyse wurde tatsächlich mit Dämonen gerungen, die hypo-stasierten Begriffe der Trieblehre wurden wie böse Geister behandelt.„Die Trieblehre ist sozusagen unsere Mythologie"43, und „Die Mythologie hat sich in Psychologie umgesetzt". Schließlich konnte Freud sogar auf die Idee kommen, zwischen Naturwissenschaft und Mythologie bestehe eine Art Kreislauf, under schreibt an Einstein: „Vielleichthaben Sie den Eindruck, unsere Theorien seien eine Art von Mythologie. .. Aber läuft nicht jede Naturwissenschaft auf eine solche Artvon Mythologie hinaus? Geht es Ihnen heute in der Physik anders?"44

40 Ges.W. XV, S. 185.41 Ges.W. XIII, S.424.42 Ges.W. XIII, S. 317.43 Ges.W. XV, S. 101.44 Ges.W. XVI, S.22.

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Die Entdeckung der Bedeutung der Mythologie drängt jedoch Freudsgesamte Forschertätigkeit in eine neue Richtung. Er erkennt, daß dieMythen „eine Deutung zulassen wie der Traum"45, und damit wirdder Weg freigelegt zu einem sehr tiefen Verständnis des Mythosüberhaupt. Er setzt seine Freundschaft mit Wilhelm Fliess aufs Spiel,dem diese Welt fernlag, und macht sich an die Bearbeitung des Mythosmit wissenschaftlichen Mitteln. Daß die Trieblehre hinfort weiter

streng dualistisch auf- und ausgebaut wird46, hat sicher etwas mit demGegensatz von Göttern und Dämonen zu tun, mit dem sich Freud nunbeschäftigt47. Gut und böse bleibt auch bei dem vergeblichen Versuch, wissenschaftlich wertfrei zu denken, das bestimmende Koordinatensystem, und Freud hört sein ganzes Leben lang nicht auf, die Triebebeharrlich „böse" zu nennen, wie er auch sein ganzes Leben lang einMoralist bleibt. Mit Recht kann er allen Verleumdern, die ihn desLibertinismus bezichtigen, entgegenhalten, „die Psychoanalyse hat janiemals der Entfesselung unserer gemeinschädlichen Triebe das Wortgeredet; im Gegenteil gewarnt und zur Besserung geraten"48.

Das Wort Vernunft tritt nun merklich zurück, und Freud erkenntseine früheren Hoffnungen als Utopien. „Der Primat des Intellektesliegt gewiß in weiter, weiter Ferne"49, aber noch immer hält er die„Wissenschaft für den einzigen Weg, der zur Kenntnis der Realitätaußer uns führen kann"50. Wenig später aber faßt er die Möglichkeitins Auge, daß sich diese Überzeugung, die er ausdrücklich als Glaubebezeichnet, nämlich, „daß es der wissenschaftlichen Arbeit möglich ist,etwas über die Realität der Welt zu erfahren, wodurch wir unsereMacht steigern und wonach wir unser Leben einrichten können"51,auch eines Tages als Illusion erweisen könnte. Seine Beschäftigung mitder Mythologie scheint ihm überhaupt ein neues Verhältnis zur Wissenschaft eingebracht zu haben. Von einem bestimmten Punkt anmeint er, sich nicht mehr an die strengen Regeln der Empirie haltenzu müssen, sondern seiner „Neigung zur Spekulation freien Lauf"52

45 Ges.W. XIII, S.424.46 Ges.W. XIV, S.105.47 Ges.W. XIII, S.318, 331.48 Ges.W. XIV, S.106.49 Ges.W. XIV, S.377.50 Ges. W. XIV, S. 354.51 Ges.W. XIV, S.379.52 Ges.W. XIV, S.84.

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lassen zu dürfen. An Pfister schreibt er zur gleichen Zeit: „Phantasieren und Arbeiten fällt für mich zusammen, ich amüsiere mich beinichts anderem"53.

Spekulation und Phantasie finden wir nun in der Tat in der wissenschaftlichen Arbeit am Mythos. Freud ist nicht so kurzsichtig, daßer meint, den Mythos kurzerhand eliminieren oder auch nur interpretieren zu können. Es ist sein bleibendes Verdienst, das wir nichtgering veranschlagen dürfen, mit großem Scharfsinn erkannt zu haben,daß im Mythos etwas verborgen ist, was —um einen Ausdruck Bon-hoeffers zu benützen — „mitten in unserem Leben jenseitig"54 ist.Dieser Tatsache ist die verpflichtende Wirkungsmacht des Mythos zuzuschreiben, die Freud immer wieder aufs höchste verwundert. Dabei

bleibt er aber nun nicht stehen, sondern er glaubt, diese verpflichtendeTranszendenz im Mythos noch näher bestimmen zu können, nämlichals historische Transzendenz. Er verlegt das, was für die Gegenwartbestimmend und prägend ist, in die Vergangenheit, genauer: in dieUrgeschichte. Damit gewinnt er aber ein höchst eigenartiges undbezeichnendes Verhältnis zur Geschichte, wie es nur im antiken Griechentum sein Vorbild hat: Die Geschichte wird zyklisch interpretiert,sie wird zur Wiederkehr des Verdrängten, das Leben steht unter demGesetz des Wiederholungszwanges. Damit ist der zielgerichtete Fortschritts- und Entwicklungsgedanke der Frühzeit aufgegeben, und dasmenschliche Leben bewegt sich nur noch kreisförmig um das seineExistenz am stärksten bestimmende Phänomen der Schuld, das aufeine prähistorische Bluttat zurückzuführen ist. Warum Freud aus demreichen mythologischen Material, das traditionell gegeben war, geradedas griechische ödipusmotiv herausgriff (und nicht etwa das biblischeMotiv des Brudermordes), um damit in Anlehnung an Darwin eineneigenen Mythos vom Vatermord in der Urhorde zu schaffen, magseine biographischen Gründe haben, wie den rezenten Tod des Vaters!Die Lösung dieser Frage trägt aber zur eigentlichen Problematikwenig bei.

Freud war ausgezogen, um die übersinnliche Realität der mythologischen Religion in Psychologie des Unbewußten zurückzuverwandeln,um die „Metaphysik in Metapsychologie umzusetzen"55. Er endete in

53 Briefwechsel Freud/Pfister, a.a.O., S.32.54 D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, München 1964, S. 182.55 S.Freud, Zur Psychopathologie des Alltagslebens, Fischer-Bücherei,

Frankfurt 1960, S. 217.

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„Totem und Tabu" bei der ebenso übersinnlichen Realität eines prähistorischen Mythos, die ihmeine Erklärung dafür liefern soll, warumdie Sohnesreligion die Vaterreligion ablöst56.

Offensichtlich befriedigte diese Antwort ihn jedoch noch nicht, denner versuchte zunächst einen dritten Ansatz zum Verständnis der Religion, und zwar von seinem bereits seit der Traumdeutung zentralenBegriff der Wunscherfüllung aus.

4. Die Religion als Illusion

Obwohl die Beschäftigung mit der Mythologie bereits ein neuesVerhältnis zur Geschichte in Freuds Gedanken anbahnte, das dasfortschrittsoptimistische Entwicklungsdenken sprengt, geht seine bekannteste Deutung der Religion noch einmal von der Gleichsetzungaus: religiöse Phase = Kindheitsphase der Menschheitsgeschichte. Wiein der individuellen Entwicklung während der Kindheit das Lustprinzip dominiert, das heißt, das Verfangensein in Wünsche, so muß sichauch die religiöse Phase durch die Stärke ihrer „infantilen" Wünscheauszeichnen. Die Lehrsätze der Religion stellen also die „Erfüllungender ältesten, stärksten, dringendsten Wünsche der Menschheit"57 dar.Diese aber nennt Freud Illusionen. Was meint er aber nun mit Illusion? Zunächst ist damit der Gegensatz zu den „Niederschlägen derErfahrung" und den „Endresultaten des Denkens" zum Ausdruck gebracht. „Eine Illusion ist nicht dasselbe wie ein Irrtum, sie ist auchnicht notwendig ein Irrtum." Für sie „bleibt charakteristisch die Ableitung aus menschlichen Wünschen". Dabei muß sie aber „nicht notwendig falsch, das heißt unrealisierbar oder in Widerspruch mit derRealität sein"58. Freud erkennt sehr deutlich: „So wie sie (die Sätzeder Religion) unbeweisbar sind, sind sie auch unwiderlegbar. Manweiß noch zu wenig, um ihnen kritisch näher zu rücken"59.

Was Freud so stört, ist die Tatsache, daß im Reich der Religion„alles so ist, wie wir es uns wünschen"60. Sie stellt nach seiner Meinung

56 S.Freud, Totem und Tabu, S. 170f.57 Ges. W. XIV, S. 352.58 Ebd., S.353.59 Ebd., S.354.60 Ebd., S. 356.

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den Versuch dar, „die Sinneswelt, in die wir gestellt sind, mittels derWunschwelt zu bewältigen"61. Aber, so ruft Freud: „Der Mensch kannnicht ewig Kind bleiben!"62 „Die Erfahrung lehrt uns: Die Welt istkeine Kinderstube"63; „die Erziehung zur Realität"64 erscheint ihmim Einzelleben wie im Leben der Menschheit als die vordringlichsteAufgabe, das heißt aber, daß sich die „Abwendung von der Religionmit der schicksalsmäßigen Unerbittlichkeit eines Wachstumsvorganges"65 vollziehen wird. Um die Realität, um die Wirklichkeit —Ballyhat diesen Begriff einmal als einen Schlüsselbegriff in Freuds Denkenbezeichnet66 —geht es Freud nun in der Zukunft. Im Grunde sucht erwohl nur nach einer reiferen Form der Religion, die sich nicht alsRealitätsflucht auswirken kann, sondern der Wirklichkeit gerechtwird. Nach seinem eigenen Bekenntnis tritt neben den Gott logosseiner Jugendjahre anangke, die Unerbittlichkeit der Wirklichkeit67.Um dieser Wirklichkeit standzuhalten, muß man allerdings reif geworden sein, denn hier weht eine eisige Luft: „Die Absicht, daßder Mensch glücklich sei, ist im Plan der Schöpfung nicht vorgesehen"68. Auch die „außerordentlichen Fortschritte in den Naturwissenschaften . . . haben ... das Maß von Lustbefriedigung ... nicht erhöht"und den Menschen „nicht glücklicher gemacht"69. Viel Grund zu Illusionen über das Wesen des Menschen hatte der alternde Freud ja auchin der Tat gewiß nicht. Er erkennt, daß seine einstige Hoffnung dochsehr trügerisch war: „Der ideale Zustand wäre eine Gemeinschaft vonMenschen, die ihr Triebleben der Diktatur der Vernunft unterworfenhaben ... aber das ist höchstwahrscheinlich eine utopischeHoffnung"70;denn rein vernünftige Motive richten auch beim heutigen Menschengegen leidenschaftliche Antriebe wenig aus"71. Demgegenüber fühlt ersich jetzt, nach der Einführung des Todestriebes, in einer gewissen

61 Ges.W. XV, S. 181.62 Ges.W. XIV, S.373.63 Ges.W. XV, S. 181.64 Ges.W. XIV, S.373.65 Ebd., S.367.66 G. Bally, Einführung in die Psychoanalyse Sigmund Freuds, Hamburg

1961, S. 132 und 211.67 Ges.W. XIV, S. 378, Briefwechsel Pfister/Freud, S. 89.68 Ges.W. XIV, S.434.69 Ebd., S. 446.70 Ges.W. XVI, S.24.71 Ges.W. XIV, S.365.

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prophetischen Beharrlichkeit dazu genötigt, „die angeborene Neigungdes Menschen zum Bösen", zur „Aggression, Destruktion und damitauch zur Grausamkeit"72 herauszustellen, auch wenn es die „liebenKindlein" nicht gerne hören! Über die wohltönenden humanitärenPhrasen, mit denen viele Zeitgenossen das Leben bewältigen, gießt erdie Schale seines bitteren Spottes aus: „Der Mensch ist sozusageneine Art Prothesengott geworden, recht großartig, wenn er alle seineHilfsorgane anlegt, aber sie sind nicht mit ihm verwachsen undmachen ihm gelegentlich noch viel zu schaffen"73. Die Quintessenzbleibt: „Dunkle, fühllose und lieblose Mächte bestimmen das menschliche Schicksal"74.

Und doch klingt gerade in dieser Phase der äußersten Resignationund des Pessimismus bei Freud ein Ton an, den man nicht leicht beiihm vermutet, den die Freud-Kritiker oftmals nicht wahrhaben wollen, und der auch erst seit Veröffentlichung des Briefwechsels rechtdeutlich und greifbar geworden ist. Es ist das Stichwort Liebe. Bei derAuseinandersetzung mit der Wirklichkeit, bei der, wie es Freud nennt,„Verteidigung gegen die gefürchtete Außenwelt" faßt er drei Möglichkeiten ins Auge: Man kann „irgendeine Art der Abwendung" versuchen und damit allerdings in den Mechanismus der Neurose geraten.Der bessere Weg sei der, „daß man mit Hilfe der von der Wissenschaft geleisteten Technik zum Angriff auf die Natur übergeht und siemenschlichem Wollen unterwirft"75. Aber darüber hinaus faßt Freud

nun noch eine dritte Möglichkeit insAuge: „Jene Richtung des Lebens,welche die Liebe zum Mittelpunkt nimmt"76. Freud hält diese „aufden Glückswert der Liebe gegründete Lebenstechnik" für so bedeutsam, daß er meint, darüber sei noch viel mehr zu sagen77, und in derTat wird das Thema hinfort in seinen Werken und Äußerungen nichtmehr verschwinden. Seine stärkste Kritik an einem früheren Schüler

gipfelt darin: „Er vergißt das Wort des Apostels Paulus ,...Und hättetIhr der Liebe nicht'. Er hat sich ein Weltsystem ohne Liebe geschaf-len"78. Zwar hat man oft den Eindruck, es sei ihm peinlich, sich zur

72 Ges.W. XIV, S.479.73 Ebd., S. 451.74 Ges.W. XV, S. 180.75 Ges.W. XIV, S.435.76 Ges.W. XIV, 440f.77 Ebd., S. 441.78 Briefwechsel Pfister/Freud, a. a. O., S. 47.

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Liebe zu bekennen, weil ihn das in den Geruch von Sentimentalitätund Schwärmerei bringen könnte. So macht er den abenteuerlichenVersuch, die Liebe als zweckmäßig darzustellen. „Der Menschenliebehing ich selbst an .. . weil ich sie ... für die Erhaltung der Menschenart für ebenso unerläßlich erklären mußte wie etwa die Technik"79.

So muß es als eine große Aufgabe zur Erhaltung des Friedens angesehen werden, alles zu fördern, „was Gefühlsbindungen unter denMenschen herstellt"80. Die gesamte Kulturentwicklung erfährt nundurch Freud eine neue Interpretation. Ihr Sinn ist nicht mehr diekontinuierliche Aufwärtsentwicklung, sondern der „Kampf zwischenEros und Tod, Leben und Destruktionstrieb"81, der „der wesentlicheInhalt des Lebens überhaupt" sei. Für Freud wird die Liebe zu einemvon der Wissenschaft „ganz unabhängigen Lebensziel"82. In diesemKampf weiß sich Freud mit seinem Lebenswerk eingeordnet, das erauch unter dem Stichwort „Heilung durch Liebe"83 versteht. „Ichhabe, wie sie zugeben, viel für die Liebe getan"84. Kultur „sei einProzeß im Dienste des Eros, der vereinzelte menschliche Individuen...zu einer großen Einheit, der Menschheit, zusammenfassen wolle. Warum das geschehen müsse, wissen wir nicht"85.

So bleibt die Liebe für Freud doch letztlich ein tiefes Rätsel. Sie

ist es ihm auch im eigenen Leben: „Wenn ich mich frage, warum ichimmer gestrebt habe, ehrlich, für den anderen schonungsbereit undwomöglich gütig zu sein und warum ich es nicht aufgegeben, als ichmerkte, daß man dadurch zu Schaden kommt, dann weiß ich allerdings keine Antwort"86. Es scheint mir diese Unruhe über dasRätsel im eigenen Inneren zu sein, die Freud im hohen Alter zumvierten Male zur Auseinandersetzung mit der Religion zwang. Diesmal glaubte er den „Wahrheitskern" der Religion gefunden zuhaben.

79 Ges.W. XIV, S.553.80 Ges.W. XVI, S.23.81 Ges.W. XIV, S.481.82 E.Jones, Das Leben und Werk von Sigmund Freud, Bern 1962, II, S.521.83 E.Jones, Bd.II, S.509.84 Briefwechsel Pfister/Freud, a. a. O., S.33.85 Ges.W. XIV, S.481.86 E. Jones, Bd. II, S.489.

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4. Die Wahrheit der Religion

Freud war sich eigentlich von vornherein darüber im klaren, daßer mit dem Stichwort „Illusion" dem Wesen der Religion in keinerWeise gerecht geworden war. Sein Buch „Die Zukunft einer Illusion"war ihm deshalb nie sonderlich wertvoll erschienen. Vor allem in

der Auseinandersetzung mit Karl Marx sieht er, „welchen Frevel ander großartigen Mannigfaltigkeit des Menschenlebens man begeht,wenn man nur Motive aus materiellen Bedürfnissen anerkennt"87.

Aber auch schon im Oktober 1927 schrieb er an Ferenczy: „Jetztkommt es mir bereits kindisch vor; im Grunde denke ich anders.Analytisch halte ich es für schwach und als Selbstbekenntnis unpassend"88. In der neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung in diePsychoanalyse urteilt er noch offener über seine Verfahrensweise mitder Religion: „Ich habe mir sozusagen ein Phantom geschaffen zumZweck einer beschleunigten, möglichst eindrucksvollen Demonstration"89. Aber auch schon in der „Zukunft einer Illusion" selbst ist ihm

klar, daß die Begründung der Religion auf dem Wunschdenken alleinungenügend ist. Er fügt bereits hier schon eine zweite Säule hinzu,die später erheblich ausgebaut wird: „Wir bemerken jetzt, daß derSchatz der religiösen Vorstellungen nicht allein Wunscherfüllungenenthält, sondern auch bedeutsame historische Reminiszenzen". „Diereligiöse Lehre teilt uns also die historische Wahrheit mit"90. Es erinnert fast an die moderne theologische Diskussion, wenn Freudweiter feststellen kann: „Die Wahrheiten, welche die religiösen Lehrenenthalten, sind so entstellt und verkleidet, daß die Masse der Menschen sie nicht als Wahrheit erkennen kann"91. Er sieht sich deshalb

genötigt, mit einem doppelten Wahrheitsbegriff zu operieren. SeinVorschlag an die Vertreter der Religion ist: Warum sagt die Religionnicht offen, „daß ich euch das nicht geben kann, was man gemeinhinWahrheit nennt; dafür müßt Ihr euch an die Wissenschaft halten,aber was ich zu geben habe, ist ungleich schöner, trostreicher underhebender als alles, was Ihr von der Wissenschaft bekommen könnt.Und darum sage ich Euch, es ist wahr in einem anderen, höheren

87 Ges.W. XVI, S. 154.88 E.Jones, Bd. III, S. 168.89 Ges.W. XV, S.182.80 Ges.W. XIV, S.366.91 Ebd., S.368.

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Sinn"92. Wenn dieser Rat Freuds beherzigt würde, könnte ja auch dasvöllig unfruchtbare Gegeneinander von Glauben und Wissenschaftvermieden werden, das den Glauben gezwungen hat, seine Wahrheit„Stück um Stück in kläglichen Rückzugsgefechten zu verteidigen"93.Um diese „Wahrheit in einem höheren Sinne" geht es nun im Besonderen in Freuds Denken. Er kann sich nicht damit zufrieden geben,eine solche Wahrheit lediglich anzuerkennen und ihre Macht festzustellen, sondern er sucht sie noch genauer zu bestimmen und glaubt,daß ihm das mit der Bezeichnung „historische Wahrheit" gelungensei („Die Großartigkeit der Einsicht, daß der Religion historischeWahrheit zukommt, fasziniert mich noch immer"94). Diesem historischen Wahrheitsgehalt der Religion schreibt Freud nun ihre eigentliche Macht zu95, die dadurch zustande kommt,daß die religiösen Phänomene „als Wiederkehren von längst vergessenen bedeutsamen Vorgängen in der Urgeschichte"96 angesehen werden müssen. Daraus folgt,„daß das Menschengeschlecht eine Vorgeschichte hat, und da dieseunbekannt, das heißt vergessen ist, hat ein solcher Schluß beinahedas Gewicht eines Postulates"97.

Der entscheidende Satz über die Religion heißt also: „Sofern siedie Wiederkehr des Vergangenen bringt, muß man sie Wahrheitheißen"98. Ob sich Freud bewußt war, daß ihm damit über Jahrhunderte von Aristoteles bestimmter Metaphysik hinweg eine Anknüpfung an Plato gelang? (auf den er sich meines Wissens nur ein einzigesMal beruft99). Er überträgt also das, „was den Menschen unbedingtangeht" (Tillich), aus dem statischen Dasein einer Seinsmetaphysik indie dynamischen Kategorien einer Geschichtsmetaphysik — in einhistorisches Jenseits, die Urgeschichte.

Dergestalt gerüstet, wandte sich Freud nun in seinen letzten Lebensjahren der Urgeschichte seines eigenen Volkes in der Gestalt des Moseszu, die ihn praktisch seit 1911 in ihren Bann gezogen hatte100. Die

92 Ges.W. XV, S.186.93 Ges.W. XIV, S.431.94 E. Jones, Bd. III, S. 257.95 Ges.W. XVI, S.33.06 Ebd., S. 160.97 Ebd., S.186.88 Ebd., S.239.99 Ges.W. XIV, S.49.100 A.A.Brill, Freud's Contribution to Psychiatry, New York 1944, S. 192.

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Moses-Geschichte soll ihm Aufklärung verschaffen über die Frage, wiees denn als einzigem Fall in der Geschichte der menschlichenReligionenim Volke Israel zu der befremdlichen Vorstellung kommen konnte,„daß ein Gott sich mit einem Male ein Volk auserwählt, es zu seinemVolk und sich zu seinem Gott erklärt"101. Zwei Grundgedanken sindes, auf die sich die mit großem Scharfsinn und erheblichem exegetischem Aufwand vorgetragenen Mose-Theorien Freuds reduzierenlassen:

1. Mose war ein vornehmer Ägypter, dessen Heldenleben damit beginnt, „daß er von seiner Höhe herabstieg, sich herabließ zu den Kindern Israels"102, um sie auf den Monotheismus zu verpflichten und ausder Knechtschaft herauszuführen.

2. Das widerspenstige Volk erschlug seinen Führer und ist seitherunbewußt mit dem Stigma des Vatermordes behaftet103.

Auf dieser Grundlage konnte sich alsbald die Religion der Sühnefür diese Untat, das stellvertretende Opfer des Sohnes entfalten.

Für Freud blieb noch die Frage zu klären, wie denn nun im Laufeder Menschheitsgeschichte als „einer Wiederkehr des Verdrängten" dieWirkungsmacht der Urgeschichte von Geschlecht zu Geschlecht vonstatten gehen könne, und er entschließt sich endlich zu der Annahme,„daß die psychischen Niederschläge jener Urzeiten Erbgut gewordenwaren, in jeder neuen Generation nur der Erweckung, nicht der Erwerbung bedürftig"104. Und so schließt denn der Kreis dieser Überlegungen mit einem Zugeständnis an den großen Widersacher C. G. Jung:„Der Inhalt des Unbewußten ist ja überhaupt kollektiv, allgemeinerBesitz der Menschen"105.

Wir hatten eingangs behauptet, die Freudschen Gedankengängeseien auch heute noch in der Lage, denjenigen, der sich um Neuformulierung und Neuinterpretation des christlichen Glaubens in unsererZeit bemühe, in einer Art Fremdprophetie zu provozieren. Es seienzum Schluß nun einige wenige Hinweise auf diejenigen Punktegegeben, an denen mir das in ganz besonderer Weise der Fall zu seinscheint:

101 Ges.W. XVI, S.146.102 Ebd., S. 112.103 preucj stützt sich dabei auf eine Bemerkung von Goethe und Forschun

gen von E. Seilin, vgl. Ges.W. XVI, S. 135f. u. 196.104 Ges.W. XVI, S.241.105 Ebd.

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1. Das Bild, das Freud vor allem in der ersten und in der drittenPhase von der Religion entwirft, wird manchem Theologen sicher mitRecht weithin als Karikatur vorkommen. Aber man sollte doch bedenken, daß ja Freud sein Bild von dem religiösen Leben nicht vollerBöswilligkeit erfunden hat, sondern in seiner Umwelt verwirklichtsah. Religion als Wunschdenken, als Versicherungsanstalt gegen dieWechselfälle des Daseins, als Wirklichkeitsflucht und kompensatorischeHoffnung auf jenseitige Belohnung für diesseitiges Wohlverhalten —dies alles wird man nicht als längst überwundene Kindheitsstadiendes christlichen Glaubens bezeichnen dürfen, sondern wir sollten unsvon Freud sagen lassen, daß jede einmal erreichte Reifungsstufe —auch im Glaubensleben — von der Regression bedroht ist, die vielleicht gerade dann am stärksten zu spüren ist, wenn in der Theologieso viel vom mündig gewordenen Christen die Rede ist. Freud hat„weder Gott ins Herz getroffen, noch die Religion zum alten Eisengeworfen", wie Ludwig Marcuse106 richtig bemerkt. Er hat aber einfür alle Mal ein Warnungszeichen vor der Rückkehr zu eineminfantilen Stadium des Glaubenslebens aufgerichtet. Es sieht so aus,als ob wir eine solche Warnung gerade gegenwärtig dringend nötighätten. In den USA wird heute viel davon gesprochen, daß man soetwas wie eine religiöseErweckung, ein „revival", erlebe. Eine Erwek-kung allerdings, in der es nicht um die Wahrheitsfrage oder um dieEntscheidung des Menschen geht, sondern um eine Religiosität alsSelbstzweck, „die ganz formal, harmlos und irgendwie gesund" sei107,mit anderen Worten um eine Religiosität, deren Unterhaltungswert,deren „value for entertainment" erkannt wurde, eine Religion alsKonsumgut. Wenn wir auch noch keine solchen Stars wie FoultonSheen oder Norman Vincent Peale zur Verfügung haben, so sieht esdoch sehr danach aus, als ob eine solche Woge der „Religion ohneEntscheidung" auch auf uns zukomme. Regression entsteht immerdurch Überforderung, und wir Theologen sollten uns mit ganzemErnst fragen, ob nicht die Ausgestaltung unserer Theologie weithinfür den „gemeinen Mann" eine solche Überforderung darstellt, aufdie er mit der Regression einer infantilen Religiosität antwortet.

2. Es gibt sehr viele Anzeichen dafür, daß in beiden großen christlichen Konfessionen die vordringliche theologische Aufgabe darin

106 L. Marcuse, Sigmund Freud, Hamburg 1956, S.71.107 G.Vahanian, The Death of God, New York 1961, S.50.

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gesehen wird, den christlichen Glauben aus ihm selbst fremden philosophischen oder organisatorischen Verklammerungen zu lösen. ImBereich der evangelischen Theologie, für die allein ich hier sprechenkann, scheint dieses Bemühen vor allem 7.u einer Auseinandersetzungmit der Metaphysik geführt zu haben, einer Weltsicht also, die vonBultmann als „mythologisch", von Tillich als „supranaturalistisch"und von Bonhoeffer als „religiös" bezeichnet wird. Der anglikanischeBischof J.A.T. Robinson hat die Bestrebungen dieser drei Theologenaufgegriffen und sucht in seiner Kampfschrift „Honest to God"108nach einer Neuinterpretation des christlichen Glaubens, die ohnemythologische, supranaturalistische und religiöse Weltsicht auskommt.Die größte Schwierigkeit eines solchen Unternehmens besteht nun meiner Meinung nach darin, daß die theologischen Methoden bis heuteimmer noch im Banne einer ganz bestimmten Großtat der Geistesgeschichte stehen, die sich heute jedoch als verhängnisvoll auszuwirken droht: der festen Verknüpfung der philosophischen Grundposition des Aristoteles mit der christlichen Tradition durch Thomasvon Aquin. Viele Jahrhunderte lang war damit für abendländischesDenken das Metaphysische das Alleinwirkliche und Verbindliche geworden. Dies ist heute aber weder im wissenschaftlichen Denken noch

im Denken des gemeinen Mannes mehr der Fall. Die entscheidendeFrage des christlichen Glaubens, wie ein geschichtliches Ereignis verpflichtende Kraft für die Gegenwart haben kann, stellt sich neu. Mansollte den Mut haben, sie einmal im Lichte der Freudschen Geschichtsmetaphysik, im Lichte der „Lehre von der Wiederkehr des Verdrängten" und der Verbindung von Vergangenheit und Zukunft neudurchzudenken!

3. An einem weiteren Punkt hat sichFreud als weitsichtiger erwiesenals die Hirten und Lehrer der Kirche: Er hat sich sehr ernsthaft

Gedanken darüber gemacht, was denn aus der öffentlichen Moralwerden solle, wenn die religiöse Verpflichtung, mit der diese Moraljahrhundertelang begründet worden war, keine Allgemeingültigkeitmehr beanspruchen könne. So hat er denn beizeiten „die Ersetzungder religiösen Motive für kulturelles Benehmen durch andere, weltliche" gefordert109. Aber er predigte tauben Ohren. Er wurde höchstens noch der Unmoral geziehen, denn dieser Fall war in der christ-

108 J. A. T. Robinson, Gott ist anders, München 1963.109 Ges.W. XIV, S.362.

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liehen Ethik nicht vorgesehen. Heute ernten wir die Früchte, die ausdiesem Versäumnis erwachsen sind. Vielleicht sähe auf dem Gebieteder Sexualmoral tatsächlichvieles anders aus, wenn sich die christlichenKirchen beizeiten dazu entschlossen hätten, das, was hier zu fordernist, nicht mehr metaphysisch, sondern innerweltlich, sachlich zu begründen, wie es etwa in vorbildhafter Weise Theodor Bovet mitseiner um ihres ursprünglichen Ursprunges willen etwas anrüchigenFormulierung getan hat: Gut ist, was der künftigen Ehe nützt.

Getreu seinem Vorbild Moses hat sich Freud auch auf ethischem

Gebiet in die prophetische Rolle hineingelebt, das heißt, er war indemselben Maße revolutionär wie er Traditionalist110 war. Seine Auf

gabe sah er darin, zu provozieren und zugleich zurückzurufen. Zurückzurufen vor allen Dingen zu der Macht der Liebe, auf die wirChristen meinten, ein Monopol zu haben und die Freud doch in sogroßartiger und aktueller Weise, unter anderem auch in den letztenSätzen seines „Unbehagens in der Kultur", beschworen hat: „DieSchicksalsfrage der Menschenart scheint mir zu sein,ob und in welchemMaße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung desZusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden. Die Menschen haben es jetzt in derBeherrschung der Naturkräfte soweit gebracht, daß sie es mit derenHilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten.Sie wissen das, daher ein gut Stück ihrer Unruhe, ihres Unglückes,ihrer Angststimmung. Und nun ist zu erwarten, daß die andere derbeiden ,himmlischen Mächte', der ewige Eros, eine Anstrengungmachen wird, um sich im Kampf mit seinem ebenso unsterblichenGegner zu behaupten. Aber wer kann den Erfolg und Ausgang voraussehen?"111

110 vgl. P.Rieff, a. a. O., S. 121.1,1 Ges.W. XIV, S.506.

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CG. JUNG UND DIE RELIGION

von Josef Rudin

„Niemand kann auf Befehl die Religion niederschreiben, die erwirklich hat." Wer aber darf die Aufgabe auf sich nehmen, über dieReligion eines andern, eines bedeutenden Menschen zu sprechen?

Es besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen klar formuliertenGlaubensüberzeugungen und Dogmen einer religiösen Gemeinschaftoder Konfession und jener Religiosität, die von den Gliedern einerGemeinschaft existentiell gelebt wird. —Wir erfahren gerade in derPsychotherapie diesen entscheidenden Unterschied zwischen fixiertemund gelebtem Dogma. C. G. Jung hat nicht allein durch die Erfahrungen seines Elternhauses, des Pfarrhauses zu Laufen, sondern ebensosehr durch die Erlebnisse in seinem psychiatrischen Beruf diesen Unterschied in eindrücklicher Weise kennen gelernt: „Man kann einen durchaus richtigen Begriff von Gott haben, ohne daß man einen Begriff vonGott hat" (F. Leist). Nur von diesem Unterschied her ist es möglich,die Aussagen Jungs über Religion, Gott und Christus einsichtig zumachen und zu würdigen.

Meine Ausführungen gliedern sich demnach in zwei Hauptteile:1. Die Voraussetzungen, die Jungs Grundhaltungen zu Welt, Leben

und Gott ganz allgemein bestimmen.2. Die Stellungnahmen, die Jung ausdrücklich im religiösen Fragen

komplex bezogen hat.

1. Die Voraussetzungen

Wenn wir von Voraussetzungen, die Jungs Grundhaltungen bestimmen, sprechen, dann meinen wir jene persönlichen a prioris, jene subjektiven Faktoren, die sein Werk ebenso wie sein eigenstes Leben auseinem nur ihm eigenen personalen Zusammenhang und Hintergrundentstehen ließen. Ich möchte drei dieser Vorgegebenheiten besondersbetonen, weil nur von ihnen her die eigenwillige und doch wieder

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viele individuelle Begrenzungen sprengendeKraft dieses Lebenswerkeseinigermaßen verständlich werden kann.

Als erste Voraussetzung ist der Primat der Erfahrung zu nennen.Jung will nicht allein die psychischen Phänomene genau beobachten,er will sie erfahren und will innerlich zum Grundphänomen durchstoßen. Dieses Bedürfnis meldet sich sehr früh in seiner Kindheit undJugend. Schon als Schüler ist er einer, der nicht wie die anderen ausBüchern lernt, sondern selber die Natur aufsucht, sie stundenlang beobachtet und in tiefer Introversion auf sich wirken läßt. Er weiß umdiese Eigenart, die ihn zunächst ausschließt und einsam macht: „Ichwar und blieb auf der Suche nach der mir eigenen Wahrheit." Später,in Indien, besuchte er die sogenannten „Heiligen" gerade nicht, wieso viele vor und nach ihm taten, „weil ich mit meiner eigenen Wahrheit vorlieb nehmen mußte und nichts Anderes annehmen durfte alsdas, was ich selber erreichen konnte. .. Ihre Weisheitgehört ihnen,undmir gehört nur das, was aus mir selber hervorgeht.. .U1

Diese Einstellung, die nur die persönliche Erfahrung, die innereEmpirie, zum Maßstab nimmt, muß zu zwei Folgerungen führen. Dieeine ist Jungs Haltung gegenüber den Begriffen und philosophischenSystemen. Jung ist mißtrauisch gegenüber den Begriffen. „Man willmit sogenannten klaren Begriffen die Wirklichkeit des Lebens zudecken", noch mehr: „man will sich schützen vor der numinosenMacht der Wirklichkeit"2. Begriffe haben allzu oft apotropäischeFunktion; wir erinnern uns, daß Begriffe sich gerne zu Wortsubtili-täten verflüchtigen, mit denen sich trefflich streiten und ein Systembereiten läßt. Begriffe sind für Jung zweidimensional, flächig undkönnen das innere Erleben, die Tiefendimension, nicht ausdrücken.

Die zweite Folgerung: Erfahrung ist nicht nur ein die Dinge Ergreifen, sondern noch mehr ein von ihnen Ergriffen-Werden. Zweidimensionale Begriffe gewähren eine Wissens-Begegnung; die dreidimensionale Erfahrung aber ist eine Begegnung mit dem Numinosumder Dinge. Vor dieser Begegnung aber will sich der begriffsformende,der theoretisch tätige Geist schützen und abschirmen. Er will ihreMacht ausklammern, um nicht erschüttert zu werden. Jung aber istein Mensch und Forscher, der sich erschüttern läßt, der die Macht der

1 CG.Jung, Erinnerungen, Träume, Gedanken, aufgezeichnet und hrsg.von Aniela Jaffe, Zürich 1962, S.278f.

2 Ebd., S. 150.

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Dinge aushalten will, auch wenn sie ihn manchmal fast zu zerbrechendrohen. Er ist kein schizoider Typ, wie schon behauptet wurde, aberer weiß um die Dissoziierbarkeit des Menschen, der sich den Mächtender Wirklichkeit aussetzt, der ihnen begegnen will und muß.

Als Empiriker wehrt Jung sich dagegen, daß er sogenannte Systemeaufbauen wolle, und als Psychotherapeut erklärt er öfter: „Ich habekeine Neurosenlehre." „Ich behandle einen Fall X nicht nach Freudoder Adler, aber auch nicht nach Jung, sondern nach dem Fall X." —Als Schriftsteller aber, der sich mit den religiösen Dokumenten derMenschheit befaßt und seine „Antwort auf Hiob" schreibt, bekennter scharf: „Es lag mir daran, den Eindruck zu verhindern, daß icheine ,ewige Wahrheit' verkünden wolle. Meine Schrift sollte nur dieStimme und Frage eines Einzelnen sein, welche auf die Nachdenklichkeit des Publikums hofft oder sie erwartet. Es ist mir nie in den Sinngekommen, daß jemand meinen könnte, ich wollte eine metaphysischeWahrheit verkünden"3. —Wie also mußte Jung sichdamals verhalten,als Freud ihm 1910 in Wien sagte: „Mein lieber Jung, versprechen Siemir, nie die Sexualtheorie aufzugeben. Das ist das Allerwesentlichste.Sehen Sie, wir müssen daraus ein Dogma machen, ein unerschütterliches Bollwerk.. ."4?

Eine zweite entscheidende Voraussetzung für das Verständnis vonC. G. Jung ist sein leidenschaftliches Bekenntnis zur Wirklichkeit derSeele. Jung ist Psychiker in einem einzigartigen Sinn. Er ist fasziniertvon dieser Wirklichkeit. Dabei weiß er sich als einsamer Rufer in derWüste, weil er ständig erfährt, wie wenig die Seele gilt, wie vernachlässigt und verwahrlost sie auch bei denen ist, die viel über sie redenund schreiben. Jung vernachlässigt darüber nicht sein medizinischesWissen um den Körper; aber er betont, daß die Seele bedeutend komplizierter und unzugänglicher ist als der Körper5.

Auch für ihn wie für Freud ist die Seele zunächst ein energetischesKraftfeld, auf dem die Energie der Triebe flutet. Freilich kann erdiese Energie nicht exklusiv als Libido im sexuellen Sinn erkennen,denn sie wirkt sich nicht nur in Symptomen der Sexualität aus. Vorallem aber: sie ist keineswegs blind, sondern gelenkt von inneren Bil-

3 C. G. Jung, Erinnerungen, a. a. O., S.220.4 Ebd., S. 154 f.5 Ebd., S. 138 f.

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dem. Jung entdeckt in den Traumbildern nicht nur Symptome desTrieblebens, sondern große Symbole,die von den bedeutenden Lebensproblemen Kunde geben, von innerseelischen Ergänzungsbedürfnissen,von zwischenmenschlichen Beziehungen und von letzten, übergreifenden Bezügen. Die Bildersprache der Seele ist für ihn keine schnellgelernte, monotone Symptomstenographie, sondern Bilderbuch einesMikrokosmos, der den Makrokosmos an Reichtum und Tiefe weitübertrifft. Dieser Mikrokosmos weist Konstanten auf, Gesetzmäßigkeiten, die in der Struktur der Psyche ihr Engramm besitzen, dieArchetypen. Diese sind die Grundpfeiler, die seit Jahrtausenden imgroßen Tiegel des Evolutionsprozesses die letzten Wesensbezüge desMenschseins garantieren. Sie stehen im übergreifenden Zusammenhangdes Kollektiv-Unbewußten der Menschheit und sind das Grundpotential, das auf immer neue Konkretisierung, Verwirklichung drängt.Sie dienen dem großen Gesetz der Enantiodromie, des Gegenlaufs, derdie regulierende Funktion der Gegensätze klug verwaltet. Der psychische Archetyp reicht dem biologischen Genotyp die Hand, ummitten im Strom des unablässig wandelnden Geschehens die notwendige Kontinuität zu wahren. Man hat Jung den Vorwurf gemacht,diese Archetypen und ihre konkrete Ausprägung in den Symbolen undTraumbildern seien einer objektiven Kontrolle nicht unterworfen; sieseien nicht überprüft, sondern reines Postulat. Die Vertreter dieses Vorwurfs haben sich offenbar nie der Mühe unterzogen, das riesige Material von archetypischen Symbolen genauer zu überprüfen, das in denArchiven des C. G. Jung-Institutes in Zürich und in der Casa Eranosliegt.

Aber Jungs Kenntnis der Seele weiß auch das andere: daß „ein Teilder Psyche den Gesetzen von Raum und Zeit nicht unterworfen ist";er weiß um jene Phänomene, die einer kausalen Forschung unzugänglich sind, um parapsychologische Vorgänge, wie sie etwa von Rhineuntersucht wurden; er weiß darum, aber aus jener eigenen Erfahrung,die nur dann möglich wird, wenn ein Mensch seiner Seele einen Atemraum schenkt, in dem sie wirklich zu leben anfängt.

Die psychische Wahrheit steht darum für Jung im Rang nicht niedriger als die historische oder die physikalische Wahrheit. Damit freilich trennt ihn ein Abgrund von allen, denen die Psyche entweder nurein Epiphänomen des Körpers oder nur ein proleptisches Phänomendes Geistes ist. Für Jung ist die Seele eine unausmeßbare Wirklichkeitallerersten Ranges, und dies so sehr, daß Jung, nicht aus einer Speku-

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lation, sondern aus bitterer Erfahrung heraus, sagen muß, daß „ineiner unterernährten Seele selbst Gott nicht gedeihen kann". SolcheSätze klingen ungeheuerlich für materialistische Ohren oder für eineHybris, die von der Elektronenmaschine nicht allein höchst komplizierte logische Denkprozesse, Lernvorgänge, Informationsspeicherung,sondern schließlich sogar Gefühlsäußerungen erwartet. Gegen alleSeelenblindheit und Seelenverachtung hat Jung ein für allemal diegrandiose Wirklichkeit des Mikrokosmos der Seele verkündet. Daswar seine Sendung, seine Größe und auch seine ihm gesetzte Grenze.

Endlich eine dritte Voraussetzung: Der Zug zur Ganzheit. So sehrGanzheitstendenzen im Bereiche der Naturwissenschaft und vor allem

der Anthropologie seit 1900 dominieren, konnten doch in der tiefenpsychologischen Forschung Verabsolutierungen von Einzelaspektensich merkwürdig stark bemerkbar machen. Demgegenüber ist Jungvom Ganzheitsdenken und vor allem von einem instinktsicheren Drangnach Ganzheit beherrscht. „Die unbewußte Ganzheit erscheint mir alsder eigentliche Spiritus rector alles biologischen und psychischen Geschehens"6. Darum geht es ihm nicht um Funktionen und Triebe,sondern um die geheimnisvolle Einheit der Person. „Mein Leben istdurchwirkt und zusammengefaßt durch ein Werk und ein Ziel, nämlich: in das Geheimnis der Persönlichkeit einzudringen. Alles ist ausdiesem zentralen Punkt zu erklären, und alle Werke beziehen sich aufdieses Thema"7. Dieses Geheimnis der Persönlichkeit erblickt Jungim „Selbst", das er als „den zentralen Punkt seiner Psychologie" erklärt8. Es ist der virtuelle Mittelpunkt, in dem sich der Bereich desUnbewußten und des Bewußten treffen, ein Mittelpunkt, der vonAnfang an virulent im Menschen wirkt und ihn durch alle Entwicklungen und Konflikte hindurch zu immer größerer Ganzheit und Einheit lenken will.

Von da aus muß seine Abneigung gegen alle „Kompartiments-psychologie", gegen alle Verabsolutierungen und Dogmatisierungeneines Triebes verstanden werden. Schon seine Typologie kann nur vondiesem Ganzheitsdenken aus ihren vollen Wert entfalten. Nur wer

sich bewußt bleibt, daß er nicht allein ein bestimmter Einstellungsund ein bestimmter Funktionstyp ist (etwa ein extravertierter Denk-

6 C. G. Jung, Erinnerungen, a. a. O., S. 327.7 Ebd., S.210.8 Ebd., S. 211.

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typ), sondern daß er auch die Gegeneinstellung und die Gegenfunktion, den „Schatten", zu entwickeln hat, weiß, wie mühsam die Arbeitist, die geleistet werden muß, wenn der Mensch einen Schritt zu seinerGanzwerdung tun will.

Weil Ganzheit nicht im Belieben des Menschen steht, sondern inseiner archetypischen Struktur als dynamische Potenzwirkt, kann Jungdas Ziel der Therapie nicht allein in einer besseren Arbeits- undGenußfähigkeit des Menschen sehen. Ein so verhängnisvolles Understatement hat nicht allein schon Patienten, sondern auch Analytikerzu Verzweiflungstaten geführt. Eine vorurteilslose Beachtung derTräume darf deshalb die Symbole der Ganzheit nicht verkennen.

Freilich hat diese Tendenz zur Ganzheit auch die schwere Pro

blematik des Bösen aufgeworfen. Für viele ein Stein des Anstoßes!Wer sich indes die Mühe nimmt, Jung gerade auf diese Frage hingenauer zu studieren, wird konstatieren müssen, daß es Jung, wenner von der Integration des Bösen spricht, in erster Linie um das sogenannte psychisch Böse geht, um alle jene minderwertigen Funktionen, die häufig objektiv Böses bewirken, weil sie nicht genügend mitder Gesamtperson verbunden sind. Es gibt für Jung keine Diskussionüber das, was wir das moralisch Böse nennen: „Wir werden auch aufdem höchsten Gipfel nie jenseits von Gut und Böse sein ... es wirduns gar nichts nützen, das moralische Kriterium etwa zum altenEisen zu werfen und neue Tafeln aufzurichten (nach bekanntenMustern), denn wie bisher wird sich auch in alle Zukunft hinausgetanes, beabsichtigtes und gedachtes Unrecht an unserer Seele rächen,unbekümmert darum, ob sich die Welt für uns umgedreht hat odernicht"9. Darum sagt er entschieden: „Die Moral eines Menschen zuzerstören, hilft ebenfalls nicht, weil es sein besseres Selbst töten würde,ohne welches sogar der Schatten keinen Sinn hat"10. Die von Junggemeinte Ganzheit fordert nach seinen Worten eben ein „Leben imHaus der Selbstbesinnung, der inneren Sammlung. Der Mensch weißdann, daß, was immer verkehrt in der Welt ist, auch in ihm selber ist,und wenn er lernt, mit seinem eigenen Schatten fertig werden, dannhat er etwas Wirkliches für die Welt getan"11.

9 CG.Jung, Zur Psychologie der Trinitätsidee, Eranos Jahrb., 1940/41,S. 64.-Ges.W., Bd. 11, S.196.

10 CG.Jung, Psychologie und Religion, Zürich 1940, S. 138. - Ges.W.,Bd. 11, S.83.

11 Ebd., S. 151.- Ges.W., Bd. 11, S.91.

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Die drei Voraussetzungen — Primat der Erfahrung, Wirklichkeitder Seele, Wissen um die Ganzheit —machen deutlich, daß Jung nichtaus einem „unverarbeiteten Ödipuskomplex" heraus sich von Freudtrennen mußte, sondern daß es tiefste, aus der persönlichen Strukturerwachsene Kräfte waren, die ihn zu der ihm eigenen Anschauungvon Mensch, Welt und Gott geführt haben.

2. Die Stellungnahmen

Es hat nichts mit einer ehrfurchtslosen Haltung zu tun, wenn Jungdie Erscheinungen des religiösen Lebens erforscht und psychologischzu verstehen sucht. Mit Recht wird Jung betonen, daß alle religiösenÄußerungen nun einmal Äußerungen auch einer Psyche sind undinsofern einen psychologischen Aspekt besitzen. Dieser Aspekt alleinist es, den er untersucht. Er usurpiert keineswegs theologischen Rangund stellt nicht die theologische Wahrheitsfrage. Es geht ihm um denreligiösen Wert. Mit August Sabatier könnte Jung erklären: „Ich binreligiös, weil ich Mensch bin und nicht aus meinem Menschsein entfliehen kann"12.

In der Tat: Religion ist für Jung ein universelles menschlichesPhänomen. Jung spricht davon, daß „etwas in der Seele von superio-rer Gewalt" sei ... er halte es darum „für weiser, die Idee Gottesbewußt anzuerkennen: denn sonst wird einfach irgend etwas andereszum Gott, in der Regel etwas sehr Unzulängliches und Dummes, wasein aufgeklärtes' Bewußtsein so etwa aushecken mag ... Der Konsensus gentium' spricht von Göttern seit Äonen und wird noch inÄonen davon sprechen"13. Den Grund für diese universelle Tatsachesieht Jung in der Struktur der Psyche: „Die Idee eines übermächtigengöttlichen Wesens ist überall vorhanden, wenn nicht bewußt, so dochunbewußt, denn sie ist ein Archetypus"14. Aus diesem Grunde ist derGottesbegriff für ihn „eine schlechthin notwendige psychologischeFunktion"15. Also: für Jung ist Religion nicht ein abgespaltenerLibido-Betrag, den der Mensch auf längere Dauer nach Belieben vergrößern oder reduzieren, verdrängen oder sublimieren kann. Er kannes jedenfalls nicht ungestraft tun, denn Jung versichert, daß keiner

12 A. Sabatier, Esquisse d'une philosophie de religion, 1897.13 CG.Jung, Über die Psychologie des Unbewußten, Zürich 1948, S.129.14 Ebd.

15 Ebd., S. 129.

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seiner Patienten wirklich geheilt wird, der nicht seine religiöse Einstellung wieder erreicht16. Denn das religiöse Bedürfnis erwächst fürJung nicht aus infantiler Hilflosigkeit oder aus Ohnmacht den Schicksalsmächten gegenüber wie bei Freud („Zukunft einer Illusion"),sondern eben aus der archetypischen Struktur.

Gewiß, diese Religion ist eine Sicht vom Menschen her. Die Deszendenz Gottes in der Offenbarung wird dabei nicht berücksichtigt,ist psychologischer Forschung auch nicht zugänglich. Es ist aber ungerecht, von solcher immanenten Religiosität als von einer „Bemächtigung Gottes durch den Menschen" sprechen zu wollen. Es geht nichtum Bemächtigung (etwa in magischer Haltung), sondern um einereligatio des menschlichen Wesens an seinen Ursprung oder um einrelegere dieser Gebundenheit.

Natürlich betont Jung, daß Religion Angelegenheit der Erfahrungist. Nur: religiöse Erfahrung schließt das Denken keineswegs aus.Ganz im Gegenteil wird solches Denken gefordert, denn nichts hatteJung in seiner Jugend (und erst recht später!) mehr enerviert als dasGeschwätz und die „Schönrednerei" über Gott.

Im Hinblick auf den psychologischen Aspekt des Religiösen fordertC. G. Jung einerseits Abkehr von einer redselig-naiven Gefühlsfrömmigkeit, die jeden Sinn für das Numinosum vermissen läßt,andererseits aber ebenso entschiedenen Verzicht auf eine theologischeReligion, die sich an Begriffen und Distinktionen berauscht. Jungbefürwortet, wenigstens für einzelne Fälle, über institutionelle Kanalisierungen hinaus, den inneren lebendigen Kontakt mit dem Unendlichen. Nur ein solcher ist für ihn in diesen Fällen letztlich verbind

lich. Allzu häufig begegnet ihm in seiner Praxis religiöses Talmi,synthetisch hergestelltes religiöses Gewebe, das brüchig ist. Freilich:Jung weiß um die psychische Gefährlichkeit der unmittelbarenreligiösen Erfahrung und anerkennt darum die Wichtigkeit festgefügter religiöser Formen und Institutionen. „Was man für gewöhnlich und im allgemeinen Religion nennt, ist zu einem so erstaunlichenGrade ein Ersatz, daß ich mich ernsthaft frage, ob diese Art vonReligion . .. nicht eine wichtige Funktion in der menschlichen Gesellschaft habe. Der Ersatz hat den offensichtlichen Zweck, unmittelbareErfahrung zu ersetzen durch eine Auswahl passender Symbole, die

18 C. G. Jung, Die Beziehungen der Psychotherapie zur Seelsorge, Zürich1932, S. 16. - Ges.W., Bd. 11, S. 362.

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in ein fest organisiertes Dogma und Ritual eingekleidet sind"17. Dennoch ist es für Jung eine Erfahrungstatsache, daß „das, was eine Neurose heilt, so überzeugend sein muß wie die Neurose, und da letzterenur allzu real ist, muß die hilfreiche Erfahrung von gleichwertigerRealität sein"18. Dies aber ist für ihn die religiöse Erfahrung: „Religiöse Erfahrung (sagt er) ist absolut. Man kann darüber nicht disputieren. Man kann nur sagen, daß man niemals eine solche Erfahrunggehabt habe, und der Gegner wird sagen: ,Ich bedaure, aber ich hattesie.' Und damit wird die Diskussion zu Ende sein. Es ist gleichgültig,was die Welt über religiöse Erfahrung denkt: derjenige, der sie hat,besitzt den großen Schatz einer Sache, die ihm zu einer Quelle vonLeben, Sinn und Schönheit wurde und die der Welt und der Menschheit einen neuen Glanz gegeben hat. Er hat Pistis und Frieden. Woist das Kriterium, welches zu sagen erlaubte, daß solch ein Lebennicht legitim, daß solch eine Erfahrung nicht gültig und solch einePistis bloße Illusion sei?"19 So schreibt er im Jahre 1937, und imJahre 1960: „Die entscheidende Frage für den Menschen ist: Bist duauf Unendliches bezogen oder nicht? Das ist das Kriterium seinesLebens. Nur wenn ich weiß, daß das Grenzenlose das Wesentlicheist, verlege ich mein Interesse nicht auf Futilitäten und auf Dinge, dienicht von entscheidender Bedeutung sind"20. Das sind auf alle FälleSätze eines Menschen, der auch als Psychotherapeut die Religion nichtals bloße Illusion erklärt hat.

Jung spricht nicht vom Gott der Offenbarung und noch wenigervom Gott der Philosophen. Er beschäftigt sich allein mit dem Gottesbild, wie es in der Seele angelegt ist, und wie es sich nicht nur inSymbolen und Bildern ausdrückt, sondern wie es vor allem im praktischen Alltag des Menschen wirksam ist. Es ist also der psychischeGott, den Jung erforscht. Jener, der in der Seele archetypisch verborgen und doch so unheimlich virulent ist. Auch wenn der Gott derOffenbarung in keiner Weise darauf angewiesen ist, daß die Seele einso spezifisches Organ für Göttliches besitzt, auch wenn er sich völligunabhängig davon einem Wesen kundtun kann, so darf doch eine

17 CG.Jung, Psychologie und Religion, a.a.O., S.79, 80. - Ges.W.,Bd. 11, S.46.

18 Ges.W., Bd. 11, S. 117.19 CG.Jung, Psychologie und Religion, a.a.O., S.188, 189. - Ges.W.,

Bd. 11, S. 116f.20 C. G. Jung, Erinnerungen, a. a. O., S. 327 f.

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Bereitschaft für diese Botschaft in der Seele nicht als Qualität zur „Bemächtigung Gottes" angesehen werden, sondern kann als dürstendesOffensein für ihn aus dem Schöpfungsplan verstanden werden. Jungdrückt dies auf seine Weise aus, wenn er meint: „Es ist vielleicht zuweit gegangen, von einem Verwandtschaftsverhältnis zu sprechen;aber auf alle Fälle muß die Seele eine Beziehungsmöglichkeit, dasheißt eine Entsprechung zum Wesen Gottes, in sich haben, sonst könnteein Zusammenhang nie zustande kommen. Diese Entsprechung ist,psychologisch formuliert, der Archetypus des Gottesbildes"21.

Was aber bei vielen bedenkliches Kopfschütteln erregt an der Got-tesimago von C. G. Jung, ist dies: der Archetypus Gottes hat nichtallein eine helle, lichte Seite, sondern auch einen dunklen Aspekt22.Dieses Gottesbild zeigt nicht nur den Gott der Liebe, sondern auchden des Zornes und der Grausamkeit. Dieser archetypische Gott kannauch rachsüchtig, tyrannisch, launenhaft, empfindlich und kleinlichsein,ein Gott, der Angst einflößt und zu recht bizarrem und absurdemZwangsritualismus treibt.

Damit stellt sich eine bedeutsame und klärende Entscheidungsfrage:Weist dieser Archetyp Gottes, der als Ur-Einschlag, Ur-Prägung „vorgegebene, reine, unverfälschte Natur" ist, wie Jung sagt, auf einenPrägenden zurück, der selbst einen solchen Januskopf trägt, auf einenGott, der gut und böse in einem ist? Diese Frage kann von der Psychologie nicht beantwortet werden, und Jung hat sich auch immer gehütet, über den empirischen Befund hinaus Schlußfolgerungen zu ziehen. Er betonte deutlich die Inkompetenz der Psychologie in dentheologischen Problemen. Es muß hier freilich zugegeben werden, daßJung die scholastische Lehre über das Böse—die privatio boni —nichtgeschätzt hat und sich deshalb von Victor White den Vorwurf zuzog,sie radikal mißverstanden zu haben. Jung erschien eine bloße privatiozu harmlos, um die eindrückliche Macht des Bösen, wie wir sie oftgenug erleben, genügend auszudrücken. Aber die privatio boni anderseits bedeutet keineswegs eine bloße Verdünnung des Guten, sondernbesagt einen katastrophalen Verlust jener Werthaftigkeit, die als einsogenanntes „Transcendentale" zum Seinsbestand gehört. Wo dasbonum reduziert ist, da ist gleichzeitig eine unerträgliche Seinsvermin-

21 C. G. Jung, Psychologie und Alchimie, Zürich 1952, S.23.22 Vgl. zu diesem Gedankengang: J.Rudin, Gott und das Böse bei CG.

Jung, in: Neue Zürcher Zeitung, 30. Juli 1961.

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derung eingetreten, die Seins-Vollständigkeit ist gestört. —Die christliche Theologie wird auf die gestellte Frage nach der Ursache für denDoppelaspekt des göttlichen Archetypus mit der Lehre von der Urschuld antworten, die den Menschen zerriß, so daß auch sein inneresGottesbild davon betroffen und verdunkelt wurde. Einzig die christliche Offenbarung hat in ihrer Botschaft das Gottesbild wieder in seiner Ursprünglichkeit aufgestellt: „Gott ist Licht und Finsternis istnicht in ihm" (1. Joh. 1,5). Die Auffassung Jungs wird aber dadurchnicht hinfällig. Denn der psychische, immanente Gott ist in der Seeleund in den Kollektiv-Ausstrahlungen der Jahrhunderte doch unheimlich wirksam. Das archetypische Gottesbild mit seinem Januskopf kanndie Gottesbeziehung auch vieler Christen neurotisieren und in Angstkomplexe verflechten. Der analytische Befund wenigstens beweist, daßder Gott des christlichen Glaubens auf den archetypischen Naturgottin der Seele stößt. Damit aber beginnt die christliche Problematiküber das Verhältnis von Natur und Gnade, Natur und Übernatur.

Wie steht Jung zu Christus? Die Frage ist falsch gestellt. Junghätte höchstens im Privatgespräch darauf geantwortet. Aber er begegnet Christus auch im psychologischen Raum, und das ist etwasanderes. —Es scheinen zwei einander widersprechende Erfahrungenzu sein, die er als Psychologe mit Christen machen mußte. Zuerst erschrickt er darüber, wie wenig christlich das Unbewußte so vielerKlienten ist. Wie in diesem Bereiche heidnische Mächte herrschen,selbst wenn die christliche Fassade intakt erscheint: „Die großen Ereignisse unserer Welt, die von Menschen beabsichtigt und hervorgebracht sind, atmen nicht den Geist des Christentums, sondern desungeschminkten Heidentums. DieseDinge stammen aus einer archaischgebliebenen seelischen Verfassung, welche vom Christentum auch nichtvon ferne berührt worden ist ... Der Zustand der Seele entsprichtnicht dem äußerlich Geglaubten. Der Christ hat in seiner Seele mitder äußerlichen Entwicklung nicht Schritt gehalten. Ja, es steht äußerlich alles da in Bild und Wort, in Kirche und Bibel. Aber es stehtnicht innen. Im Innern regieren archaische Götter wie nur je"23.

Das ist die eine Erfahrung. Die andere „gegenteilige" aber ist fastebenso stark: „Das Christentum ist unsere Welt. Alles, was wir denken, ist die Frucht des Mittelalters, und zwar des christlichen Mittelalters. Unsere ganze Wissenschaft, alles, was durch unsern Kopf geht,

C. G. Jung, Psychologie und Alchimie, a. a. O., S. 24.

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ist unweigerlich durch dieses Historische hindurchgegangen. Das lebtin uns, es ist uns eingeprägt für immer und für alle Zeiten und wirdstets eine lebendige Schicht unserer Psyche bilden, ganz wie irgendwelche stammesgeschichtlichen Überbleibsel in unserem Körper . . . Mitder Aufklärung ist nichts ausgewischt. Selbst die Art, wie man Aufklärung macht, ist christlich. Die christliche Weltanschauung ist dahereinpsychologisches Faktum,das sich nichtweiter rationalisieren läßt ...Wir sind unweigerlich als Christen geprägt"24. Und 1960 lautet dergleiche Gedanke: „Ich lasse der christlichen Botschaft nicht nur eineTür offen, sondern sie gehört ins Zentrum des westlichen Menschen"25.

Der Widerspruch zwischen den beiden Aussagen löst sich, wenn wiruns erinnern, daß für Jung die Gegensatzspannung von Bewußtemund Unbewußtem in einem Kompensationsverhältnis steht, so daßoft genug bei Menschen, deren Bewußtsein sich sehr christlich manifestiert, ihr Unbewußtes von noch nicht christlich fermentierten seelischen Bezügen spricht, während umgekehrt mancher moderne Aufgeklärte in seinem Unterbewußtsein noch eine tiefe christliche Imprägnierung aufweist26.

Es ist selbstverständlich, daß Jung zur historischen Person Christieine psychologische Aussage scheut. Aber er fragt sich, ob die imitatioChristi als großes Thema des christlichen Lebens nicht allzu oft mißverstanden wird. Denn Christus ist für ihn nicht nur gemäß demPaulusbrief, sondern auch psychologisch der zweite Adam, damit einneuer Urmensch, ein neues Urbild des Menschlichen. „Als Logos, Sohndes Vaters, Rex gloriae, Judex mundi, Redemptor und Salvator ister selber Gott, eine allumfassende Ganzheit"27. Es ist für ihn „eineden gewöhnlichen Menschen überragende und umfassende Ganzheit,welche der bewußtseinstranszendenten, totalen Persönlichkeit entspricht",die er als das Selbst bezeichnet28. Damit hat Jung die psychologische Stellung des Christussymbols charakterisiert. „Christus veranschaulicht denArchetypus des Selbst"29. Neben dem greifbaren,sinnen-

24 CG. Jung, Basler-Seminar 1934. Privatdruck, Basel 1935, S.84. Zitiertbei Jolande Jacobi (hrsg.), Psychologische Betrachtungen, Zürich 1945, S. 386.

25 CG.Jung, Erinnerungen, a.a.O., S.213.26 Vgl. J. Rudin, Religiöses Erleben im Bewußten und Unbewußten, in:

Psychotherapie und Religion, Zürich 2. A. 1964, S. 119ff.27 CG. Jung, Symbolik des Geistes, Zürich 1948, S.382.28 CG. Jung, Von den Wurzeln des Bewußtseins, Zürich 1954, S.318.29 CG. Jung, Aion, Zürich 1951, S.64.

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haften Geschehen des Lebens Christi geht parallel das psychischeEreignis, das weitgehend Mysteriums-Charakter trägt, weil es Berührung, ja Einigung von Menschlichem mit Göttlichem ist. —Wenn dasSelbst nur durch einen ständigen Wandlungsprozeß (anschaulich gemacht durch „Symbole der Wandlung") angenähert werden kann, soerfolgt auch die Christ-Werdung nur durch Neuwerdung und Wiedergeburt (Joh. 3), die etwa in dem Wandlungsritus der Hl. Messe ebensoreal wie anschaulich vollzogen wird. Die psychische Symbolik aber isthier die gleiche, weil auch das Göttliche in einer menschlich anschaulichen Form und Gestalt sich offenbaren muß. Wenn das Selbst diegleiche Symbolik wie das Gottesbild aufweist, dann ist die Ursachedavon in dieser menschlichen Veranlagung zu suchen. In gar keinerWeise aber soll das Selbst an die Stelle Gottes gesetzt werden. Junghat sich gegen eine solche Unterschiebung vehement gewehrt: „SolcheMißverständnisse rühren von der Annahme her, daß ich ein irreligiöser Mensch sei, der nicht an Gott glaube und dem man nur denWeg zum Glauben weisen müsse"30.

Jung hat mit seltener Intensität den psychologischen Aspekt allenGeschehens, auch aller religiösen Vorgänge, studiert. Dies hat ihmöfter den Vorwurf des Psychologismus eingetragen, er reduziere alleWirklichkeit auf die „nur" psychische Wirklichkeit. Dieser Vorwurfgab ihm Gelegenheit, zwei Punkte scharf herauszuarbeiten und zubetonen. Der erste Punkt: Man hat kein Recht, von der seelischenWirklichkeit im „nur"-Ton zu sprechen, als wäre sie weniger real undweniger bedeutsam als die physische, biologische, rationale und geistige Wirklichkeit. Die Vernachlässigung, ja massive Unkenntnis geradeder psychischen Wirklichkeit bestärkte Jung in seiner etwas kämpferischen Haltung für ihre Betonung. Zweiter Punkt: Jung übersiehtund leugnet die anderen Wirklichkeiten keineswegs. Auch die metaphysische und religiöse Wirklichkeit ist ihm durchaus selbstverständlich. Seine eigene Aufgabe aber ist nun einmal die Beschäftigung mitder Psyche. Ist das illegitim? Wird man Physikern oder Biologenauch vorwerfen, sie reduzierten alles auf Physisches und Biologisches,weil sie ihre Hypothesen voll ausschöpfen? Jung unterscheidet deutlich zwischen einem Psychologismus, der in seiner Einfalt meint, alles,was psychologisch verstehbar sei, werde damit in eitel Dunst aufge-

W.Bitter, Gut und Böse in der Psychotherapie, Stuttgart 1959, S.37.

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löst, und einer Psychologie, die das seelisch Wirkliche als eine mächtigeForm der Wirklichkeit betrachtet. Zum Psychologismus aber sagtJung: „Man wäre übel beraten, wollte man mich mit diesem kindischen Standpunkt identifizieren. Man hat mich aber so oft gefragt,ob ich an die Existenz Gottes glaube oder nicht, daß ich einigermaßenbesorgt bin, man könne mich, viel allgemeiner als ich ahne, für einenPsychologisten halten"31.

Vielleicht dürfen wir abschließend Jung als Menschen bezeichnen,dem die anima naturaliter religiosa kostbar war, weshalb er sie während vieler Jahrzehnte unablässig erforscht hat, als einen Paracelsusder psychischen Wirklichkeit.

31 CG. Jung, Antwort auf Hiob, Zürich 1952, S.159.

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RELIGIÖSE PROBLEME IN DER PSYCHOTHERAPIE VOM INDIVIDUAL

PSYCHOLOGISCHEN STANDPUNKT

von Erwin Ringel

Einige Vorbemerkungen sind unerläßlich: Die historische Wahrheitgebietet es, daran zu erinnern, daß Adler inseinen Schriften zu wiederholten Malen aufdas religiöse Problem imRahmen derPsychotherapiehingewiesen hat, und daß er der erste war, der es unter positivemAspekt tat. Vielleicht noch deutlicher trat dies in den Behandlungenzutage, die er durchführte, und man darf bei dieser Gelegenheit nichtvergessen, daß Adler, ein wie guter Theoretiker er auch war, doch seinLeben vor allem in den praktischen Dienst am kranken Menschenstellte, wobei seine Bemühungen besonders den verschiedenen Spielarten der Neurose galten. Aber Adler ist nun lange tot; seither hatsich seine Schule - wie alle anderen auch- weiter entwickelt und neueGesichtspunkte erarbeitet. In gewissem Sinne will es scheinen, als obmanche dieser Entwicklungen, auch die hinsichtlich der Einstellungzum religiösen Problem in der Psychotherapie, bereits in den Adlerschen Ansichten immanent enthalten waren und solcherart eine konsequente Weiterentwicklung des Adlerschen Gedankengutes darstellen.Bei den mannigfach individuellen Standpunkten bedeutender individualpsychologischer Autoren bleibt es fraglich, ob jemand in Anspruchnehmen darf, gleichsam im „Namen der Individualpsychologie" zusprechen. Die Individualpsychologie ist auch heute kein diktatorisches,auf einen Mann zentriertes Gebäude, und jeder, der als Individual-psychologe zu einem Problem Stellung nimmt, muß bekennen, daß erseinen persönlichen Standpunkt, eben den des Betrachtenden, nichtausschließen kann; andererseits hat aber gerade die Vielzahl von Stellungnahmen einzelner Individualpsychologen zu einer bestimmtenFrage immer wieder so eindrucksvolle Gemeinsamkeiten gezeigt, daßman wohl berechtigt ist, von einer Schulmeinung zu sprechen, die sichzwanglos als für diese Schule charakteristisch ergibt.

Nach dieser Einleitung gleich ein prinzipielles Bekenntnis: Es kanngar nicht darüber diskutiert werden, ob es religiöse Fragen in derPsychotherapie gibt; jeder, der praktische Psychotherapie betreibt,

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weiß, daß religiöse Probleme auftreten, schon deshalb, weil die Erforschung menschlichen Verhaltens und besonders neurotischer Verhaltensweisen unweigerlich in eine Auseinandersetzung der Persönlichkeit mit dem Trieb- und dem Gewissensbereich führen muß. Die Sollforderungen lassen sich nicht vom kulturellen Hintergrund isolieren,und so spielt die Religion stets mit, wie immer auch die Einstellung zuihr sein mag; in vielen Fällen kommt es zu direkten Auseinandersetzungen mit Grundsätzen und Geboten einer bestimmten Glaubenslehre. Wenn Menschen behaupten, daßmaneiner religiösen Problematikin der Psychotherapie ausweichen könne und in diesem Zusammenhang das Schlagwort von einer „neutralen Psychotherapie" prägen,versuchen sie, bewußt oder unbewußt, für sie unangenehmen Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen. In jeder Psychotherapie spielen weltanschauliche Probleme eine Rolle, ihre Ausschaltung ist wederwünschenswert noch möglich. Van Lun hatte recht, wenn er sagte, daßdiejenigen, die eine Psychotherapie ohne Weltanschauung propagieren,Vertreter einer bestimmten Weltanschauung sind.

Es sei der Versuch gestattet, die in der Psychotherapie auftauchendereligiöse Problematik in vier Gruppen zu gliedern:

1. Nicht nur im Bewußten, sondern auch im Unbewußten setzt sichder Mensch mit religiösen Fragen auseinander. Die praktische Erfahrung lehrt, daß er solcherart in seiner Gesamtheit als „homo reli-giosus" zu bezeichnen ist. Es mag ein Spezifikum unserer Zeit sein, daßman das Religiöse in einem besonderen Ausmaß im Unbewußten vorfindet. Eine Erklärung dafür kann in der Tatsache liegen, daß derMensch mehr und mehr daran ist, Unangenehmes und Belastendes ausdem Bewußtsein zu verdrängen. Die religiöse Frage erscheint oft genugmit unbequemen Forderungen identisch, sie wird daher gerne aus derbewußten Auseinandersetzung ausgeklammert. Man muß sich eigentlich wundern, daß viele namhafte Tiefenpsychologen seit Freud ernstlich an der Vorstellung festgehalten haben, die Religion werde vomMenschen vorwiegend dazu benutzt, sich das Leben zu erleichtern.Sicher hat Freud mit Recht darauf hingewiesen, daß viele Menschendie Religion als eine neurotische Krücke benützen, ohne die sie nichtmit ihren Schwierigkeiten zurechtkommen könnten (wie man überhaupt auch als Angehöriger einer Nicht-Freudianischen Schule immerwieder sich vor der tiefenpsychologischen Pionierleistung Freuds tiefverneigen muß). Im Leben kann alles mißbraucht werden, selbstverständlich auch die Religion. Damit ist aber nichts über das Wesen derReligion an sich ausgesagt. Echte Religiosität legt jedenfalls dem Men-

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sehen eine besondere Verantwortung auf und setzt ihn unter den Druckhoher Anforderungen, die zu wiederholten Malen seine Kräfte fastüberschreiten. Nur so können wir die Tatsache der häufigen Verdrängung religiöser Fragen erklären. Aus der allgemeinen psychotherapeutischen Praxis, besonders aber der Beschäftigung mit einer bestimmten Menschengruppe, nämlich mit den sogenannten Lebensmüden,kann man erkennen, wie groß die Sehnsuchtnach Gott und der Offenbarung Gottes ist, wie tief gleichzeitig die Verdrängung dieser Sehnsucht ist, welche erschütternden Wirkungen es hat, wenn diese Sehnsucht in der psychotherapeutischen Behandlung wieder bewußt wird.Nach der allgemein verbreiteten Vorstellung über die Entwicklung derTiefenpsychologie ist es Jung gewesen, der als erster auf die verdrängteReligiosität im Menschen hingewiesen hat, durch ihn wurde anscheinend das Tor zur Betrachtung dieses Problemes aufgerissen, das seitherimmer wieder im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht, wie z. B. dasBuch Frankls „Der unbewußte Gott" beweist. Man sollte aber nichtübersehen, daß schon Adler diesen Fragenkomplex in seiner Bedeutungerkannte, weswegen er sich gedrängt fühlte, zusammen mit Jahn dieSchrift: „Individualpsychologie und Religion" zu verfassen. Adler bekannte sich dabei zu dem Prinzip, daß die Tiefenpsychologie auf weltanschauliche und religiöse Fragen keine Antwort geben dürfe, weil siedamit ihre Kompetenzen überschreite; später hat Birnbaum diesenGedanken ausgezeichnet dahingehend formuliert, daß es verhängnisvoll wäre, auf psychologische Fragen philosophische Antworten zugeben. Es soll nicht bestritten werden, daß der Psychotherapeut, dereine solche richtige Haltung einnimmt, oft gerade deswegen in Schwierigkeiten gerät; es bleibt nämlich eine traurige Tatsache, daß vielePatienten, wenn in der Psychotherapie ihre religiösen Probleme aufgedeckt und sie auf die Notwendigkeit hingewiesen werden, sichdamitan den dafür allein zuständigen Seelsorger zu wenden, diesenVorschlagablehnen. Sie haben den Glauben, daß der Seelsorger ihre Problemebegreifen könnte, verloren, sie fühlen sich von dieser Seite unverstanden, sie sind überzeugt, daß der Priester, im Gegensatz etwa zumPsychotherapeuten, das Prinzip über den Menschen stelle. Leider habensie mit dieser Ansicht oft nur allzu recht, denn manche Seelsorgerverhalten sichso, als ob sie geradezu eine Wand zwischen Priester undglaubenshungrigen Menschen errichten wollten. Manchmal hat manden Eindruck: Wenn die Seelsorger einen Leitfaden bei sich trügen,„wie verhalte ich mich, um Leute von mir fern zu halten", so könntensie sich nicht anders benehmen, als sie es leider faktisch tun. Es wäre

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allerhöchste Zeit, im Zeichen etwa der Haltung von Johannes XXIII.mit solchen pedantischen und engstirnigen Methoden endgültig zubrechen; die Beschäftigung mit den tiefenpsychologischenErkenntnissenkönnte dem Seelsorger dabei entscheidend helfen. Vom Seelsorger istzu verlangen, daß er die Ergänzung seines Menschenbildes und seinerSeelsorgetechnik, die ihm die echte analytische Tiefenpsychologie (nichtalles ist Tiefenpsychologie, was sich so nennt, und der Seelsorger hörtaus ärztlichem Munde nur allzu gerne die Bestätigung seiner traditionellen Ansichten) anbietet, auch wirklich benützt. In dieser Situationist die Versuchung groß, daß der Psychotherapeut für den abgelehntenSeelsorger substituierend einspringt, um solcherart wenigstens einelaienhafte ärztliche Seelsorge durchzuführen. Die Individualpsychologie lehnt dies aus Gründen der Zuständigkeit trotz allem strikte abund hält sich streng an ihre Grenzen.

2. Dem Psychotherapeuten steht es zu, religiöse „Arrangements", dieder Patient im Rahmen seiner Neurose durchführt, aufzudecken, jaer muß dies tun; damit verwenden wir einen Ausdruck, der eine typische Schöpfung Alfred Adlers ist, und den er zu einem Baustein seinerfinalen Betrachtungsweise machte. Man muß unterscheiden zwischenbewußten und unbewußten Arrangements; nur mit letzteren habenwir uns hier zu beschäftigen, die bewußten, welche beim Christentummit der Anerkennung als Staatsreligion durch Konstantin den Großen„ermöglicht" wurden, weil man seither als Christ irdische Vorteile einheimsen kann, sind hier auszuklammern. Es ist gar kein Zweifel, daßim Zusammenhang mit einer neurotischen Zielsetzung auch der religiöse Bereich zum Schauplatz von Arrangements werden kann. VieleDinge, die angeblich aus religiösen Gründen getan werden, sind inWirklichkeit psychodynamisch, das heißt neurotisch verursacht, dieReligion dient als Rationalisierung oder Entschuldigung.

Als ein klassisches Beispiel für viele ähnliche Mechanismen sei einPatient angeführt, der in der Kindheit so entmutigt worden war, daßer sich eigentlich an Frauen kaum herantraute. Das hatte zur Folge,daß er immer dann, wenn er in näheren Kontakt mit einer Partnerinkommen sollte, besondere Hemmungen verspürte. Den Frauen und -was besonders wichtig ist - sich selbst gegenüber motivierte er dieseZurückhaltung damit, daß er aus religiösen Gründen so eine Sündekeinesfalls begehen könne. Solche Mechanismen müssen natürlich schonungslos aufgedeckt werden; damit dient man sowohl dem Patienten,der endlich zu den wahren Ursachen seines Verhaltens vorzustoßen

lernen muß, als auch der Religion. Denn die Betreffenden geben der

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Welt gewöhnlich das traurige Beispiel einer verzerrten, unnatürlichen,verkrampften Religiosität, welches eher geeignet ist, abschreckend zuwirken. Noch schwerer fällt aber ein anderer Faktor ins Gewicht: Wir

wissen, daß der Lebensweg des Neurotikers unglücklich ist, daß er vonMißerfolg zu Mißerfolg eilt, weil er als Ausdruck seiner Selbstbestrafungstendenz ständig „seinen eigenen Ohrfeigen nachläuft", um diesestreffende Wort Adlers zu zitieren. Dabei ist es typisch, daß der Neu-rotiker aus seinen Fehlern nichts lernen, durch Schaden gleichsam nichtklug werden kann. Wenn er nun dieses sein Verhalten religiös rationalisiert, was liegt näher, als daß er schließlich auch die Religion als denwahren Schuldigen seines Versagens - und nach Schuldigen sucht erdauernd - zu erkennen vermeint? Auch vor Gott macht diese An

schuldigung nicht halt: „Warum meint er es gerade mit mir so schlecht?"In allen diesen Fällen erweist sich, daß die Tendenz zur Wahrheit,die in der Analyse gelegen ist, mag sie noch so große Schwierigkeitenzur Folge haben, dennoch für alle Beteiligten besser ist als jene Fassade,hinter der sich verhängnisvolle und unweigerlich vergiftend wirkendeVerdrängungen verbergen.

3. Es ist in der Psychotherapie oft unvermeidlich, die Faktoren zuanalysieren, die zur Bildung einer bestimmten Weltanschauung, zurBejahung oder Ablehnung eines bestimmten Glaubensbekenntnisses geführt haben. Es wäre sinnlos, etwa unter Hinweis auf den Einfluß derGnade, solche psychologischen Faktoren, die beider Auseinandersetzungmit dem Elternhaus und der von diesem vertretenen Weltanschauungbeginnen, zu leugnen. Ein klassisches Beispiel dafür aus der letztenZeit: Ein sehr sympathischer und aufrichtiger Kollege sagt im Gespräch: „Nein, ich glaube nicht, ich kann nicht glauben, ich bin zutiefst mißtrauisch, es gibt keine Offenbarung, ich kann die Existenzeiner solchen nicht akzeptieren." Wenig später kommt er auf seine Entwicklung zu sprechen. „Wissen Sie, diese mißtrauische Haltung war fürmich eine Lebensnotwendigkeit. Als ich zwei Jahre alt war, habe ichmeine Mutter verloren, und mit ihr habe ich alles verloren. Seithergab es keinen Halt, keine Sicherheit, keinen Schutz, keine Geborgenheit; ich mußte lernen, niemandem zu vertrauen, gar nichts zu glauben,nur mir selber." Solche Aussagen benötigen keinen Kommentar. Es istselbstverständlich auch möglich, analytisch klarzustellen, warum einMensch mit bestimmten Forderungen einer Religion nicht fertig wird,eine Tatsache, die oft genug zur Distanzierung, ja zum Abfall führt,wenn sie nicht rechtzeitig erklärt und behoben wird. Dies ist neuerlichein Punkt, wo die Psychotherapie, richtig verstanden und angewendet,

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wertvolle seelsorgerliche Hilfe zu leisten vermag. Absolut unstatthaftist es jedoch nach individualpsychologischer Auffassung, die Auseinandersetzung über die Beziehung des Patienten zur Religion dahingehend auszudehnen, daß die Religion als solche einer Analyse odereiner Wertbeurteilung unterzogen wird. Es wäre falsch, dem Patienteneine bestimmte Religion aufoktroyieren zu wollen, ebenso wie ihm zuraten, jene Religion zu suchen, die ihm „am besten liegt, die zu ihmpsychologisch am besten paßt"; damit käme es zu einem bedenklichenRelativismus, nämlich zur Vorstellung, als könnte die Religion vomNützlichkeitsstandpunkt für den einzelnen gewählt werden. Religiösgesprochen ist es völlig gleichgültig, ob eine bestimmte Religion imirdischen Sinne „nützlich" ist oder nicht; einzig und allein entscheidendist vielmehr der erlebte und geglaubte Wahrheitsgehalt dieser Religion.Vor vielen Jahren formulierte Adler die Erkenntnis, man könne vompsychotherapeutischen Standpunkt auf die Frage, warum jemand derHüter seines Bruders sein solle, keine Antwort geben. Wohl aber könneman aufzeigen, warum vom Patienten gerade diese Frage hartnäckigund immer wieder gestellt werde. Damit scheint die richtige Einstellung des Psychotherapeuten zum religiösen Bereich festgelegt: ZurTatsache des Gebotes hat der Psychotherapeut nicht Stellung zu nehmen, weil es sich dabei um ein religiöses Gesetz handelt. Wohl aberkann der Psychotherapeut zeigen, aus welchen psychologischen undinsbesondere tiefenpsychologischen Gründen ein bestimmtes religiösesGebot einem bestimmten Menschen zum Problem wird; oder aber, umdiese individualpsychologische Auffassung auf ein von Jung angeschnittenes Problem zu übertragen: Wenn ein Patient aus seiner neurotischen Ambivalenz heraus Gott als gut und böse zugleich erlebt, somuß dies in der Psychotherapie aufgedeckt werden. Daraus aber denSchluß zu ziehen, daß Gott tatsächlich gleichzeitig gut und böse ist,wäre grobe Kompetenzüberschreitung und außerdem die Akzeptierungneurotischer Mechanismen. In diesem Sinne muß auch vor den sogenannten religiösen Streitgesprächen in der Psychotherapie gewarntwerden. Man darf nicht vergessen, daß es sich dabei auf der Seite desPatienten auch um ein Scheinfragen im Sinne eines neurotischen Abwehrmechanismus handeln kann; auf diesen einzugehen, würde bedeuten, dem Widerstand des Patienten Vorschub zu leisten. Diese Fragen klären sich von selbst im Laufe einer gut geführten analytischenTherapie. Adler hat dies nicht nur immer wieder betont, sondern auchin seiner unnachahmlichen Technik stets bewiesen. Jedenfalls erscheintes unmöglich, neurotische Störungen durch irgendwelche weltanschau-

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liehe Formulierungen, mögen sie positiv, mögen sie negativ ausgerichtetsein, zu heilen. Weltanschauung (welcher Art auch immer) ist keineNeurosentherapie. (Mag sein, daß man durch Religion befähigt wird,seine Neurose ergebener zu ertragen, als Therapie kann man dies aberkeinesfalls bezeichnen.) Von der neurotischen Einengung ist oft auchder geistig-weltanschauliche Bereich betroffen. In allen diesen Fällenist daher nur ein einziger Weg erfolgreich, nämlich der, durch eine entsprechende Analyse die Bedingungen der neurotischen Versklavung zuvernichten. Birnbaum hat daran erinnert, daß das neurotische Gefängnis zwar von innen versperrt, der Patient sich aber dieser Tatsachenicht bewußt ist. Es hat daher keinen Sinn, an die verloren geglaubteFreiheit zu appellieren und Soll-Forderungen irgendwelcher Art aufzustellen; daraus folgt auch, daß überall dort, wo die Frage nach demSinn des Lebens Ausdruck der Neurose ist, es gefährlich wäre, sichmit dem Patienten in eine Diskussion einzulassen; so könnte nur dieberüchtigte „Neurose zu zweit" entstehen. Natürlich gibt es auch einenichtneurotische Frage nach dem Sinn des Daseins; diese zu beantworten, ist jedoch nach der Auffassung der Individualpsychologiekeine spezifisch ärztlich psychotherapeutische, sondern eine allgemeinmenschliche Aufgabe.

4. Es wäre töricht zu übersehen, daß jede Psychotherapie mit einermoralischen Krise verbunden ist. Die Wurzel jeder Neurose ist dieVerdrängung, das Wiederauftauchen des verdrängten Materials bringtungeheure Belastungen und Probleme, ja Gefahren für den Patientenmit sich; er ist ja jetzt neuerlich vor die Auseinandersetzung zwischenTrieb und Gewissen gestellt. Wie wird er sich entscheiden? Es wäresinnlos, zu übersehen, daß er sich jetzt in Realschuld verstricken kann,die mit dem neurotischen Schuldgefühl garnichts zu tun hat. Die Neurose ist ihrem Ursprung nach - in diesem Punkt ist sich Adler mit Freudganz einig gewesen - kein moralisches Problem, denn die neurotischenKonflikte sowie die daraus resultierenden Verhaltensweisen und Symptome entstehen zweifellos in der frühen Kindheit, in einer Zeit also,in der von einem moralischen Verantwortungsgefühl noch keine Redesein kann. Wohl aber ist die Neurose, zumindest partiell, ein moralisches Problem hinsichtlich der Eltern, denn es ist oft genug derenwider das Sittengesetz verstoßendes Verhalten, welches die Neuroseverursacht; man denke nur an die typischen Situationen, wo die Elterndas Kind frustrieren oder aus Egozentrität es als ihr persönlichesEigentum ansehen. Nach der Analyse aber, also nach der Wieder-bewußtmachung der Probleme, gibt es die persönliche, die freie Ent-

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Scheidung. Nach der Überzeugung der Individualpsychologie kann dieVerantwortung für diese Entscheidung niemandem und damit aucheinem Patienten nicht abgenommen werden. Wenn die Dinge bewußtgemacht sind, entscheidet der Patient in der Phase der Synthese darüber, in welcher Richtung er geht; natürlich kann - das muß einbekannt werden - diese Entscheidung in eine Richtung führen, die demSeelsorger absolut nicht paßt. Dennoch wäre es völlig falsch, deswegendie Analyse abzulehnen oder sogar zu verdammen; bedauerlicherweisegibt es auch heute noch viele Seelsorger, die ein sogenanntes „linientreues" Verhalten, auch wenn es nur aus neurotischer Angst, Hemmungund Verkrampfung resultiert, oder gar bloße Fassade ist, einer freienEntscheidung, die möglicherweise zu einer Abweichung führt, ausdrücklich und eindeutig vorziehen. Was sie unter keinen Umständen eingehen wollen, ist das Risiko. Dieses Faktum führt hinüber zu einemanderen religiösen Problem, welches in der Psychotherapie immer wieder aufgerollt wird:ZurGewissensbildung undGewissensstruktur. Wirwissen seit Freud um den großen Einfluß der Erziehung auf die Gewissensentwicklung. Ein zu schwach ausgeprägtes Gewissen kann katastrophale Folgen haben, ebenso aber ist ein überstrenges, pedantischesGewissen psychohygienisch äußerst gefährlich, es hat schwere psychischeErkrankungen, vor allem Zwangsneurosen zur Folge. Man hat behauptet, daß die kirchliche Erziehung ganz allgemein, besonders aber aufsexuellem Gebiete, eine solche pedantische Gewissensbildung mit allenMitteln fördere, und deshalb auch von „ecclesiogenen Neurosen" gesprochen; sicher muß man zur Entschuldigung der Kirchen dabei auchberücksichtigen, daß viele ihrer Vertreter die kirchlichen Lehren mißverstehen, es bleibt aber das traurige Faktum bestehen, daß man vielfach versucht, Menschen heranzubilden, deren Gewissen ein so strengerFronvogt ist, daß eine Sünde apriori verunmöglicht wird. Adler aberhat mitNachdruck immer wieder daraufhingewiesen, daß es einKennzeichen des psychisch gesunden Menschen ist, sündigen zu können. Ermuß immer die Wahl haben, denn das „entscheidende Sein" (Jaspers)ist ein Merkmal des natürlichen menschlichen Seins. Jeder Versuch,sei es schon durch die Erziehung, sei es späterhin durch persönlicheVerdrängung, sich selbst zu einem Menschen zu entwickeln, der nichtsündigen kann, vernichtet das wahre menschliche Wesen. So gesehen,führt die Psychotherapie in bestimmten Fällen erst zur Fähigkeit, wieder eine Entscheidung zu treffen, somit auch wieder sündigen zu können. Mag sein, daß deswegen die Kirchen manchmal der Psychotherapie so skeptisch und mißtrauisch gegenüberstehen; wollen wir hoffen,

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daß auch dort die Zukunft der Entwicklung des personalen Gewissensgehören wird, also nicht nur jenes Gewissens, das uns irgendeinmalanerzogen worden ist, sondern jenes Gewissens, welches das Resultateiner echten persönlichen Auseinandersetzung ist. Die Menschheit istdabei, mündig zu werden, und man wird dem früher oder später (hoffentlich nicht zu spät!) durch Anerkennung des personalen GewissensRechnung tragen müssen. Adler war es - dies sollte nicht vergessenwerden —, der als erster der Psychotherapie nicht nur das Ziel deranalytischen Aufdeckung, sondern auch das der Neuformulierung derPersönlichkeit unter Verwertung der in der Analyse gewonnenen Erkenntnisse gesetzt hat. Er hat dem Menschen dafür auch ein Richtmaß,nämlich die Gemeinschaft, die Umorientierung von der Ich-Haftigkeitzur Wir-Haftigkeit angegeben. Nun darf man sich unter diesem Gemeinschaftsbegriff keineswegs nur eine Gemeinschaft vorstellen, die imMoment existiert; sich der jeweiligen Ordnung anzupassen, mag zwarpsychologisch ganz klug sein, oft ist es aber gleichzeitig auch ausgesprochen charakterlos. Der individualpsychologische Gemeinschaftsbegriff repräsentiert keineswegs nur den Nützlichkeitsstandpunkt, sondern er basiert auf der Gemeinschaft als Idee (Oskar Spiel), und dieseIdee beruht auf der Allgemeingültigkeit und auf der Hierarchie derWerte. Solcherart sieht die Individualpsychologie - allerdings erst nachdurchgeführter Analyse- den Menschen von einer Fülle von Soll-Forderungen angesprochen, mit denen er sichjetzt in Freiheit auseinandersetzen kann, wobei selbstverständlich das Risiko eines Versagens inKauf genommen werden muß. Niemand hat im übrigen eine bessereErklärung für dieses mögliche Versagen gefunden als das Christentum,indem es immer wieder auf die „gefallene Natur" des Menschen hinweist.

Es wurde in knapper Form zu zeigen versucht, daß viele religiöseProbleme in der Psychotherapie auftauchen, und wie nötig es ist, sichmit ihnen auseinanderzusetzen. Wenn nur ein wenig guter Wille aufbeiden Seiten vorhanden ist, kann man sich kaum vorstellen, daß esdabei zu einer Konkurrenzsituation zwischen Psychotherapie und Seelsorge kommt, wie es oft befürchtet worden ist. Man hat geglaubt, inder Psychotherapie eine moderne Heilslehre, einen Religionsersatz zusehen. Adler war einer der ersten, der sichgegen diesen Irrtum gewehrthat. Heilung und Heiligung sind zwei völlig voneinander getrennteDinge. Wer wollte leugnen, daß sich trotzdem in der praktischen Tätigkeit mitunter Interferenzen zwischen Psychotherapie und Religionergeben müssen? In einer mündlichen Mitteilung hat einmal Kauders

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gesagt: Diejenigen, die keine Gegensätze zwischen Psychotherapie undReligion sehen, machen es sich allzu leicht. Natürlich gibt es solcheGegensätze, und sie führen in die komplizierteste Problematik hinein,die dem Psychotherapeuten widerfahren kann, wenn er etwa gleichzeitig Psychotherapeut und religiös gläubig ist.

Die Individualpsychologie versucht, dieser Problematik, zusammengefaßt ausgedrückt, durch die Betonung der folgenden Punkte gerechtzu werden:

1. größte Ehrfurcht vor dem religiösen Bereich;2. Bemühung um eine möglichst klare Abgrenzung der Kompe

tenzen;

3. Förderung dessen, was Niedermeyer „universalistische Psychotherapie", das heißt Erfassung der gesamten Persönlichkeit und allerihrer Schichten und entsprechende Erweiterung des psychotherapeutischen Menschenbildes, genannt hat.

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LOGOTHERAPIE UND RELIGION

von Viktor E. Frankl

Für die Logotherapie kann Religion nur ein Gegenstand sein —nicht aber ein Standort. Religion ist ein Phänomen am Menschen, amPatienten, ein Phänomen unter anderen Phänomenen, denen die Logotherapie begegnet; im Prinzip aber sind für die Logotherapie die religiöse und die irreligiöse Existenz ko-existente Phänomene, mit anderen Worten, die Logotherapie ist ihnen gegenüber zu einer neutralenEinstellung verpflichtet. Die Logotherapie ist ja eine Richtung derPsychotherapie, und diese darf - zumindest nach dem österreichischenÄrztegesetz - nun einmal nur von Ärzten ausgeübt werden. Wenn alsoschon aus keinem anderen Grunde, so würde der Logotherapeut, weiler als Arzt den hippokratischen Eid geleistet hat, dafür Sorge tragenmüssen, daß seine logotherapeutische Methodik und Technik anwendbar ist auf jeden Kranken, mag er nun gläubig oder ungläubig sein,und anwendbar bleibt durch jeden Arzt, ungeachtet dessen persönlicher Weltanschauung.

Nach dieser unserer Bestimmung des Standortes der Logotherapieinnerhalb der Medizin wenden wir uns nunmehr ihrer Abgrenzunggegenüber der Theologie zu, die sich unseres Erachtens folgendermaßenumreißen läßt1: Das Ziel der Psychotherapie ist seelische Heilung -das Ziel der Religion jedoch ist das Seelenheil. Wie verschieden diesebeiden Zielsetzungen voneinander sind, mag daraus hervorgehen, daßder Priester um das Seelenheil seines Gläubigen ringen wird, unterUmständen ganz bewußt auf die Gefahr hin, ihn eben dadurch nurnoch in größere emotionale Spannungen zu stürzen - er wird sie ihmnicht ersparen können; denn primär und ursprünglich liegt dem Priester jedes psychohygienische Motiv fern. Aber siehe da: Mag die Religion ihrer primären Intention nach auch noch so wenig um so etwaswie seelische Gesundung oder Krankheitsverhütung bemüht und bekümmert sein, so ist es doch so, daß sie per effectum - und nicht per

1 V.E. Frankl, Das Menschenbild der Seelenheilkunde, Stuttgart 1959.

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intentionem! - psychohygienisch, ja psychotherapeutisch wirksam wird,indem sie dem Menschen eine Geborgenheit und eine Verankerungsondergleichen ermöglicht, die er nirgendwo anders fände, die Geborgenheit und die Verankerung in der Transzendenz, im Absoluten. Nun,einen analogen, ebenfalls unbeabsichtigten Nebeneffekt können wir beider Psychotherapie verzeichnen, insofern nämlich, als wir in vereinzelten, beglückenden, begnadeten Fällen sehen, wie der Patient im Laufeder Psychotherapie zu längst verschüttet gewesenen Quellen einer ursprünglichen, unbewußten, verdrängten Gläubigkeit zurückfindet2.Aber wann immer solches zustande kommt, hätte es niemals in derlegitimen Absicht des Arztes gelegen sein können, es sei denn, daß sichder Arzt mit seinem Patienten auf demselben konfessionellen Boden

trifft und dann aus einer Art Personalunion heraus agiert — dannaber hat er ja von vornherein seinen Patienten gar nicht als Arzt behandelt3.

Selbstverständlich ist es nicht so, als ob die Ziele der Psychotherapieund der Religion auf derselben Seinsebene stünden, die gleiche Werthöhe hätten. Vielmehr ist die Ranghöhe seelischer Gesundheit eine andere als die des Seelenheils 4. Die Dimension, in die der religiöse Menschvorstößt, ist also eine höhere, will heißen umfassendere, als die Dimension, in der sich so etwas wie Psychotherapie abspielt. Der Durchbruchin die höhere Dimension geschieht aber nicht in einem Wissen, sondernim Glauben.

Wollen wir das Verhältnis der humanen zur divinen, das heißt ultrahumanen Dimension bestimmen, so bietet sich uns als ein Gleichnisder Goldene Schnitt an5. Ihm zufolge verhält sich bekanntlich derkleinere Teil zum größeren so wie der größere zum Ganzen. Nun, ist esnicht etwas Analoges mit dem Verhältnis des Tieres zum Menschen unddes Menschen zu Gott? Bekanntlich eignet dem Tier bloße Umwelt,

2 V. E. Frankl, Die Psychotherapie in der Praxis, Wien 2. A. 1961.3 D.F. Tweedie, Logotherapy and the Christian Faith: An Evaluation of

Frankl's Existential Approach to Psychotherapy, Grand Rapids 1961. —D.F.Tweedie, An Introduction to Christian Logotherapy, Grand Rapids1963. —R. CLeslie, Jesus and Logotherapy: The Ministry of Jesus as Inter-preted through the Psychotherapy of Viktor Frankl, New York 1965.

4 V. E. Frankl, Theorie und Therapie der Neurosen: Einführung in Logotherapie und Existenzanalyse, Wien 1956.

5 V. E. Frankl, Grundriß der Existenzanalyse und Logotherapie. In: Handbuch der Neurosenlehre und Psychotherapie, hrsg. von V.E.Frankl, V.E.v.Gebsattel und J.H.Schultz, 3.Bd., München 1959.

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während der Mensch „Welt hat" (Max Scheler); aber die menschlicheWelt verhält sich zu einer Uberwelt nicht anders als die tierische Um

welt zur menschlichen Welt. Und das heißt soviel wie: ebensowenigwie das Tier imstande wäre, aus seiner Umwelt heraus den Menschenund dessen Welt zu verstehen, ebensowenig ist es möglich, daß derMensch Einblick hat in die Überwelt, daß er Gott verstünde oder gardessen Motive nachzuvollziehen vermöchte.

Nehmen wir das Beispiel eines Affen, dem schmerzhafte Injektionengegeben werden, um ein Serum zu gewinnen. Vermag der Affe jemals zu begreifen, warum er leiden muß? Aus seiner Umwelt herausist er außerstande, den Überlegungen des Menschen zu folgen, der ihnin seine Experimente einspannt; denn die menschliche Welt, eine Weltdes Sinnes und der Werte, ist ihm nicht zugänglich. An sie reicht ernicht heran, in ihre Dimensionen langt er nicht hinein; aber müssenwirnicht annehmen, daß die menschliche Welt selber und ihrerseits überhöht wird von einer nun wieder dem Menschen nicht zugänglichenWelt, deren Sinn, deren Übersinn allein seinem Leiden erst den Sinnzu geben imstande wäre 6?

Der im Glauben vollzogene Schritt in die ultra-humane Dimensionist nun fundiert durch die Liebe. An und für sich ist dies ein bekannter

Sachverhalt. Weniger bekannt aber dürfte sein, daß es für ihn eineinfra-humane Präformation gibt. Wer hätte nicht schon mit angesehen,wie ein Hund, dem - in seinem Interesse, sagen wir durch einen Tierarzt - ein Schmerz zugefügt werden muß, voll Vertrauen aufblickt zuseinem Herrn. Ohne „wissen" zu können, welchen Sinn der Schmerzhaben soll, „glaubt" das Tier insofern, als es seinem Herrn vertraut,und zwar eben weil es ihn liebt -sit venia anthropomorphismo 7.

Was nun den „Schritt in die ultra-humane Dimension" anlangt, soläßt er sich nicht forcieren, und zwar am allerwenigsten durch diePsychotherapie. Wir sind schon froh, wenn das Tor zum Ultra-Humanen nicht blockiert wird durch den Reduktionismus, wie er einer mißverstandenen und vulgär interpretierten Psychoanalyse auf dem Fußfolgt und mit ihr an den Patienten herangetragen wird. Wir sind schon

6 V.E.Frankl, Man's Search for Meaning: An Introduction to Logotherapy, Preface by Gordon W.Allport, Boston 1962.

7 Der fanatische Kritiker des Anthropomorphismus, der VergleichendeVerhaltensforscher sieht den Splitter im Auge des andern, den Anthropomorphismus im Tierbild —nicht aber den Balken in seinem eigenen Auge,den Zoormorphismus im Menschenbild.

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froh, wenn Gott nicht mehr als „nichts weiter denn" eine Vater-Imagound die Religion nicht mehr als „nichts anderes denn" eine Mensch-heitsneurose hingestellt und solcherart in den Augen des Patientenherabgesetzt wird.

Mag nun die Religion für die Logotherapie auch noch so sehr „nur"ein Gegenstand sein, wie eingangs gesagt wurde, so liegt sie ihr dochzumindest sehr am Herzen, und zwar aus einem einfachen Grund: imZusammenhang mit Logotherapie meintLogos Geistund, darüber hinaus, Sinn. Unter Geist ist zu verstehen die Dimension der spezifischhumanen Phänomene, und im Gegensatz zum Reduktionismus versagtsich die Logotherapie eben, sie auf irgendwelche sub-humanen Phänomene zu reduzieren, beziehungsweise von ihnen zu deduzieren.

In die spezifisch humane Dimensionhinein zu lokalisierenhätten wirnun unter anderen Phänomenen das der Selbsttranszendenz der Existenz auf den Logos hin. Tatsächlich geht menschliches Dasein immerschon über sich hinaus, weist es immer schon auf einen Sinn hin. In diesem Sinne ist es dem Menschen in seinem Dasein nicht um Lust8 oderum Macht, aber auch nicht um Selbstverwirklichung, vielmehr umSinnerfüllung zu tun. In der Logotherapie sprechen wir da von einemWillen zum Sinn °.

Insofern, als wir Menschsein definieren können als Verantwortlichsein, ist der Mensch für die Erfüllung eines Sinnes verantwortlich. ImGegensatz zur Frage nach dem Wofür muß aber in der Psychotherapiedie Frage nach dem Wovor unseres Verantwortlichseins offen bleiben.Die Entscheidung muß dem Patienten überlassen werden, wie er seinVerantwortlichsein interpretiert, als Verantwortlichsein vor der Gesellschaft, vor der Menschheit, vor dem Gewissen, oder überhauptnicht vor etwas, sondern vor jemandem, vor der Gottheit10.

8 Woran dem Menschen liegt, ist nicht die Lust an und für sich, sondernein Grund zur Lust. In dem Maße,in dem die Lust aber wirklich zumInhaltseiner Intention und womöglich auch noch zum Gegenstand seiner Reflexionwird, verliert er den Grund zur Lust aus den Augen und sackt die Lust auchschon in sich zusammen.

9 Dieses Konzept darf weder in einem voluntaristischen Sinne mißverstanden noch im Sinne eines Appells an den Willen mißdeutet werden. Vgl.V.E.Frankl, Aphoristische Bemerkungen zur Sinnproblematik, Archiv fürdie gesamte Psychologie 116, 336, 1964, beziehungsweise: Gegenwartsprobleme der Psychotherapie, Wiener Ztschr. f. Nervenheilkunde 20, 78, 1962.

10 Es fragt sich nur, ob sich überhaupt von Gott und nicht vielmehr nurzu ihm sprechen läßt. Den Satz von Ludwig Wittgenstein: „whereof one

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Es mag nun eingewendet werden, daß die Frage nach dem Wofürdes Verantwortlichseins des Patienten ja gar nicht offen gelassen werden muß. Vielmehr sei in Form der Offenbarung die Antwort jalängst schon gegeben worden; der Beweis hinkt aber. Er läuft nämlichauf eine Petitio principii hinaus; denn daß ich die Offenbarung alssolche überhaupt anerkenne, setzt eine Glaubensentscheidung immerschon voraus. Es verfängt also nicht im geringsten, wenn man, einemUngläubigen gegenüber, darauf verweist, daß es eine Offenbarunggibt; wäre sie für ihn einesolche, so wäre er ja auch schon gläubig.

Die Psychotherapie muß sich also diesseits des Offenbarungsglaubensbewegen und die Sinnfrage diesseits einer Trennung in die theistischeWeltanschauung einerseits und in die atheistische andererseits beantworten. Wenn sie solcherart das Phänomen der Gläubigkeit nicht alsein Glauben an Gott, sondern als den umfassenderen Sinnglaubenauffaßt, dann ist es durchaus legitim, wenn sie sich mit dem Phänomendes Glaubens befaßt und beschäftigt. Sie hält es dann eben mit AlbertEinstein, nach dem die Frage nach dem Sinn des Lebens stellen, religiössein heißt.

Der Sinnglaube desMenschen ist, im Sinne von Kant, eine transzendentale Kategorie. Genauso, wie wir seit Kant wissen, daß es irgendwie sinnlos ist, über Kategorien wie Raum und Zeit hinauszufragen,einfach darum, weil wir nicht denken und so denn auch nicht fragenkönnen, ohne Raum und Zeit immer schon vorauszusetzen - genausoist das menschliche Sein immer schon ein Sein auf den Sinn hin, mages ihn auch noch so wenig kennen: Es ist da so etwas wie ein Vorwissenum den Sinn; und eine Ahnung vom Sinn liegt auch dem in der Logotherapie so genannten„Willen zumSinn" zugrunde. Ob er es will odernicht, ob er es wahrhat oder nicht - der Mensch glaubt an einen Sinn,solange er atmet. Noch der Selbstmörder glaubt an einen Sinn, wennauch nicht des Lebens, des Weiterlebens, so doch des Sterbens. Glaubteer wirklich an keinen Sinn mehr —er könnte eigentlich keinen Fingerrühren und schon darum nicht zum Selbstmord schreiten.

Ich sah überzeugte Atheisten sterben, die es zeitlebens glattwegsperhorresziert hätten, an „ein höheres Wesen" oder dergleichen, aneinen in einem dimensionalen Sinne höheren Sinn des Lebens zu glau-

cannot speak, thereof one must be silent" — wovon man nicht sprechenkann, davon muß man schweigen —können wir ja nicht nur aus dem Englischen ins Deutsche, sondern auch aus dem Agnostischen ins Theistischeübersetzen—von dem man nicht sprechen kann, zu dem muß man beten.

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ben; aber auf ihren Totenbetten haben sie, was sie in Jahrzehnten niemandem vorzuleben imstande gewesen waren, „in der Stunde ihresAbsterbens" dessen Zeugen vorgestorben: eine Geborgenheit, die nichtnur ihrer Weltanschauung Hohn spricht, sondern auch nicht mehr in-tellektualisiert und rationalisiert werden kann. „De profundis" brichtetwas auf, ringt sich etwas durch, tritt zutage ein restloses Vertrauen,das nicht weiß um den, dem es entgegengebracht wird, noch um das,worauf vertraut wird, und doch dem Wissen um die einfachste Prognose trotzt. In die gleiche Kerbe schlägt Walter v. Baeyer, wenn erschreibt: „Wir halten uns an Beobachtungen und Gedanken, diePlüggeausgesprochen hat. Objektiv betrachtet ist keine Hoffnung mehr da.Der Kranke, der bei klaren Sinnen ist, müßte selbst längst gemerkthaben, daß er aufgegeben ist. Aber immer noch hofft er, hofft bis zumEnde. Worauf? Die Hoffnung solcher Kranken, die vordergründigeine illusionäre, auf Heilung in dieser Welt gerichtete sein kann undnur im verborgenen Grunde ihren transzendenten Sinngehalt ahnenläßt, muß im Menschsein verankert liegen, das nie ohne Hoffnung seinkann, vorausweisen auf eine künftige Vollendung, die zu glauben demMenschen auch ohne Dogma angemessen und natürlich ist"11.

Heute ist der „Wille zum Sinn" nur allzu oft frustriert. Es wendensich Patienten an den Psychiater, weil sie am Sinn ihres Lebens zweifeln oder gar daran verzweifeln, einen Lebenssinn überhaupt zu finden 12. In der Logotherapie sprechen wir in diesem Zusammenhang voneiner existentiellen Frustration. An und für sich handelt es sich um nichtsPathologisches; denn die Sorge um den Sinn seiner Existenz zeichnetja den Menschen als solchen aus - nur der Mensch kann die Sinnfragestellen, denSinn seines Daseins in Frage stellen. Freud jedoch war anderer Ansicht, wenn er an Marie Bonaparte schrieb: „Im Moment, daman nach Sinn und Wert des Lebens fragt, ist man krank . . ."13 Mirist der Fall eines Patienten, eines Universitätsprofessors, bekannt, derwegen seiner Verzweiflung an einem Daseinssinn an meine Klinik gewiesen worden war. ImGespräch ergab sich, daß es sich bei ihm eigentlich um einen endogen depressiven Zustand handelte. Merkwürdig war,daß ihn die Grübeleien über den Sinn seines Lebens nicht etwa, wie

11 W.v.Baeyer, Psychologie am Krankenbett, Gesundheitsfürsorge —Gesundheitspolitik 7, 197, 1958.

12 V.E. Frankl, Die Heimholung der Psychotherapie in die Medizin, Actapsychother. 10, 99, 1962.

13 S.Freud, Briefe 1873-1939, Frankfurt am Main 1960.

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man hätte vermuten können, zu den Zeiten der depressiven Phasenüberkamen; vielmehr war er zu diesen Zeiten dermaßen hypochondrisch präokkupiert, daß er an so etwas gar nicht hätte denken können. Nur in den gesunden Intervallen gab er sich mit diesen Grübeleien ab! Mit anderen Worten, zwischen geistiger Not einerseits undseelischer Krankheit andererseits bestand im konkreten Falle sogarein Ausschließungsverhältnis.

In Fällen, in denen sich die existentielle Frustration in neurotischenSymptomen niederschlägt, haben wir es mit einem neuen Typus vonNeurose zu tun, den wir in der Logotherapie als noogene Neurose bezeichnen. In den USA ist man sowohl an der Harvard Universität alsauch am Bradley Center in Columbus, Georgia, darangegangen, Testsauszuarbeiten, um die noogene Neurose von einer psychogenen Neurose diagnostisch differenzieren zu können. Crumbaugh und Maholickhaben 225 Versuchspersonen getestet. Abschließend erklären die Autoren: "The results consistently support Frankls hypothesis that a newtype of neurosis - which he terms noogenic neurosis - is present in theclinics alongside the conventional forms. There is evidence that weare in truth dealing with a new Syndrome"14.

Was die Frequenz der noogenen Neurose anlangt, so sei auf die Ergebnisse statistischer Forschung verwiesen, wie sie Werner in London,Langen und Volhard in Tübingen, Prill in Würzburg, Niebauer inWien, Frank M. Buckley in Worcester, Mass., USA, und Nina Toll inMiddletown, Conn., USA, erarbeitet haben. Übereinstimmend gehendie Schätzungen dahin, daß unter den anfallenden Neurosen ca. 20%noogen sind15.

Statistische und Testuntersuchungen, die in den USA von Kotchendurchgeführt wurden, haben ergeben, daß der logotherapeutischeGrundbegriff der Sinn-Orientiertheit das vorzüglichste Kriteriumpsychischer Gesundheit darstellt16. Davis, McCourtund Solomon wieder haben festgestellt, daß sich die imVerlauf derSensoryDeprivation-Experimente auftretenden Halluzinationen keineswegs durch die Ver-

14 J.C Crumbaugh and LeonardT.Maholick, An Experimental Study inExistentialism: The Psychometric Approach to Frankls Concept of NoogenicNeurosis, J. Clin. Psychol. 20, 200, 1964.

15 „Symposium on Logotherapy" auf dem 6. Internat. Kongreß f. Psychotherapie in London.

16 Th.A.Kotchen, Existential Mental Health: An Empirical Approach,J. Individual. Psych. 16, 174, 1960.

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mittlung bloßer Sinnesdaten, sondern einzig und allein durch dieWiederherstellung eines richtigen Sinnbezugs vermeiden lassen. Abschließend erklären die Autoren, was das Gehirn brauche, sei Sinn.Es zeigt sich, daß das elementare Sinnbedürfnis des Menschen bis indie biologischen Fundamente seines Daseins hinein verfolgt werdenkann. Aus dessen Projektion in die physiologische Ebene wieder in denRaum der spezifisch humanen Phänomene transponiert, klingt das Leitmotiv der Logotherapie, eine Brücke schlagend zwischen den Bedeutungen von Logos - Geist und Sinn - wie eine Fuge: Der Geist brauchtden Sinn - der Nous den Logos - und die noo-gene Erkrankung ihrelogo-therapeutische Behandlung.

Neben den noogenen Neurosen gibt es aber nicht nur die psychogenen, sondern auch die von mir beschriebenen somatogenen Pseudo-neurosen17. Ich erwähne nur die Agoraphobien, hinter denen eine Hyperthyreose steht, die Klaustrophobien, in denen eine latente Tetaniesteckt, und die Depersonalisationssymptome beziehungsweise die Psychodynamischen Syndrome, hinter denen sich eine Nebennierenrinden-insuffizienz versteckt. Es kann also davon gar nicht dieRede sein, daßdie Logotherapie in ihrer Theorie spiritualistisch und in ihrer Praxismoralistisch ist. Eher ließe sich dergleichen der Psychosomatischen Medizin nachsagen. Tatsächlich hat das leibliche Krankheitsgeschehendurchaus nicht durchgängig jenen Stellenwert inderLebensgeschichte undjenen Ausdruckswert für die Geistseele, den ihm die PsychosomatischeMedizin so großzügig zuspricht. Keineswegs ist der Leib des Menschenein getreues Spiegelbild seines Geistes - dies gälte von einem „verklärten" Leib; der Leib des „gefallenen" Menschen jedoch ist, sofernüberhaupt ein Spiegel, ein zerbrochener, verzerrender Spiegel. Gewißhat jede Krankheit ihren Sinn; aber der wirkliche Sinn einer Krankheit liegt nicht im Daß des Krankseins, vielmehr im Wie des Leidens,in der Haltung, in der sich der Kranke der Krankheit stellt, in derEinstellung, mit der er sich mit der Krankheit auseinandersetzt.

Unseres Erachtens eignet auch noch dem psychotischen Dasein einFreiheitsgrad. Tatsächlich kann auch noch der im Sinne einer endogenen Depression leidende Mensch dieser Depression trotzen. Es seimir verstattet, dies an Hand des Auszugs aus einer Krankengeschichtezu illustrieren, die ich für ein Document humain halte. Die Patientinwar Karmelitin, und in ihrem Tagebuch schilderte sie den Verlauf derErkrankung und der Behandlung - wohlgemerkt: einer auch pharma-

17 V.E.Frankl, Psychotherapieschäden, Die Heilkunst 77, 260, 1964.

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kotherapeutisch und nicht nur logotherapeutisch orientierten Behandlung. Ich beschränke mich auf das Zitat einer Stelle aus diesem Tagebuch:

„Die Traurigkeit ist mein ständiger Begleiter. Was immer ich auch tue, sielastet wie ein Bleigewicht auf meiner Seele. Wo sind meine Ideale, all dasGroße, Schöne, all das Gute, dem einst mein Streben galt? Nur gähnendeLangeweile hält mein Herz gefangen. Ich lebe wie hineingeworfen in einVakuum. Denn es gibt Zeiten, da selbst der Schmerz sich mir versagt." Wirhaben es also mit der Andeutung einer Melancholia anaesthetica zu tun. DiePatientin setzt ihre Schilderung fort: „In dieser Qual ruf ich zu Gott, demVater aller. Doch auch er schweigt. So möchte ich eigentlich nur noch eines:sterben —heute noch, wenn möglich gleich." Und nun folgt ein Umschwung:„Wenn ich nicht das gläubige Bewußtsein hätte, daß ich nicht Herr übermein Leben bin —ich hätte es wohl schon oftmals fortgeworfen." Triumphierend fährt sie fort: „In diesem Glauben beginnt die ganze Bitterkeit desLeidens sich zu wandeln. Denn wer da meint, ein Menschenleben müsse einSchreiten von Erfolg zu Erfolg sein, der gleicht wohl einem Toren, der kopfschüttelnd an einer Baustelle steht und sich wundert, daß da in die Tiefegegraben wird, da doch ein Dom entstehen soll. Gott baut sich einen Tempelaus jeder Menschenseele. Bei mir ist Er gerade daran, die Fundamente auszuheben. Meine Aufgabe ist es nur, mich willig Seinen Spatenstichen hinzuhalten."

Ist die Logotherapie in ihrer Praxis moralistisch? Sie ist es aus demeinfachen Grunde nicht, weil Sinn nicht rezeptiert werden kann. DerArzt kann nicht dem Leben des Patienten Sinn geben. Sinn kann letzten Endes überhaupt nicht gegeben, sondern muß gefunden werden.Und zwar muß der Patient ihn selber und selbständig finden. DieLogotherapie befindet nicht über Sinn und Unsinn oder Wert undUnwert. Es war nicht die Logotherapie, sondern die Schlange, die imParadies den Menschen versprach, sie würde sie machen zu Wesen „wieGott, erkennend Gutes und Böses".

Sinn muß gefunden und kann nicht mehr oder weniger willkürlichgegeben werden. Es wäre denn, er wird gegeben, wie Antwort gegebenwird. Gibt es doch auf jede Frage nur eine Antwort, nämlich die richtige, für jedes Problem nur eine Lösung, nämlich die gültige, und sodenn auch in jeder Situation nur einen, nämlich den wahren Sinn. Ihngilt es zu finden, und auf der Suche nach ihm leitet den Menschen dasGewissen. Es ließe sich definieren als die Fähigkeit, intuitiv den einmaligen und einzigartigen Sinn, der in jeder Situation verborgen ist,aufzuspüren. Mit einem Wort, das Gewissen ist ein Sinn-Organ.

Es nennt also nicht nur jede Person, sondern auch jede Situationeine Entelechie ihr eigen. Gleich der Entelechie im traditionellen Sinneist der in jeder Situation schlummernde Sinnkeim nicht subjektiv, son-

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dem objektiv. Im Sinne eines Understatement können wir ihn mit Rudolf Allers18 als trans-subjektiv bezeichnen. Bemerkenswerterweise istniemand geringerer als der Schöpfer der experimentellen Gestaltpsychologie, Wertheimer19, kühn genug, um von den Forderungen derSituation als objektiven Qualitäten zu sprechen.

Was der Mensch zu verwirklichen hat, ist also weder sein eigenesSelbst, er selbst als ein Subjekt, noch etwas Subjektives, sondern nuretwas Relatives; denn Sinn bezieht sich nicht nur auf eine bestimmteSituation, sondern auch auf eine bestimmte Person, die in die bestimmte Situation verwickelt ist. Mit anderen Worten, Sinn wandeltsich nicht nur von Tag zu Tag und von Stunde zu Stunde, sondernwechselt auch von Mensch zu Mensch. Er ist Sinn ad situationem undnicht nur ad personam.

Das Gewissen gehört zu den spezifisch menschlichen Phänomenen;aber es ist nicht nur menschlich, sondern auch allzu menschlich, so zwar,daß es an der condition humaine teilhat und deren Signatur, der Endlichkeit, unterworfen ist. Das Gewissen kann den Menschen ja auchirreführen. Mehr noch: bis zum letzten Augenblick, bis zum letztenAtemzug weiß der Mensch nicht, ob er wirklich den Sinn seines Lebenserfüllt hat oder nicht vielmehr nur geglaubt hat, ihn zu erfüllen: igno-ramus ignorabimus. Seit Peter Wust gehören „Ungewißheit und Wagnis" zusammen. Mag das Gewissen auch noch so sehr den Menschen imUngewissen lassen über die Frage, ob er den Sinn seines Lebens erfaßtund ergriffen hat - solche „Ungewißheit" enthebt ihn nicht des „Wagnisses", seinem Gewissen zu gehorchen oder zunächst einmal auf dessen Stimme zu horchen.

Aber nicht nur dieses „Wagnis" gehört zu jener „Ungewißheit",sondern auch die Demut. Daß wir nicht einmal auf unserem Sterbebettwissen werden, ob das Sinn-Organ, unser Gewissen, nicht am Endeeiner Sinn-Täuschung unterlegen ist, bedeutet auch schon, daß das Gewissen des andern recht gehabt haben mag. Demut bedeutet also Toleranz; aber Toleranz bedeutet nicht Indifferenz; denn den Glaubendes Andersgläubigen respektieren, heißt noch lange nicht, sich mit demanderen Glauben identifizieren.

18 V.E.Frankl, Rudolf Allers als Philosoph und Psychiater, Jahrbuchfür Psychologie, Psychotherapie und medizinische Anthropologie 11, 187,1964.

19 M.Wertheimer, Some Problems in the Theory of Ethics, in: Documentsof Gestalt Psychology, University of California Press 1961.

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Es gibt keine Lebenssituation, die wirklich sinnlos wäre. Dies istdarauf zurückzuführen, daß die scheinbar negativen Seiten der menschlichen Existenz, insbesondere jene tragische Trias, zu der sich Leid,Schuld und Tod zusammenfügen, auch in etwas Positives, in eineLeistung gestaltet werden können, wenn ihnen nur mit der rechtenHaltung und Einstellung begegnet wird. Nun liegt viel unvermeidliches Leiden im Wesen der menschlichen Verfassung, und der Arztsollte sich davor hüten, angesichts solcher existentieller Fakten derFluchttendenz des Patienten womöglich noch in die Hände zu arbeiten.

Wenn ich im rechten, nämlich aufrechten Leiden noch eine letzte unddoch die höchste Möglichkeit zur Sinnfindung sichtbar mache, leisteich nicht erste, sondern letzte Hilfe. Der Einwand, die Psychotherapiehabe nicht zu trösten - auch dort nicht, wo sie (oder die Medizinüberhaupt) nicht mehr heilen kann -, verfängt nicht; denn nicht zufällig hat der weise Stifter des Allgemeinen Krankenhauses in Wien,Kaiser Joseph IL, über dem Tor eine Tafel anbringen lassen mit derInschrift: Saluti et solatio aegrorum - gewidmet nicht nur der Heilung,sondern auch der Tröstung der Kranken. Daß auch letztere in denAufgabenbereich des Arztes fällt, geht nicht zuletzt hervor aus derEmpfehlung der American Medical Association: „Der Arzt muß auchdie Seele trösten. Das ist keinesfalls allein Aufgabe des Psychiaters.Es ist ganz einfach die Aufgabe jedes praktizierenden Arztes." Ich binüberzeugt, die Jahrtausende alten Worte des Jesaja: „Tröstet, tröstetmein Volk, spricht euer Gott", stehen nicht nur auch heute noch inGeltung, sondern sind auch an den Arzt gerichtet.

Gegenüber der existentiellen Problematik, die sich bei der von uns sogenannten noogenen Neurose auftut, würde eine einseitig psychodynamisch und analytisch eingestellte und ausgerichtete Psychotherapieden Patienten über seine „tragische Existenz" (Alfred Delp) hinwegtrösten, während die Logotherapie sich ihr eben stellt und sie so ernstnimmt, daß sie auf deren psychologistische und pathologistische Mißdeutung als „nothing but defense mechanisms and reaction formations"verzichtet. Oder heißt es nicht ebenfalls trösten, und zwar billigenTrost spenden, wenn der Arzt wie so oft - ich zitiere den amerikanischen Psychoanalytiker Burton20 - die Todesangst des Patienten aufeine Kastrationsfurcht reduziert und solcherart existentiell verharm

lost? Was gäbe ich darum, wäre ich von der Kastrationsfurcht geplagt

20 A. Burton, Death as a Countertransference, Psychoanalysis and thePsychoanalytic Review 49, 3, 1962—63.

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und nicht von der bangen Frage, dem quälenden Zweifel, ob meinLeben dereinst, in der Stunde meines Sterbens, einen Sinn gehabthaben wird?

Durch das Auftreten noogener Neurosen hat sich aber nicht nur derHorizont der Psychotherapie erweitert, sondern auch deren Klientelverändert. Die Ordination des Arztes ist eine Auffangstelle gewordenfür alle am Leben Verzweifelnden, an einem Sinn des Lebens Zweifelnden. Angesichts der „Abwanderung der abendländischen Menschheit vom Seelsorgerzum Seelenarzt", wie sie von Gebsattel verzeichnenkonnte, wächst der Psychotherapie eine Art Statthalterfunktion zu.Paradoxerweise bringt die Vermassung in der Industriegesellschaft eineVereinsamung mit sich, die das Aussprachebedürfnis steigert. DerFunktionswandel der Psychotherapie hat in den USA, im Lande derlonely crowd, die Psychoanalyse21 hochgespielt. Die USA sind aberauch das Land der puritanischen und calvinistischen Tradition. Sexuelleswar auf einer kollektiven Ebeneverdrängt worden, und nun lockerte eine pansexualistisch mißverstandene Psychoanalyse die kollektiveVerdrängung. In Wirklichkeit war die Psychoanalyse selbstverständlich gar nicht pansexualistisch, sondern nur pandeterministisch. WieMowrer22 nachweisen konnte, fügt sich die deterministische Orientierung der Psychoanalyse in die calvinistische Tradition. Es stimmt alsonicht, daß die Psychoanalyse, wie Freud23 an Pfister schrieb, mit derreligiösen Weltanschauung inkompatibel ist. Was die calvinistischeWeltanschauung anlangt, so ist der Determinismus der gemeinsameNenner und also auch eine Brücke zwischen ihr und der Psychoanalyse24.

Selbstverständlich ist der Mensch determiniert, das heißt Bedingungen unterworfen, mag es sich nun um biologische, psychologische odersoziologische Bedingungen handeln: In diesem Sinne ist er keineswegs

21 Freud hat seine Entdeckung eigentlich ebenso wenig verstanden wieColumbus, der, als er Amerika entdeckte, glaubte, in Indien angekommenzu sein. Auch Freud glaubte, das Wesentliche an der Psychoanalyse seienMechanismen wie Verdrängung und Übertragung, während es sich in Wirklichkeit um die Vermittlung eines tieferen Selbstverständnisses durch eineexistentielle Begegnung handelte.

22 O. Hobart Mowrer, The Crisis in Psychiatry and Religion,New York 1961.23 Psychoanalysis and Faith: The Letters of Sigmund Freud and Oskar

Pfister, ed. Heinrich Meng and Ernst L. Freud, transl. Eric Mosbacher,New York 1963, dt. A. S. Freud/O. Pfister, Briefe 1909-1939, Frankfurt 1963.

24 Vgl. S.Freud: „Wir leben nicht, wir werden ,gelebt' von unbekannten,

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frei —er ist nicht frei vonBedingungen, er ist überhaupt nicht frei vonetwas, sondern frei zu etwas, das will heißen, frei zu einer Stellungnahme gegenüber all den Bedingungen; und eben diese eigentlichemenschliche Möglichkeit ist es, die der Pandeterminismus so ganzund gar übersieht und vergißt.

Niemand braucht mich erst aufmerksam zu machen auf die Bedingtheit des Menschen - schließlich bin ich Facharzt für zwei Fächer, Neurologie und Psychiatrie, und als solcher weiß ich sehr wohl um die biopsychologische Bedingtheit des Menschen; aber ich bin nicht nur Facharzt für zwei Fächer, sondern auch Überlebender von vier Lagern,Konzentrationslagern, und so weiß ich denn auch um die Freiheit desMenschen, sich über all seine Bedingtheit hinauszuschwingen und selbstden ärgsten und härtesten Bedingungen und Umständen entgegenzutreten, sich entgegenzustemmen, kraft dessen, was ich die Trotzmachtdes Geistes zu nennen pflege.

Auch eine nicht psychoanalytisch orientierte Psychotherapie hatErfolge zu verzeichnen. Dies gilt im besonderen von der behavioristi-schen und reflexologischen Schule. Freilich lassen sich diese Erfolgepotenzieren, sobald auch der Einstieg in die geistige, das heißt die

unbeherrschbaren Mächten." Immer wieder wird etwa behauptet, es sei derEinfluß der Vater-Imago, dem im konkreten Falle die Verzerrung desGottesbildes und so denn auch die Verleugnung Gottes zuzuschreiben ist.Meine Mitarbeiter nahmen sich die Mühe, einer auslesefreien Serie desinnerhalb 24 Stunden anfallenden Krankengutes hinsichtlich der Korrelationen nachzugehen, die sich zwischen Vater-Imago und religiösem Leben aufhellen lassen. Im Laufe ihrer statistischen Untersuchung stellte sich heraus,daß 23 Personen eine mit durchaus positiven Zügen ausgestattete Vater-Imago besaßen, während 13 nichts Günstiges auszusagen wußten. Und merkwürdig: von den 23 unter einem guten pädagogischen Stern aufgewachsenenfanden später nur 16 zu einem ebenso guten Verhältnis zu Gott, während7 ihren Glauben aufgaben; unter den 13 aber, die unter den Auspizien einernegativen Vater-Imago aufgezogen worden waren, fanden sich nur 2, dieals irreligiös qualifiziert werden konnten, während sich nicht weniger als 11zu einem gläubigen Leben durchgerungen hatten. Es rekrutierten sich alsodie 27 in ihrem späteren Leben Religiösen keineswegs nur aus den Kreisenjener Leute, die in einem förderlichen Milieu aufgewachsen waren, wiedenn auch umgekehrt die 9 irreligiös gewordenen ihre Irreligiosität nichtetwa nur einer negativen Vater-Imago zu verdanken hatten. Selbst wenn wirin den Fällen, in denen eine Korrelation zwischen Vater-Imago und Gottesbild vorlag, ein Ergebnis der Erziehung zu sehen vermöchten, würden wirdemgegenüber die Wirkung einer Entscheidung anzunehmen haben in denFällen, in denen Vater-Imago und Gottesbild nicht kongruent waren.

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eigentlich menschliche Dimension gewagt wird. „Ein unwägbarer Vorteil ergibt sich dabei daraus, daß neurotische und krankhafte Symptome nicht auf gleicher, sondern auf der übergeordneten, der höchsten personalen Ebene behandelt werden"25.

Wie man weiß, gibt es eine sogenannte —sich als solche bezeichnende„Tiefenpsychologie". Wo aber bleibt die „Höhenpsychologie" - dienicht nur den Willen zur Lust, sondern auch den Willen zum Sinnmit in ihr Gesichtsfeld einbezieht? Nun, ein Vertreter der Höhenpsychologie hat einmal gesagt: Ideals are the very stuff of survival(überleben kann der Mensch nur, wenn er auf Ideale hin lebt), undgemeint hat dieser Vertreter der Höhenpsychologie, daß all dies nichtnur vom einzelnen Menschen, sondern auch von der Menschheit imganzen gilt. Von welchem Höhenpsychologen spreche ich da? Es ist dererste amerikanische Astronaut, John H. Glenn - wahrlich ein„Höhen"-Psychologe . . .

Diese Dimension einzubeziehen ist um so dringlicher, als ungefähr20% der Neurosen durch jenes Sinnlosigkeitsgefühl bedingt und verursacht sind, das ich als das existentielle Vakuum™ bezeichne. DemMenschen sagt nicht, wie den Tieren, ein Instinkt, was er tun muß, undheute sagen ihm auch keine Traditionen mehr, was er tun soll; baldwird er nicht mehr wissen, was er eigentlich will, und nur um so eherbereit sein, zu tun, was andere von ihm wollen, mit anderen Worten,er wird anfällig werden gegenüber autoritären und totalitären Führernund Verführern.

25 N.Petrilowitsch, Logotherapie und Psychiatrie, „Symposium on Logotherapie" auf dem 6. Internat. Kongreß f. Psychotherapie in London.

26 Insofern, als das existentielle Vakuum die Massenneurose von heuteist, begegnen wir sexuellen Vakatwucherungen auf Schritt und Tritt. Immermehr tritt die Sexualität als bloßes Sexualleben auf und sinkt zu einemSexualleben „ohne Ansehung der Person" ab; denn erst die Liebe vermöchtedie Partner instand zu setzen, in einander mehr denn eben bloße Sexual-partner zu sehen. Wen braucht es unter solchen Umständen zu wundern,wenn diese Pathologie des Zeitgeistes in modischen Absurditäten wie demMini-Bikini ihren Niederschlag findet? Die von den Illustrierten hochgespielte Problematik lautet ja nicht: oben mit oder ohne? Wesentlich istja nicht, ob oben oder unten —oder oben und unten —etwas entblößt wird.Worauf es ankommt, ist vielmehr, daß gleichzeitig etwas entwertet wird,und zwar das Gesicht. Ist doch das Antlitz der Ausdruck, der Spiegel desMenschlichen im Menschen. Zum Menschlichen im Menschen aber stößt nurdie Liebe vor, während eine der Liebe entleerte Sexualität zu einer progressiven „Depersonalisation" führt. Vgl.V.E.Frankl, Psycho-sexuelle Störungen, Österreich. Ärztezeitung 20, 62, 1965.

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Eigentlich brauchte sich aber heute niemand über Mangel an Lebenssinn zu beklagen; denn er braucht nur seinen Horizont zu erweitern,um zu bemerken, daß zwar wir uns des Wohlstands erfreuen, andereaber im Notstand leben; wir erfreuen uns der Freiheit; wo aber bleibtdie Verantwortlichkeit für die anderen? Vor Jahrtausenden hat sichdie Menschheit zum Glauben an den einen Gott durchgerungen: zumMonotheismus - wo aber bleibt das Wissen um die eine Menschheit,ein Wissen, das ich Monanthropismus nennen möchte? Das Wissen umdie Einheit der Menschheit, eine Einheit, die hinausgeht über alleMannigfaltigkeiten, sei es solche der Hautfarbe oder der Parteifarbe.

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DIE NEOANALYSE SCHULTZ-HENCKES UNDIHRE BEZIEHUNG ZUR RELIGION

von Melitta Mitscherlich

Was ist Religion? Die Definition Mircea Eliades1 erscheint überzeugend: Religion ist „Hierophanie", das heißt Erscheinen des Sakralen. Sakrales aber kann nur im Gegensatz zum Profanen erfaßtwerden.

Das Sakrale erscheint in den frühen Religionen im Ritus, in denTabus, in den Mythen, in den Göttergestalten, in Himmel und Erde.Das Sakrale ist für uns in Jesus Christus, dem Gottes- und Menschensohn erschienen, in seinem Tod und seiner Auferstehung. Ursprünglichbricht jede Hierophanie die Zeit auf, sie setzt einen neuen Anfang.Christus ist in einer historischen Stunde erschienen, aber mit seinemErscheinen beginnt eine neue Zeit. Der Durchbruch in diese heiligeZeit wird von jedem Christen immer wieder intendiert. Immer wiederwill er das Anfängliche wiederholen, immer wieder in seinem Bewußtsein lebendig erstehen lassen. Das Ziel des Christen ist NachfolgeChristi, ist Werden wie Christus.

Die Psychoanalyse Schultz-Henckes, die sogenannte Neoanalyse, wieer sie im „Lehrbuch der analytischen Psychotherapie"2, im „Lehrbuchder Traumanalyse"3, im „Gehemmten Menschen"4, in „Schicksal undNeurose"5 darstellt, ist eine wissenschaftliche Disziplin. Jede Wissenschaft aber ist profan. Sie ist das Profane katexochen.

Die Lehre Freuds • wurde hier schon dargestellt. Die Frage ist nun,wie unterscheidet sich die Lehre Schultz-Henckes von derselben. DasEntscheidende scheint mir die Distanzierung von jeglicher Metapsycho-

1 M.Eliade, Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen,Hamburg 1957.

2 H. Schultz-Hencke, Lehrbuch der analytischen Psychotherapie, Stuttgart1951.

3 H. Schultz-Hencke, Lehrbuch der Traumanalyse, Stuttgart 1949.4 H. Schultz-Hencke, Der gehemmte Mensch, Stuttgart 1947.5 H. Schultz-Hencke, Schicksal und Neurose, Jena 1931.6 S.Freud, Gesammelte Werke, Frankfurt 1951 ff.

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logie zu sein. Die Libido-Theorie, die Lehre von den Instanzen undvom Todestrieb werden aufgegeben. Freud spricht von den Phasen derlibidinösen Entwicklung. Schultz-Hencke sieht in jeder Phase ein originäres, autochthones Antriebsgebiet. Er spricht von einem primärenoralen Bedürfnis, einem „Habenwollen", einem Streben nach Besitz,das nichts mit Sexualität zu tun hat. So existiert für ihn das Aggressiveunabhängig vom Sexuellen, das heißt, es gibt verschiedene Qualitäten,die sich prinzipiell voneinander unterscheiden, während Freud sie allesub specie Lustprinzip einheitlich bewertet.

Die Vorstellungen Schultz-Henckes ermöglichen genaue, mikropsychologische Untersuchungen der einzelnen Antriebe. Für relevanthält Schultz-Hencke besonders die vitalen, die triebhaften Bedürfnissedes Menschen, die in unserer Kultur besonders antinomisch sind, dasStreben nach Besitz, nach Geltung, Macht und Sexualität. Die christlichen Ordensregeln heißen Armut, Gehorsam und Keuschheit. DasZiel der Schultz-Henckeschen Analyse ist zunächst das gleiche wievon Freud, den Patienten arbeits- und genußfähig zu machen. Überdas Ziel der Analyse sagt Schultz-Hencke aber noch folgendes: „Dieanalytische Psychologie darf als ihr Ziel zwar nicht bezeichnen, ausden Patienten Liebende zu machen, aber sie darf sehr wohl davon sprechen, daß sie den Patienten zu einem Mehr-lieben-Können zu verhelfenhabe"7. Wer dächte dabei nicht an den entscheidenden Satz, der dasFundament christlichen Denkens ist, „liebe deinen Nächsten wie dichselbst". Dazu kommt, was Franz Alexander8 treffend „Emotionalreorientation" genannt hat. Diese Neuorientierung ermöglicht demMenschen, den Anmutscharakter der Welt neu zu erfahren und eineveränderte Einstellung zu den Mitmenschen zu gewinnen. Auch in derNeoanalyse ist wie in jeder Psychotherapie die Beziehung zwischenArzt und Patient von entscheidender Bedeutung. Ihr Verhältnis sollteimmer ein partnerhaftes, niemals ein autoritäres sein. Von dem Partnerverhältnis zwischen Mensch und Gott spricht Ernst Michel in seinemBuch „Der Partner Gottes" °.

Will man dem Christentum kritisch gegenübertreten, und ich möchtedas hier tun, so könnte man sagen, daß es zwei Probleme nicht

7 H.Schultz-Hencke, Lehrbuch der analytischen Psychotherapie, a.a.O.,S.198.

8 F. Alexander, Psychosomatic Medicine, Its Principles and Applications,New York 1950.

9 E.Michel, Der Partner Gottes, Weisungen zum christlichen Selbstverständnis, Stuttgart 1946.

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gelöst hat, das des Bösen in der Welt, und das des Weiblichen imweitesten Sinne, des Chtonischen. Das Böse wurde in der Gestalt desTeufels begriffen. Dieser steht im krassesten Gegensatz zu Gott. Umeine andere, mögliche Lösung anzudeuten, nenne ich nur das Buch vonSchelling „Das Wesen der menschlichen Freiheit." Hier ist das Böseintegriert, das Böse ist der Grund der Existenz Gottes10.

Schultz-Hencke begreift das Aggressive in seinem dialektischen Wesen, wenn er es einerseits im Sinne des adgredi sieht und andererseitsals das Destruktive, das Vernichtende. Die Ambivalenz liegt im Aggressivenselbst. Das Bösezeigt sich als die andere Seite der Zuwendungzu Mensch und Welt, die in Widerstand und Ablehnung erfahrenwurde.

Das Christentum stellt bestimmte Forderungen auf: „Liebe deinenNächsten wie dich selbst." Ein großer Teil der heutigen Menschen undunserer Kranken kann dieses Gebot nicht erfüllen. Eine neue Erfah

rung, in der Analyse gewonnen, eröffnet ihnen aber oft die Möglichkeit, den Sinn dieser Forderung zu erfassen. Eine Ahnung leuchtetin ihnen auf, daß diese neue Erfahrung wichtig für sie sein könnte.In diesem Sinne verstanden, kann die Neoanalyse den Weg freimachen, um zu einer neuen Einstellung zum Mitmenschen zu gelangen.

Freud lehnte zunächst das Aggressive als selbständigen Impuls abund sah es nur im Zusammenhang seiner libidotheoretischen Vorstellung. Erst 1923, wohl veranlaßt durch den 1. Weltkrieg und seineFolgen, widmete er dem Aggressiven seine besondere Aufmerksamkeit.Er erkannte die ungeheure Bedeutung des Aggressiven, sah aber dasAggressive auch dann noch als Ausdruck des Todestriebs, als eine seinerGestalten. Es ist also fraglich, ob man bei Freud von einem originäraggressiven Trieb sprechen kann, denn er bleibt mit metapsychologischen Vorstellungen verbunden.

Schultz-Hencke erkannte das Aggressive als selbständigen Impulsan, erkannte früh dessen Wichtigkeit und schenkte ihm seine besondereAufmerksamkeit. Der Bändigung und Verwandlung des Aggressivenkommt in unserer heutigen Kultur eine ganz besondere Bedeutung zu,die kaum zu überschätzen ist.

Wer von uns Analytikern hat nicht erlebt, daß äußerst feindseligund destruktiv eingestellte Menschen sich im Laufe einer Behandlung

10 F. W. Schellings Werke, München 1927, Philosophische Untersuchungenüber das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängendenGegenstände (1809).

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wandeln und eine neue Einstellung zur Welt gewinnen. Mit Rechtkönnen wir sagen, daß die Neoanalyse dem Menschen ermögliche, einZiel des Christentums zu erreichen, nämlich Mitmenschlichkeit.

Als entscheidendes Moment des Christentums gilt seine positiveBeziehung zur Welt. Man denke im Gegensatz dazu an die buddhistische Negation derselben.

Die Neoanalyse Schultz-Henckes sieht den Menschen, auch wennsie ihn als antinomisches Wesen begreift, positiv und bejaht die Welt.Sie betont, daß der kranke Mensch durch die psychoanalytische Behandlung in den Besitz all seiner ursprünglichen Möglichkeiten gelangen soll. Dieser bestimmte Mensch soll die Fähigkeit erlangen, sichin der Welt voll realisieren zu können. Schultz-Hencke geht von derVorstellung aus, die er nicht expressis verbis äußert, die aber seinDenken bestimmt, daß der Mensch ursprünglich und am Anfang überdie triebhaften und vitalen Kräfte verfügt, die es ihm ermöglichen,sein Leben zu meistern und in der Welt zu bestehen. Am Anfang stehtdas Heile, das Gesunde. Die Depravation geschieht durch die sozialeUmwelt.

Man kann von jeder Psychoanalyse und auch von der Schultz-Henckes sagen, daß sie sich in ganz besonderer Weise um den Menschenbemüht, um den einzelnen Menschen und dessen Selbstverwirklichung.Hat nicht aber erst der einzelne durch das christliche Denken sein

Gewicht und seine Würde bekommen?

Zunächst wurde der Gegensatz zwischen Religion und Neoanalyseformal dargestellt. Der Unterschied zwischen dieser und dem Freudschen Denken wurde kurz aufgezeigt, auf zwei nichtgelöste Antinomienim Christentum hingewiesen, und es wurde schlagwortartig versucht,darzustellen, wie sich im Ansatz des Schultz-Henckeschen Denkens

über das Aggressive im dialektischen Begreifen desselben eine Möglichkeit der Überwindung der einen der beiden Antinomien anzubahnenscheint. Die Kürze der Zeit verbietet, auf die Integration des Weiblichen in der Neoanalyse im Sinne Schultz-Henckes einzugehen. Vielleicht kann nur ganz kurz gesagt werden, daß der Begriff der Hingabein keiner anderen Psychoanalyse auftaucht als nur bei Schultz-Hencke.Die Fähigkeit der Hingabe aber wird in unserer Kultur als typischweiblich begriffen, während im neoanalytischen Denken die Möglichkeit und Fähgkeit, sich hinzugeben, als eine menschliche Potenz erscheint, die zu jedem reifen Menschen gehört.

Es wurde darauf hingewiesen, daß mit dem Erscheinen Christi eineneue Zeit beginnt und dieses Ereignis vom religiösen Menschen immer

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und immer wieder erlebt wird. Er verbindet sich mit dem Gewesenen

und durchbricht das Gegenwärtige. Die Zeit, die wir mit der Uhrmessen und als ein „jetzt" bestimmen, wird in der Anteilnahme desChristen an dem ursprünglich Geschehenen durchbrochen. Das Vergangene ist nicht vergangen, sondern gegenwärtig. Die heilige Zeitsteht senkrecht auf der profanen.

Geschieht nicht in der Analyse bei der Übertragung etwas Ähnliches?Vergangenes wird gegenwärtig, ehemalige Horizonte brechen auf, einGewesenes wird nicht als Gewesenes, sondern als Gegenwärtiges erlebt.Nicht, daß es sich dabei um die heilige Zeit handelt, wie im religiösenBereich. Es geht aber um etwas Entscheidendes für den Menschen, auchfür ihn ist die fließende Zeit, das continuum, unterbrochen. Hier scheinteine tiefe Ähnlichkeit zwischen religiösem Erleben und dem Geschehender Analyse zu liegen, die wohl im Wesen der seelischen Struktur desMenschen begründet ist. Je mehr wir mit analytischen Augen, wissend,daß es profane Augen sind, das Religiöse betrachten, desto mehrerkennen wir, daß auch im Bereich des Sakralen die Gesetzmäßigkeitender Psyche herrschen. Man denke nur an das Bestreben des Christen,sich mit Christus zu identifizieren. Die Identifizierung ist eine unserertragenden Grundbegriffe. Damit soll nicht gesagt sein, daß das Religiöse nicht das ganz Andere ist, es ist nur gesagt, daß trotz allerGegensätzlichkeiten bestimmte Gesetzmäßigkeiten das Profane, wiewir es in der Analyse treffen, und das Sakrale, wie es sich uns imChristentum offenbart, beherrschen.

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PERSONALE PSYCHOTHERAPIE UND RELIGION

von Johanna Herzog-Dürck

Was ist personale Psychotherapie? Sie geht aus vom Menschsein alsder ursprunghaften Möglichkeit des Angesprochenwerdens und desAntwortens, des Empfangens und Gestaltens. Sie sieht den Menschennicht als naturwissenschaftliches Objekt, vielmehr auch in seinem Leibsein und in seiner Triebnatur als einen Antwortenden. Sie sieht ihnnicht als Gegenstand der Soziologie, vielmehr auch in seinen sozialenRelationen als einen sich selbst erst den Sinn Gebenden. Nicht alsseelische Ontogenese einer Phylogenese wird hier der Mensch verdeutlicht, sondern als reifend in innerer Geschichte und frei, und auchin seiner geschichtlichen Faktizität als ein der Möglichkeit nach Tran-scendierender. PersonalePsychotherapie erfaßt den Menschen als Antwortenden auf die Ganzheit seines endlichen Seins, als von einemunendlichen Sein umgriffen und gleichzeitig ewig bedroht durch dasNichtsein, das in Zeit und Tod, in der Problematik der Sinnlosigkeitund im Bösen (als dem Unmenschlichen) auf ihn zukommt. Sie siehtihn als „Person", und das heißt wörtlich als das „Tönende", das„Stimme seiende" zwischen Nichts und Sein — entgegen dem Nichtsund umgriffen vom Sein, sich in seiner Endlichkeit selbst annehmend.Bedeutet doch „Antworten" die fortschreitende und reifende Auseinandersetzung mit den Grundbedingungen unseres Daseins und damit die Überwindung des Nichts, der Angst und der Leere, den „Mutzum Sein", um mit Paul Tillich zu sprechen1, und bedeutet es dochnicht nur die Partizipation am Sein, sondern den Mitvollzug und dasMitschaffen am ewig bewegten Sein, wie Max Scheler es sieht. DerMensch ist der Verantwortliche für die gesamte Schöpfung, der durchseine eigene Vergeistigung in der „Noosphäre" den Kosmos demgöttlichen Bereich zuzubringen hat, so lehrt ein Teilhard de Chardin 2.In der Maske des griechischen Tragöden tritt der verborgene Gott

1 P. Tillich, Mut zum Sein, Stuttgart 1953.2 T. de Chardin, Der Mensch im Kosmos, München 1959.

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hervor, den er darstellt. In der „Person" wird offenbar, was wir dasWesenhafte, das Eigentliche eines Menschen nennen. Etwas vom geheimnisvollen schöpferischen Urgrund allen Seins wirkt sich aus imEinmaligen der Person. Darin liegt die unfaßbare Freiheit des Menschen, als Person auf die Welt und auf sein eigenes Menschsein schöpferisch antworten zu können in einer Geschichte der Reifung, die injeder Phase, ja in jeder Stunde des Lebens neu sein kann.

Seine eigentliche Bestimmung und Erfüllung aber findet das Wesenvon Person in seinerBegegnung mit dem Du. Die Wir-Psychologie vonFritz Kunkel liegt der Personalen Psychotherapie ebenso zugrundewie die Psychologie der Individuation von C. G. Jung. Und man darfwohl sagen, daß im Personbegriff beide konvergieren. Im philosophischenRaum wird der Begriff der Person tragend bei Gabriel Marcelin seiner leidenschaftlichen Metaphysik des Nächsten. Noch eindringlicher und zentraler aber steht er beiMartinBuber, dessen „dialogischesPrinzip" sein ganzes Denken durchpulst. „Eigenwesen erscheint, indemes sich gegen andere Eigenwesen absetzt. Person erscheint, indem siezu anderen Personen in Beziehung tritt"3.

Diese Aspekte des Personseins sind in der Erfahrung der psychotherapeutischen Arbeit konkret nachweisbar; von ihnen her gewinntdie Personale Psychotherapie ihren Begriff der Neurose. Neurose istimmer ein Erstarren in der Angst des Nichts, ein Erstarren in derAngst vor dem Du, vor dem eigenen Urgrund, und damit - entscheidend - ein Nicht-antworten-Können auf die Grundbedingungen dermenschlichen Existenz. Der neurotische Mensch erfährt die Grund

bedingungen mit Grauen, in welche Form dieses Grauen auch verkleidet sein möge, mit einem Grauen, das sich nicht zu transzendierenvermag. Grundsätzlich könnte er die Bewegung nicht vollziehen, dieeine Simone Weil, die französische Mystikerin, vollzieht, wenn siesagt: „Die unbeugsame Notwendigkeit, das Elend, die Bedrängnis...die Grausamkeit, die Folterqualen, der gewaltsame Tod, der Zwang,der Terror, die Krankheiten - alles dies ist die göttliche Liebe. Es istGott, der sich aus Liebe von uns zurückzieht, damit wir ihn liebenkönnen. Denn wären wir den Strahlen seiner Liebe unmittelbar aus

gesetzt, ohne den Schutz von Raum, Zeit und Stofflichkeit, wir würdenverdunsten wie das Wasser in der Sonne. Wir hätten nicht genügendIch in uns, um das Ich aus Liebe preiszugeben. Die Notwendigkeit istdie Schutzwand zwischen Gott und uns, damit wir sein können . . ." 4

3 M. Buber, Das dialogische Prinzip, Heidelberg 1962.4 S.Weil, Schwerkraft und Gnade, München 1952, S.97.

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In der Anamnese unserer Patienten nun aber sehen wir nichtsdeutlicher als dies: wie die kreative Kraft des Antwortens, die Wuchskraft des Personseins in früher Lebenszeit verschüttet worden ist undsich selber weiterhin verdunkelt. Und es ist immer der Mensch, derim Menschen den Ursprung verschüttet. Der Mensch nährt den Menschen mit dem, was dem Nichts widerstehen und es überwinden wird.Aber es ist ebenfalls der Mensch, der den Menschen ins Nichts hinausstößt, und das heißt: in die Angst, in die Preisgabedes eigenen Wesens,eben des Wesens als Person; das heißt also in ein vielleicht lebenslängliches Flüchten vor sich selbst, oder in einvielleicht lebenslänglichesBetteln und Werben um Anerkennung, oder in eine verstockte Be-mächtigung, oder in eineunüberbrückbare Entfremdung von sich selbst,der Welt und jedemDu. Lauter Formen der „Verzweiflung" 5.

Wenn wir nun die Neurose erkennen als in ihrem Kern bedingtdurch die Lähmung und Verdunkelung der personalen Kraft desAntwortens und des Begegnens, so scheint es uns nicht möglich, dieHeilung der Neurose anders als ein im tiefsten Grunde „religiöses"Phänomen zu erfassen, gleichviel ob dies ausdrücklich in der Bewußtseinssphäre als solches in den Blick tritt oder sich mehr oder wenigerverschleiert vollzieht. Denn das Wesen des religiösen Phänomens besteht doch ganz grundlegend und von aller sekundären Formung abgesehen im Ergriffenwerden des Menschen vom öffnenden Offenen,von einem ihm offenbar werdenden Sein. Wie verhält sich aber nundieser religiöse Aspekt des Heilungsgeschehens zu dem, was im allgemeinen Verständnis unter Religion gemeint wird? Wir können vielleicht so sagen: Wo dies Offenbarwerdende bereits gefaßt ist im Bereichder Glaubenssätze und der dogmatischen Wahrheiten, der Theologieund des Kultes, der Kirche also, da liegt der therapeutische Heilungsweg wohl außerhalb der Schwellen dieses Bereiches. Der von derNeurose, von der seelischen Erstarrung Freigewordene hat aber dieFreiheit erlangt, sich mit diesem Bereich in eigener Entscheidung undStellungnahme neu auseinanderzusetzen, z. B. in der Form, daß ereine vorher vorhandene, unverstandene Abhängigkeit oder Bevormundung mit der Reifung seiner Persönlichkeit zu überwinden fähig wird(vielleicht aber damit auch erstmalig sieht, was „Kirche" eigentlich ist).

Hingegen scheint es mir nun das urtümliche, ursprüngliche Wesendes religiösen Phänomens selbst zu sein (vor seiner rational-transratio-

5 Im psychologischen Raum entsprechen sie dem Kierkegaardschen Begriffder Verzweiflung. Vgl. S.Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, Köln 1956.

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nalen Ausformung im Dogma), das im Heilwerden eines Menschenzu leben beginnen kann. Wenn ich selbst dieses Phänomen früher alsontischen Glauben bezeichnet habe, so möchte ich ihm heute einedeutlichere Artikulation geben und es als existentielle Aufmerksamkeitzu beschreiben versuchen. Existentielle Aufmerksamkeit ist das Organder Seele für die Tiefe des Menschseins, das erschauernde Vernehmenund vernehmende Verstehen dieser Tiefe in ihrer ganzen Paradoxität.Existentielle Aufmerksamkeit lebt in den vier Weisen des Offenwerdens, die wir finden in der Phantasie und im Gemüt, im Gewissenund in der Liebe. Die Phantasie „merkt" das Numinose im kosmischenSchauer der Natur, im Rauschen des Windes und des Wassers, imWeben des Baumes und im Flüstern des Waldes, im Quell, im Feuer,im Sternenhimmel, im heiligen Bild - im alldurchwaltenden Mysterium des Lebens. (RudolfOttos Tremendum und Fascinosum, Schleiermachers Anschauung und Gefühl des Unendlichen, Diltheys enthusiastische Versenkung und Einfühlung seien hier nur genannt.) In derpsychotherapeutischen Behandlung, vor allem im Traumprozeß, können wir es immer wieder erleben, daß ein bisher durch seine Abwehrhaltungen und Ängste seelisch verschlossener Mensch zum ersten Male(vielleicht seit früher Kindheit zum ersten Male) von einem ihn tiefund irrational anrührenden Traumbild ein Erwachen der Phantasie,ein numinoses „Merken" und Schauendwerden erfährt — die ersteStufe der existentiellen Aufmerksamkeit. Wo diese nun durch das mitmenschliche Du in Anspruch genommen wird, öffnet sich das Horchendes Gemütes, die Kraft der Seele als Zartheit, als Transparenz für denMenschen in seiner je immer ergreifenden Gestalt und Geschichte (alseines je immer Eingetauchten in die Grundbedingungen!). Als Gewissen finden wir die existentielle Aufmerksamkeit da am Werk,wo essich um die verborgene Evidenz des Echten und Wahren handelt, umden Sinn für das Wachstum der Ordnungen, um den Mut zur Entscheidung, um das Suchen nach der Transparenz des Heiligen in derWelt. Wo sich aber die Grundbedingungen selber auftun und von derexistentiellen Aufmerksamkeit in ihrer paradoxen Zumutung ertragenwerden wollen, da gibt es nur eine Antwort, wenn nicht ein Ausweichen, eine Lüge oder ein Untergang in der Angst erfolgen soll. Unddiese einzige Antwort ist die Liebe.

Beim neurotischen Menschen wurde die existentielle Aufmerksamkeit in diesen ihren verschiedenen Wirkbereichen in früher Lebenszeit(ganz oder teilweise) zum Erblinden und zum Ertauben gebracht.Feste Wände, feste Schemata, feste Vorurteile und Projektionen ver-

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sperren ihm nun den offenen Horizont. Mit Projektion schirmen freilich auch wir alle uns ständig unser gefährliches Offensein ab, und dashat aus ökonomischen Gründen ja auch sein relatives Recht. DieProjektionen sind zunächst nur der Ausdruck unserer jeweiligen Unreife, die aber, im Gegensatz zur Neurose, bereit ist, sich als einUnterwegssein zu bekennen. Jesus scheint mir der größte Meister imZerbrechen verfestigter Vorstellungen und Projektionen zu sein, imöffnen des Menschen in das Vernehmen-Verstehen hinein: das Reich

Gottes kommt nicht mit äußeren Gebärden. Auf Schritt und Tritt

ruft er die existentielle Aufmerksamkeit der Menschen auf. (Man denkeetwa an die bei Lukas verzeichnete Geschichte vom Mahl bei dem

Pharisäer Simon.)Die Personale Psychotherapie versteht den Menschen von der grund

sätzlichen Möglichkeit des Transzendierens her. C. G. Jung lehrt uns:der Archetypus Gottes findet sich in der Psyche vor. Er ist nicht etwaGott selbst - er weist vielmehr hin auf die außerpsychische Wirklichkeit Gottes. Diese aber gehe uns als Psychologen nichts an, wir sindEmpiriker und haben uns nicht mit Metaphysik zu befassen. Die Personale Psychotherapie sieht das anders. Sie versteht den Menschen apriori gar nicht anders als geöffnet in das offene Sein, sie verstehtMenschsein nicht anders. Hierin berührt sie sich also mit Karl Jaspers,der Existenz interpretiert als das Offenwerden für das Umgreifendeder Transzendenz. Bei Jung ist Religion die sorgfältige Beobachtungund Berücksichtigung eines wertvollen numinosen Inhalts der Psyche,nämlich des Archetypus. Personales Verständnis dagegen ist es, denMenschen als konfrontiert mit der Daseinstiefe selbst zu intuieren,

je immer im vollen Horizont von Mannsein und Frausein, von Muttersein und Vatersein, von Leben und Tod, von Liebe, von Schönheit vordem Dunkel der Welt. Wenn Paul Tillich (in umsichtiger Zurückhaltung) die Religion als die „Dimension der Tiefe" (in allen Funktionen des Geistes) bezeichnet, so scheint uns seine Position verwandt.Neurose ist für uns gerade dies: diese „Tiefe" nicht im vertrauendlebendigen Ernst der Reifung beantworten zu können - andererseitsaber auch nicht unbehelligt von ihr zu bleiben wie „Jedermann".Neurose heißt also, unproduktiv frustriert an ihr (dieser „Tiefe") zuleiden, da die Grundkraft der Person, die wir als existentielle Aufmerksamkeit bezeichneten, erstickt und verengt worden ist. Empirikerist also auch der personale Psychotherapeut, nur ist sein methodischerErfahrungsentwurf nicht gebunden an biologische Gesetze der Libidooder an energetische Stufen einer Ontogenese, sondern auf Mensch-

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sein als auf das bewegte, ringende, unendlich bedrohte Personseinbezogen.

Für den neurotischen Menschen ist Gott tot, nämlich fixiertes Vorgestelltes, theistische Setzung aus dem unbewußten Vaterkomplex oderder illusorischen Muttersehnsucht - gefrorene Projektion. Für ihn hatFreud recht - und wie recht! Für die Wirklichkeit des Neurotikers

gibt es keinen lebendigen Gott. Nicht daß die bewußte Überzeugung,die theoretische Erklärung des neurotischen Menschen dies immer inWorten ausspräche. Das Gegenteil kann der Fall sein. Aber die seelischeRealität der Angst, der Sorge, der Erstarrung und der Hybris stelltden ontischen Unglauben, stellt seinsmäßig die Ohnmacht Gottes, dasNichtsein Gottes für diesen Menschen vor Augen. Aber, und alsbaldgilt es ja diese Frage zu stellen, würde der neurotische Mensch überhaupt so an sich leiden, wenn nicht auch eine ganz andere Stimmein ihm spräche, eine Ahnung sich dennoch geltend machte vom wirklichwirklichen Leben, eine Sehnsucht nach der Erweckung durch den göttlichen Funken?

Darin liegt eben der Unterschied der neurotischen Existenz zurJedermannswelt. Diese vergißt Gott, ohne daran zu kranken, da sieexistentiell unaufmerksam, unhorchend leben darf. In der Neuroseaber „kommt es durch". Sie ist der Ausdruck davon, daß der Menschsich, entgegen dem zweiten Gebot, ein Bildnis von Gott gemacht hat,vor dem er nun zittert, unter dem er nun als einem unbegreiflichFernen und Lieblosen darniederliegt, oder gegen den er rechtet, Prozeßführt, Recht behält, oder mit dem er sich in hybrider Selbstvermessungauf gleichen Fuß stellt. Es ist das Geheimnis Gottes, das auch in seinerOffenbarung noch Geheimnis bleibt, das die Neurose nicht ertragenkann, an dem sie scheitert. Die Vergänglichkeit, die Zeit und derTod, der Leib, der Raum und das Geschlecht, die Schuld, das Schicksalund das Böse (also die Infragestellung, die Erniedrigung und Vernichtung der menschlichen Würde), diese Gegebenheiten, an denen lebendiges religiöses Leben sich gerade im Überstieg, im transcendere desGlaubens entzündet, diese sind es, die die Verzweiflung der Neurosebilden und ihr Nichtlebenkönnen ausmachen. Die große metaphysischeZumutung, im Paradoxen zu gründen (im Paradoxen: denn wie solltedas menschliche Stäubchen, dieser infinitesimale Punkt im All vonRaum und Zeit, im All des Seienden, mit Gott selbst in Beziehungstehen?), kann der neurotische Mensch einfach nicht „annehmen".

Im Dunkel der ersten Lebensfrühe liegen die Weichenstellungen derneurotischen Entwicklung, liegen jene Wirkströme, die das heile Kind

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ins Unheilvolle der Verengung und Verzerrung treiben, die seinursprunghaftes „Stimmesein" (personare) ver-stimmen, seine unumschränkte Vertrauensbereitschaft lähmen und vergiften. Gibt es überhaupt, so möchte man fragen, die radikal „herzlose", die radikal „gewissenlose" Mutter, die nicht einmal auf der Antenne der Phantasie,nicht einmal durch das Wunder der Geburt, durch das Numinose einesKindes zu erschüttern ist? Wir wissen es nicht, denn solches Unglückentzieht sich dem feststellenden Urteil im unaufhellbaren Bereich des

menschlichen Geheimnisses, - ein „Grenzfall". Was wir aber sehenund miterleben, sind die Auswirkungen einer liebeleeren, verlassenenKindheit, die licht- und freudlose Kälte, in der das Kind wie ein Dinggehandhabt wird, um ohne dialogisch weckende, einweisende Zwiesprache seinem In-der-Welt-Sein ausgeliefert zu werden.

Wir sehen demgegenüber in den Reproduktionen der Anamnesendie ganz andere Muttergestalt, die das Kind förmlich aufsaugt durcheine Hypertrophie des Gemüts, die das Kind einfach nicht entlassenkann, es einfach nicht als Sterbliches, als Endliches und an Schuldlernen Müssendes begreift, in ihrem „Eigensinn" also auf passive Weisedas Kind so um-hegt, daß es sein Menschsein niemals wirklich anzunehmen lernen kann.

Es gibt aber auch Eltern, die ihr Kind nur gegen Ausweis von Werten, gegen Erfüllung von Bedingungen bejahen und gegen Leistunglieben zu dürfen vermeinen. Die überschwängliche Huld der Liebesfülle, die zum echten Kindsein gehört, wird allzufrüh umgesetzt in einstrenges Verrechnen, und damit wird das heile Vertrauen umgestempelt in ein Leistungsgewissen, das von Angst, Furcht und Schuldgefühlen ständig verfinstert werden muß.

Mit erschreckender Seelenblindheit depravieren wieder andere Väterund Mütter die ungeschützte Integrität der kindlichen Seele in ihrerahnenden Weltoffenheit, und dies um so verheerender, je weitersich bereits die wunderbaren Organe der existentiellen Aufmerksamkeit im Kind entfaltet haben. Es kann fast satanisch anmuten, wie einErwachsener vor den Augen seines Kindes das Menschliche zertrampelt und das Leben selber demütigt. Das Kind wird in seinem ganzenPersonsein versehrt, in seinen Grundordnungen zerrissen und zwangsweise in die Existenzform der Lüge überführt6.

6 Näheres zu diesen Formen vgl. J. Herzog-Dürck, Menschsein als Wagnis,Stuttgart 1960.

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So scheint es mir das bezeichnende Kernstück der Neurose zu sein,daß der Mensch durch den früh erfahrenen Mangel an dialogischerexistentieller Aufmerksamkeit um die ursprünglichen religiösen Strukturkräfte seiner Seele betrogen worden ist, um jenes transzendierendeVertrauen also, das auch in den abgründigen Dunkelheiten der Weltweiterschreitet, reiferes Menschsein konstituiert. Ihre Nahrung ziehtdiese Strukturkraft aus der Liebesfülle von Mensch zu Mensch, dieallein dem Menschen die Welt samt ihren offenen Toren ins Nichts

zur Heimat machen kann. Wo diese Liebe verkümmert war, kann die„Person" nicht „Stimme" sein, nicht schöpferisch werden, kann jener„Glaube" nicht anspringen, der den gesamten Existenzentwurf einesMenschen zu tragen hat, der die Beziehung von Mensch zu Menschfundiert, der zum Lebenskeim alles späteren bewußten religiösenBekenntnisses werden wird. Entspringt doch aus ihm jene ontischeOffenheit und Hingabe, die dem Dunkel des Todes, dem Geheimnisder Grundbedingungen in demütiger Unerschrockenheit entgegenwächst. Wo diese Strukturkraft gelähmt ist, bleibt ein späterer religiöser Überbau tot, aufgestülpt und theoretisch. Gerade im Bereich deschristlichen Daseins stoßen wir immer wieder auf dies furchtbare

Dilemma. Den neurotischen Menschen „erlöst" einfach sein „Glaube"nicht, obwohl er vielleicht alles tut, um sich in der Nachfolge Christizu vervollkommnen und sein Leben nach den ethischen Weisungendes Christentums zu regeln. Je mehr er es tut, je weniger es ihm aberdabei gelingt, das Paradox der Frohen Botschaft in sich zu verwurzeln,desto mehr wird er sich verdammt und „nicht erwählt" fühlen.

Was sagen uns die genannten Aspekte nun über den Heilungsvorgang der Neurose, der als ein nüchterner, realistischer Arbeitsvorgangnicht sachlich genug gedacht werden kann, und doch einen Aspekt hat,der in diesen Kategorien nicht aufgeht? Müssen wir nicht sagen, daßetwas von jenem dialogischen Geschehen, das in der Frühzeit des Lebens ausfiel oder verödete, in der therapeutischen Situation Ereigniswerden sollte? Die erste Voraussetzung dazu besteht wohl darin, daßder Patient vom Therapeuten „angenommen" wird. Was heißt das?Es wird heute so viel über den Begriff der Gegenübertragung (undzwar im positiven Sinn des Wortes und nicht als Kunstfehler) gerätselt.Die Lösung dieses Rätsels besteht meines Erachtens aber darin, daß derTherapeut dem Patienten, dessen ganzer Welt und Geschichte seineexistentielle Aufmerksamkeit zuwendet, sich selbst als „Person" ihmzuwendet (und dies verstehen wir jetzt nicht mehr etwa im Sinne von

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„privat" oder persönlich-subjektiv). Das bezieht sich auf die Lebensgeschichte, auf die aktuelle Problematik und vor allemauf den Traumprozeß und andere Phänomene des Unbewußten. Ist es doch, als ob„ein Etwas" im Patienten sich von unterhalb der erstarrten Bezirkeher mit dem Therapeuten in Verbindung setzte und ihm die Chiffrender Träume zusende. Je freier der Therapeut von jeder vorgefaßtenMeinung und Theorie ist, um diese Chiffren unbefangen auf sich wirken zu lassen, desto eher wird er den Schlüssel zu ihnen finden. ImTraumvorgang durchbricht der erstarrte Mensch - sofern er eben dochnicht völlig erstarrt, im Zentrum seines Menschseins nicht erstarrt ist -die vereisten, verbrannten, versandeten Schichten seines seelischen Soseins und „will" sich vor seine eigene Wahrheit bringen. Wie sollte dader TherapeutdemTraumprozeß nicht mit existentieller Aufmerksamkeit zugewandt sein dürfen? Das will heißen: mit Phantasie, dennsonst siehter ja das Wesentliche nicht, erschaut er nicht die Zusammenhänge und die Brennpunkte im Gesamt dieses menschlichen Soseinsund wird nicht wirklich „berührt" vom Ereignis des Traumes; dasheißt: mit Gemüt, denn sonst kann er das lebendige Du in seinemLeid ja nicht wirklich erhorchen; das heißt: mit Gewissen, denn sonstunterscheidet er nicht den echten Klang vom unechten; und mit Liebe:um das Erwachen der seelischen Organe in seinem Partner nun auchwirklich beantworten zu können. So zeigt sich die Behandlung als eindialogisch-dialektisches Ineinandergreifen von Wachsein und Erwachen. Wenn der Dichter des Wessobrunner Gebets, ein Mönch des9. Jahrhunderts, in staunender Anrufung den Schöpfer der Himmelund der Erde um „spahida" bittet, und das bedeutet eigentlich Spähkraft, so darf wohl auch der Psychotherapeut um „spahida" bemühtsein. Im Traum - so kann es geschehen - bricht in Wirbeln des Erschreckens etwas von dem herauf, „was uns unbedingt angeht" (Tillich),was „mitten in unserem Leben jenseitig ist" (Bonhoeffer), wird etwasgesprengt vom „projizierten Gott" und von dessen Macht der Dürre,Öde und Kälte.

Das mag im konkreten Einzelfall mehr oder weniger verhüllt undoft in ganz unscheinbaren Bildern vor sich gehen. Ich möchte nuneinige Beispiele solchen Geschehens bringen, um zu zeigen, wie „Religiöses" (nämlich Erwachen, Erschrecken, Wirbel, Verwandlung, Öffnung in den je weiteren Horizont) sich konkret, realiter er-eignet. DasDu des Therapeuten gehört freilich dazu, um es wahrzunehmen, umes fruchtbar zu machen für den Leidenden und seine Entwicklung.Wir haben also gewissermaßen religiösen Rohstoff, das Religiöse als

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Rohstoff vor uns, wie es in gewissen Träumen auftauchen kann. Daßes entdeckt wird, ist zunächst entscheidend. Seine spätere Auswirkungund Gestaltung bleibt ein anderes Problem. (Daß ich die Träume fastohne Context bringen muß, macht natürlich das Verständnis schwierig.Aber es darf uns nun einmal hier nur auf den springenden Punktankommen.)

Traum eines neunundzwanzigjährigen, tief schizoid gestörten, vereinsamten und schwer am Leben verzagenden jungen Mannes:

„Ich stehe in der Mensa in der Schlange vor der Theke, wo das Essen ausgegeben wird. Als ich meinen Teller genommen habe und mich gerade zumGehen wende, sehe ich mir genauer an, was ich darauf habe. Ich bin verärgert, weil das Fleischstück fast nur aus Knorpel besteht und praktischungenießbar ist. Ich will mich beschweren. Aber wie ich mich wieder zurTheke umwende, ist kein Student mehr zu sehen. Die Frauen hinter derTheke sind starr wie Wachsfiguren. Das Essen auf dem Teller in meinerHand ist kalt geworden. Andere Teller stehen da. Aber das Essen daraufist eiskalt und erstarrt, als ob die Teller im Eisschrank gestanden hätten.Ich hebe einige Teller an, setze sie aber wieder hin. Mein Ärger steigertsich dabei zusehends. Es scheint mir niemand da zu sein, dem ich meinenÄrger ins Gesicht sagen könnte. Alles ist erstorben."

Was geht da vor sich? Der Traum wäre nicht erschöpft, wenn wirihn reduzieren wollten auf die orale Versagung des Säuglings oderKleinkindes und die entsprechenden Aggressionen. Nein, die Anklageist umfassender, fundamentaler. Von der alltäglichen, vordergründigenSzene wallt es für einen Augenblick wie ein Vorhang zurück und zeigtdem Träumer seine Wirklichkeit: zu eisiger Abwehr, zu eisigem Neinist das Nährende, das Warme, das Lebenspendende gefroren und erstarrt. Es geht wie eine unterirdische Erregung durch ihn durch.„Ärger" nennt er es, aber ist es nicht vielmehr Wut, verzweifelterZorn, ein Zittern des Erwachens, das an einer Front des Todes abprallt? Nichts hat mir das Leben zu geben als das Schweinefutter desverlorenen Sohnes. Aber: er hat sich umgewendet, er sucht einen Menschen, dem er seinen „Ärger" ins Gesicht sagen könnte. Die Anzeichendafür, der erste primitive Ansatz ist da, daß etwas in ihm die grauenvolle Welt des Kältetodes durchbrechen will. - Der Träumer ist

Theologe, ein spezialisierter Wissenschaftler. Sein Gott ist so tot, wiedieser Traum es mit großer Präzision aufweist. Aber die kommendeRevolution kündet sich an.

Ein intelligenter und hochbegabter vierundzwanzigjähriger Studentberichtet von sich selbst, daß er kein Gefühl kenne. Als Kind wäre esihm ziemlich gleichgültig gewesen, wenn seine Mutter, sein Vater oder

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eins seiner Geschwister gestorben wäre, meint er rückblickend. In derselben Stunde erzählt er einen Traum aus der Nacht vor diesem

Gespräch. In dem Traum erhält er ein Kästchen zum Geschenk vondem lange vergessenen Pfarrer, der ihn seinerzeit einsegnete. DasKästchen ist leer; er aber vergießt heiße, heftige, nicht enden wollendeTränen. (Ihm selbst fällt der Widerspruch zwischen seiner eben geäußerten Behauptung und diesem Traum nicht einmal auf. So distanziert pflegt für den Menschen zunächst einmal die Sphäre des Traumeszu sein.) Aber was geht da vor sich? Geht es um infantile Regungen,um ein sexuelles Symbol? Wenn wir den Träumer in seiner Ganzheitals Mensch erleben, wissen wir, daß der Vorgang fundamentaler ist.Auch hier geschieht ein Erdbeben, schüttelt doch ein Sturm nie gekannter Gefühle den Träumer bis zur Tränenflut. Der Pfarrer schenkt

ihm das Kästchen - es ist leer.

Nie hat ihm „Religion" etwas gesagt. Im Gegenteil, in pietistischerUmgebung aufgewachsen, hat er sie mit Widerwillen abgelehnt. Undmit Recht. Die Naivität und unwahrhaftige Süßlichkeit des Gottesbegriffs hat ihn empört. Er bekennt sich zum Agnostizismus. Aber nichtdas ist es, nicht die weltanschauliche Frage ist es, die ihn anrührt,sondern das „Leere". Ein Ort in ihm selber, wo etwas sein könnte,es läßt sich nicht sagen was und wie, erweist sich als leer. Aber wiederum nicht ein Ort, einer unter anderen, er selber ist „leer". Er kenntdie Stunden, wo er wie aus sich herausgeschleudert ist, wo die Angstihn überfällt, ein Wahnsinn von Sinnlosigkeit ihn schüttelt, eine grundlose Verzweiflung ihn satanisch würgt. Sein glänzender Intellekt, aufden er nicht wenig stolz ist, erweist sich in solchen Stunden als ohnmächtig. Ist nicht das achselzuckende ignoramus ignorabimus ebensosehr eine „Projektion" wie die naive theistische Setzung, aber nicht eineProjektion seines Denkens allein, sondern ein Widerstand seines Wesens? Dieser aber gerät im Tränenstrom des Traumes ins Wanken.Etwas von der wirklichen Wirklichkeit blitzt an den schwankenden

Rändern auf.

Eine vierzigjährige depressive Frau ohne jeden eigentlichen Lebensinhalt hat starke Suizidneigung. Von Anfang der Behandlung ansprechen die Träume mit dramatischer Wucht. So sieht sie sich imTraum in zerbrechlichem Boot einen reißenden Fluß hinab gleitenin öder, weiter Landschaft. Auf einer steilen Uferböschung liegt lautbrüllend und sich im Staub wälzend ein furchtbarer, riesiger Dämon,der den Nachen zu greifen, sich auf ihn herunterzustürzen versucht.Der Nachen kommt gerade eben noch vorüber - lange hört man das

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zornige Gebrüll des Riesen noch durch die öde Flußlandschaft nachhallen. Die Träumerin staunt zunächst wie über ein unheimliches Bild

im Märchenbuch. Dann aber geht es ihr auf, und nun mit unmittelbarer Evidenz: das bin ja ich, das sind die Seiten meines eigenen Wesens. Denn immer wieder täuschte sie ja ihr Leben um zu einem bloßenDahintreiben (wobei der Alkohol ihr half), als sei das Ganze ja dochbloß ein gleichgültiges Spiel, oder besser, als spiele man eben mit Hilfeder Betäubung, es sei ein Spiel. Aber unheimlich wächst sich dabei dieMacht der Finsternis, die Macht der Schwermut aus, die Angst vor derZukunft, die wütende Trägheit, der Trotz gegen die innere Stimme,mündend in den Wunsch, nicht mehr da zu sein. Seltsam, dieser Wunschins Nichts bestand zugleich mit der quälenden Angst vor dem Tode.Was immer sie ans Sterben erinnerte, löste krisenhafte Depressionenbei ihr aus, denn sie hatte den Grundbedingungen nichts entgegenzusetzen als ein inneres Nichts. Der Traum reißt die wahre Situation

vor ihr auf. Er wirft ihr schonungslos die Abrechnung hin. Ein StückGewissen ist erwacht, nicht Moralgewissen, nicht Über-Ich, aber Erkenntnis, ein objektives Bild ihrer Lebensgefahr, und damit ein Rufin die Verantwortung für ihr Menschsein.

Ein dreißigjähriger Theologe; ihm begegnet in der Sprache seinerTräume in immer stärkerem Maß die Frage seines Personseins. Diebewußte Persönlichkeit zeigt uns einen bescheidenen und begabtenMenschen, der aber an der Trockenheit und Dürre seines religiösenLebens leidet, an der Aufschwunglosigkeit seinesDaseins. Die genormteRegel des kirchlichen Alltags entbehrt längst jeder Glut und jedenFeuers. Auch die Zukunft ist schon geregelt, der Aufstieg durch dieÄmter liegt vor ihm; aber das alles ist wie eine „Röhre", die ihmden Atem benimmt. Bei vorbildlichen Haltungen fühlt er doch imInneren eine völlige Kontaktlosigkeit zu den Brüdern, kann er sichvon einem Hochmut nicht befreien, der ihn erkältet, ihn das kirchlicheLeben wie ein Rollenspiel durchschauen läßt. Im Traum wird er vonwilden Tieren angefallen oder verfolgt, oder auch von Räubern, Dieben, Betrunkenen überfallen, die ihm etwas Wertvolles rauben. EinBeispiel:

„Zwei Betrunkene klettern von der Straße zum Fenster meines Arbeitsraums herauf, sie brechen ein, rauben mir mein Amtskleid und werfen es aufdie Straße hinunter. . . "

Der Sinn eines solchen Traumes ist leicht ersichtlich, und dochkostete es den Träumer einen Akt der Selbstüberwindung, in den

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Betrunkenen eigene chaotisch triebhafte Wesensanteile zu erblicken,die ihn um seine so gesichert scheinende geistliche Würde bringenwollen. Der Traum endet schließlich damit, daß zwei Mitbrüder dasAmtskleid finden und ihm wieder zubringen. Ein weiterer Traum desselben:

„Zusammen mit meinem Vater und meinen Geschwistern besuche ich dasGrab meiner Großeltern. Im Friedhof begegnen wir vielen Menschen. Da istauch ein offener Sarg,in dem einToter liegt. Er ist mit Kränzen und Blumenbedeckt. Plötzlich streckt der Tote seine Beine und stößt dabei einen Kranzvom Sarg. Jemand sagt mir, das komme öfters vor, daß ein Toter sich nocheinmal streckt, ehe die letzte Starre eintritt. Im Friedhof werden Fischbrote(mit Fisch belegte Brote) zum Kauf angeboten. Da kommt mir das Gefühldes Abscheus hoch. Diese Brote und Fische könnten ja durch Berührung mitden Leichen vergiftet sein. Ich würde niemals etwas davon essen."

Wir sehen den Zwiespalt im Träumer. Der ruhig betrachtsame Gangauf den Friedhof wird seltsam beunruhigt. Schon das Zucken desfremden Leichnams läßt eine unheimliche gespenstige Stimmung aufkommen, die aber noch durch die Vernunft kompensiert werden kann.Die christlich rationale Haltung zum Tode scheint zu obsiegen, bisdann auf einmal der Aspekt des Grausigen im physischen Abscheudurchbricht. Nein, von dieser Speise, die gleichsam die Toten anbieten,will ich nicht essen. Dem Träumer fällt es zunächst nicht auf, daß essich um dieselben Speisen handelt wie bei dem Wunder der Brotvermehrung. Für ihn ist diese Speise noch Gift, vor dem er sich mitEntsetzen bewahren will. Aber ist er nicht selbst der Tote, der sichregt? Er hatte dies „Wunder" der Speisung der Fünftausend einfachhingenommen, aber nicht an-genommen, nämlich als ein Transparentwerden der Grundbedingungen. (Hinnehmen und Annehmen ist nichtdasselbe. Eine Frau nimmt die Hand eines Mannes nicht hin, sondernan.) —Man wird verstehen, daß eine „Meditation des Menschseins"am Platze ist, um die Sinnzusammenhänge eines solchen Traumes aufzuschließen. (Man möchte cum grano salis sagen, ein Stück Bultmann-scher Entmythologisierung war in diesem Traum oder vielmehr ebenerst durch ihn, vor sich gegangen.)

Immer wieder kreisen die Träume um das Sakrament. Der Träumer

will das Sakrament zelebrieren, aber es treten Hindernisse auf. Er hatden Text vergessen, er bringt die Reihenfolge der Handlungen durcheinander, kann die Schrift des Evangelienbuches nicht entziffern; eineanonyme Gestalt steht dicht neben ihm und beobachtet ihn bei derheiligen Handlung, bis er verwirrt und aus dem Konzept gebracht ist.

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Oder aber: wie er zur Predigt auf die Kanzel steigt, verlassen dieMenschen scharenweise die Kirche, und zuletzt ist er allein.

Erschüttert ist die ruhige Gewißheit seiner Amtsausübung, revolutioniert ist das Unbewußte, entschlossen, ihn aus seiner „Rolle" hinauszuwerfen. Es konnte uns in der Therapie sehr bange werden, wie dasalles ausgehen würde, ob es gelingen würde, eine Dissoziierung zu vermeiden, dafür aber die chaotischen Tendenzen fruchtbar werden zulassen, so daß das Leben aus dem lahmen Trott, der „Röhre" herausfinden könnte. Die Träume von der gestörten heiligen Handlung gehenweiter. Endlich aber besteht der Träumer einen harten Zweikampfmit einer dunklen Gestalt, in dem diesmal er der Sieger bleibt, undgelangt dann in eine Art Katakombenkirche, in der er wenigen, ganzarmen Menschen und Kindern an einem gewöhnlichen Holztisch dasSakrament reicht, diesmal nun ganz frei, ganz echt und ganz ergriffen.

Ein achtundzwanzigjähriger Philologe, Dozent und Lehrer, vonreicher Möglichkeit, aber blockiert durch schwere Lebensabwehr undSelbstverneinung, wie von einem Panzer umklammert vom Gefühlder Sinnlosigkeit, hat kurz hintereinander zwei Träume:

„Ich befinde mich in der Schule. Die jungen Leute scheinen heute wenigLust zum Studium zu haben. Es scheint ein Festtag zu sein, vielleichtFasching. Die jungen Leute flüstern ununterbrochen. Schließlich geht mir dasauf die Nerven, ich verspotte sie und sage, sie könnten ja sowieso nichtsals Bla-Bla machen. Das lassen sie sich nicht gefallen, nehmen ihre Mappenund stehen auf. Ich bin tief beleidigt, nehme meinen Mantel und gehe steifdavon, mit einem Lächeln, das eine Grimasse ist um meine Verzweiflung zuverbergen. Im Korridor ist Gewimmel und Tanz. Jemand fragt mich, wiees mir gehe; ich sage ,gut!' und sehe mich dabei innerlich an einem Baumehängen."

„Ich schreite im Straßengraben, um mich nicht bemerken zu lassen. EineStimme sagt: ,Auch Elena hat keine Lust am Leben, sie hat eine geheimnisvolle Wunde empfangen, die alles verzehrt. Was sie tut, das tut sie nur ausWillen.' Diese Worte treffen mich tief, sie scheinen mir zugedacht. In derDunkelheit komme ich vor meine Schule. Ich kann mich nicht entschließen,hineinzugehen. Endlich gehe ich hinein. Ich fange an, ein Gedicht vorzulesen,das ich vorhin übersetzt hatte. Es ist ein Gedicht über die Armen. Aber in

dem ich lese, fallen mir bessere Ausdrucksmöglichkeiten ein, es scheint, daßich freier, unendlich freier atmen kann. Die Worte weisen auf geoffenbarte,wirkliche Worte und Symbole, auf Wahrheiten. So lese ich gleichsam einanderes Gedicht, als auf meinem Blatt steht. Und am Ende wiederhole ichmit Verzweiflung und gleichsam mit Hoffnung in einer ständigen Steigerungund Iteration: ,und wir, die Armen, brauchen Zeit und Raum, Zeit undRaum — Raum, Raum, Raum ...' Eine Schülerin sagt in die Stille: ,SehenSie, wir brauchen nicht Führung, wir brauchen Erfahrung . . .' "

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Was sagen uns diese Träume? Beunruhigung ist im Gang, die Disziplin hat sich gelockert, draußen und drinnen gärt es, die jungen Leute(draußen und drinnen!) erheben sich, ein Fest rauscht auf, ein Frühlingsfest; er aber kann sich nicht anstecken lassen; mit scharfer Strengeblamiert er die Jugendlichen, beleidigt, verbittert, verstockt, mit derhöflichen Grimasse des Todes auf dem Gesicht geht er in die Nachthinaus und sieht sich erledigt. Nichts darf „personare". Im zweitenTraum aber hat sich etwas gewendet. Im Straßengraben, um nicht bemerkt zu werden, trottet er dahin, in der Tat die genaue Weise seinesIn-der-Welt-Seins. Elena, das ist seine Seelenfigur, hat die schwereWunde empfangen und kann nur noch aus Willen handeln. Und doch,nun überkommt es ihn, am Tiefpunkt geschieht der Durchbruch ausdem Verstummtsein der Depression. In spontanen neuen Wortenschafft er das Gedicht nach. Er erfährt vielleicht etwas Ähnliches zu

dem, was eine Gertrude Stein, die große Lehrerin eines Hemingwayund der sogenannten „verlorenen Generation" in Paris mit dem Wort„Rose" erfuhr, indem sie nur dies Wort iterierte: das Wesen hinter demWort, im Wort, - das Wort als Tor zum Sein und zur Wahrheit, - dasWort als Wahrheit.

Zum Abschluß bringe ich den Traum einer schwer mit ihrer Lastringenden Patientin, die sich in Jahren innerer Arbeit auf dem Heilungsweg vorwärtstastet.

„Es ist Krieg. Ein Luftangriff steht bevor. Ich bin mit mehreren Menschenin einem großen Hause. Alles ist dunkel. Man richtet seine Sachen, um inden Keller zu gehen. Die Stimmung ist tief niedergeschlagen. Ich selbergehe ruhig von einem zum anderen und spreche jedem Mut zu: wir werdendas überstehen. Zwei etwa vierzehnjährige Buben kommen an mich heranund fragen mich: wenn das vorbei ist, werden wir dann für immer Friedenund Ruhe haben? Dabei schauen sie mich geradezu flehentlich an. Ich antworte ihnen schweren Herzens: für immer nicht, aber für eine Zeit langwerden wir Frieden und Ruhe haben. Jetzt fällt schon in der Ferne dieerste Bombe. In der Dunkelheit, die uns umgibt, wird bei dem Schein derExplosion auf einmal ein kleines Kind sichtbar, das vorher niemand gesehenhatte, ein Säugling noch. Es liegt in einem Körbchen auf einem Tisch, fastwie auf einem Altar. Es lächelt still und lieblich vor sich hin und scheintuns zuzulächeln."

Der Traum bedarf kaum eines Kommentars. Die Träumerin hat es„angenommen", daß unser Weltzustand „Krieg" ist, sie geht aberselbst umher und ermutigt die Verzagten. Wie gerne möchte sie denbeiden Halbwüchsigen zusichern, daß der „ewige Friede", „ein neuerHimmel und eine neue Erde" sein werden. Aber sie weiß, das wäre

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ein bemächtigender Griff, der ihr nicht zusteht. Und so antwortet sietapfer und sachlich: nur für eine Zeit. Aber indem nun die Gefahreinbricht, wächst das Rettende auch: das Kind, das Symbol des Heiligen, des unzerstörbaren Lebens selbst, wird beim Feuerschein derersten Bombe im Dunkel sichtbar. Und das mutet uns an wie einwunderbarer Vorgang in einem geheimen Mysterienspiel. Das Hilfloseste und Zarteste, das rein auf die Liebe Angewiesene lebt unterder Todesgewalt des drohenden Untergangs. Der Feuerschein derExplosion ist es, der das Kind in die Sichtbarkeit treten läßt.

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PODIUMSGESPRÄCH

Professor Köberle: Unsere Tagung hat sich eine Synopse vorgenommen.Synopse heißt Zusammenschau, umfassender Überblick über das Ganze, hierüber das Thema Psychotherapie und Religion. Synopse ist nicht Addition,Synopse ist nicht Synkretismus, sondern bedeutet die Freiheit, allem einmalstandzuhalten. Die Ausgangspunkte, das haben unsere bisherigen Vorträgegezeigt, sind in den einzelnen psychotherapeutischen Schulen verschieden, unddoch gelang es unseren Vortragenden, zu einer neuen Erhellung und Verwirklichung des Gottesglaubens, auch der christlichen Gotteserfahrung beizutragen, und zwar in einer Zeit, in der das alles von ungezählten Menschenabgelehnt wird. Das geschieht nicht aus Aggression, sondern aus Hilflosigkeitund Verzweiflung darüber, daß ihnen niemand mehr einen Einstieg undZugang zu dieser transzendenten Wirklichkeit zeigt.

Ich darf nun zunächst mich an Herrn Dr. Scharfenberg wenden. Ihm sindFragen gestellt worden zur Moses-Interpretation, zur Aggression und vorallem zu dem wichtigen Thema der Übertragung.

Dr. theol. Scharfenberg: Nach Freuds Theorie hat Moses, ein vornehmerÄgypter, das Volk der Juden erwählt, gewissermaßen adoptiert und aus derGefangenschaft herausgeführt. Freud hat dann dievomAlttestamentier Sellinaufgestellte Theorie übernommen, er sei von dem widerspenstigen Volk erschlagen worden. Worin besteht nun die Verbindung zu dem stellvertretenden Opfer des Sohnes, das in der Vorstellung Freuds eine Rolle spielt? Derverbindende Gedanke ist der, daß Freud den Wahrheitskern der religiösenPhänomene in ihrer Geschichtlichkeit sieht, das heißt in einem Prozeß, dener die Wiederkehr des Verdrängten nennt. Daß also in der Urgeschichte einbestimmtes Ereignis stattgefunden hat, das kollektiv vergessen wurde, dasder Verdrängung anheimgefallen ist, aber, als urgeschichtliches Ereignis, seineBedeutung behält für das gegenwärtige Leben. Der Geschichtsprozeß bestehedarin, daß dieses ursprünglich verdrängte Ereignis allmählich wieder zumVorschein komme, daß es den Menschen in seiner Tiefe beunruhige. Dasheißt also, Freud geht von der Überlegung aus: Wie kann es dazu kommen,daß das menschlidie Leben in einer derartig existentiellen Weise vom Phänomen der Schuld bestimmt ist? Das ist eine sehr zentrale Frage. Ich findeden Gedanken von der Wiederkehr des Verdrängten und von der Bedeutsamkeit eines urgeschichtlichen, vorgeschichtlichen Ereignisses für die Gegenwart außerordentlich interessant und wert, in theologische Überlegungeneinbezogen zu werden.

Eine andere Frage ist: Wie kann ein geschichtliches Ereignis eine existentielle Bedeutung für die Gegenwart bekommen? Hier wird gewissermaßenein psychologisches Fundament gelegt dafür, daß etwas wirklich sein kann

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in einem anderen Sinn als des tatsächlich Faßbaren. Das halte ich für bedeutsam.

Es wird weiter gefragt: Ein Moralist ist doch wohl ein Mensch, der seinund anderer Leute Tun nach festen moralischen Grundsätzen be- und verurteilt. Kann man das von Freud sagen? Ich würde meinen, hier liegt in derTat eine Grenze Freuds, daß er über eine gewisse moralistische Bewertungder Triebhaftigkeit nie hinausgekommen ist. Man hat ihm den Vorwurfgemacht, daß er die Moral auflöse. Bei näherem Zuschauen stellt sich heraus,daß Freud im Grunde ein Moralist war. Über seine untadelige persönlicheLebenshaltung hat es nie eine Diskussion gegeben; aber auch mit der Anschauung, daß der Triebhaftigkeit immer ein leichter Akzent des Bösen zukomme, erweist er sich als Puritaner, wie ihn ein Theologe wie Paul Tillicheinmal genannt hat.

Professor Frankl: Ich möchte all dies ergänzen, indem ich darauf hinweise,daß Freud nicht nur „im Grunde ein Moralist" war, sondern auch unbewußtreligiös gewesen sein mag; immerhin war er es, der —ich zitiere wörtlich —von „unserem Gott Logos" sprach.

Professor Bally: Freuds Betonung der Sexualität hat moralischen Sinn.Sexualität ist für Freud der Inbegriff aller Triebhaftigkeit, die nach einemPartner verlangt. Daß gerade diese Triebhaftigkeit in unserer Zeit im Vordergrund steht, hängt damit zusammen, daß die Menschen sich isoliert fühlen. Nachdem die traditionellen Grundstrukturen, in denen jeder sich heimischfühlte, zugunsten eines rationalistischen Individualismus aufgelöst waren,mußte das sexuelle Verlangen in Führung gehen. Freud mußte als Moralistauf dieses Thema stoßen; vielmehr er wurde von seinen Patienten daraufgestoßen. Er hat gesehen, daß er mit seinem Patienten das Verlangen nacheinem intimen Partner anerkennen muß, um durch alle Konflikte und Irrtümer hindurch zu einer spontanen Mitmenschlichkeit zu kommen.

Dr. phil. Rudin: Professor Bally sieht, wie zeitbedingt die Auffassungder Triebhaftigkeit bei Freud ist und daß er die Libido nur im Sinn derSexualität versteht. Wir hörten, die Triebe seien böse. Ich frage mich: Sindsie denn wirklich alle böse? Der Bewegungstrieb, der Spieltrieb, der Nahrungstrieb, der Schlaftrieb usw.? Das würde ja heißen, die Natur als solchesei böse. Man darf vielleicht sagen, die Triebe können sich böse auswirken,können ungute Folgen haben, wenn ich sie nicht kontrolliere. Aber die Triebean sich gehören zur Natur. Freilich, können wir uns noch zu einem Naturbegriff bekennen, nachdem die Natur des Menschen nicht mehr intakt, sondern bereits angefault ist? Dürfen wir voraussetzen, Freud habe eine solchechristliche Vorstellung von einer „verdorbenen" Natur unter Umständenvom jüdischen Denken her?

Dr. theol. Scharfenberg: Freud macht, vielleicht etwas gewaltsam, denVersuch, Triebhaftigkeit in den zwei großen Formeln Libido und Destructio,das heißt also Luststreben und Aggression, zusammenzufassen. Das Luststreben kann in den Dienst eines radikalen Egoismus geraten. Dann ist es

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fundamental böse. Der späte Freud ist nicht müde geworden, zu einer realistischen Einschätzung der menschlichen Natur, wie ich sie nur aus derchristlichen Theologie kenne, gerade auf dem Hintergrund eines himmelstürmenden Idealismus hinzuführen. Der späte Freud definiert auch Libidoals den Drang nach einer immer größeren Einheit, er stellt das Luststrebenin den höheren Zusammenhang der zwischenmenschlichen Beziehungen, diesich schließlich zu der einen, vereinigten Menschheit zu entwickeln haben.

Professor Bally: Zur Ergänzung des von Dr. Rudin Gesagten: C. G. Junghat immer von der Ambivalenz der Triebe gesprochen, von der Kraft, diedas Böse will und das Gute schafft. Er sagte einmal, es komme darauf an,wo die Schlange vorkommt; im Paradies sei sie eine Gefahr, aber in derWüste sei sie ein Zeichen, daß noch Leben ist.

Dr. theol. Scharfenberg: Zur Frage nach der Übertragung: Sie ist, wie ichmeine, für alle Schulen fundamental geworden. Freud entdeckte, daß in derpsychotherapeutischen Behandlung ein ganz neues Phänomen entstand. DerMensch läßt sich nicht nur als Natur-Objekt behandeln, sondern es entwik-kelt sich eine Beziehung; ein Faktum, das seinen Partner Breuer aus denForschungsarbeiten ausscheiden ließ, weil ihm das unheimlich war. Freudhat die Gesetzmäßigkeiten des Phänomens der Übertragung, der gefühlsmäßigen Beziehung zwischen Therapeuten und Patienten, ergründet. In diesem Zusammenhang ist das Stichwort gefallen, daß der Heilungsprozeß vorwiegend durch die mitmenschliche Beziehung oder, wie Freud das wörtlichformuliert hat, daß „Heilung durch Liebe" in Gang kommt. Dieses Grundphänomen, das er entdeckt hat, ist in einer vielfältigen Weise zum Zentralproblem der Psychotherapie und der Tiefenpsychologie überhaupt geworden.

Dr. phil. Johanna Herzog-Dürck: Den Begriff „Heilung durch Liebe"kann man nicht mit der Freudschen Analyse identifizieren, denn es ist dieFrage, was mit Liebe gemeint ist. Freud hat betont, daß der Therapeuteine neutrale Haltung, die Haltung einer „Leinwand", auf die der Patientalles und jedes projizieren kann, einzunehmen hat. Dagegen haben sich andere Grundauffassungen des therapeutischen mitmenschlichen und zwischenmenschlichen Vorganges entwickelt. Ich wurde von einem Freud-Anhängergefragt, was ich unter Gegenübertragung in meinem Referat verstände.Gegenübertragung sei doch ein Fehler des Therapeuten, wenn er noch nichtvoll analysiert sei. Gerade daran ist der ganze Unterschied in dieser Beziehung zu sehen; für die neueren Auffassungen ist die sogenannte Gegenübertragung gerade der volle Einsatz des Therapeuten. Freud hat das Wort„Liebe" dafür schon vorweggenommen. Es kommt aber auf den Inhalt unddie gesamte therapeutische Intention und Technik an, die dann hinter einemsolchen Begriff steht.

Professor Frankl: Frau Dr. Herzog-Dürck hat insofern recht, als Freud dieLiebe als ein bloßes Epiphänomen auffaßt, während sie in Wirklichkeit einUrphänomen menschlicher Existenz ist und eben nicht ein bloßes Epiphänomen, sei es im Sinne sogenannter zielgehemmter Strebungen, sei es im Sinne

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von Sublimierung. Phänomenologisch ließe sich nämlich nachweisen, daß esdie Liebe ist, die, wann immer es zu so etwas wie Sublimierung überhauptkommt, eben dieser Sublimierung als einer Bedingung ihrer Möglichkeit immerschon vorangeht, aus welchem Grunde die Liebesfähigkeit —die Voraussetzung von Sublimierung - nicht selber und ihrerseits das Ergebnis eines Sub-limierungsprozesses zu sein vermöchte. Mit anderen Worten, erst auf demHintergrund einer existentiell originären und primären Liebesfähigkeit, einesursprünglichen Angelegtseins des Menschen auf Liebe hin, wird Sublimierung,will heißen die Integrierung der Sexualität in das Ganze der Person hinein,verständlich. Mit einem Wort, nur das Ich, das ein Du intendiert, kann daseigene Es integrieren.

Soviel zur Kritik der Auffassungen von Freud. Und doch müssen wirweitherzig genug sein, um Freud vor seinem Selbstmißverständnis in Schutzzu nehmen. Was besagt denn die Psychoanalyse letztlich und eigentlich, wennwir von allem Zeitbedingten, von allen Eierschalen des 19. Jahrhunderts,die ihr noch anhaften mögen, einmal absehen? Das Gebäude der Psychoanalyse ruht auf zwei wesentlichen Konzepten, dem der Verdrängung unddem der Übertragung. Was die Verdrängung anlangt, wird ihr im Rahmender Psychoanalyse durch die Bewußtwerdung, die Bewußtmachung, entgegengearbeitet. Wir alle kennen den von Freud herangezogenen Vergleichmit der Trockenlegung der Zuidersee, sein stolzes, ich möchte sagen pro-metheisches Wort: „Wo Es ist, soll Ich werden". Was aber das zweite Prinzip, das der Übertragung anlangt, so ist sie meines Erachtens recht eigentlich ein Vehikel existentieller Begegnung. Deshalb läßt die nach wie vorakzeptable Quintessenz der Psychoanalyse die folgende, die beiden Prinzipien der Bewußtmachung und der Übertragung zusammenfassende Formulierung zu: „Wo Es ist, soll Ich werden"; aber das Ich wird Ich erst am Du.

Professor Bally: Ich freue mich über die Ausführungen des Herrn Franklund meine auch, daß Freud oft mißverstanden wird. Freud verstehen heißtihn interpretieren. Um zuerst Frau Herzog-Dürck zu antworten: Es ist unrichtig zu sagen, Freud habe Neutralität empfohlen. Er hat etwas anderesempfohlen. Nämlich eine nichtwertende Einstellung, wie er es nennt. Das istetwas anderes als Neutralität. Er meint damit, daß er den Patienten nichtempfängt als den krank erscheinenden Menschen, sozusagen in seiner Wirklichkeit, sondern er will ihn grundsätzlich in seinen Möglichkeiten, die erstverwirklicht werden müssen, empfangen. Und darum will er ihm nicht dasoberflächliche Verständnis für den armen Leidenden entgegenbringen. Umnicht mißverstanden zu werden, mußte er sich sehr klar ausdrücken: Erempfahl, nicht-wertend zu bleiben und zu warten, bis das herauskommt,was weder er noch der Patient schon kennen. Er enthält sich jeder vorgefaßten Meinung, was aus dem Mann oder der Frau werden solle; er willnur teilnehmen an diesem Geschehen, und seine Teilnahme ist so beschaffen,daß sie den erscheinenden Menschen auf seine Möglichkeiten hin transparentzu machen sucht. Das Problem der „Übertragung" hat Freud zuerst als Störung erlebt, um dann die Übertragungsanalyse als Träger der ganzen Kurzu erkennen. Er hat auch die „Gegenübertragung" gesehen und hat sie alsGefahr erkannt, wenn die grundsätzliche Sympathie des Arztes nicht in die

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nicht-wertende Haltung zurückgenommen wird. Gegenübertragung ist fruchtbar, wenn sie erkannt und beherrscht wird.

Professor Köberle: Zu dem Vortrag von Herrn Rudin: Die Fragen, dieihm gestellt worden sind, kreisen vor allem um den psychischen Gott; siehaben viele Hörer bewegt und auch beunruhigt.

Dr. phil. Rudin: Diese zentrale Frage lautet: Kann sich der Psychologemit dem psychologischen Aspekt in der Gottesfrage begnügen? Braucht derPatient einen Gott, der auch „objektiv", extrapsychisch existiert? Auf dieseFrage muß der Psychologe unter Umständen antworten, sie ist durchausrichtig gestellt und wird immer wieder vorgebracht. Zunächst muß derPsychologe mit dem seelischen „Material" arbeiten. Was er da findet, ist dasBild Gottes, ist die Gottes-Imago. Sie ist nicht bei jedem Menschen in ihrerkonkreten Ausformung dieselbe, auch wenn sie archetypisch ähnliche Züge,eben den Doppelaspekt trägt. Wir haben heute im Vortrag von Frau Herzog-Dürck gehört, wie sich die Erziehung gerade in bezug auf die Gottesvorstellung auswirken kann. In der Therapie haben wir es mit sehr verschiedenen Menschen zu tun. Wenn wir sie dazu führen, daß sie ihr eigenes inneresGottesbild erkennen, spüren sie auch, daß dieses innere Bild nicht von ungefähr kommt. Jung meinte, das Geprägte setze einen Prägenden voraus.So hätte Jung zugeben können — und er hat das im Privatgespräch auchgetan —, daß er an Gott glaubt; aber als Psychologe kann er nicht voneinem „objektiv" existierenden Gott außerhalb der Seele sprechen. Wir setzen den Gottesglauben voraus, soweit wir es in der Therapie mit Christenzu tun haben. Schwierigkeiten treten auf bei einem Mohammedaner oderBuddhisten mit ganz anderen Vorstellungen, die aber ebenfalls einen Archetyp Gott verraten. Dann kann man nicht ohne weiteres von der objektivenExistenz Gottes in unserem Sinne sprechen. Es ist aber auch nicht die Aufgabe des Therapeuten, den objektiv transzendenten Gott in die Therapieeinzubeziehen. Wir müssen dem Patienten selber die entscheidenden Schritte

überlassen. Er wird hingeführt, sich zu entscheiden. Es gibt keine Analyse,ohne daß der Mensch sich auch schließlich in dieser Frage entscheiden müßte.

Professor Graf Dürckheim: Irgendwo bei Gabriel Marcel steht das Wort,ein Mensch, der sagt, „Gott ist wirklich", so wie ein anderer sagen könnte,„Gott hat keine Wirklichkeit", ist kein geringerer Atheist als dieser. MeisterEckehart schreibt einmal: „Wer von Gott sagt, ,Gott ist gut', sagt etwasebenso Ungemäßes, wie wenn er sagen würde, die ,Sonne ist schwarz'". Dasheißt, es gibt keinen gottgemäßen Satz, der ihn zu etwas objektiv Seiendemmacht, das qualifizierbar wäre wie ein Mensch oder ein Ding, und ihm eineobjektive Wirklichkeit zuschreibt, die im Gegensatz steht zu einer nur subjektiven Vorstellungswirklichkeit. Wir dürfen nie vergessen, daß das ganzeDenken in der Gegensätzlichkeit objektiv-subjektiv (das natürlich auch aufdas Verhältnis von Gott und Mensch angewendet wird) nur für eine bestimmte Stufe der menschlichen Erfahrung Gültigkeit hat.

Die Frage nach Gott und seiner Wirklichkeit bedeutet, je nach der Stufe,auf der der Fragende steht, völlig Verschiedenes. Es gibt eine Stufe der

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Existenz, in der der Mensch noch im unerschütterlichen Urvertrauen steht,weil er gleichsam noch nicht aus der allumfassenden Gotteswirklichkeit herausgefallen ist. Auf dieser Stufe verträgt er auch „logische" Sätze mit Bezugauf Gott und eine quasi rationale Behandlung der Frage nach der ExistenzGottes —denn in Wahrheit stellt sich ihm diese Frage überhaupt nicht. Istder Mensch aber aus dieser Ureinheit herausgefallen und stellt dann dieFrage nach Gott, dann verführt ihn die ihn nunmehr beherrschende (gegenständliche) Bewußtseinsform unter Umständen dazu, die Antwort auf dieFrage nach der Wirklichkeit Gottes auf „Argumente" zu stellen, auf Grundderer man an die Existenz glauben und ohne die man nicht daran glaubenkann. Ein Glaube jedoch, der auf Argumenten beruht, kann auch durch einenZweifel angetastet werden und hat dann mit religiösem Glauben im eigentlichen Sinne nichts mehr zu tun. Dieser ist vielmehr immer ein unbedingtesVertrauen in etwas, das man weder erkennen noch verstehen kann und dasalso auch nicht objektiv begründet werden kann. Diesen Glauben gibt eserstens als Urglauben, zweitens als Ergebnis eines Sprunges in den Glaubenaus der Freiheit heraus; und es gibt ihn drittens als einen Glauben, der inSeinserfahrungen gründet, in denen der Mensch etwas erfahren hat und umetwas weiß, das, als überweltliche Kraft, als persönlicher Ruf und als erlösende Liebe erlebt, ihm über jeden Zweifel hinaus als eine präsentia deierschien. Solche Erfahrungen zeugen von einer Bewußtseinsform, in der dieSubjekt-Objekt-Spaltung aufgehoben war. Es ist notwendig, daß der Therapeut wie der Seelsorger etwas von dieser übergegensätzlichen Stufe menschlicher Erfahrungsmöglichkeiten wissen. Leider aber befinden wir uns in derbetrüblichen Situation, daß viele Therapeuten auf der zweiten nur gegen-ständlich-erkennenden Stufe stehen, während die meisten Theologen nie dieerste Stufe verlassen haben. Sie sind nie durch den radikalen Zweifel hindurchgegangen, der notwendig dort auftauchen muß, wo man in einer Weisenach Gott fragt, die seine Erfahrung ausschließt. So kennen sie auch einedritte Stufe nicht, die die zweite aufhebt. In der objektivierenden Erkenntnisweise der zweiten Stufe aber erscheinen demjenigen, der im Grunde nochin der ersten wurzelt, die Aussagen der dritten Stufe, die von der übergegensätzlichen Einheit von Gott und Mensch sprechen, als eine Blasphemie.Sie sagen bezeichnenderweise, Gott könne nicht im inneren Erleben gefundenwerden, weil das ja intrapsychisch und subjektiv sei.

Noch ein Wort zu Freuds These von der existentiellen Bedeutung historischer Ereignisse, wonach wir uns bestimmte Geschehnisse in der menschlichenSeele als Nachwirkung ungeheurer Ereignisse der Geschichte verständlichmachen können. Vielleicht sollte man auch einmal umgekehrt die Fragestellen, wie weit die Bedeutung historischer Ereignisse nicht darauf zurückgeht, daß sie eine existentielle Relevanz haben, daß also die existentielleGesetzlichkeit des inneren menschlichen Werdens dazu führt, bestimmte Begegnungen und Ereignisse in der Geschichte als so bedeutend anzusehen.

Dr. phil. Rudin: Eine sehr große Diskrepanz ist nun in Erscheinung getreten zwischen dem Glauben als einem Urvertrauen und einem, der sich aufArgumente stützen möchte. Ist denn dieser Glaube eines Urvertrauens, derweitgehend untermauert wird durch eine vernünftige Erziehung von Mutter,

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Vater usw., nicht auch einer rationellen Begründung zugängig? Bedeutet esschon Zweifel, wenn ich eine Sache nicht nur gefühlsmäßig ergreife und vonihr ergriffen werde, sondern sie auch vor dem Forum meiner Vernunft begründe und gute Argumente dafür anführen kann? Bedeutet das schon Zweifel, daß ich aus dem Urvertrauen herausgerissen wurde? Könnte ich mirnicht sagen, das bedeutet im Gegenteil eine neue Stufe der Menschwerdung,eine Überhöhung, wenn der Mensch nicht nur instinktiv, aus dem dunklenDrang heraus glaubt, sondern darüber hinaus annimmt, daß es zum wenigsten nicht unvernünftig ist, wenn er glaubt. Es gibt ein Prinzip von zureichendem Grund; es gibt den Satz: ein Geprägtes setzt einen Prägendenvoraus. Das sind bereits Vernunftargumente. Dürfen wir so weit gehen zusagen: Sobald der Mensch anfängt, zu argumentieren, fängt er an, zu räsonieren? Ist damit seine innere Einheit schon gespalten, beginnt damit schondie Sünde des Geistes und der Abfall des Geistes vom Wesen, vom Urinstinktiven? Diese Frage wird da entschieden, wo der Mensch sich selberals deutlichen Irrationalisten bezeichnet, oder wo er umgekehrt auch dieRatio gelten läßt und sich fragt: Wie weit komme ich mit meiner Vernunft,wie weit ist es mir möglich, eine Sache einzusehen, die ich sonst bereits annehme. Mir scheint, man muß nicht unbedingt aus der Ureinheit, aus demVertrauen herausfallen, wenn man auch mit der Vernunft, soweit es möglichist, eine Sache begründet.

Dr. phil. Johanna Herzog-Dürck: Ich würde noch weitergehen. Ich würdesagen, Glaube ist nur Glaube, wenn er ständig wieder durch Unglauben hindurch muß. Glaube ist überhaupt nur dann ganz lebendig, wenn das Urvertrauen wieder in Frage gestellt wird durch das Unmenschliche unseresDaseins, durch das Böse, durch die Schuld, durch das Verhängnis des Schicksals, durch das Destruktive der Welt. Glaube muß geschichtlich lebendigsein, sich immer wieder neu formen. Ein statisches Urvertrauen, das immergleichbleibend und unerschütterbar ist, würde gar nicht dieser wirkliche imParadoxen gründende Glaube sein. Es ist übrigens auch die Meinung vonJaspers, der —vom philosophischen Glauben allerdings —sagt, daß er immerwieder durch den Unglauben hindurch müsse, um sich neu aufzuschwingen,im neuen Aufschwung sich wieder neu selbst zu setzen. Ich würde denGlauben als etwas geschichtlich Werdendes, als etwas mit der Reifung desMenschen ständig und unentwegt sich weiter Bewegendes anschauen. Ichwürde ihn ganz und gar in die innere Geschichte des menschlichen Herzenshineinsetzen, die niemals statisch, sondern dynamisch und gespannt ist undzu ständig neuen Entscheidungen zwingt. Ich sehe den Glauben hauptsächlich im Annehmen der Grundbedingungen. Auch das ist nichts statisch Bleibendes. Man muß auch durch den Protest wieder hindurchgehen, muß sichauch gegen diese Grundbedingungen auflehnen. Die Notwendigkeit dieserAuflehnung zeugt ja für die Echtheit der neu gewonnenen Glaubenssituationen. So würde ich Glauben als einen ständigen krisenhaften Weg derReifung betrachten.

Professor Köberle: Es ist kein Zufall, daß wir im Anschluß an den Vortrag über Carl Gustav Jung in diesem Podiumsgespräch so stark ins Theo-

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logische vorgestoßen sind. Wenn sich in den drei letzten Beiträgen einegewisse Spannung gezeigt hat, so stehen dahinter in der Tat zwei Uransätze.Den einen würde ich kurz den aristotelisch-thomistischen und den anderenden irrational-protestantischen nennen. Ich möchte noch einmal zum Bewußtsein bringen, daß sich jedesmal beim Gespräch über das Lebenswerk vonCarl Gustav Jung das religiöse und theologische Problem mit höchster Intensität stellt, ein Zeichen dafür, wie mächtig das Religiöse im LebenswerkJungs verankert ist. Daß er uns dafür wieder Mut und Freudigkeit undRecht gegeben hat, vom Verständnis der Seele her, dafür wollen wir ihmsehr dankbar sein. Die meisten Fragen zu den bisher gehörten Vorträgensind an Herrn Professor Dr. Viktor Frankl gerichtet worden.

Professor Frankl: Die erste Frage lautet: „Was ist die Grundlage derLogotherapie?" In seinem Buch über Logotherapie bringt Donald F.Tweedie1eine Anekdote vor, die den Unterschied zwischen Psychoanalyse und Logotherapie charakterisieren soll: „In der Psychoanalyse liegt der Patient aufeiner Couch und muß dem Analytiker Dinge sagen, die unangenehm sind;in der Logotherapie darf er sitzen bleiben, muß aber Dinge, die unangenehmsind, hören." Selbstverständlich handle es sich um eine Karikatur der wirklichen Situation, meint Tweedie; immerhin werde aber auf die aktivere Rollehingewiesen, die der Logotherapeut spiele. Jedenfalls wird menschliches Seinauf einen Sinn hin transzendiert, wird die Existenz mit dem Logos konfrontiert. Der Einwand liegt auf der Hand, durch die Konfrontierung derExistenz mit dem Logos, durch die Hinordnung der Person auf eine Weltdes Sinnes und der Werte werde der Mensch überfordert. Nun, meines Erachtens ist es ein für menschliches Sein wesentliches Merkmal, von Sinn undWerten angefordert zu werden. Die Dynamik, die sich im polaren Spannungsfeld zwischen Seinund Sollen etabliert, wird in der Logotherapie Noo-dynamik genannt. Je reduzierter die Spannung ist, die aus der Noodynamikerfließt, desto bedrohter und gefährdeter ist der Mensch. Die PsychischeHygiene huldigt dem Homöostaseprinzip. Was jedoch der Mensch in Wirklichkeit braucht, ist nicht ein Zustand bar jeder Spannung, vielmehr einegewisse, eine gesunde Dosis von Spannung —wie sie hervorgerufen wirddurch sein Angefordert- und Inanspruchgenommensein durch einen Sinn; gehtdem Menschen Spannung ab, dann schafft er Spannung. Wenn Gehlen dieMeinungvertritt, „daß von fast allen Elementen der christlichen Religion dieAskese nicht säkularisiert wurde", dann können wir ihm nicht folgen; dennes will uns scheinen, daß es der Sport ist, der die Mission übernommen hat,den Organismus einem periodischen Stress auszusetzen. In einer Überflußgesellschaft kommt weniger Spannung auf als zu Notzeiten. Findet aber derjunge Mensch zu wenig Spannung, das heißt, wird er zu wenig in sinnvollenAnspruch genommen, dann sucht er Spannung, sei es, daß er sich dem Sportverschreibt, sei es, daß er sich auf weniger gesunden Wegen versucht —wiejene jungen Menschen, die in Wien als Halbstarke Polizisten provozieren,an der Ostküste der USA als Teddyboys Brasilianische Duelle arrangieren,

1 D. F. Tweedie, Logotherapy: An Evaluation of Frankl's ExistentialApproach to Psychotherapy, Grand Rapids 1961.

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indem sie nadits in unbeleuchteten Autos auf unbeleuchtete Kreuzungen los-zubrausen riskieren, oder an der Westküste der USA als Beatniks der Surfing-Sucht, einem lebensgefährlichen Wellenreiten (nicht Wasserskilaufen) verfallen, die Schule schwänzen und dergl.

Nun die zweite Frage: „Was ist eine noogene Neurose?" Jene Neurose,die durch ein geistiges Problem, einen sittlichen Konflikt oder eine existentielle Krise verursacht ist. Crumbaugh und Maholick, die Direktoren einesForschungszentrums in den USA, haben eigens einen Test ausgearbeitet undzweihundertfünfundzwanzig Versuchspersonen getestet, um die noogeneNeurose empirisch zu verifizieren. Abschließend erklären die Autoren inihrer im Journal of Clinical Psychology erschienenen Arbeit, daß es sich tatsächlich um ein neues Syndrom handelt.

Nun die dritte Frage: „Ist Logotherapie nicht Persuasionstherapie?" Gerz2und Tweedie konnten nachweisen, daß die Logotherapie nicht mit der Per-suasion identisch ist und daß sich im besonderen die Paradoxe Intention nicht

auf bloße Suggestiveffekte zurückführen läßt. Die Paradoxe Intention versucht, den Patienten dazu anzuleiten, paradoxerweise sich zu wünschen undvorzunehmen, wovor er sich fürchtet. „Heute geh' ich einmal aus, um michvom Schlag treffen zu lassen", muß sich beispielsweise ein Patient sagen, deran einer Agoraphobie leidet. Die bemerkenswerten Erfolge, wie sie von denverschiedensten Autoren referiert werden, dürfen uns nicht zu der Annahmeverführen, die Paradoxe Intention sei ein Allheilmittel. Im besonderen mußzugegeben werden, daß es Fälle gibt, in denen die Paradoxe Intention nichtgestartet werden kann, ohne durch ein entsprechendes Persuasionsverfahrenvorbereitet worden zu sein. Den blasphemischen Zwangsvorstellungen begegnen wir wohl am besten, indem wir versuchen, den Patienten bei seinerZwangsneurose zu packen, wobei wir ihn darauf aufmerksam machen, daßer durch die fortgesetzte Befürchtung, Blasphemien zu begehen, eine Blasphemie tatsächlich begehe; denn Gott für einen so schlechten Diagnostiker zuhalten, daß man ihm die Fähigkeit abspricht, zwischen Blasphemie undZwangsvorstellung diagnostisch zu differenzieren, bedeute an sich eine Gotteslästerung. In Wirklichkeit, so müssen wir dem Patienten versichern, rechneGott eine blasphemische Zwangsvorstellung gewiß nicht der Person desPatienten an. In dieser Hinsicht ist der Patient weder frei noch verantwortlich —um so mehr ist er es jedoch hinsichtlich seiner Einstellung gegenüberder Zwangsvorstellung: ständig kämpft er gegen seine blasphemischen Einfälle an und steigert dadurch nur deren „Macht" und die eigene Qual. DasAnkämpfen gegen das Symptom abzustellen —indem das Motiv dieses An-kämpfens ausgeschaltet wird —, ist der Zweck dieser Technik.

Nun die letzte Frage: „Meinen Sie, daß der Sinn des Lebens nur angesichts des Leidens erfüllt werden kann?" Nicht nur das Leiden kann das

Leben sinnvoll machen, sondern auch das Schaffen und das Erleben, Begegnen und Lieben können dem Dasein Sinn geben. Bei alledem ist es klar, daßder Möglichkeit, durch eine rechte Handlung das Schicksal in die Hand zu

2 H. O. Gerz, Zur Behandlung phobischer und zwangsneurotischer Syndrome mit der „Paradoxen Intention" nach Frankl, Ztschr. f. Psychoth. u.Med. Psychol. 1962, H.4.

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nehmen, der Vorrang gebührt gegenüber der Notwendigkeit, in der rechtenHaltung das Schicksal auf sich zu nehmen. Kurz: Wenn auch die Sinnmöglichkeit, die das Leiden birgt, dem Wertrang nach überlegen ist der Sinnmöglichkeit des Schaffens, so wäre doch Leiden auf sich nehmen, das nichtschicksalhaft notwendig, sondern unnötig ist, kein Heroismus, sondern Masochismus. Eine Bemerkung sei mir noch verstattet hinsichtlich der Objektivitätvon so etwas wie Sinn —sie schließt dessen Subjektivität nicht aus: Subjektiv ist der Sinn insofern, als es nicht einen Sinn für alle, sondern für jedeneinen anderen Sinn gibt; in diesem Sinne ist der Sinn nicht nur subjektiv,sondern auch relativ, will heißen, er steht in einer Relation zur Person —und zur Situation, in die eben diese Person hineingestellt ist. Mit anderenWorten, der Sinn ist jeweils ein Sinn ad personam und ad situationem.Selbst inerhalb ein und derselben Situation wie der Situation, die uns hie etnunc vereint, ist ja der Sinn für Sie ein anderer als der für mich: von Ihnenverlangt die Situation, daß Sie aufmerksam zuhören, von mir aber, daß ichverständlich spreche. Während nun der Sinn an eine einmalige und einzigartige Situation gebunden ist, gibt es darüber hinaus Sinn-Universalien, diesich auf die condition humaine als solche beziehen, und diese umfassendenSinnmöglichkeiten sind es, die Werte genannt werden.

Dr. phil. Johanna Herzog-Dürck: Der an „noogener Neurose" Erkrankteist wohl der einzige gesunde Mensch. Wer nämlich nie von einem Problemgeschüttelt oder von einer Frage umgetrieben wurde bis zur Verzweiflung,der ist ganz gewiß kein Gesunder. Denn das ist gerade das Zeichen der Ur-gesundheit, geistig ergriffen, auch unter Umständen zerrissen zu werden undwieder heil zu werden und zu „antworten".

Professor Köberle: Wenn wir uns auf dieser Tagung um eine Synopsebemühen, dann bedeutet das auch, daß die einzelnen Schulen nicht unvermittelt nebeneinander stehen bleiben, sondern daß man auch fragt, ob esnicht irgendwelche unterirdischen Zusammenhänge geben könnte. In diesemSinne möchte ich Herrn Kollegen Frankl fragen: Welche Rolle spielt in demGesamtwerk der Logotherapie das Unbewußte? Ich habe die Beobachtunggemacht, daß der Sinnverlust bei vielen Menschen damit zusammenhängt,daß sie sich nicht mehr freuen, nicht mehr aus der Fülle des Seins dankbarleben können, weil sie zu viel abgedrosselt haben. Nach Jung entsteht dieNeurose aus einem Ganzheitsverlust. Wer das Mysterium conjunctionis inseinem Leben zu verwirklichen vermag, so daß rechts und links, männlichund weiblich, apollinisch und dionysisch, lunarisrh und solarisch in diesemMysterium der Vermählung und Vereinigung zusammenkommen, der ist auchnicht traurig und verneint auch nicht das Dasein. Der Verlust an unbewußtenKräften wie Traum, Schlaf, Natur, ewig Weibliches, Welt der Mütter, derVerlust an diesen Bereichen macht irgendwie müd und traurig und armseligund freudlos. Von daher kann man also eine Frustration dem Dasein gegenüber nicht lösen, wenn man dem Menschen nicht hilft, diese verschüttetenBereiche in die Fülle seines Seins zu integrieren. Wem das gelingt, der verliert auch seine Frustration. Das wäre eine Möglichkeit, daß sich die Jungschekomplexe Psychologie und die Logotherapie in einer höheren Einheit finden

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könnten. Ferner: Was für eine Rolle spielt in der Logotherapie das Unbewußte, das doch für uns alle, ob wir Freudianer oder Adler-Leute sindoder von Jung her kommen, schlechthin das Entscheidende ist?

Professor Frankl: In der „Ärztlichen Seelsorge", also in meinem erstenBuch, zitiere ich auf der ersten Seite, ja im ersten Absatz, das Gleichnis vomZwerg, der auf den Schultern eines Riesen stehend weiter und mehr sehenkann als der Riese selbst. In diesem Sinne bekenne ich mich auch zur Tiefen

psychologie als zu einem Fundament, auf dem es auf- und weiterzubauengilt. Die Frage nach der Rolle des Unbewußten in der Logotherapie möchteich deshalb dahingehend beantworten, daß in der Logotherapie die Konzeptevon Freud und Jung erweitert werden. Wir sehen also insofern mehr als dereine Riese, Freud, als wir im Unbewußten nicht nur etwas Triebhaftes, sondern auch etwas Geistiges zu sehen gelernt haben. Wir sehen auch insofernweiter als der andere Riese, Jung, als wir im geistig Unbewußten, in derunbewußten Geistigkeit, nicht etwas Kollektives und Archetypisches, sondernetwas Personales und Existentielles zu sehen gelernt haben.

Professor Köberle: Wir kommen nun zum Schluß. Leider ist der ReferentDr. Ringel abgereist. Aber es ist doch aus den schriftlich gestellten Fragender Wunsch abzulesen, daß man das Gespräch über dieses Referat nichtganz unter den Tisch fallen lassen solle. Eine Frage, die mir gegebenwurde: „War die Schilderung der Individualpsychologie nicht doch etwas zuvordergründig und müßte sie nicht doch noch irgendwie tiefer interpretiertwerden?" Wenn ich selbst versuchen darf, mich dazu kurz zu äußern: Esist ja immerhin beachtlich, daß die Individualpsychologie Alfred Adlers zummindesten von protestantischen Theologen mit Begeisterung aufgegriffen und,wie ja schon gestern abend betont wurde, weiter ausgebaut wurde, also etwavon Fritz Kunkel und Johannes Neumann. Was ist es denn, was diese protestantischen Theologen an der Individualpsychologie Alfred Adlers als sobesonders gleichnisfähig und brauchbar empfunden haben für die christlicheAnthropologie, vor allem in evangelischer Ausprägung? Es ist, schlicht gesagt,folgendes: Augustin hat die Konkupiszentia ausschließlich verstanden alssexuelle Trieblust und in der so verstandenen Konkupiszentia das Gefährliche und Verführerische gesehen. Luther in seiner sehr kräftigen Sinnlichkeit,zu der er sich auch ungebrochen bekannte, wollte den Konkupiszentia-Begriffgleichwohl nicht sexuell interpretieren. Für Luther war die Konkupiszentiaimmer der amor sui, die Selbstliebe, der Autismus, das aus dem Sich-Drehenum das eigene Ich nicht Herauskommen. Und indem bei Adler der amor sui,die superbia, der Geltungsdrang und das Wertstreben so zentral in den Mittelpunkt gerückt wird, fand sich protestantische Anthropologie dem näherals der Freudschen Anthropologie, in der das Sexuelle die Bedeutung derbösen Lust hat. Dazu führt von der Mystik eher ein Weg als von dieserreformatorischen Anthropologie. Und auch in dem anderen, was Adler sostark am Herzen lag, der Einordnung des Menschen in eine Gemeinschaft insachlichem Dienen, im Nicht-sich-Hervordrängen, im Nicht-sich-Überwerten,Nicht-immer-eine-Rolle-spielen-Wollen, sondern im selbstlosen,stillen Dieneneinem größeren Ganzen fand man Hilfen für die Auferbauung der Ge-

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meinde. Denn zu jeder Gemeinde gehört ja dienendes Füreinander-Dasein imSinne des Wortes: Jeder diene dem andern mit der Gabe, die er empfangenhat als guter Haushalter der mannigfaltigen Gnade Gottes. Das könnte mannoch zur Vertiefung der Individualpsychologie anführen, also die Nähe vonder amor sui-Zentralstellung zu Paulus und den Reformatoren, und auch dieBedeutsamkeit des Kommunikativen für den Aufbau der Gemeinde.

Dr. phil. Johanna Herzog-Dürck: Ich glaube, daß Nietzsche eine Gestaltist, die man sehen muß, um auch Adler richtig zu verstehen, denn Nietzschehat mit dem Willen zur Macht ein menschliches Phänomen beleuchtet, dasvorher dunkler gewesen war. Der Machtwille, das Machtprinzip von Adlerkann von dieser Seite her in seinem ganzen Volumen aufgehen. Wie enormbedeutsam das Machtstreben für alle soziologischen, alle zwischenmenschlichen Vorgänge und Verbindungen ist, das leuchtet ein. Wir haben oft denEindruck, daß Adlers Entdeckungen dermaßen evident geworden sind, daßeben gerade aus diesem Grunde Adler selbst relativ zurückgetreten ist; seineErkenntnisse sind einfach einverleibt worden, sie werden überall gebraucht.Und in der ganzen neueren Entwicklung der Freudschen Schule findet manbeständig ein selbstverständliches Voraussetzen von Adlerschen Erkenntnissenund Adlerschem Denken, ohne daß das noch besonders erwähnt wird. Dasist ins Allgemeingut eingegangen. Es ist hervorzuheben, daß Kunkel um eineDimension weiterging als Adler, indem er die Begriffe des Subjektes unddamit der eigentlichen Verantwortung, des Mutes, der Freiheit des Menschenmit in die Diskussion geworfen hat. Bei Adler geht alles noch im Rahmendes gesellschaftlich Bewährbaren und Nützlichen, des Verwendbaren und desProtestes gegen eine minderwertige Stellung und des Erstrebens von Geltungunter allen Umständen. Was Kunkel hereingeworfen hat, hat noch eine ganzandere Perspektive. Den Subjekt-Begriff hat Kunkel zum erstenmal in diePsychotherapie eingeführt, ohne den auch zum Beispiel der Personbegriffnicht denkbar wäre. So hat Adler einen fruchtbaren Fundus geliefert, aufdem es weiterzugehen und ganz neue Fragen des Menschseins anzupeilengilt.

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SEELSORGE UND PSYCHOTHERAPIE

von Gustav Bally

Innerhalb der Heilkunde ist ein neuer ärztlicher Stil entstanden,wir heißen ihn Psychoanalyse. Die Beziehung des Psychoanalytikerszum Patienten ist anders geartet als diejenige der Schulmedizin. Diesewill den Körper gesund machen, er muß für die Ziele, die die Menschenin ihrem Leben anstreben, wieder funktionsfähig werden. Denn unserZeitalter, die technische Arbeitswelt, versteht unter Gesundheit Leistungsfähigkeit in der Arbeit und in der Freizeit. Die psychoanalytischePsychotherapie jedoch bewegt sich in einem andern mitmenschlichenBereich: in dem der sprachlichen Kommunikation, also des einanderVerstehens oder Verstehenwollens und der Verständigung.

Die Psychoanalyse ist trotz der Widerstände, die ihr von allenSeiten, vor allem von der Medizin, entgegengebradit wurden, zu einermächtigen, weit über die Medizin hinaus wirkenden Bewegung geworden. Das verdankt sie einer immer mehr wachsenden Nachfrage.Aber diese Nachfrage ist nicht nur groß, sie zeigt auch ganz bestimmteZüge, die die Psychoanalyse immer wieder veranlaßt hat, die Theorienzu prüfen, in denen sie sich darstellte und selbst verstand.

Die Nachfrage wird von Menschen getragen, die das wachsende Bedürfnis der eingehenden Selbstprüfung und Selbsterneuerung haben,das heißt von solchen, die der Seelsorge bedürfen.

Wir fragen: Was veranlaßt diese Menschen, den Arzt aufzusuchenund nicht den Seelsorger? Wir können auch anders fragen: Was ist derGrund, daß die Nachfrage nach tiefenpsychologisch orientierter Psychotherapie im Wachsen begriffen ist, während die Nachfrage nach Seelsorge abnimmt und die Seelsorger gegenüber den Leidenden sichmachtlos, ja nicht mehr kompetent vorkommen und die Betreffendenzum Arzt schicken? Das geht so weit, daß manche Seelsorger glauben,ohne die Errungenschaften der Psychoanalyse selbst nicht mehr auszukommen.

Nun ist die Seelsorge eine in unserer abendländischen Geschichtetief verankerte, auf eine große Tradition zurückblickende Institution.

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Man denke nur, welche Weisheit in den Bestimmungen der Beichteenthalten ist. Sollte sie plötzlich sinnlos geworden sein? Oder hat siesich an Menschen gewendet, die heute wenn nicht verschwunden, sodoch nicht mehr die eigentlichen Träger der Kultur sind, sondern eherdie Hinterwäldler, die noch nicht gespürt haben, vor welchen neuenAufgaben die heutigen Menschen stehen? Manchmal möchte es soscheinen.

Die Antwort auf diese bangen Fragen kann nur in einer genauerenUntersuchung der Schwierigkeiten bestehen, welche die Leidenden -einerseits also die sich schuldig, sündig Fühlenden und nach Entsühnung Verlangenden, andererseits die sichkrank Fühlenden und nachGesundheit Verlangenden - die Instanzen aufsuchen lassen, von denensie Erlösung und Befreiung vom Leiden erhoffen.

Wir glauben, daß es die Wandlungen innerhalb der Gesellschaftsind, welche diese Änderung bewirkt haben. Wir haben ihnen nachzugehen.

Vorerst mag uns dabei der Versuch von David Riesmanl leiten, diejüngsten gesellschaftlichen Strukturveränderungen in Europa undAmerika klar zu stellen. Aus einer traditionsgeleiteten Gesellschaftist im letzten Jahrhundert zunehmend eine Gesellschaft entstanden, inder der einzelne „innengeleitet" war. Aber auch diese Phase, die mitdem Aufschwung von Wirtschaft und Technik durch individuelle Leistung unternehmender Menschen einherging, scheint ihrem Ende entgegenzugehen und einer Struktur zu weichen, die durch Menschengekennzeichnet ist, welche ihre Haltung nach denen richten, denensie sich jeweils angeschlossen haben, ob nun diese als eine Gruppeerscheinen, die sie als Kumpane aufnahm oder ob es sich um die Beeinflussung durch öffentliche Institutionen, wie Schulen, Zeitungen usw.oder um Massenmittel handelt, wie Radio und Fernsehen. Riesmannennt diese die „other-directed", also die durch andere Bestimmten(nicht die Außengeleiteten, wie die deutsche Übersetzung lautet).

Diese Wandlung macht sich in Krisen bemerkbar, die vor allem imIntimbezirk auftreten, das heißt dort, wo sich der einzelne heimischfühlt oder doch heimisch fühlen möchte, also in der Familie. Wir haben

uns darum zunächst familiensoziologischen Fragen zuzuwenden.Für die traditionsgeführte Sozietät ist das Oberhaupt der Familie,

der Vater, die Autorität. Er bezieht sein Charisma aber nicht aus der

1 D. Riesman, Die Einsame Masse, Hamburg 1958; D. Riesman, Cultureand Social Charakter, New York 1961.

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Machtposition in der Familie. Sie ist ihm verliehen von einer Instanz,die seinem Machtbereich entrückt ist, und der er sich demütig zuunterwerfen hat: von Gott. Gott aber manifestiert sich in all den

Institutionen, die der Erhaltung der Tradition dienen. Der einzelne hatdafür zu sorgen, daß er an diesem Charisma teil hat. Durch Gehorsam,wie auch durch Machtausübung im Dienste des Höchsten.

Für diese traditionsgeleitete Epoche ist die Sippenfamilie bezeichnend, das heißt die Familie, in der die Kleinfamilie, Vater, Mutterund Kinder, aufgehoben ist in einem größeren Familienverband, inwelchem die Alten, aber auch die Tanten, Onkel, Vettern und Basenmit den Ton bestimmen. Diese Sippenfamilie ist ein Staat im Staate,mit eigener Jurisdiktion (Hofstätter).

Dies ändert sich seit Beginn des letzten Jahrhunderts, sagen wir, seitder französischen Revolution. Die Institutionen, die dem einzelnenschon von Geburt an seinen Ort in der Gesellschaft zuweisen und ihm

jede Änderung seines Status verweigern, werden aufgehoben. Die Freiheit wird als die Freiheit verstanden, sich seinen Status durch Tüchtigkeit und Leistung zu erwerben. Als aus dem revolutionären Citoyenin der Zeit der Restauration der Bourgeois hervorging, hieß diese Freiheit: Freiheit zum Besitzerwerb. Messieurs, enrichissez vous, soll Na

poleon III. nach einer Audienz den Großunternehmern zum Abschiedgesagt haben.

In der bürgerlichen Welt bleibt der Vater das Haupt der Familieund die absolute Autorität. Aber er verliert sein Charisma. Er beruft

sich nicht mehr auf Gott, um seine Macht zu rechtfertigen, sondern -auf sich selbst. Er ist ein Self-made-man, und seine Willkür gilt alsGesetz. Damit aber wird seine Macht zur Gewalt. Zugleich zerfällt dietraditionelle Sippenfamilie. Der Stammbaum mit seinen Verzweigungen hat nur mehr sentimental-historischen Wert. Die Kleinfamilieist für diese Periode, und auch noch für die Gegenwart, bezeichnend.

Aber eines bleibt und wirkt sich vorerst in eigenartiger Weise aus.Die imponierende Vatergestalt, jetzt nicht mehr durch die Traditiongestaltet, sondern als ein starkes und Gewalt ausübendes Individuumprofiliert, bemächtigt sich des Sohnes, also der Kinder, und in gewisserWeise auch der Gattin. Die Kinder werden ganz im Geiste diesesVaters erzogen. Hat ihr Wesen dann Gestalt angenommen, so verhalten sie sich wie der Vater. Da aber dieser ein Individualist gewordenist und sein Verhalten und seine Lebensführung nicht mehr im Sinneabsoluter Konformität in traditionellen Geleisen läuft, bringt dieseArt der Erziehung in der Kleinfamilie den Sohn nicht näher an seine

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Altersgenossen und Standesgenossen heran, sondern isoliert ihn vonihnen. Zeitlebens ist er geleitet von einer Haltung, die er in der strengen Früherziehung erworben hat. Er hat, um ein Bild von Riesman zugebrauchen, ein Gyroskop in seinem Innern, das ihn den Kurs einhalten läßt, auf den ihn die väterliche Autorität setzte.

Aber wenn die väterliche Macht ihr Charisma verliert und zur persönlichenGewaltherrschaft wird, dann beginnen Unstimmigkeiten. DieRollenharmonie zwischen Vater und Sohn hört auf (Hofstätter).

Dies ist die soziale Situation, die Freud vorfand und in der er selbststand. Die nicht ausgefochtenen und nicht erledigten Konflikte zwischen Vater und Sohn, zwischen Kindern und Eltern um die Jahrhundertwende haben ihm zu sehen ermöglicht, daß seine Kranken zeitlebens an die frühkindliche Situation gebunden geblieben sind, an dieödipussituation also, und daß sie den Vater sich einverleibt, „introji-ziert", haben, der nun ständig als Über-Ich allgegenwärtig ist und auchgegen den Willen des Betreffenden dessen Leben führt.

Aber unsere Gesellschaft ist, sechzig Jahre später, bereits auch überdieses Stadium des Innengeleiteten und seinerKonflikte hinausgelangt.Die gewaltigen autoritären Väter verschwinden. Und wenn die heutebereits alte Generation des ausgehenden 19. Jahrhunderts noch imVaterkonflikt verstrickt war und im Kampf der Generationen zu sichselbst fand, so leidet die neue Generation an Vater- oder vielmehrElternlosigkeit. Der Weg geht also von der vaterautoritären zur vaterlosen Gesellschaft (Mitscherlich).

Was bedeutet das für das Stumpfwerden der Seelsorge und dasHeraufkommen der Psychotherapie?

Die soziologische Voraussetzung der Seelsorge ist die traditionsgeleitete Gesellschaft. Für sie ist bezeichnend, daß alle in der Ansicht dessenübereinstimmen, was gut und was schlecht ist. Jedermann ist bemüht,die Leidenschaften nur soweit zu Handlungen kommen zu lassen, alsihnen von der Tradition Grenzen und Aufgaben gesteckt sind. Die dasZusammenleben der Gemeinden störenden und eventuell gefährdenden leidenschaftlichen Impulse werden verpönt und schließlich verdrängt. Ihre Eindämmung und Regulierung ist die Aufgabe der Seelsorge.

Werden sie zur Tat, dann liegt bereits ein Verbrechen oder ein Vergehen vor, und die Gerichte verfügen Strafe. Handelt es sich lediglich um Absonderlichkeiten, so wird die Ungehörigkeit von den Nächsten und Nachbarn durch Beschämung geahndet. Der Betreffende hat

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sein Gesicht nicht gewahrt. In beiden Fällen wird der Seelsorger nichtaufgesucht, obschon er beim Verbrecher die Sühne zu fördern suchtund bei Absonderlichkeiten trösten mag.

Er wird aber aufgesucht, wenn eine leidenschaftliche Gier nach demBesitz eines andern, oder nach Bemächtigung eines andern oder nachsexueller Betätigung außerhalb der erlaubten Bedingungen derartigmächtig wird, daß ein Gefühl der Schuld entsteht. Im Bereich der tra-ditionsgeleiteten Gesellschaft wird diese Schuld als Sünde, das heißtals Vergehen gegen Gott erlebt.

Dieses Sündeerlebnis setzt voraus, daß der einzelne weiß, was gutund böse ist. Und daß er es nicht bereits in der Tat, sondern schon inder Absicht weiß. Die Absicht ist es bereits, die ein gutes oder bösesGewissen macht. Die Seelsorge, insbesondere als Beichte, will diese Absicht besser erraten und sehen helfen, will die Keime dieser Absichtsichtbar machen und, wenn sie böse ist, wenn es Unkrautkeime sind,ausrotten.

Für diese Absicht der Gewissensprüfung gilt als Grundgesetz derDekalog, die zehn Gebote. Die Einhaltung der Gebote und das wacheBewußtsein aller jener „Du sollst nicht. . ." stets lebendig zu erhalten,ist die Aufgabe der Selbstprüfung. Der Seelsorger hat dieser Selbstprüfung zu dienen. Selbstprüfung ist Zwiegespräch, mit sich selbst,mit Gott, gewiß, aber wenn das nicht ausreicht, mit einem Menschen,der zu hören, zu verstehen, zu urteilen, unter Umständen zu verurteilen und den Weg der Sühne und Entsühnung zu weisen versteht.

Voraussetzung der Seelsorge ist, daß jeder weiß und alle mit-wissen— daß also eine con-scientia aller besteht —, was böse ist. Daß weiterÜbereinstimmung herrscht über den vorgeschriebenen Pfad der Tugend,und daß jeder dafür sorgen muß, daß all jene Begierden und Leidenschaften, die ihn von diesem Pfad abzulenken drohen, unterdrückt,verdrängt werden. Ich sage alle Begierden und Leidenschaften undwill damit zum Ausdruck bringen, daß in ihnen bereits die Intentionzu einer bestimmten Tat mitgegeben ist, die, wenn sie nicht hervorbricht, im Traum und in der Phantasie sich nicht nur in ihrer Kraft,sondern auch in ihrer Absicht zeigt.

Der Seelsorge kommt eine wichtige soziale Rolle in der traditions-geleiteten Gesellschaft zu. Sie zeigt den Weg der Bewältigung der„bösen" Impulse: Im Schuldigsein werden sie erlebt. Als Sünde sindsie Frevel gegen Gott. Im Geständnis werden sie offenbar, werden sieWort und damit ver-antwortbar. In der Reue hebt sich der Schuldigevon dem „Bösen in ihm" ab. In der Sühne als Demütigung und Buße,

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gleichzeitig in der Hoffnung auf Gnade, verläßt er den Weg der Sündeund sucht er den „rechten" Weg. In der Versöhnung - mit Gott unddamit zugleich mit der Welt - hat er ihn gefunden. Der Priester, alsSeelsorger, weiß um diesen Weg und kann das Verständnis für ihndarum in der Gemeinde und beim einzelnen fördern.

Die Voraussetzung für diese Art der Seelsorge ist, daß alle sich derAutorität des tradition-wahrenden Glaubens unterwerfen, und daß dieAutoritäten, die ihn vertreten, in diesem Glauben stehend eine Visiondes rechten Weges und die Gabe haben, auf ihn zu führen.

In der Periode des innengeleiteten Menschen wird die Seelsorge unwichtig. Ihre Voraussetzung, der consensus omnium, ist ihr entzogen.Die säkularisierte väterliche Autorität der Kleinfamilie hat in einerstrengen und willkürlichen Erziehungsarbeit den Kindern, und vorallem dem Sohn, eine Prägung gegeben, die auf Lebenszeit die Leidenschaften kanalisiert. Das tugendhafte Leben ist aber nun nicht mehrauf das Kriterium der Gottgefälligkeit bezogen, sondern auf dasjenigedes individuellen Vorwärtskommens, des sozialen Aufstiegs. Aus dertraditionellen Ethik ist die pragmatische hervorgegangen. Was von dertraditionellen Moral mitgenommen wird - und der Innengeleitetezehrt von ihr —, versteht sich, um mit Friedrich Theodor Vischer zusprechen, von selbst.

Hier haben Seelsorge und Religion ausgespielt. Der demütige Glaubean eine göttliche Vorsehung ist von einem Glauben an die menschlicheTüchtigkeit und die menschliche Fähigkeit, unbegrenzte Möglichkeitenzu verwirklichen, abgelöst worden. Die Menschen wurden nun arbeitsfreudig, und die Kirche wurde hinterwäldlerisch. Diese Haltung hatNietzsche vor Augen, wenn er schreibt:

„Hat man wohl beachtet,inwiefern zu einem eigentlich religiösen Leben...der äußere Müßiggang oder Halbmüßiggang not tut, ich meine der Müßiggang mit gutem Gewissen, von alters her, von Geblüt, dem das Aristokraten-Gefühl nicht ganz fremd ist, daß Arbeit schändet —nämlich Seele und Leibgemein macht? Und daß folglich die moderne, lärmende, Zeit auskaufende,auf sich stolze, dummstolze Arbeitsamkeit, mehr als alles übrige gerade zum,Unglauben' erzieht und vorbereitet? Unter denen, welche zum Beispieljetzt in Deutschland abseits von der Religion leben, finde ich Menschen vonvielerlei Art und Abkunft der .Freidenkerei', vor allem aber eine Mehrzahlsolcher, denen Arbeitsamkeit, von Geschlecht zu Geschlecht, die religiösenInstinkte aufgelöst hat: so daß sie gar nicht mehr wissen, wozu Religionennütze sind, und nur mit einer Art stumpfen Erstaunens ihr Vorhandensein inder Welt gleichsam registrieren. Sie fühlen sich schon reichlich in Anspruchgenommen, diese braven Leute, sei es von ihren Geschäften, sei es von ihren

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Vergnügungen ... es scheint, daß sie gar keine Zeit für die Religion übrighaben, zumal es ihnen unklar bleibt, ob es sich dabei um ein neues Geschäftoder ein neues Vergnügen handelt —denn unmöglich, sagen sie sich, gehtman in die Kirche, rein um sich die gute Laune zu verderben. Sie sind keineFeinde der religiösen Gebräuche; verlangt man in gewissen Fällen ... dieBeteiligung an solchen Gebräuchen, so tun sie, was man verlangt, wie manso vieles tut —, mit einem geduldigen und bescheidenen Ernste und ohneviel Neugierde und Unbehagen: sie leben eben zu sehr abseits und außerhalb, um selbst nur ein Für und Wider in solchen Dingen bei sich nötig zufinden. Zu diesen Gleichgültigen gehört heute die Überzahl der deutschenProtestanten in den mittleren Ständen, sonderlich in den arbeitsamen großenHandels- und Verkehrszentren .. . " 2

Diese Indifferenz hat aufgehört. Wenn einerstes Symptom der Konflikt von Vater und Sohn war, in dem ihre Rollenharmonie unterging,so haben inzwischen die Kriege und ihre Folgen, die unvermutet ausdieser Epoche hervorgegangen sind, den aufstrebenden Selfmademanso erschreckt, daß er in den kommenden Generationen auf die väterliche Autoritätsrolle überhaupt verzichtete.

Zugleich sehen wir den Glauben an ein Schicksal, das nicht wirselbstzu gestalten in der Lage sind, und damit an eine jenseitige Macht beivielen wachsen. Manche von ihnen finden zum Gottesglauben, wenigezur Kirche zurück.

Die in diesem Umbruch Leidenden kommen nicht zum Seelsorger,weil sie sich nicht sündig fühlen, auch wenn sich ihre Enttäuschungan den Eltern als Haß und Verachtung erschreckend zeigt. Sie fühlensich nicht schuldig, sondern krank, und dies vielleicht noch stärker, seitsie sich nicht mehr im Widerstreit mit ihren Eltern, sondern seit sie sichelternlos fühlen.

Das gute oder böse Gewissen ist von einem ratlosen Gewissen abgelöst worden.

Das Wissen um Gut und Böse ist zwar vorhanden, aber es ist ohneKraft. Weder Buße noch Gehorsam machen das Leben sinnvoller.Keine Instanz ist da, die diesem Wissen Nachachtung verschafft. Weder die Autorität des Priesters oder Patriarchen, der um seine Verankerung im Gottesglauben weiß, noch die Autorität des selbstherrlichen Vaters, der seinem Kind Rechttun und Unrechtlassen derart beigebracht hat, daß sich „das Moralische von selbst versteht".

So tritt denn statt einem sündigen oder schuldigen Gefühl das Gefühl auf, ratlos zu sein, und das Bedürfnis, auf einen Weg zu kommen,

F.Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Leipzig 1930, S.68f.

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der die Rat- und Sinnlosigkeit des strebsamen Lebens aufhöbe undihm wieder Gehalt und Sinn gäbe.

Aber ich greife vor. Wer in dieser Lage ist, ist vorerst nicht einmalratlos, sondern er ist krank. Und gerade dieses Gefühl des Krankseinsentlastet ihn, denn nun kennt er seinen Weg, nämlich den zum Arzt.Die Ärzte aber sind diesen Erscheinungen gegenüber hilflos, da sie sichmit den Mitteln der Körperreparatur nicht ändern, oder - schlimmer- nur scheinbar ändern lassen. Bis Freud seine Entdeckung machte,daß hier eine ganz andere Art der ärztlichen Zuwendung entwickeltwerden müsse: die Psychoanalyse.

Im Laufe der psychoanalytischen Arbeit gelang es dann, den Grundaffekt der Neurosen, und des ganzen Heeres der Verstimmungen undfunktionellen Störungen, zu finden: die Angst. Aber es ist nicht mehrdie Angst der Versuchung, im sündigen Tun die Gnade zu verlieren,dazu gehört, daß man weiß, was Sünde ist; es ist vielmehr die Angst,die auftritt, wenn wir entdecken, daß der Weg, den wir bisher, aufgrund unseres Herkommens, unserer Erziehung, unseres besten Willens gingen, in die Weglosigkeit mündet. Eine Weglosigkeit im Unbekannten, wo vorerst weder der Patient, noch irgend eine Autorität,auch der Arzt nicht, Bescheid weiß. Genauer gesagt: Immer noch spieltdas böse Gewissen eine Rolle. Aber es ist nicht mehr führend. Führendist vielmehr ein Malaise, das sich bis zur Vernichtungsangst steigernkann. Statt der alten Furcht vor Strafen steht jetzt die Angst im Vordergrund, die auftritt, wenn wir in der einzig denkbaren Rolle, diewir spielen, und in der sich unser Leben abspielt, uns selbst fremd geworden sind. Wir sprechen von existentieller Angst.

Diese Entfremdungsangst fordert nicht einen Gesprächspartner, dereine Vorkenntnis der Gebote und Verbote hat, sondern einen Gesprächspartner, der ebensowenig imvoraus weiß, wie der Patient selbst.Sein ärgster Fehler wäre, Maßnahmen vorzubestimmen oder vorauszuwissen. Der Patient braucht einen Partner, der mit ihm zusammenhört, was geschieht, wenn er frei spricht. Darum ist es das große Verdienst von Freud, den freien Einfall als Grundregel eingeführt zuhaben, das Sprechen also, ohne sich von Vorurteilen — weder vonScham, noch von Schuldgefühlen, noch von Angst —hemmen zu lassen.Dann treten nämlich erst die Themen zutage, die unter der erfolgreichen Rolle verborgen lagen. Ohne Vorurteil sprechen heißt nämlich,die erfolgreiche Rolle der sozialen Gültigkeit im psychoanalytischenGespräch aufheben.

Aber weshalb klammert sich der Ängstliche an diese Rolle? Weil

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sie ihm das Gefühl, individuell bestimmt zu sein, vermittelt. Und soist er sich gerade dort entfremdet, wo er Anerkennung zu erfahrenhofft und um den Erwerb seiner sozialen Stellung ringt.

Die Psychoanalyse hat entdeckt, daß der Weg des freien Einfalls vonden aktuellen Leidenserscheinungen, wegen derer der Kranke Heilungsucht, wegführt in eine Lebenszeit, die längst vergangen ist, nämlichin die Intimsphäre der frühen Kindheit, in der wir alle das Menschsein einüben lernen, und in der wir den Namen erhalten, in dem wirleben, mit dem wir in den weitern Kreis der Gruppen treten, mit welchen wir unsere Arbeits- und Freizeit verbringen.

In jener Zeit zeigen sich die bekannten frühkindlichen Konflikte,über die so oft gesprochen wurde, daß wir hier nicht im Detail auf sieeingehen müssen. Aber ein Punkt soll hier doch betont werden: nämlich, daß sich diese Konflikte grundlegend zu wandeln beginnen, undzwar in einer recht unheimlichen Weise.

Im Anfang der Psychoanalyse stand der Vaterkonflikt im Vordergrund. Die Söhne wollten sich gegen die väterliche Gewalt behaupten.Viele waren dazu ohne Hilfe des analytischen Gesprächs nicht imstande.

Bei den heutigen Analysen zeigt sich eine andere Problematik: DasFehlen des Vaters und das Versagen der Mutter. Mitscherlich hat dieseWandlung mit einem Begriff blitzartig beleuchtet: Statt des Ödipuskomplexes sehen wir heute den Kaspar Hauser-Komplex. Das heißt,daß im Grunde der Neurosen heute die Heimatlosigkeit steht. Keineder Gruppen, die der elterlichen Familiengruppe folgen, ist imstande,die spontane Sicherheit zu vermitteln, die Erikson das „Urvertrauen"nennt. Denn keine Gruppe bleibt. Die Krippe wird vom Kindergarten,dieser von der Schule abgelöst. Die Freundesgruppe der Gespielen, diePeergroop, wechselt von Ort zu Ort und von Altersstufe zu Altersstufe. Nach jeder Gruppe richtet sich das Verhalten, jede Gruppe fordert eine andere Rolle. Und die Massenmittel, Radio, Fernsehen usw.,vor denen Eltern und Kinder gleich sind, interpretieren die Welt, inder sich der Heimatlose bewegt. Auf diese Weise entwickelt der einzelne ein ganz anderes Organ als dasjenige, das dem InnengeleitetenStetheit verlieh. Diesem hatte die Erziehung einen Stabilitätskreiseleingebaut, der ihn vom einmal eingeschlagenen Kurs nur schwer abweichen ließ. Jener aber hat eine Radareinrichtung in sich entwickelnmüssen, die ihm früh genug mitteilt, welches Verhalten, welche Rollein den jeweils maßgebenden Gruppen erwartet wird.

Wer aber in dieser Welt lebt, muß er selbst zu sein suchen. Wenn er

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also in der Rolle, in der er sich entfremdet fühlt, das „Unbehagen inder Kultur" empfindet, das sich bis zur sinnlosen Angst steigern kann,so sucht er bei der Psychoanalyse Hilfe. Aber die Analyse kann, jamuß ihn erst recht in Verwirrung bringen.

Die Entdeckung all der Strebungen, auf die er keine Antwort bekam, und die nun immer gebieterischer nach Antwort in der Tat verlangen, erzeugen eine andere Art von Angst. Die Entfremdungsangstwird von der Angst des Selbstverlustes abgelöst. So erlebt der Patient,daß er in lauter Möglichkeiten zerfahren könnte, denen noch kein gemeinsames Band, keine Ordnung entspricht. Er erkennt die Gefahrder Rollendiffusion. Aufgabe der Analyse ist dann, die Entstehungeiner neuen Ordnung zu lenken. Dies geschieht in der Auseinandersetzung mit dem Analytiker, dem man sich anvertraut, das heißt in derÜbertragungsanalyse. Hier soll es dem Patienten gelingen, in Ansehung all seiner von ihm geschätzten und auch nichtgeschätztenEigenschaften er selbst zu sein und sich selbst ausdrücklich zu wählen. Daß

dies für den heutigen Menschen wichtig ist, hat schon Kierkegaard erkannt.

Ich komme zum Schluß. Wo ist oder wo war - so fragen wir nun -die traditionelle Art der Seelsorge möglich, und: unter welchen sozialen Bedingungen muß eine andere Art der Führung - wenn man will,eine ärztlich bestimmte Art der Seelsorge —die Aufgabe übernehmen,einer eindeutigen Verwurzelung der Existenz zuzuführen?

Wer auf die überlieferten, allgemeinverbindlichen Verhaltensmusterausgerichtet war, wer also wußte, welche Rolle ihm sein Stand zuwies,der hatte alle spontanen und leidenschaftlichen Begierden, Impulse undAntriebe, die der moralischen Haltung, zu der er verpflichtet war,widersprachen, zu kontrollieren, zu verurteilen, abzuwehren, zu unterdrücken. Die eigene Kontrollinstanz, die er im Dienst dieser Aufgabeentwickelt hatte, ist das Gewissen, das heißt, das stets bereite Wissen,das auf den Plan tritt, wenn eine bestimmte Unstimmigkeit sich meldet. Dieses Gewissen, das signalisiert, wenn eine verpönte Regung sichmeldet, ist oft unklar. Aber ihm entsprechen priesterliche, väterlichautoritäre Figuren, die von der Gesellschaft als Gewissenswächter bestellt sind und die sich bemühen, dem einzelnen, der sie aufsucht, zuhelfen, die Schuld deutlich zu sehen, die der Gewissensruf anzeigte. Sieweisen ihm den Weg, indem sie Reue fordern und Buße auferlegen.Mit dieser Hilfe ist er imstande, die „bösen" Begierden und Intentionen zu verneinen, oder aber zu verleugnen, zu „verdrängen".

Wo aber die überlieferten Sicherungen fehlen, stellt sich eine ent-

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gegengesetzte Aufgabe. Es ist die Aufgabe, angesichts aller Leidenschaften, aller Begierden, im Bewußtsein der ganzen eigenen Triebhaftigkeit, die sich im offenen Spiel der freien Einfälle meldet und meldensoll, sich selbst zu begegnen und sein Leben akzeptieren und führen zulernen, und zwar angesichts aller, der verpönten und der zulässigenLebensmöglichkeiten. Nur so kann eine eigenständige Selbstsicherheitgewonnen werden, eineSicherheit, die nicht mehr auf die Einflüsse derfrühen Kindheit und auch nicht auf die Einflüsse der maßgebendenGruppen zurückgeht, an die man noch fixiert war.

Es geht hier nicht mehr um den Schutz einer von der Überlieferungvorgezeichneten Lebensführung, sondern um das Finden einer Lebensweise, die nicht lebensgeschichtlich vorgegeben sein kann, weil wir unsere Existenz aus allen Bezügen entlassen wissen, und vielleicht auchentlassen haben wollen.

Unser verantwortetes Leben in der Welt der Menschen, unsere soziale Rolle, die wir zu spielen haben, richtet sich dann nicht nach dem,was und wie wir sein sollten, sondern wir spielen sie im Bewußtseindessen, wie wir sein könnten.

Die Aufgabe der Menschen heute, sich in ihrer Möglichkeit (und dasheißt konkret) zu wählen und nicht nach einer vorgefaßten und bereits verfaßten Idealität (und das heißt abstrakt), hat Kierkegaarddeutlich gesehen. Wie eine Vorwegnahme der Grundintention derPsychoanalyse klingen seine Worte, mit denen ich meine Ausführungenschließen möchte:

Wenn sich das Individuum abstrakt wähle, dann müsse — so meint er —dieWahl mißglücken, denn dann habe ...„das Individuum sich selbst, obwohles das Ethische gewählt hat, doch nicht ethisch gewählt. Darum steht esnicht in Zusammenhang mit der Wirklichkeit, und ohne diese kann eineethische Lebensanschauung nicht durchgeführt werden. Wer sich dagegenethisch wählt, der wählt sich selbst konkret als dieses bestimmte Individuum; und diese Konkretion erreicht er dadurch, daß diese Wahl zusammenfällt mit der Reue, die die Wahl bestätigt. Das Individuum wird also seinerselbst bewußt, als dieses bestimmten Individuums mit diesen Gaben, diesenNeigungen, diesen Trieben, diesen Leidenschaften, unter dem Einfluß dieserbestimmtenUmgebung, alsdieses bestimmteProdukt eines bestimmtenMilieus.Wer seiner selbst so bewußt wurde, übernimmt das alles zusammen unterseiner Verantwortung. Er zögert nicht, ob er das einzelne mitnehmen solloder nicht, denn er weiß, daß etwas weit höheres verlorengeht, wenn er esnicht tut. Er ist also im Augenblick der Wahl in vollkommener Isolation,denn er zieht sich aus der Umgebung heraus: und doch ist er im selbenMoment in absoluter Kontinuität, denn er wählt sich selbst als Produkt; unddiese Wahl ist eine freie Wahl, so daß man von ihm, indem er sich selbst

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als Produkt wählt, ebensogut sagen kann, er produziere sich selbst. Er istalso im Augenblick der Wahl am Schluß: seine Persönlichkeit schließt sichzusammen. Und doch ist er im selben Augenblick gerade am Beginn, erwählt sich ja nach seiner Freiheit. Als Produkt ist er eingeklemmt in dieFormen der Wirklichkeit; in der Wahl macht er sich selbst elastisch, verwandelt seine ganze Äußerlichkeit in Innerlichkeit. Er hat seinen Platz inder Welt; in der Freiheit wählt er selbst seinen Platz: diesen Platz, dener hat.

Das Individuum wählt sich also selbst als eine mannigfaltig bestimmteKonkretion, und wählt sich deshalb nach seiner Kontinuität. Diese Konkretion ist des Individuums Wirklichkeit; da es sie aber nach seiner Freiheitwählt, so kann man sie auch seine Möglichkeit nennen."

„Daß aber (nun) das Individuum seine Möglichkeit als seine Aufgabesieht, darin verwirklicht sich seine souveräne Herrschaft über sich selbst"3.

Auf diese Weise erkenne sich also das ethische Individuum selbst. „Aberdiese Erkenntnis ist nicht bloß eine Kontemplation (so würde das Individuum sich nur nach seiner Notwendigkeit erfassen), vielmehr besinnt essich auf sich selbst, und das ist eine Handlung; weshalb ich auch mit Absichtnicht von einem Sirhselbsterkennen geredet habe, sondern von einem Sich-selbstwählen. Indem das Individuum sich selbst erkennt, ist es nicht fertig,vielmehr ist diese Erkenntnis in hohem Grade fruchtbar: aus ihr geht daswahre Individuum hervor. Wollte ich geistreich sein, so könnte ich sagen,daß das Individuum auf ähnliche Weise sich selbst erkennt, wie nach derSprache des Alten Testaments Adam Eva erkannte. Durch den Umgang mitsich selbst wird das Individuum mit sich selbst befruchtet und gebiert sichselbst"4.

Soweit Kierkegaard. Welches ist aber nun die Funktion des psychoanalytischen Gesprächs? Gewiß nicht diejenige, daß der Psychoanalytiker den Hilfesuchenden berät oder ihm gar eine Weltanschauung empfiehlt. Seine Kunst ist der sokratischen Mäeutik, der Hebammenkunst,zu vergleichen: Er fördert die Selbstfindung, Selbstauszeugung undSelbstwahl,indem er die Hindernisse aufzeigt und die Tendenzen zumAusweichen entlarvt, die diesem Zu-sich-Kommen hemmend im Wegestehen.

3 S.Kierkegaard, Entweder-Oder, Bd.II, dt. Übers., Düsseldorf 1957,S.215.

4 Ebd., S. 222.

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DER BEITRAG DER SCHICKSALS ANALYSE

SZONDIS

von Armin Beeli

ImJahre1938 erschien von SigmundFreud dieArbeit: „Die endlicheund dieunendliche Analyse". EineArbeit, von der mein Lehranalytikersagt: Jeder Psychotherapeut, gleich welcher Richtung, sollte sie wenigstens einmal im Jahr gründlich sich zu Gemüte führen. Warum?In dieser Arbeit blickt Freud zurückauf die Jahre seines Forschens undHeilens; er fragt sich, was die Psychoanalyse zustandebrachte und zustandebringt; er schreibt auch ehrlich, was sie nicht - oder noch nicht -kann. Beispielsweise vermerkt Freud, „daß die traumatische Ätiologieder Analyse die weitaus günstigere Gelegenheit bietet.Nur im vorwiegend traumatischen Fall wird die Analyse leisten, was sie meisterlichkann... Die konstitutionelle Triebstärke und die im Abwehrkampferworbene ungünstige Veränderung des Ichs . . . sind die Faktoren,die der Wirkung der Analyse ungünstig sind"'. Freud betont und beklagt sehr, daß wir noch sehr wenig über die quantitative Seite dieserfür den Erfolg einer Psychotherapie ausschlaggebenden Momente wissen. Daß selbst im Falle der Ich-Veränderungen, neben den erlebnismäßigen Einflüssen die ererbte Konstitution eine wesentliche Rollespielt, hebt er eigens hervor, etwawenn er schreibt: „Es bedeutet nochkeine mystische Überschätzung der Erblichkeit, wenn wir für glaubwürdig halten, daß dem noch nicht existierenden Ich bereits festgelegtist, welche Entwicklungsrichtungen, Tendenzen und Reaktionen esspäterhin zum Vorschein bringen wird"2. Auch an anderer Stelle betont Freud die wesentliche Rolle der Erbeinflüsse: „Den Inhalt desUnbewußten kann man einer psychischen Urbevölkerung vergleichen.Wenn es beim Menschen ererbte psychische Bildungen, etwas dem Instinkt der Tiere Analoges gibt, so macht dies den Kern des Unbewußten aus. Dazu kommt später das während der Kindheitsentwicklung

1 S. Freud, Die endliche und die unendliche Analyse. Ges. W. XVI,S.64.

2 Ebd., S.86.

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als unbrauchbar Beseitigte hinzu, was seiner Natur nach von dem Ererbten nicht verschieden zu sein braucht"3. Man wird mit Recht, wennvon dieser „Urbevölkerung" die Rede ist, an Jung denken, der es jaunternahm, ihre „Stämme" zu erforschen.

Warum setze ich bei dieser Arbeit Freuds an? Um wissenschaftsgeschichtlich den Anknüpfungspunkt aufzuzeigen, den die Schüler Freudsmeines Wissens nie weiterführten, an dem aber die Schicksalsanalyseeinsetzt. Die Schicksalsanalyse beansprucht nicht, die Freud'sche, dieJung'sche oder irgendeine andere Art von Psychotherapie außer Kursund sich selber an deren Stelle zu setzen. Sie glaubt aber, eine legitimeWeiterführung eben dieser Schulen darzustellen und möchte auch alssolche aufgefaßt werden. Ich hoffe, was ich vorlegen werde, kann auchdie Anknüpfungspunkte an die verschiedenen Richtungen deutlichmachen.

Was ich jetzt tun werde, wird vorerst eine gewisse Zumutung bedeuten - man wird gleich verstehen, warum. Szondi behauptet nämlich, daß er in dem, was wir abkürzend „das Unbewußte" nennen, eineneue „Region", einen neuen Sinnzusammenhang gefunden hat; ähnlich wie Freud das entdeckte, was wir das „persönliche Unbewußte"nennen, wie Jung das von ihm so benannte „kollektive Unbewußte"erforschte, so bearbeitete Szondi ein Gebiet des unbewußten Seelenlebens, das er das „familiäre Unbewußte" nennt. - Spricht man nunüber Psychotherapie und zeigt die anthropologischen Aspekte auf,stellt man dar, wohin man den Menschen führen, welch' große Möglichkeiten man in ihm freilegen will und kann, tut das uns allen gut —und not. Kommt aber Freud und deckt auf, was da unter anderemauch in uns lebt und wirksam ist, wird er uns zunächst erschrecken. Erwußte und beschrieb auch sehr genau, wie schwer er die Menschheitnarzißtisch verletzte, wenn er sagt: Was ihr da in guten Treuen undmit bester Absicht tut, hat oft Unterströmungen und Motivationen,die ihr zu euerm Glück - oder Unglück - nicht kennt. Ihr seid zwarviel moralischer, aber zugleich auch viel unmoralischer, als ihr glaubt.Ähnlich erging es wohl Jung, der ja einen neuen Bereich umschrieb,der uns in so vielfältiger Weise bedingt und bestimmt, noch ehe wiretwas zu tun vermögen. Auch er mußte uns die Illusion nehmen, alskönnten wir, auf uns gestellt, kleinen Göttern gleich, tun und lassen,was uns beliebt. —Szondi geht es darum, uns vorerst die Illusion —das heißt eine zu idealistische, zu wenig an der Realität bemessene

3 S. Freud, Das Unbewußte. Ges. W. X, S. 294.

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Vorstellung —unserer Freiheit zu nehmen. Ich möchte bitten, trotz desWiderstandes, der sich melden muß, die Gedankengänge doch einStück weit mit zu vollziehen.

Szondi ist in weiten Kreisen als Autor des nach ihm benanntenTests bekannt geworden - leider, möchte ich sagen, und auch zu seinem Bedauern, denn dieser Test ist keineswegs das Wichtigste, was ergeschaffen hat. Er betrachtet ihn als eines der Hilfsmittel im Dienstedes Größern, das er begründet hat, nämlich der „Schicksalsanalyse".Diesen Titel trug sein 1. Buch, das 1944 erschien4. Ihm sind in den folgenden Jahren die weitern vier Bände gefolgt, die das Szondi'scheOeuvre umfassen: Das „Lehrbuch der Experimentellen Triebdiagnostik" (welches sich vorwiegend mit dem „Szondi-Test" und seiner Anwendung befaßt)5, die „Triebpathologie" (die schicksalsanalytischePathopsychologie)6, die „Ich-Analyse"7 und schließlich, im vergangenen Jahr erschienen, die „Schicksalsanalytische Therapie" 8. Da SzondisRichtung noch nicht sehr bekannt ist, darf ich wohl in Kürze einigeihrer Hauptzüge herausarbeiten, wobei ich besonders das betonen will,was uns anschließend zur Begegnung und Berührung mit Religion undReligiosität führen wird.

Es schadet wohl nichts, vorerst einige biographische Notizen zu geben, weil auf diesem persönlichen Hintergrund manches besser deutlich wird. Szondi ist 1893 als Sohn eines jüdischen Schuhmachers undRabbiners in Ungarn geboren. Er war orthodoxer Jude, der freilichseine „Kultfrömmigkeit" - im Sinne der Einleitung Pfarrer Daurs -im Laufe seinerEntwicklung abgelegt hat, der sich aber auch heute alseinen gläubigen Menschen bekennt. Als Medizinstudent interessierteersich bereits stark für Psychologie, arbeitete auch längere Zeit als Assistent beim damals bekannten Experimentalpsychologen Ranschburg.In vierzehnjähriger Tätigkeit als Dozent für Psychopathologie an derpädagogischen Hochschule Budapest arbeitete er sich theoretisch wie

4 L. Szondi, Schicksalsanalyse, 3. erw. A. Basel 1965.5 L. Szondi, Lehrbuch der experimentellen Triebdiagnostik (Szonditest),

Bern und Stuttgart 1960.6 L. Szondi, Triebpathologie. Elemente der exakten Triebpsychologie und

Triebpsychiatrie, Bern und Stuttgart 1952.7 L. Szondi, Ich-Analyse. Elemente der exakten Ichpsychologie und Ich

pathologie, Bern und Stuttgart 1956.8 L. Szondi, Schicksalsanalytische Therapie. Ein Lehrbuch der passiven und

aktiven analytischen Psychotherapie, Bern und Stuttgart 1963; vgl. auch:Heilwege der Tiefenpsychologie, hrsg. L. Szondi, Bern und Stuttgart 1956.

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praktischin all die Gebiete ein, die für seinspäteres Lebenswerk so entscheidend werden sollten: Psychoanalyse, Konstitutionspathologie, Endokrinologie, besonders aber genetische und genealogische Probleme.1944 kam Szondi ins Konzentrationslager Bergen-Belsen, aus dem erkurz vor Kriegsende freigebracht werden konnte. Seither lebt Szondiin der Schweiz.

Ich sagte, ich müsse „schockieren" - wieso? Wie kam Szondi zu dem,was er das „familiäre Unbewußte" nennt? Er selberspricht davon, daßdas Unbewußte sich in „drei Sprachen" äußere: Da ist einmal die„Symptomsprache" des persönlichen, verdrängten Unbewußten, welcheFreud uns zu entziffern lernte, zweitens die „Symbolsprache" des kollektiven Unbewußten, die uns Jung verständlich machte; als dritteÄußerungsform unbewußten Seelenlebens entdeckte Szondi die „Sprache der Wahl". - Am besten schildere ich vielleicht das Beispiel, dasseinerzeit Szondi selber auf die Fährte setzte und auch uns nahebringenkann, worum es sich handelt: Als junger Arzt empfing Szondi einejunge Frau, zusammen mit ihrem Mann. Die Patientin klagte unter anderem darüber, daß sie immer wieder unter unsinnigen und beängstigenden Ideen leide: Sie glaube immer, andere Menschen vergiften zumüssen - wenn sie ihrem Kinde Medizin eingebe, wenn sie Gäste bewirte - immerwieder bemächtige sich ihrer die furchtbare Angst, dieseMenschen vergiftetzuhaben. Verzweifelt fragt diejunge Frau: „HabenSie je einen Menschen gesehen, der sich von so albernen Gedankenquälen läßt?" - Szondi erzählt ihr darauf, daß ihn seit Jahren einealte Frau vom Lande aufsuche, die unter ganz ähnlichen Vergiftungsideen leide, ja, die ihre Beschwerden mit fast denselben Worten schildere. - In diesem Moment sagt der bisher schweigende Gatte der jungen Frau plötzlich: „Ich kenne diesen Fall, Herr Doktor - diese alteDame ist meine Mutter." - Diese Erklärung beeindruckte Szondi tief.Unter ihrem Eindruck ließ er sich die Geschichte der Liebe und der Eheschließung dieser jungen Eheleute erzählen. Es ergab sich, daß sie sichseit der Kindheit kannten, sogar entfernt verwandt waren. Ein Onkelder Frau hatte sich sogar in den Kopf gesetzt, die beiden, die - nachseinen Worten - „von Gott direkt füreinander geschaffen sind", zusammenzuführen. Es schien jedoch, daß ihr Schicksal anders verlaufensollte: Das Mädchen ging mit achtzehn Jahren eine Vernunftehe ein.Diese wurde freilich nach wenigen Monaten geschieden, das Mädchenkehrte nach Hause zurück, verliebte sich bald darauf in ihren jetzigenMann, den sie schließlich heiratete. Erst im fünften Jahre ihrer Ehetraten die geschilderten Vergiftungsideen auf. - Szondi stellte sich zum

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ersten Mal die Frage: Warum hat sich der Mann gerade in jene - undin keine andere Frau verliebt, die später von derselben Rachegöttinverfolgt wurde wie seine eigene Mutter?

Dieses Beispiel ist nur ein Mosaiksteinchen aus einem immensenBild, das sich Szondi im Laufe seiner Forschung enthüllte. Ich werdenun ein anderes Steinchen zeigen, das ich selber fand: Ein guter Freundvon mir, ein Heilpädagoge, fährt einmal nach England, wird dort ganzgefangen von der Arbeit, die er in einer Taubstummenanstalt kennenlernt, und beschließt, sich selber zum Taubstummenlehrer ausbilden zulassen. Er macht diese Arbeit auch sehr gut. Dann heiratet er, undzwar nicht etwa ein Mädchen aus der Nachbarschaft, sondern eine Jüdin aus den USA. Sie bekommen ihr erstes Kind, und dieses Kind ist -taubstumm. Er besprach die Sache mit mir und ich fragte ihn, ob sichin seiner oder seiner Frau Verwandtschaft Taubstumme fänden, waser mit Bestimmtheit verneinte. Erst, als wir der Sache nachgingen,stellte sich Folgendes heraus: Ein Bruder seinesVaters war taubstumm,aber man sprach kaum von ihm, weil er schon als sechsjähriger Jungestarb. Ebenso gab es einen jung verstorbenen Onkel seiner Frau, dertaubstumm gewesen war. Sie sehen also: In beiden Familien dieserEhepartner kommt etwas zum Vorschein, was in ihnen selber gar nichtsichtbar ist—sie sind beide alles andere als taub und stumm!—,in ihremKinde aber wieder unvermittelt hervorbricht. Beide waren sie offen

sichtlich Träger (Konduktoren) einer Erbanlage, die sich in ihnen selber nicht manifestierte, also verborgen, latent blieb. — Nicht wahr:Heiratet ein Reicher eine reiche Frau, läßt sich dies auch ohne Tiefenpsychologie verstehen; einsichtig ist auch, daß etwa zwei musikalischeMenschen sich finden. Wer aber wird hingehen und einen Menschenheiraten, der aus einem Erbkreis mit derselben Belastung stammt, dieauch auf ihm liegt? Wozu soll ein Mensch etwas so Sinnloses tun? ImGegenteil suchen wir doch solche eheliche Verbindungen zu meiden.Es scheint nun aber, daß uns gerade dies häufig nicht gelingt.

Szondi betont nun gerade, in welchem Maße solche und ähnlicheWahlhandlungen - Wahl in Liebe, Freundschaft und Partnerschaft -für den Menschen „schicksalhaft" werden können. Was eine geglückteoder nicht geglückte Ehe und Familie bedeutet für das Schicksal derdarin engagierten Menschen, für ihre Kinder und häufig auch für einenweiteren Menschenkreis, das wissen wir alle nur zu gut aus täglicherErfahrung. Es gelang Szondi nachzuweisen, daß die angedeuteten Zusammenhänge offenbar nicht nur in der Wahl des Liebes- und Ehepartners wirksam sind, sondern auch die Wahl der beruflichen Tätig-

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keit oder des Arbeitsmilieus bedingen können. Man erinnere sich anden jungen Mann, der nicht nur ein taubstummes Kind hat, nicht nur -wie seine Frau - taubstumme Verwandte in der Familie aufweist, dervielmehr auch spontan die Tätigkeit eines Taubstummenlehrers wähltund darin seine ausgesprochene Berufung erkennt (inzwischen hat erauf dem Gebiet der Taubstummenerziehung auch gewichtige wissenschaftliche Arbeit geleistet). - Kürzlich lernte ich eine junge Psychiaterin kennen, die mir über das Zustandekommen ihrer Berufswahlfolgendes erzählte: „Eigentlich hatte ich vor, Kinderärztin zu werden.Ich hatte mich in einen Kollegen verliebt, miteinander planten wir einegemeinsame Praxis, sowie unsere Ausbildung zu Ende wäre. Alles fielaber ins Wasser, denn mein Freund mußte eines Tages plötzlich miteinem schizophrenen Schub hospitalisiert werden. Auch sein Großvaterwar schon schizophren gewesen. So wagte ich ihn nicht zu heiraten. -Ich fuhr nach Amerika und lernte dort einen Philosophieprofessorkennen, so gesund, wie ich selber es bin. Und was erlebe ich beimersten Besuch seiner Familie: Er führt mich in ein Nebenzimmer: ,Dasist meine Tante, sie lebt bei uns, wird aber nicht zum Tisch kommen -sie ist chronisch schizophren.' Verstehen Sie, daß mich das erschreckteund ich diese Bekanntschaft auflöste? Was Sie mir aber kaum glaubenwerden: Ganz ähnlich ist es mir noch ein drittes und ein viertes Mal

ergangen! Das hat mich so entmutigt, daß ich nahe daran war, mir dasLeben zu nehmen. Man brachte mich mit schweren Depressionen ineine Nervenklinik. Dort erfuhr ich, daß vor fünfunddreißig Jahrenein Bruder meiner Mutter als Schizophrener starb. Ich fühlte michwie verfolgt von dieser Krankheit. In dieser Not kam mir auf einmalder Gedanke: Warum sollst du nicht gegen diese Krankheit kämpfen?Von diesem Augenblick an war mir klar, daß ich in der Psychiatriearbeiten würde, und seit ich dies tue, fühle ich mich frei und glücklich."

Szondi hat in seinem ersten Werk, eben der „Schicksalsanalyse",Hunderte von Beispielen zusammengetragen, die in ihrer Massierungwirklich niederschmetternd wirken. Dieses Buch muß einen erschüttern,denn es zeigt - und das wollte Szondi auch - in welchem Maße unterUmständen das, war wir „Erbe" nennen, das Schicksal eines Menschenund einer Familie bestimmen kann bis in seine äußersten Verästelun

gen hinaus. Man hat Szondi daraus - mit einem gewissen Recht - denVorwurf gemacht, er sei ein vollkommener Determinist. Der erste Eindruck geht ohne Zweifel in diese Richtung. Doch Szondi war nie Determinist und will auch nicht als solcher verstanden sein. Schon in sei-

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nem ersten Buch deutete er an, daß dieser „Zwang des Schicksals" nichtlückenlos ist, daß andererseits hier Determinationen vorliegen, überdie wir nicht einfach hinweggehen können. Was Szondi aus der großenZahl eindrücklicher Beispiele herausarbeitet, ist das, was er „Genotro-pismus" nennt. Er versteht darunter die Tatsache, daß Erbanlagen -gerade auch solche, die unter Umständen zu psychischen Störungenführen können—, die wir latent in uns tragen, nicht einfach wie ein verschnürtes Paket von uns weitergegeben werden. Wenn sie auch nichtmanifest werden — etwa im Ausbruch einer Krankheit —, werden siedoch häufig wirksam als Faktoren, die unsere Wahlen in Liebe, Freundschaft und Beruf, ja auch unsere „Wahl der Krankheit" und selbst die„Wahl der Todesart" bedingen und beeinflussen.

Die Gene also, das in uns biologisch fixierte Erbe, seien es, die unsdurch einen „Tropismus", einen —meist unbewußten —Zug, zu einemMenschen in ein erb-ähnliches Milieu führen. Ähnliches sagt auch Rilkein seiner dritten Elegie, in welcher er das Geheimnis umkreist, das inder Begegnung von Mädchen und Jüngling liegt und in all dem, wasdurch solche Begegnung wachgerufen wird. Da lesen wir etwa:

Siehe, wir lieben nicht, wie die Blumen, aus einemeinzigen Jahr; uns steigt, wo wir lieben,unvordenklicher Saft in die Arme. O Mädchen,dies: daß wir liebten in uns, nicht Eines, ein Künftiges, sondern

das zahllos Brauende; nicht ein einzelnes Kind,sondern die Väter, die wie Trümmer Gebirgsuns im Grunde beruhn; sondern das trockene Flußbetteinstiger Mütter —; sondern die ganzelautlose Landschaft unter dem wolkigen oderreinen Verhängnis —: dies kam dir, Mädchen, zuvor.

Und du selber, was weißt du —, du locktestVorzeit empor in dem Liebenden. Welche Gefühlewühlten herauf aus entwandelten Wesen. Welche

Frauen haßten dich da. Was für finstere Männer

regtest du auf im Geäder des Jünglings? ToteKinder wollten zu dir ...

In dichterischer Form drückt Rilke also aus, daß zum Menschen undseinem Lieben mehr gehört als er selber, daß hinter ihm, als Schicksal,als „Verhängnis", die ganze „Ahnengalerie" steht, die eben in Liebeund Begegnung aufgerufen wird.

Schicksal in diesem Sinne heißt also vorerst eine völlige oder dochsehr weitgehende Bestimmtheit unseres Lebensganges durch unsere Erb-

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anlagen, durch die „Ansprüche unserer Ahnen", wie Szondi es auchnennt. Wir kennen aus dem Griechischen das Wort „Ananke". Szondiselber war überrascht, wie er dessen genauere Bedeutung im griechischen Wörterbuch nachschlug, heißt doch Ananke zwar: Zwang, Beschränkung unseres Willens durch äußere Gewalt wie durch Schicksalsbestimmung, aber in einer zweiten Bedeutung heißt das Wort auch:Blutsverwandtschaft. Ananke, Zwang des Schicksals kann also auchunsere liebe Verwandtschaft sein, und zwar nicht nur, wie sie leibtund lebt, sondern auch so, wie wir sie in uns tragen.

In dieser ersten Phase der Forschung suchte Szondi den Zwangdes Schicksals sehr scharf herauszustellen. Wir sprechen zwar tagtäglich davon, daß jemand „erblich belastet sei", daß „in der Familieallerlei ist" —aber im Grunde genommen liegt in dieser vagen Redeweise häufig ein grade Nicht-Ernstnehmen dieser Faktoren, z. T. auch,weil wir noch viel zu wenig darüber wissen. Szondi wollte uns zeigen,wie weit diese Einflüsse sich konkret erstrecken. Daneben aber weist

Szondi bereits im ersten Werk auch auf die freieren oder freien Möglichkeiten des Schicksals hin. Es macht ja sicher schon einen Unterschied, ob jemand selber taubstumm ist oder ob er auf Grund derselbenErbanlage Taubstummenlehrer wird. Szondi sagt uns etwa - fühlen Siesich, bitte, betroffen, ich bin es auch -: Ein berufener Psychiater undsein Patient stehen einander nicht so fern, wie das vorerst aussehenmag; der Kriminalist und der Kriminelle sind einander näher verwandt, als wir glauben. Es gibt durchaus tüchtige Kriminalisten, dieehrlich genug sind, zuzugeben, daß sie beruflich Gutes leisten, weilihnen Kriminalität eben als eigene, innere Möglichkeit —ja, sogar einStück weit als Gefahr —vertraut ist. - Der Theologe und Seelsorgerträgt, nach Szondi, den Totschläger, den Gesetzlosen, den Ungläubigenals „dunklen Bruder" in sich. Lesen Sie vielleicht wieder einmal Dostojewskis „Brüder Karamasow": Vom epileptischen Vatermörder biszum heiligen Aljoscha - der übrigens sehr genau weiß, wie sehr er zueben dieser Familie gehört - finden Sie alle Schattierungen und Abwandlungen eines Grundmusters.

Es ist eigentümlich, daß eben solche und ähnliche Hinweise auf Zusammenhänge zwischen Erbgefahren und ihnen zugeordneten Berufenim allgemeinen nicht gern gehört werden. Man warf Szondi oft vor:„Sie reißen die höchsten Berufe herunter und erklären sie als Abkömm

linge von unter Umständen recht schlimmen Erbanlagen." Als wäredas eine Herabminderung ihres Wertes! Szondi argumentiert vomandern Ende her und sagt uns: „Wenn ich von einem Menschen genau

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weiß, daß er sehr leicht ein Schizophrener sein könnte, ein Totschläger, und er bringt es zustande, dies nicht zu werden, sondern genausolchen Menschen zu helfen - als Psychiater, als Seelsorger usw., sozwar, daß er im selben Erbmilieu bleibt, aber in ganz anderer Funktion - was können wir eigentlich mehr und besseres von einem Menschen erwarten?" - Man hört hin und wieder von Psychiatern, dieschließlich selber als Patienten in einer Nervenklinik landen. Man kanndazu dann etwa hören: Wer sein Leben lang um Verrückte herum ist,muß ja allmählich selber verrückt werden; - doch dies ist nicht derGrund. Vielmehr stehen wir vor einem tragischen momentanen Versagen und Schwachwerden des innern Wächters gegenüber der eigenenlatenten Krankheit, die er bisher nicht nur in Schach zu halten vermochte, sondern in vielen andern Menschen zu verstehen und zu heilen unternahm. - Sie sehen also bereits hier eine zweite Ebene, einezweite, bessere „Schicksalsmöglichkeit" einer Erbanlage: Statt krankzu werden, können wir auf Grund derselben Gen-Ausstattung aucheineberufliche Lösung treffen, die nun gerade stabilisierend wirkt undnicht selten hohe menschliche und soziale Werte hervorzubringen vermag. - Es liegt Szondi außerordentlich daran, zu betonen: Vererbtwird nicht Epilepsie, nicht Schizophrenie, nicht manisch-depressive Erkrankung, sondern jeweils eine Grundmöglichkeit, die zwar unter Umständen zu solchen Störungen führen kann, die aber schon in sich bipolar angelegt ist, die auch immer schon gegensätzliche, positive, humane Möglichkeiten in sich schließt.

Es geht Szondi also nicht darum, uns die Freiheit abzusprechen, aberer will es sich und uns nicht zu leicht machen, von Freiheit zu sprechen.Man kann sehr leicht die Freiheit des Menschen verneinen, wenn man

einmal die Fakten der Erblehre für sich allein erwägt. Man kann demMenschen auch sehr leicht Freiheit zusprechen, wenn man davon einfach absieht und ihn von einem abstrakten, philosophisch gefaßten„Wesen" her bestimmt. Aber: All die angedeuteten Bedingtheiten zusehen und ernst zu nehmen, und trotzdem nicht vom Ehrgeiz zulassen, die Freiheit des Menschen zu retten und zu zeigen, wie und woer Freiheit hat - das hat Szondi sich zur Aufgabe gemacht. Es geht alsoimmer um „Freiheit in Begrenztheit, Freiheit aus Gebundenheit heraus,Freiheit als polares Gegenstück zu allem Zwangsläufigen". Das „Freiheitsschicksal" ist — theoretisch — in der zweiten ForschungsphaseSzondis —und praktisch in der Erarbeitung seiner spezifischen Therapiemethode —seit langem Zentralthema der Schicksalsanalyse.

Wir hörten bisher von einer ersten Form von „Schicksalsneurose", die

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sich vor allem darin äußert, daß ein Mensch —ohne zu wissen, warum,und eben darum, wie er meint, von einem bösen und blinden Schicksalverfolgt - immer wieder in unmögliche und unglückliche Situationengerät, vor allem hinsichtlich der Partnerwahl. - Es gibt nun noch einezweite Art von Neurosen, in denen das „familiäre Unbewußte" eineentscheidende Rolle spielt: Ein Mensch trägt ganz bestimmte, familiärtypische Erbmöglichkeiten in sich, die ihm zwar unbewußt sind, dieaber gleichwohl eine innereDynamik in sich tragen. Gegen dieses Andrängen kann nun der Mensch - meist auch wieder völlig unbewußt -eine stetige und oft sehr massierte Abwehr einsetzen. Mit andern Worten: Mankann einefamiliäre (meist gefährliche) Anlage, einen „Ahnen-anspruch", genauso verdrängen, isolieren, projizieren, kurz: ihn abwehren, wie man dies alles einem Triebanspruch gegenüber - etwaeiner sexuellen oder aggressiven Regung - tun kann. Und aus dieseminnern Konflikt kann - in beiden Fällen - eine neurotische Störungmit bestimmten Symptomen entstehen. Man kennt die psychoanalytische Theorie, nach welcher hinter Zwangsneurose als abgewehrte Triebgefahr meist sogenannte analsadistische Tendenzen stehen. Szondistimmt dem durchaus zu, denn er begegnet immer wieder solchenFällen. Aber er kennt auch sehr viele Fälle von Zwang, in denen dieabgewehrte Gefahr nicht ein Triebanspruch ist, sondern beispielsweiseeine latente Schizophrenie, manisch-depressive Erkrankungsmöglichkeiten oderähnliches. Es ist verständlich —und wird durch vielfältigeErfahrung bestätigt-, daß aus einer versteiften und starren Abwehrhaltung gegen solche „Ahnenansprüche" ganz analoge „Verbiegungenund Versteinerungen" des Ichs, Ausfallserscheinungen und Charakterpanzerungen auftreten können wie aus der chronischen Abwehr vonTriebansprüchen. So finden wir —beispielsweise —eine narzißtisch-perfektionistische Charakterhaltung oftmals als die einzige Sicherunggegen ein Abgleiten in völlige Haltlosigkeit, die als familiäre Erbanlage im betreffenden Patienten angelegt ist.

Das Zwangsläufige beider Formen von „Schicksalsneurose" beruhtdarauf, daß die hintergründigen Erbansprüche - welche entweder dasLeben ihres Trägers blind bestimmen, oder die er blindlings und sturbekämpft - nicht bewußt sind und somit auch nicht in bewußtem Wählen und Entscheiden verarbeitet werden können. - Auf dem Weg zurFreiheit und Befreiung ist darum der erste Schritt die Bewußtmachungdieser Ansprüche, das Agnoszieren dessen, was als latente Erbanlagein mir steckt und nachLeben verlangt. Wie geschieht das nun? Es hilftvorerst nichts, wenn wir dem Patienten seinen Stammbaum vor Augen

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halten und ihm dozieren, was alles als Erbmöglichkeit in ihm liegenmag. Der Zugang zum familiären Bereich des Unbewußten führt vorallem über die Träume. Es gibt „Ahnen-Träume", in denen das familiäre Unbewußte sich kundgibt, so wie in andern Träumen das kollektive Unbewußte sich darstellt. Man staunt immer wieder, wie Menschen, die von Psychopathologie noch nie hörten, im Traum Krankheitsbilder und Syndrome erleben, wie sie in einem Lehrbuch nichtschöner beschrieben sein könnten. Beispielsweise sieht ein Träumer einen Menschen, der einen Anfall erleidet, und beschreibt diesen Vorgang so genau, daß er in einer psychiatrischen Beschreibung eines epileptischen Anfalls bis in Einzelheiten wiedererkennt, was er geträumthat. - Das allein genügt nun freilich nicht. Der Patient muß stufenweise dazu kommen, zu erleben, daß das er ist, daß er hier einer eigenen, dynamischen Möglichkeit - und Gefahr - begegnet. Die üblicheAssoziationstechnik nach Freud reicht zu dieser Agnoszierung in derRegel nicht aus. Wo diese latenten Erbanlagen besonders virulent sind,müssen sie oft bis zur Grenze des Möglichen aktiviert werden, nämlichbis zum Erlebenlassen der pathologischen Schicksalsmöglichkeit. (Auchin der klassischen Psychoanalyse bringt ja nicht die intellektuelle Einsicht, sondern erst die emotionale Erschütterung wirkliche Wandlung.)Praktisch heißt das, daß wir, etwa durch bestimmte Assoziationstechniken, einen latenten Epileptiker soweit bringen, daß er nahezu einenAnfall erleidet, in eine Aura gerät, eine Absenz erlebt oder plötzlichvonderCouch aufspringt undweglaufen odergewalttätig werden will.Er muß also durch und durch erschüttert werden, erfahren: Da ist nichtvon einem blassen Theorem die Rede - das bin ich, oder: Das könnteich sein. - Oder: Wir erleben es auf der Couch, freilich nur in derStunde, daß jemand wie ein Schizophrener inNeologismen zu sprechenbeginnt, daß er halluziniert. Oft wird ihm das noch gar nicht bewußt.Aber in einer späteren Phase der Analyse können wir ihn mit diesenPhänomenen konfrontieren, und er lernt allmählich, sich damit auseinanderzusetzen. - Dieses „Erlebenlassen der Ahnen" bedeutet eineunerhörte Belastung des Patienten, denn darin wird ihm vorerst sehrbrutal der Zwang seines Schicksals bewußt. Hier ist aber auch derPunkt, wo wir ihn zum zweiten Schritt führen können: Neben denunglücklichen Schicksalsmöglichkeiten zeigen sich - gerade auch in denTräumen —positive Lösungsmöglichkeiten derselben Krankheit undErbgefahr; neben dunklen Figuren tauchen auch helle auf. Es muß undkann also auch die Freiheit als Möglichkeit erlebt werden.

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Wie das konkret aussieht, möchte ich anhand einiger Traumfragmente illustrieren, von einer jungen Lehrerin stammend, die mit Depressionen, Minderwertigkeitsgefühlen und vielen weiteren Symptomen zurAnalyse kam. Immerdeutlicher schälte sich heraus, daß in ihr eine paranoide Möglichkeit, undzwar die des Größenwahns, der Erotomanie, der Besessenheit, steckte. Ineiner Folge von Träumen kam diese Möglichkeit, in vielen Figuren variiert,immer wieder. In einem ersten Beispiel in der Gestalt eines Jungen: „Ernst(einer ihrer Schüler) befindet sich in unsrer Stube. Er ist in Panik, macht denEindruck von Geistesgestörtheit. Ich darf das Kind keinen Augenblick ausden Augen lassen, weil ich befürchten muß, daß es aus dem Fenster springt(zu dieser Zeit war die Patientin suicidgefährdet). Meine Mutter steht derSituation hilflos gegenüber; sie kann nur Zuschauerin sein. Wir können dieganze Nacht kein Auge schließen. Einmal muß ich die massiven Ängste desJungen vor ausbrechenden Bränden beruhigen, ihn dann wieder gewaltsamvon der Flucht zurückhalten." - Etwas später ein anderer Traum, der sehrschön zeigt, wieweit dieser Größenwahn geht, nämlich: „Viele Kinder sindauf einem Platz zusammen, und jedes hat einen Stab mit einer verschlüsselten Rolle, die sonst niemand kennt, die es erraten und darstellen soll (diePatientin präzisierte: ,In die Stäbe waren Kerbzeichen eingeschnitten' - mandenkt förmlich an die Runen des Schicksals, die in den Gen-Mustern derChromosomen niedergelegt sind!). Ich habe auf meinem Stab: Die Erschaffung der Welt. Es sind geheimnisvolle Zeichen zu sehen, die wohl Gott bedeuten, und der Stab endet in einer Engelsfigur, von der Licht ausstrahlt. —Ich wage meine Rolle nicht zu erkennen, aber überall, wo ich mich einreihenwill, weicht man zurück, und ich bin gezwungen, weiter nach vorn zu gehen.Dort ist ein Kampf unter andern Engeln entstanden, in den ich eingreifenmuß. Es ertönt der Ruf: Wer ist wie Gott? Zum Schluß stehen wir alle ineiner Reihe, ich an der Spitze." Die Gefahr ist deutlich, daß sie sich selbermit Gott identifiziert, der Erschaffer der Welt und das Wesen an der Spitzesein will. Sie wagt aber noch nicht, ihre Rolle zu erkennen, läßt sich vorerstnur in sie hineindrängen, bis sie endlich sieht, wo sie eigentlich steht. —Einweiterer Traum: In einem langen Gang kommt aus großen Räumen nun dieFrau auf uns zu, die wir besuchen wollen, und ich erkenne sofort, daß eseine Geisteskranke ist. Die Frau spricht mit uns kurze Augenblicke ganz vernünftig und sogar ihren Zustand erkennend, dann wieder in Umnachtungversinkend. Jetzt gibt sie mir einen Brief, und ich höre die Stimme meinesVaters: Er kommt von deiner Großmutter.

Diese Großmutter war tatsächlich mit Religionswahn interniert. - Man sieht,wie hier stufenweise diese schizophrene Möglichkeit sich immer wieder meldet. Ich werde nachher noch kurz andeuten, wie sich die Auseinandersetzungdamit vollzogen hat.

Dieses — aus dem Innern, dem Erleben kommende — Entdeckender Freiheitsmöglichkeiten ist das eigentliche Ziel der Schicksalsanalyse. Dieser Phase der Therapie geht in der Regel eine Triebanalyseim Sinne Freuds voraus, in der erwähnten Problematik aber sieht nuneben die Schicksalsanalyse ihre eigentliche Aufgabe und Möglichkeit.

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Erbschicksal bedeutet demnach nicht einfach „Zwang". Es bedeutet:Possibilität, Möglichkeit, und dies in zweierlei Sinn: Erstens heißt esnicht eine Beliebigkeit, an der ich auch vorbeigehen kann, sonderneine Möglichkeit, die mich anruft, zur Stellungnahme herausfordert;es heißt andererseits aber auch nicht Zwangsläufigkeit, sondern Appellzur Stellungnahme und Wahl. Es kommt in dieser Phase der Analyseder Punkt, an dem der Patient wählen, sich entsdieiden muß und esauch kann. Diese Wahl, die nun frei und bewußt vollzogen ist, bedeutet die eigentliche Überwindung der Zwangsläufigkeit des Schicksals. - In diesem Zusammenhang mag vielleicht ein Gedanke Szondisinteressieren: Wäre es nicht richtig, sagt er, all das, was wir in derTiefenpsychologie an Zwangsläufigkeiten biologischer, erblicher odersonst welcher Art entdecken, noch gar nicht als „psychisch" zu bezeichnen. „Psyche" beginne erst da, wo ein Vorgang aus der Zwangsläufigkeit in die Dimension der Freiheit übersteigt, transzendiert.

Von dem eben Gesagten her möchte ich nun einen Blick werfen aufReligion und Religiosität. Wir wissen aus eigener Erfahrung, wieschwer es einen Menschen ankommt, der sich unter starrem Schicksalszwang fühlt, an Gott zu glauben, der Vorsehung ist, der einen Sinnhinter dem Ganzen garantiert. Gelingt es nun, einen Menschen ausdieser Zwangsläufigkeit zu befreien, beschreitet er also den Pfad derFreiheit, mag der auch noch so schmal sein, dann erst eröffnet sich ihmin der Regel wieder ein Weg zum Glauben. Daß dem so ist, kann wohljeder Psychotherapeut erleben, und zwar selbst dann, wenn kein Wortüber Gott oder Religion gefallen ist. Ich erinnere mich an einen Mann,der diesen entscheidenden Schritt in die innere Freiheit in einer der

letzten Therapiestunden vor den Ferien vollzog. Aus Spanien schrieber mir kurz darauf: „Ich erlebe sehr schöne Tage. Zum ersten Mal inmeinem Leben konnte ich Gott dafür danken, daß ich bin." — Mirscheint, das ist schon sehr viel an „Frömmigkeit" im tiefsten Sinn desWortes: Daß dieser Mensch sich, sein Leben und Schicksal, seine Art,wie er ist und wie Gott ihm dies alles zugeteilt hat, annehmen kann. -Es ist sehr zu beachten, daß der Mensch dadurch nicht von alledemloskommt: Er bleibt gewissermaßen in dem Sektor, in den er durchErbe und Geburt hineingestellt ist. Aber es geht ihm nun etwa so wiePaulus, der sich „seiner Schwäche rühmen kann", weil er gerade darindie Möglichkeit, die Kraft, die Freiheit findet. — Ein Hauptthemader Schicksalstherapie ist also die Freiheit, gerade weil ihr Ausgangspunkt in Theorie und Praxis der Zwang des Schicksals ist.

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Wie schwierig dieser Schritt in die Freiheit oft ist, unter was für Krisenund Kämpfen er sich abspielt, mag vielleicht ein Traum der vorher schonerwähnten Patientin illustrieren. Das Schicksalhaft-Zwangsläufige ihrer para-noid-inflativen Anlage tritt hier in Gestalt eines ihr bekannten Mannes auf:Ich stehe mit Herrn X. auf einer Straße meines Heimatdorfes. Unser Gespräch ist ein Kampf um seine eigene Rettung und die seiner Ehe (die Ehehier auch verstanden als „mysterium conjunctionis", als Einswerdung gegensätzlicher Möglichkeiten). Ich setze alle meine Kräfte ein und habe das Gefühl, auf einem schmalen Grat über einem Abgrund zu gehen. In irgendeinemZusammenhang ruft Herr X. aus: Dann werde ich ja völlig willenlos! (Ermeint damit: klein, machtlos —er verkörpert ja den Größenwahnsinnigen,der stolz, groß, mächtig sein möchte). Ich frage ruhig zurück: Ja — unddann? — Herr X. ist plötzlich erschüttert von meinem festen Glauben anseine Rettung und legt bewegt seine Hände um meinen Hals. Ich bin sogepackt von meiner Aufgabe, daß ich mich nicht einmal vor seinen langenFingernägeln, die mir immer wie Krallen vorkamen, ekeln kann. — Es istdann davon die Rede, warum er bei seiner Trauung nicht knien konnte(warum also dieser Hochmütige nie in die Knie konnte —jetzt kann er es).—Kurz nach diesem Traum bringt sie einen weitern: Ich stehe an der Wandtafel in der Schule und schreibe ein Mörike-Gedicht an die Tafel. DiesesTraum-Gedicht heißt: „Herr, wende du die Zeit". Ich drehe mich um, ichstehe da mit braunem Haar, und mir wird ein sonderbares Erlebnis zuteil —Herr, wende du die Zeit —ich glaube, daß er es tun wird. Innen und Außenhalten sich die Waage, ich bin in einem bislang unbekannten Gleichgewicht.Was ich erlebe, ist von einer Einfachheit, die ich nicht beschreiben kann. —So kann sich oft eine solche Sternstunde des Übergangs andeuten, ein Gleichgewicht und ein Einswerden nicht nur von Innen und Außen, sondern auchvon Vergangenheit und Zukunft.

An diesemPunkt legt sicheineWendung zur Ich-Psychologie Szondisnahe. Sie hörten schon das prometheische Wort Freuds: „Wo Es war,soll Ich werden." Freud verglich diesen Vorgang einmal mit derTrockenlegung der Zuidersee - am Ende wird also fester Grund sein,wo einmal Abgrund und Wellen waren. - Jung ist schon sehr vielzurückhaltender: Für ihn ist das Ich nicht „Festland", es ist eine Inseloder es sind Inseln der Bewußtheit, die aus dem riesigen Meer des Unbewußten herausragen. Immerhin: Man kann sich an diesen Inselnorientieren. - Szondi hat ebenfalls ein Bild für das Ich und seine Funk

tion, und zwar, wie es seiner reifen Entwicklungsstufe entspricht. Ersagt: Das Ich ist der Kapitän auf der Kommandobrücke - das Wasserhat hier also gar „keine Balken" mehr -. Er kennt sein Schiff, seineMaschine, seine Besatzung; er kennt auch sein Ziel, hat Kompaß undInstrumente; er nimmt wahr die Winde, die Strömungen, das Wetter;er peilt die Sonne und die Gestirne an; er ist es, der alle diese Kom-

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ponenten als ein Überbrücker aller Gegensätzlichkeiten, als ein „ponti-fex oppositorum", überblickt und in der Hand hält; er teilt jederKomponente, jedem Faktor seine Bedeutung, sein Gewicht zu und istauf diese Weise wirklich „Herr im Hause". - Dieses Ich ist nichts Statisches. Es ist in steter Bewegung, schreitet die innern und äußern Dimensionen ab, transzendiert von einer Dimension in die andere, vomUnbewußten ins Bewußte und umgekehrt, aus der Vergangenheit indie Zukunft. Das Wort Freuds ließe sich ja durchaus auch in andererBetonung lesen: Wo Es war, soll Ich werden. In dieser „Wende derZeit" liegt häufig der Schritt in die Freiheit. Nach Szondi ist dennauch das Ich der Verwalter der Freiheit. Es ist zugleich der „Integrator" alles Gegensätzlichen und der „Humanisator" alles Vitalen,Triebhaften und Erblichen.

Ich möchte hier noch besonders auf eine Möglichkeit und Fähigkeitdes Ichs eingehen, welcheSzondi die Partizipation nennt. Was meint erdamit? Er umschreibt den Wunsch nach Partizipation als den Drangnach Nicht-allein-Sein, nach Einssein mit. . ., nach Gleichsein, Verwandtsein mit... Ich werde gleich noch weiter ausführen, was damitgemeint ist. Nicht dem Terminus, wohl aber der Sache begegnen wirübrigens an vielen Stellen der psychologischen Literatur: Überall da,wo von der frühesten Beziehung des Kindes zur Mutter die Rede ist,macht sich immer wieder eine Verlegenheit bemerkbar: Wie soll diesesPhänomen bezeichnet werden? Daß mit „Oralität" und oraler Entwicklungsphase längst nicht alles ausgeschöpft ist, dämmert doch denmeisten Psychologen. - Szondi sieht eben in der vollkommenen Zwei-Einheit von Mutter und Kind, in dieser Dualunion, erstmals im Menschenleben Partizipation verwirklicht. In diesem Einklang, diesemEinbezogensein in wechselseitige und gemeinsame Lebensvorgänge,würde sich auch das herausbilden, was Erikson etwa das „Urvertrauen"nennt. Bei Jung findet man das nämliche Phänomen unter dem Begriffder „archaischen Identität". Interessant ist, in welch engem Zusammenhang er diese mit der Projektion sieht, und zwar finden sich zweietwas differierende Aussagen: Einerseits sei die archaische Identitätdas Ursprüngliche, erst wo sie an Grenzen stieße und auseinanderbreche,würde sich die Projektion einstellen —gewissermaßen als „Heilungsversuch" der verlorenen Einheit. In der Arbeit „Über psychischeEnergetik" hingegen finden wir die Aussage, es sei die (hier primärangesetzte) Projektion, die die archaische Identität mit dem Objektoder Partner zustandebrachte, in welche ich subjektive Inhalte hinein-projizierte.

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Szondi betont seinerseits durchaus den engen Zusammenhang zwischen Projektion und Partizipation. Dieser letztere Begriff lehnt sichübrigens ganz an den der „participation mystique" von Levy-Bruhl an,der die Fähigkeit des Primitiven meint, sich eins zu fühlen und in Einheit zu leben mit dem Klan, dem Totemtier, den Ahnen und Verstorbenen. Szondi sieht in der Projektion die funktionelle Wurzel der Partizipation: Indem ich Eigenes in Fremdes hineinverlege, erlebe ich esnicht mehr als fremd, begegneichin ihm Eigenem,Bekanntem und Vertrautem. Durch Projektion findet, nach Szondi, auch eine eigentümliche Form von „Machtverteilung" statt. „Macht" ist in diesem Zusammenhang gefaßt als „potestas, potentia, possibilitas", das heißt, esist all das gemeint, was mir ermöglicht, zu sein, zu leben, was für michalso lebenswichtig, bedeutsam und von Gewicht ist. - Ein Blick auf dieMutter-Kind-Beziehung mag klarmachen, wie es damit konkret aussieht: Es wäre sicher unrichtig zu sagen, das Kind projiziere seine Bedürfnisse in seine Mutter hinein in dem einseitigen Sinne, als erlebees dadurch seine eigenen Wünsche als Haltungen der Mutter nach demSchema: „Ich möchte essen—du willst mich füttern",oder: „ich will leben - du willst mich am Leben erhalten." Projektion in diesem Sinnwäre ein „Nichts als ...", wäre unzulässig ausgedehnter Subjektivismus. Dem gegenüber steht die Tatsache, daß das Kind seine Mutternicht einfach fiktiv zur Ernährerin „macht", sondern daß sie dies in derTat ist. Die Projektion des Kindes stiftet also nicht den wechselseitigenZusammenhang und Austausch, sie ist aber die Funktion, mittels dererihm dieser Zusammenhang als vitale Einheit erlebbar wird. Projektioneröffnet gewissermaßen das Ich auf einer urtümlichen Ebene zu einerBeziehungsfähigkeit zum „Andern" im weitesten Sinne. Es gibt aufdieser Stufe nicht „Ich - Du" oder „Subjekt - Objekt", „Innen -Außen". Primär ist „das Gemeinsame", die Zwei-Einheit. Das Kind„gibt" also der Mutter nicht die Lebensmacht, die sie für es darstellt,es „erkennt" sie auch nicht in einem logisch-rationalen Sinn, es wirdihrer aber inne, es erlebt sie, es traut sie der Mutter zu und ver-trautihr darum auch.

So sehr Szondi in der Mutter-Kind-Einheit das lebensgeschichtlicheUrbild der Partizipation sieht, so wenig möchte er sie doch auf dieseFrühphase des Menschseins beschränkt wissen. Er sieht sie am Werkunter anderem auch in dem, was wir „Übertragung" nennen. Wir kommen in ihrem Verständnis nicht aus, wenn wir sie einzig auf libidinöseoder aggressive Tendenzen gründen. Szondi unterscheidet gerade vonseinem mehrdimensionalen Strukturschema der Grundfunktionen her

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sehr genau die verschiedenen Möglichkeitenund Ebenen der Beziehung:Kommunikation etwa, verwandt mit dem instinktiven Anklammern,wie es bereits Tiere zeigen; verschieden davon das helfend-wohlwol-lende Sich-Hinwenden zu einem Menschen (und dessen Gegenhaltungim Hilfebedürftigen); wieder anders die erotisch-sexuell gefärbte Beziehungsmöglichkeit zum Menschen. Alle diese Formen der Begegnungklingen auch in der therapeutischen Beziehung an und finden ihre oftengen Grenzen an der durch Grundregel und analytischer Situationbedingten Versagung. Neben diesen Beziehungsformen und über siehinaus besteht aber die Möglichkeit partizipativer Verbundenheit zwischen Arzt und Patient, eines Daseins für und mit .. .

Ich habe auf meinem Arbeitstisch ein kleines Bildchen stehen, das mireine Nonne gemalt hat. Sie war ein Mensch, der gerade in seiner Partizipationsfähigkeit schwer gestört war: Als Frühgeburt schon biologisch zu frühaus der mütterlichen Geborgenheit vertrieben, verlor sie in den erstenLebensmonaten ihre Mutter und ging dann buchstäblich von Hand zu Handwie ein Tier, das ständig seinen Besitzer wechselt. Kein Wunder, daß dieseProblematik im Zentrum der Psychotherapie stand. Ein Traum mag dieswiederum veranschaulichen: Die Schwester holt unter ihrem Habit einenPlastikbeutel hervor, in dem, in Wasser schwimmend, ein kleiner menschlicher Embryo zu sehen ist. Dieses blasse, nackte Lebewesen bringt sie mir —ich bin im Traum ein Känguruh —und steckt es mir in meine Bauchtasche,damit es dort ausreifen und sich entwickeln kann. — Plastischer läßt sichkaum umschreiben, was mit Partizipation gemeint ist. —Kurze Zeit nachdiesem Traum nun kam die Patientin und erklärte, nicht geträumt zu haben,das heißt, es sei ihr bloß ein Bild geblieben, das nicht leicht zu beschreibensei. Ich ermunterte sie, es zu malen, und daraus wurde nun eben das erwähnte Bildchen: Ein Fisch, der ins Wasser springt, rings um sich Wellenkreise auslösend, das Ganze in lauter Blautönen verschiedenster Abstufunggehalten. Wiederum eine kaum zu übertreffende Veranschaulichung dessen,was Partizipation meint: Zentrierung, Vereinheitlichung und Vereinigung,Eintauchen in sein „Element". War es ein Zufall, daß diese Bilder denBeginn des Neuwerdens dieses Menschen ankündigten und begleiteten? Vielspäter einmal versuchte dieselbe Patientin, zurückkommend auf die Visiondes Fisches, anzudeuten, was damals in ihr vorging und was nur mangelhaftin Worte zu kleiden sei: Damals ging ein Licht in mir auf.

Szondi sieht die Partizipation, diesen Drang und diese Möglichkeitdes Einswerdens und Einsmachens auch im Träumen am Werk. Erumschreibt beispielsweise so: Der Traum ist ein autogener, nächtlicherPartizipationsversuch, das heißt: dargestellt in szenischer, dramatischerForm versucht der Träumer all die Figuren und Möglichkeiten seinesSchicksals, alle Formen seiner Existenz, ins Gespräch zu bringen. Derangeführte Traum zeigte uns, daß dies ein Kampfgespräch sein kann,

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es kann ein Umbringen, aber auch ein Umarmen des „andern" sein.Immerfort versucht der Mensch, in verschiedenster Einkleidung undDarstellung mit dem Abseitigen, noch nicht Bekannten und nicht Bewältigten in sich in Partizipation zu treten. Dieselbe Fähigkeit schafftEinssein mit dem Außen wie im Innern.

In diesen Zusammenhang gehört nun auch das, was Szondi die„Glaubensfunktion" des Ichs nennt: Die partizipative Fähigkeit erstreckt sich in die Dimension des „Jenseitigen". Damit ist vorerst nichteine theologische Kategorie gemeint, sondern eine Abhebung gegen das„Diesseits", in dem Kausalität, Logik und Materialität im Bereich vonRaum und Zeit gelten, während zum „Jenseits" Geistigkeit, Finalität,Transzendenz von Räumlichkeit und Zeitlichkeit gehören.

In Richtung dieses Jenseits, als seine Aufgipfelung und reinste Verwirklichung, sei der „Geist" schlechthin zu suchen - Szondi läßt ausdrücklich keinen Zweifel darüber bestehen, daß er damit meint, wasdie Bibel „Gott" nennt, den Schöpfer der Welt. Beziehung zu diesem Geist, im Sinne des Glaubens, sei nun wieder Funktion der Partizipationsfähigkeit, das Äußerste und zugleich Eigentlichste, das „ultimum potentiae", was ihr möglich sei.

Nach allem, was wir hörten, läge die Vermutung nahe, Szondi berufe sich hier, zur psychologischen Begründung der religiösen Glaubensfunktion, auf etwas „Infantiles" - ganz ähnlich wie dies, abwertend, Freud getan habe. Dem ist aber nicht so. Denn Szondi sieht inder Partizipation eine ur- und allmenschliche, fundamentale Fähigkeit, deren der Mensch zeitlebens nicht entraten kann. Sie ist nichteinfach Kennzeichen einer bestimmten „Entwicklungsphase", also eineVerhaltensweise, die als unreif und vorläufig einfach überwundenwerden müßte. Dieser Drang nach dem lebendigen und erlebten Einssein muß dem Menschen erhalten bleiben, will er wahrhaft Menschwerden und bleiben. Es ist freilich eine Fähigkeit, die immerfort „aufgehoben" werden muß—dies aber im komplexen, dialektischen Sinne—,überwunden, durch Herauslösung aus infantilen Bezügen, erhoben, inimmer neue Entwicklungsstufen und Entfaltungen, vor allem aber:gerettet, gut aufgehoben, auchund gerade im LebendesErwachsenen.

Diese Beziehung zu Gott, zum Geist, schließe in sich ein, daß wirGott die „Allmacht zuerteilen" - das mag merkwürdig klingen, weswegen Szondi denn auch beifügt: Nicht, daß Gott etwa nicht allmächtig wäre, wenn wir ihm diese Allmacht nicht zuerteilten. Vielleichtwird klarer, was gemeint ist, wenn wir uns vergegenwärtigen, was esbedeutet, daß wir zu Ende des „Unser Vater" beten: „Denn dein ist

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das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit." Nicht dadurch, nichtdurch unsere „Zusage", sind Gott Reich, Kraft und Herrlichkeit zueigen, aber wir erkennen es, treten ein in diese Realität, werden dieserWahrheit inne und kommen darin selber ins Lot und in die Gewiß

heit des Vertrauens und der Kindschaft, aus der heraus ja all die voraufgegangenen Bitten erst ihren Sinn erhalten. - Ganz in diesemSinne wird, nach Szondi, der Gläubige alle Macht, alles, was für ihnwichtig ist, nötig zu seiner Existenz, was ihm ermöglicht, zu sein, inGott verankert sehen. Aber: Er bekommt ein Stück dieser „Macht" zurück - wenig vielleicht, aber ein menschliches Maß an Macht, an Möglichkeit. Und so groß oder so klein dieses Stück an Macht und Möglichkeit ist, so groß oder so klein ist auch seine Verantwortung alsMensch. Sie denken sicher auch an die Talente des Evangeliums, dieeinem jeden zugeteilt werden - mal eines, mal zwei, ein anderer bekommt fünf - es ist an sich wenig, und es ist vom Herrn gegeben, undgerade nach dieser Gabe bemißt sich schließlich das Maß der Verantwortung jedes einzelnen. —Es geht also nicht einfach um ein esoterisches Aufgehen,einSchwelgen im Geist —der Mensch wird nach Szondiauch nicht Geist durch die Partizipation, dem er nicht angehört, aberer tritt in Beziehung zu ihm, er ist mit ihm eins, von ihm durchdrungenund gehalten. Könnten wir es nicht beinahe ein „Realisieren" Gottesnennen, ein Ernstnehmen, oder, nach einem schönen Lutherwort: „Ichsetz mein Trau in ihn, begeb und erwege mich, mit ihm zu handelnund glaub ohne allen Zweifel, er werde mir also sein und tun, als manvon ihm saget." - Die mittelalterliche Theologie kannte einen Begriff,der mir sehr genau hierher zu passen scheint: Die „potentia oboedien-tialis", was die Fähigkeit des Menschen meint, seine Bereitschaft, zugehorchen - vorerst zu horchen und zu vernehmen, dann auch zu gehorchen; dies alles gefaßt nicht als willentliche Bereitschaft, sondernals wurzelhafte Eigentümlichkeit und Begabung des Menschen. Siewäre - banal gesagt - der „Haken", an den das Band vom Jenseitigenher anknüpft. In eben dieser Richtung liegt, was Szondi über die Glaubensfunktion des Ichs sagt. - Es ist darum konsequent, wenn er feststellt: Ein Mensch, der an Störungen seiner Glaubensfähigkeit leidet,ist ich-gestört.Darum sei es auch Aufgabe des Psychotherapeuten, einenMenschen in der Ich-Analyse so weit zu bringen, daß er wieder glaubensfähig wird. Selbstverständlich kann es nicht darum gehen, demPatienten „Glauben zu geben" oder ihm gar eine Konfession aufzudrängen. Szondi braucht das Wort von der „apertura ad coelum", diewir - so es sich als möglich erweist - ihm eröffnen und freilegen sollen.

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Sie kennen sicher alle das Pantheon von Rom, in dem ehemals jedeGottheit Sitz und Heiltum hatte, wo nun, in all den Nischen Bilderder Heiligen und verstorbenen Großen beisammen sind. Ähnlich istoft unsere Religiosität: Da stehen herum unsere theologischen Begriffe,unsere religiösen Bilder, Vorlieben und Vorurteile - aber das Entscheidende, für uns wie im Pantheon, ist doch die „apertura ad coelum", inder riesigen Kuppel das offene Rund, durch welches unser Blick zumfreien Himmel geht, durch den der Himmel Sonne und Regen ungehindert einfallen läßt.

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DASEINSANALYSE

von Gion Condrau

Seit ihrer Begründung durch Sigmund Freud hat die Psychoanalysemanche Wandlungen erfahren. Vor allem zeigte es sich, daß eine lediglich auf triebmechanistische Vorstellungen gegründete Krankheitsauffassung am Wesentlichen vorbeisieht, nämlich an der Tatsache, daßjedes Denken, Fühlen, Handeln letztlich nicht Funktion irgendeinesApparates, Subjektes oder eines auf physikalischen und chemischenProzessen beruhenden Triebkonglomerates ist, sondern unmittelbarerAusdruck menschlicher Existenz. Vor dem Tun steht das Sein. Wäre

menschliches Kranksein nichts anderes als eine Funktionsstörung, einLeistungsausfall im Sinne der naturwissenschaftlichen Theorie, dannwäre es unverständlich, weshalb sich die Psychotherapie überhaupt mitmenschlichen Gegebenheiten wie Angst, Schuld, Leid und Freud, Hoffnungen, Befürchtungen, ja mit religiöser Problematik, mit Tod undGlauben befassen sollte. Eine Heilkunde, die im Materiellen verhaftetist, kann niemals aufgerufen und berufen sein, die religiöse Not desMenschen zu begreifen. Es würde ihr höchstens gelingen, das Religiösein den Bereich ihrer naturwissenschaftlich-theoretischen Spekulation zuziehen, die Religiosität als neurotisches Symptom zu deuten oder zumindest zu einer weiteren Psychologisierung der Religion beizutragen.Sowohl die „Degradierung" des religiösen Erlebnisses zur Neurosewieder psychologisch deutende Zugriff gehen an der Echtheit des Phänomens und damit an der Wirklichkeit der Existenz des Menschen als„homo religiosus" vorbei.

Damit haben wir bereits Wesen und Ziel der Daseinsanalyse angedeutet, die den Menschen in allen seinen Seinsmöglichkeiten umfassenmöchte. Es geht ihr nicht darum, den fragwürdigen und vielerorts inMißkredit geratenen Begriff „Psyche" aus der Psychoanalyse auszuklammern und durch ein neues sprachliches Gebilde, nämlich „Dasein"zu ersetzen. Nicht eine adäquatere Benennung psychologischer Deutungen und Abstraktionen soll gefunden werden, sondern einem völligneuen Verständnis für alle menschlichen Phänomene gilt ihr Bestreben.

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Phänomen kommt von phainestai und bedeutet das Sich-unmittelbar-Zeigende, das aus der Verborgenheit Hervortretende, Aufleuchtende,Sich-Entbergende. Das ursprünglich und vor jeder anderen Erfahrungim Umgang mit der Welt, mit dem gesunden und kranken MenschenZu-Bedenkende, ist jedoch das Sein. Deshalb setzt die Daseinsanalysedort an, wo die Frage nach dem Sein des Menschen, nach dessenIn-der-Welt-Sein gestellt wird. Sie orientiert sich fundamental-onto-logisch. Bevor wir also nach dem Wesen der Krankheit, der Neurose,der Beziehung zwischen Psychotherapie und Religion fragen, beschäftigt uns das Problem der Natur des Menschen, ein Problem, das aufdie „letzten Fragen" verweisend, philosophisch ist.

Die Frage, ob Daseinsanalyse Philosophie oder Psychologie, eineAnthropologie oder neue psychotherapeutische Schule sei, erscheintmüßig. Insofern es um ein Verständnis des Menschen und seiner Weltgeht, halten wir eine grundsätzliche Unterscheidung von Philosophieund Psychologie ohnehin für verfehlt. Es gibt keine Psychologie undkeine Medizin, die nicht letztlich auf philosophischer Basis beruhte,ob nun explizite oder unausgesprochen. So gründet das naturwissenschaftliche Weltbild in jener philosophischen Auffassung, welche dieWirklichkeit in eine objektiv-gegenständliche Außenwelt und ein subjektiv-denkendes Prinzip scheidet.

Die Medizin, Psychiatrie und Psychologie des 19. und angehenden20. Jahrhunderts standen noch gänzlich im Banne der ungeheureErfolge aufweisenden Naturwissenschaften. Dementsprechend warauch ihr Menschenbild Ausdruck einer gegenständlich-deterministischenDenkweise. Menschliche Verhaltensweisen wurden physikalisch-biologisch erklärt; Gehirnphysiologen und Neuropathologen bemühten sich,das „Seelische" im menschlichen Gehirn zu lokalisieren. Der Krankewurde zum einer Behandlung bedürfenden Gegenstand der Medizin,der Arzt verschwand hinter der Objektivität seiner Methode. DiePsychoanalyse brachte entscheidendeNeuerungen, indem sieden ganzenMenschen faktisch ins Zentrum der Behandlung stellte und gleichzeitigdie Arzt-Patienten-Beziehung ins Blickfeld rückte. Trotzdem blieb sie,jedenfalls in ihrem theoretischen Überbau, hinter der Wirklichkeitzurück. Vor allem galt ein gewisses Unbehagen der psychoanalytischenAuffassung vom Menschen und seiner Krankheit, wovon die immerwiederkehrenden Versuche zeugen, mit der Einführung personaler oderanthropologischer Aspekte die Freudsche Trieblehre zu überwinden.Ein grundsätzlichneues Krankheitsverständnis wurde jedoch erst möglich, als man tatsächlich alle theoretische Deutungsarbeit fallen ließ

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und die therapeutische Aufmerksamkeit ausschließlich den unmittelbaren, konkreten Erscheinungen widmete. Es wurde nicht mehr nachmöglichen dynamischen Kräften, Wirkursachen, Genesen, Verläufengefragt, sondern nach dem Sein des Menschen und der Dinge. SolchesFragen wurde von Heidegger der Daseinsanalytik zugrunde gelegt.Sie vermochte auch der Psychiatrie und Psychotherapie einen neuenBereich des Verstehens zu eröffnen, der das Heilverfahren in dreifacherWeise beeinflußte: einmal in einem neuen Krankheitsverständnis, zumanderen in einer neuen Besinnung über den Heilungsprozeß, und vondaher ausgehend in bestimmten Modifikationen der praktischenTherapie.

Die Daseinsanalyse sucht die Forschung von der Vorstellung allgemeingültiger, vorausberechenbarer psychologischer Gesetzmäßigkeiten,wie sie in der psychoanalytischen Determination und Finalität gegebenist, zu befreien. Nicht ein dynamisches Funktions- und Ordnungssystem, das energiemäßig aus Triebquellen gespeist und von Bedürfnissen, Affekten, Emotionen gelenkt wird, hält den Menschen und dieWelt in Gang. Nicht die Unordnung eines dynamischen Strukturganzen führt zu psychischen Spannungen und Krankheitssymptomen.Noch viel weniger können physiologische Prozesse, etwa Störungendes endokrinen Haushaltes oder Systemdegenerationen im Gehirn fürirgendwelche „psychischen" Prozesse verantwortlich gemacht werden.Das daseinsanalytische Denken sieht weder in den normgemäßenpsychischen Erscheinungen noch in den pathologischen Phänomenenlediglich eine Summe von Funktionen oder Funktionsstörungen: vielmehr gründen alle „psychischen" Krankheitssymptome in der „jespezifisch abgewandelten Struktur des gesamten Weltverhältnisseseines Menschen, seines ganzen In-der-Welt-Seins" *.

Was bedeutet das In-der-Welt-Sein für den Menschen? Wie kann

der Mensch von der Welt berührt werden, wie kann diese von ihmverstanden werden? Doch sicher nicht so, daß er seiner Natur gemäßnichts anderes wäre als ein von Epidermis umgebener Gegenstand, derneben vielen anderen in eine ebenso gegenständliche Welt hineingestellt ist. Vielmehr setzt jedes Berührtwerden und Verstehenkönnenein ursprüngliches Weltoffensein voraus, das einem lediglich vorhandenen Gegenstand oder Funktionssystem abgeht. Somit kann manbeispielsweise vom Menschen nicht sagen, er sehe, weil er Augen und

1 M.Boss, Die Bedeutung der Daseinsanalyse für die Psychologie und diePsychiatrie, Psyche VI, 3, 1952.

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er höre, weil er Ohren habe; der Mensch kann nicht einmal zärtlichstreicheln oder ausschlagen, weil er Hände, oder gehen, weil er Beinehat. Vielmehr hat er Augen, Ohren, Arme und Beine, weil er primärein sehendes, hörendes Wesen ist, dem die Möglichkeiten des tätigen,liebenden und hassenden Verhaltens gegeben sind, der sich fortbewegenkann. Aus diesem Grunde und kraft der ihm gegebenen Bedingungengeht der Mensch mit Leib und Seele in seinem Bezughaben zu denDingen und Mitmenschen auf. Er hält sich in ursprünglichem Sinneimmer schon draußen bei den Mitmenschen und bei den Dingen unserergemeinsamen Welt auf; die verschiedenen Weisen und Formen seinesVerhaltens zur Welt gehören zu den möglichen Austragungsartenseiner Existenz.

In die Zeit des Zweiten Weltkrieges fällt die Begegnung mit denWerken Heideggers, die der Psychiatrie ein neues Denken offenbarte.Je tiefer die Forscher in die neuen Einsichten über die Grundnaturdes Menschen eindrangen, um so fragwürdiger erschien ihnen die zeitgenössische Psychopathologie, welche unbedacht das Denkprinzip derNaturwissenschaft von den leblosen Dingen auf den Menschen überträgt. Dieses läßt bekanntlich die unmittelbar gegebenen Phänomenezugunsten der hinter ihnen angenommenen Kräfte zurücktreten undgelangt dadurch in der Psychologie und Psychopathologie zur Aufstellung hypothetischer und vorausberechenbarer „psychischer Mechanismen". Am Ende sieht man bei solchem Denken im Menschen und

seiner Welt nur noch ein Konglomerat von Triebkräften, übersiehtaber, daß aus Triebannahmen nie eine menschliche Welt mit demganzen Reichtum ihrer Bedeutungsfülle aufgebaut werden kann. Daßdiesem entscheidenden Mangel auch die späteren theoretischen Zugabender psychoanalytischen Ich-Psychologie nicht abhelfen konnten, belegtBoss mit dem Hinweis darauf, daß deren abstrakte Vorstellungen von„Ich-Strukturen" genau so wenig wie die Trieb-Hypothesen als Mitweltbeziehungen des Menschen verantwortlich gemacht werden können, weil noch nie irgend ein Apparat ein Ding in dessen Bedeutungzu begreifen vermochte2.

Der Mensch ist seiner Grundverfassung nach „geistigen" Wesens.Er ist „geistig" in dem Sinne, daß er als offener, gelichteter Bereicheines ursprünglichen Verstehens und Vernehmens von dem ihmBegegnenden inAnspruch genommen wird. Nur in einem solchen offenen Be-

2 M.Boss, Psychoanalyse und Daseinsanalytik, Bern und Stuttgart 1957.

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reich eines gelichteten Verstehens können die begegnenden Phänomeneunserer Welt überhaupt erst zum Scheinen und zu ihrer Entfaltunggelangen. Solchem In-Anspruch-genommen-Sein gegenüber weiß sichder Mensch verantwortlich. Zwar kann er seine Struktur des In-der-Welt-Seins als Lichtung des Seins nie verfehlen. Auch der Krankehält sich durchaus darin auf, selbst dann, wenn er seine Existenznicht mehr voll zum Austrag bringen und sein Dasein nurmehr inverstümmelter Form fristen kann.

Bedenken wir den Menschen als ein Wesen, dessen ursprünglicheWeltoffenheit einem Lichte vergleichbar ist, dessen Schein die Weltaufleuchten läßt, so entpuppt sich diese lichtende Welterschlossenheitals dieursprüngliche Gestimmtheit. SowieeinLicht heller oderdunklerscheint und die Dinge mehr oder weniger klar zum Erscheinen bringt,bestimmt auch des Menschen jeweilige Gestimmtheit die Auswahl derWeltbezüge und ihre Färbungen. In der Stimmung der Angst, der Wut,der Abwehr entbergen sich andere Weltbezüge als in jener des liebenden Glücklichseins. Je nach seinerStimmung ist der Mensch in verschiedener Art und Weise in der Welt. Von daher ergeben sich neue Ansätze für das Verständnis der Neurosen, Psychosen und psychosomatischen Krankheiten.

Nachdem die fundamentalontologischen Untersuchungen MartinHeideggers Strukturund Seinsart der menschlichen Existenz freigelegthatten3, war der psychiatrischen Wissenschaft ein Boden erschlossen,der sich für das Krankheitsverständnis, schließlich aber auch für dieTherapie als fruchtbar erwies. Zunächst ließ sich das Indikationsgebieterweitern, indem außer den Neurosen auch die Psychosen und Psychopathien einem menschlichen Verständnis näher gebracht wurden. Ludwig Binswanger versuchte, das manisch-depressive Irresein und dieschizophrenen Psychosen daseinsanalytisch zu bestimmen. Er verstanddie psychischen und physischen Symptome als Austragungserscheinungen eines sich ständig wandelnden Daseins sowie des ohnmächtigenKampfes gegen diesen Wandel; im „Fall Ellen West" wies er denStrukturwandel einer schizophrenen Existenz nach, in welcher der„ätherische" Aspekt der Welt eines anorektischen Menschen immermehr verloren ging, bis sich der Patientin alle Dinge nur noch vonihrem „Sumpf- und Lochwesen" her zeigen konnten4. Wenn auch

3 M.Heidegger, Sein und Zeit, 7.A., Tübingen 1957.4 L.Binswanger, Der Fall Ellen West. In: Schizophrenie, Pfullingen 1957.

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Binswanger später5 zugab, die Heideggersche Daseinsanalytik in wesentlicher Hinsicht mißverstanden zu haben,sowar er doch mit seinemDenken bahnbrechend und für die weitere Entwicklung der Daseinsanalyse wegweisend.

Das neue Menschenverständnis erlaubt aber auch ein angemesseneresBegreifen der menschlichen Leiblichkeit und ihrer Krankheiten. Es läßterkennen, daß der leibliche Bereich der menschlichen Existenz seinemeigentlichen Wesen nach nie als ein dinghaft vorhandener Körper verstanden werden kann. Ebensowenig darf das biologisch oder physiologisch an ihm Feststellbare als die „Grundlage" oder gar als die„Ursache" des menschlichen Existierens mißdeutet werden. All diesesLeibliche ist in Wirklichkeit bloß eine zwar notwendige, aber nie diezureichende Bedingung des menschlichen Daseins. Sie gehört als solcheunmittelbar den verschiedenen Weltbezügen an, die dieses konstituieren,und ist ihren Ordnungen Untertan. Der Leib als notwendiges Austragungsmedium der menschlichen Existenz gehört ihr so unmittelbaran, daß eine Aufspaltung in ein körperliches und seelisches Geschehenvöllig wirklichkeitsfremd anmutet. Der Mensch ist immer schon seineLeiblichkeit, und erst aus dieser Gleichung wird ersichtlich, weshalbin allen Weltbezügen Leibliches mitschwingt und weshalb sich gegebenenfalls eine Fehlhaltung primär im Somatischen anzeigen kann.Die bisherigen Erklärungsversuche wollten den psychosomatischenPhänomenen mit der Annahme biochemischer oder psychogenetischerZusammenhänge beikommen, ohne jedoch die Kluft überwinden zukönnen, die der rätselhafte Sprung vom Psychischen ins Somatischedarstellt. Leib und Seele sind nicht zwei voneinander verschiedene undgetrennte Wirklichkeiten, zwischen denen irgendwelche Relationen bestehen, sondern zwei verschiedene Medien ein und derselben Existenz;deshalb erkrankt der Mensch immer auch in seiner Ganzheit: leibseelisch.

Ein entsprechendes Beispiel dafür bot uns das Krankheitsbild einesjungen Mannes, der an einem schweren Schreibkrampf litt, durch denseine weitere berufliche Existenz in Frage gestellt war. Bei jedemVersuch, etwas zu schreiben, verkrampfte sich seine rechte Handschmerzhaft, so daß die Schrift unleserlich wurde und er nach kurzerZeit mit dieser Tätigkeit aufhören mußte. Die Schreibhemmung warbeim Patienten während der Schulzeit zum ersten Male aufgetreten,als er heimlich eine Klausurarbeit abschreiben wollte. In der Pubertät

5 L.Binswanger, Daseinsanalyse und Psychotherapie II, Acta Psychother.8, 4, 1960.

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und wiederum einige Jahre später, im Zusammenhang mit einer beginnenden Mädchenbekanntschaft, hatte sich das Symptom verstärkt8.

Die Psychoanalyse sieht in der Schreibhemmung wie in jeder Hemmung eine Funktionseinschränkung des Ich, wobei nach Freud derGrund dafür in einer überstarken Erotisierung der bei dieser Funktionin Anspruch genommenen Organe liegt. Bei unserem Patienten würdedies heißen, daß die für das Schreiben benötigte rechte Hand ihreIch-Funktion zugunsten einer sexuellen Besetzung einbüßte. Wenn dasSchreiben, das darin besteht, aus einem Rohr Flüssigkeit auf ein Stückweißes Papier fließen zu lassen, die symbolische Bedeutung des Koitusangenommen habe - schreibt Freud -, dann werde es eben deshalbunterlassen oder eingeschränkt, weil es so sei, „als ob man die verbotenesexuelle Handlung ausführen würde" 7. Dem Schreibkrampf wird alsoein verbotener sexueller Aspekt unterschoben. Das Ich verzichte aufdie ihm zustehende Funktion (des Schreibens), um nicht in Konfliktmit dem Es zu geraten.

Eine solche Deutung leibseelischen Geschehens ist allerdings nurdann möglich, wenn man hinter den Erscheinungen nach verborgenenKräften sucht, die in irgendeiner Weise gesetzmäßig wirksam sind.Demgegenüber begnügt sich die Daseinsanalyse, die sich zeigendenPhänomene unverändert und unmittelbar für sich sprechen zu lassen.Ein phänomenologisches Krankheitsverständnis braucht denn auchweder nach geheimen Triebkräften zu forschen noch einer Handlungsymbolischen Gehalt anzudichten. Auch werden solche Begriffe wiedas „Ich" und das „Es" in den Bereich abstrakter Spekulationen verwiesen, denen kein Wirklichkeitscharakter zukommt. Die unmittelbareBeobachtung unseres Kranken zeigt vielmehr, daß er im leiblichenAustrag seiner mitmenschlichen Weltbezüge gehemmt und verkrampftist. Das Schreiben bedeutet Mitteilung. Das Geschriebene ist festgelegteMitteilung; im Schreiben eröffnet sich der Mensch seiner Mitwelt. DerSchreibkrampfkranke ist also verschlossen, er ist im mitmenschlichenWeltbezug gestört. Das „Symptom" erhellt hier die hochgradige Einengung der Welt des Patienten, der motorische Krampf der Handmuskeln den leiblichen Austrag einer verkrampften Grundbefindlich-keit seines Daseins8.

Gewiß, in diese verkrampfte Lebenshaltung gehörte auch eine völlig

6 G. Condrau, Psychotherapie eines Schreibkrampfes, Ztschr. Psycho-somat.Med. 7, 4, 1961.

7 S.Freud, Hemmung, Symptom und Angst. Ges.W. XIV, S.116.8 G.Condrau, Daseinsanalytische Psychotherapie, Bern und Stuttgart 1963.

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mißglückte Beziehung zur Leiblichkeit und Geschlechtlichkeit. Alles,was die Kreatürlichkeit des Patienten betraf, war schon von frühesterKindheit an durch eine puritanische, triebfeindliche Erziehung alssündhaft verfemt worden. Ein brutaler, alkoholischer Vater und eineweiche, kaum Halt und Geborgenheit bietende Mutter hatten dafürgesorgt, daß dem Kranken die Welt der mitmenschlichen Liebe unddes Vertrautseins mit der Leiblichkeit völlig fremd war. Dies kambesonders zur Zeit der erwachenden Sexualität und später, als derPatient ein Mädchen kennen lernte, in einer Verstärkung seines Krankheitssymptoms zum Ausdruck. -

Dies führt uns tatsächlich zu einem neuen Krankheitsverständnis.Die unmittelbare, weder durch ein naturwissenschaftliches Kausalitätsdenken noch durch anthropologische Spekulationen getrübte Beobachtung an unseren Kranken lehrt uns, daß der Mensch und insbesondereder Neurotiker in einer ganz bestimmten Beziehung zur Welt steht.Nicht eine Psyche und nicht ein Leib, schon gar nicht ein Konglomeratvon Trieben und Partialtrieben oder ein psychischer Apparat tretenuns entgegen, sondern die menschliche Existenz mit all ihren BezügenzurWelt. Während der Gesunde über die gesamten Möglichkeiten, dieseine Existenz ausmachen, in Freiheit verfügen kann, ging der Krankedieser Freiheit verlustig. Aus lebensgeschichtlichen Gründen oder infolge eines aktuellen Konfliktes wurden seine Bezugsmöglichkeitenreduziert oder auf eine einzige Lebensweise komprimiert. Was alsodie Menschen in ihrem Kranksein voneinander unterscheidet, ist nichtdas seelische oder leibliche Symptombild, und auch nicht die Art desauslösenden Konfliktes, sondern die Verschiedenheit des gestörtenWeltbezuges. Das Maß der Einengung oder Abdrängung eines Lebensbezuges bestimmt, ob sich die Krankheit lediglich psychisch als Neuroseoder psychosomatisch im Leibbereich äußert; denn bestimmte Leib-bereiche schwingen bei dieser existentiellen Einengung in pathologischerWeise mit.

Noch ausgesprochener und offensichtlicher als beim psychosomatischKranken zeigt sich die echte Problematik menschlichen Krankseinsbeim Psychoneurotiker, dessen Krankheit Angst und Schuldgefühledeutlich in den Vordergrund treten lassen. Angst und Schuld gehörenzur Grundbefindlichkeit des Menschen9 und ihre Verarbeitung hängtvom jeweiligen individuellen Reifungsgrad ab. Ihre Bewältigung ge-

9 G. Condrau, Angst und Schuld als Grundprobleme der Psychotherapie,Bern und Stuttgart 1962.

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hört deshalb zu den Hauptzielen einer jeden Psychotherapie. In solchenFragen ist selbstredend das Weltverständnis der entsprechendenpsychotherapeutischen Schule bedeutsam. In der Angst geht es demMenschen schließlich um seine Existenz und gleichzeitig fürchtet er sichvor seinem Existieren in der Welt. Diese Angst wird größer, wenn sichder Mensch den Anforderungen eines reifen Austrags seiner Existenznicht gewachsen weiß. Sie wird dann krankhaft und hemmt ihrerseitsden Neurotiker wieder in seiner Weiterentwicklung. Ähnliches giltvon der Schuld. Der daseinsanalytische Schuldbegriff grenzt sich inverschiedener Hinsicht sowohl vom psychoanalytischen wie vom moralischen ab. Er meint, daß jeder Mensch, der seine Möglichkeiten nichtvoll übernimmt, an seiner Existenz schuldig wird. Der Mensch ist jaschon schuldig, insofern er seinem Dasein etwas schuldig bleibt. DiesesSchuldig-Sein ist grundverschieden von einem unbestimmten Sich-schuldig-Fühlen. Es beginnt mit der Geburt und endigt mit dem Tode.Innerhalb beider Ereignisse ist der Mensch dazu aufgefordert, sich zuentfalten und die ihm innewohnenden Möglichkeiten als die seinenanzueignen. Der Grund aller „normalen" und pathologischen Schuldgefühle liegt im wesensmäßigen „Schuldigsein" des Menschen im Sinneeines unentrinnbaren Zurückbleibens hinter dem Vollzug aller gegebenen, welterschließenden Lebensmöglichkeiten, zu der ihn das Gewissenaufruft. Das Gewissen ist jedoch weder im Sinne der Psychoanalyseein irgendwie geartetes Über-Ich noch im Sinne der Moraltheologieder Repräsentant einer Gesetzesbestimmung. Einem Menschen kannvon Kindheit an eine Moral andressiert worden sein, die sein Eigenwesen wesentlich behindert und verstümmelt, etwa dadurch, daß sieihn die leiblichen, kreatürlichen, sinnlichen Beziehungsmöglichkeitenseines Existierenkönnens als grundsätzlich sündig und unterdrückungswürdig sehen lehrt. Ein solcher Mensch macht sich der Unterschlagungganz wesentlicher Weltbereiche schuldig. Er verschließt sich dem Zuspruch soundso vieler Phänomene, denen eigentlich ein Recht auf ihrErscheinenkönnen im Lichte seiner Existenz zukäme. „Solche Unterschlagung" - sagt Boss - „erfährt ein nicht defekt veranlagter Menschin Gestalt mahnender, bohrender Schuldgefühle und Gewissensbisse.Sie rufen ihn zu einem Besser- und Ganz-Werden auf, um so drängender, je mehr er bisher hinter der Erfüllung seines Lebens zurückblieb."Ein solches Besserwerden versteht jedoch der Neurotiker immer nurin einem noch rigoroseren Befolgen der ihm seit früher Jugend eingehämmerten, wesensfremden Gebote und Verbote. Er bemüht sidideshalb, seine als sündhaft mißverstandenen Lebensmöglichkeiten noch

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radikaler zu verleugnen, und vergrößert gerade dadurch seine eigentliche menschliche Schuld, er „bleibt immer weiter hinter der Erfüllungseines Hüteramtes zurück"10.

Man könnte der Daseinsanalyse vorwerfen, ihr Schuldbegriffgründeauf einer egoistischen und subjektivistischen Auffassung vom menschlichen Dasein. Dadurch, daß nicht mehr wie bisher das Gesetz, dieGesellschaft, die Religion zum Maßstab des Schuldigseins werde, sondern die je eigene Existenz, vergesse man, daß der Mensch in einerGemeinschaft leben müsse, und was unter Umständen dem einen nützen, dem nächsten schaden könne. Ein solcher Vorwurf ist schon deshalb unberechtigt, als der daseinsanalytische Weltentwurf den Menschen bekanntlich nie als ein isoliertes Einzelwesen auffaßt, sondern vonihm aussagt, er sei nur Mensch, insofern er auch schon Mitmensch sei.Somit kann der Mensch, wie Heidegger sagt, auch existentiell schuldigwerden, wenn ein anderer durch ihn in seiner Existenz gefährdet, irregeleitet oder gar gebrochen wird. Es kann deshalb nicht die Rededavon sein, in einer psychotherapeutischen Entwicklung die mitmenschliche Beziehung aus dem Auge zu lassen.

Für die Psychotherapie wird es kaum ein höheres Ziel und eineernsthaftere Aufgabe geben, als den Kranken von der Unverantwort-lichkeit seines neurotischen Lebens in die Verantwortung zu führen.Dies geschieht wohl am häufigsten dadurch, daß ihm die unter demDeckmantel falscher Schuldgefühle verborgene wirkliche, echte, existentielle Schuld zum Bewußtsein gelangt. Hafner sieht den Sinn einerAnalyse erfüllt, wenn der Kranke die Fähigkeit gewonnen hat, seinerpersonalen Schuld zu begegnen11, und Bally fordert vom Menschen,die Schuld als eine unabdingbare menschliche Möglichkeit zu tragen12.Dazu bedarf es jedoch einer wirklichkeitsnahen, echten Begegnung mitder Schuld. Niemals darf das Schuld-Problem psychologisiert werden;denn jede Reduktion des Schuldproblems auf die psychologische Ebenegeschieht lediglich in der Absicht, das Schuldproblem für den einzelnenund schließlich für alle Menschen aus der Welt zu schaffen. Schuld ist

keine Illusion, sondern ein menschliches Existential.Es liegt auf der Hand, daß das daseinsanalytische Krankheitsver

ständnis nicht ohne Einfluß auf den Heilungsprozeß und die Praxis

10 M. Boss, Lebensangst, Schuldgefühle und psychotherapeutische Befreiung,Bern und Stuttgart 1962.

11 H. Hafner, Schulderleben und Gewissen, Stuttgart 1956.12 G.Bally, Das Schuldproblem und die Psychotherapie, Schweiz. Arch.

Neur. Psych., LXX, 1952.

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der Psychotherapie sein kann. Gewiß werden im ganzen die psychoanalytischen Grundregeln, wie sie von Freud in genialer Weise alsallgemeinverbindlich erfahren wurden, beibehalten. Auch in der Daseinsanalyse wird der auf der Couch liegende Kranke aufgefordert,dem Analytiker ohne Auswahl alles mitzuteilen, was ihm gerade einfällt. Auch in der daseinsanalytischen Behandlung wird dem Therapeuten möglichste Zurückhaltung empfohlen, um dem Kranken möglichst viel Freiheit zu gewähren. Heidegger sprach von einer „einspringenden" und von einer „vorausspringenden" Fürsorge. Die ersterehandelt für den Bedürftigen, sie nimmt ihm die Last ab. Die zweiteermöglicht dem Mitmenschen, seine Bürde selbst zu tragen. Diesezweite, vorausspringende Fürsorge gehört als Grundhaltung sowohlzur Psychoanalyse wie zur Daseinsanalyse. Und doch scheint es uns,als ob in der Daseinsanalyse der mitmenschliche Vollzug der Psychotherapie echter und freiheitlicher gewahrt sei. Die Beziehung desKranken zu seinem Arzte wird nicht wie in der Psychoanalyse zueiner „Übertragung" von Gefühlen, die eigentlich einer anderen, lebensgeschichtlich bedeutungsvollen Person gelten, gedeutet. Vielmehrwird auch das Phänomen der Liebe oder des Hasses in der Analysein seiner unmittelbaren Bedeutung erkannt. Auch das Agieren in derTherapie wird nicht lediglich wie in der Psychoanalyse als Widerstandgegen die Erinnerung gedeutet. Vielmehr handelt es sich dabei um eingenau so unmittelbares und echtes Teilphänomen neu aufkeimenderBeziehungsmöglichkeiten. Wie das Kind die Welt handelnd begreifenlernt, kann sich auch beimAnalysanden der Beginn einer Entfaltung imAgieren anzeigen. Insbesondere werden Verhaltensweisen gelegentlichnachgeholt, die bisher im Leben des Kranken als unerlaubt galten.In solchem Falle wird daseinsanalytisch der agierende Kranke nichtauf den Abwehrcharakter seiner Handlung aufmerksam gemacht, sondern in seinem Tun bestätigt.

Am wesentlichsten unterscheidet sich jedoch die Daseinsanalyse alspraktische Psychotherapie von allen Schulen wohl in der Auslegungder Träume. Daseinsanalytisch können wir nicht von einem verborgenen Traumsinn, von latenten Traumgedanken, von einer Traumzensurund von Traumsymbolen sprechen. Es wird nicht zwischen Traumdeutungen auf einer Objekt- und Subjektstufe unterschieden. Auch dieTheorie vom Traum als einer Wunscherfüllung fällt dahin. Träumendwie wachend tragen wir unser Dasein in eben jenen Weltbezügen aus,die unsere Existenzweise ausmachen. So erfuhr sich auch unser Patient

in seinen Träumen als ein Mensch, der von wilden Tieren angegriffen

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und von diesen verschlungen zu werden drohte. Immer wieder träumteer, ein wild gewordener Stier habe sich von der Kette losgerissen undstürze auf ihn zu, oder aber, er befinde sich in einem Löwenkäfig alsDompteur, wobei er jedoch Mühe hatte, die gefährlichen Tiere inSchach zu halten. Schließlich sah er auch sich selbst als Gefangenen ineinem Käfig und in Eisen gelegt. Im Traume wie im Wachsein zeigtesich der Abwehrcharakter des Patienten gegen die Übernahme auchleiblich-triebhafter Weltbezüge in den Austrag seiner Existenz.

Im Verlaufe der Psychotherapie, die insgesamt etwa 2V2 Jahredauerte, gelang es dem Kranken, ein freieres Verhältnis zu seinemLeib herzustellen. Vor allem erscheinen ihm nun auch seine bisher

in Schach gehaltenen und streng verwahrten sexuellen Phantasien undWünsche nicht mehr als eine todbringende Sünde, sondern als durchauszu seinem Eigenwesen gehörende Erscheinungen. Wie der Patient selbstsagte, konnte er schließlich die konfektionierte Form, in die er seitKindheit gezwängt worden war, zu Gunsten eines vermehrten Offenseins für alle Dinge der Welt aufgeben. Die sexuelle Beengtheit undcharakterliche Verschrobenheit, wie auch die motorische Verkrampfung, die für unseren Schreibkrampf-Patienten so typisch waren, wichen einer Verhaltensweise, in der auch die Mitmenschlichkeit ihrenPlatz fand.

Erst nachdem der Kranke zu seinem Leib eine normgemäße Beziehung gefunden hatte, wurde ihm nämlich möglich, auch den Weltbezug der Liebe dem Austrag seiner Existenz zugänglich zu machen.Er verlobte und verheiratete sich nun mit dem Mädchen, dessenBekanntschaft ihn ursprünglich in eine qualvolle und kaum zu ertragende seelische Spannung versetzt hatte.

Wenn wir die Krankheit und den Psychotherapieverlauf diesesMenschen bedenken, dann sehen wir in der lebensgeschichtlicherhelltenTriebfeindlichkeit nicht den Grund für seine neurotische Symptomwahl, wie es einer durch das Kausalitätsbedürfnis geprägten psychologischen Wissenschaft entsprechen würde, sondern lediglich die sichdarin äußernde leibseelische Verkrampfung. Die Symptomwahl läßtja bekanntlich keine zwingenden Rückschlüsse auf die lebensgeschichtliche Entwicklung zu, wie auch aus lebensgeschichtlichen Daten keineschlüssigen Hinweise auf die Krankheitswahl gewonnen werden können. Hingegen gelingt es uns mühelos, bereits aus dem Krankheitssymptom die besondere Art des gestörten Weltverhältnisses zu sehen.So können wir von unserem Patienten sagen, daß offensichtlich derAustrag seiner Existenz nicht in einem offenen, welterschließenden

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Bezug geschah, sondern daß er darin zur Einsamkeit des Heimatlosenund Vereinzelten erstarrt war. Dadurch wurde er sowohl von seinerMitwelt als auch von der Eigenwelt seiner Gefühle abgeschnitten, umsich nur von der Welt der Dinge, des beruflichen Strebens bestimmenzu lassen. So wie er sich im Traume erlebte, nämlich eingezwängt ineinen engen Kanal, in den nur von ferne ein schwacher Lichtschimmereindrang, so war auch seine ganze Existenz auf diesem kaum genügendLuft zum Leben bietenden Raum eingeschränkt.

Eine völlige Verkennung des daseinsanalytischen Bestrebens wäre esnun, wollte man glauben, daß es ihm lediglich darum gehe, dieLeiblichkeit des Menschen zu betonen und ungebührlich aufzublähen. Manhört gelegentlich den Vorwurf, die Daseinsanalytik Heideggers seilediglich diesseits-gebunden und verfehle somit den transzendentalenBezug des Menschen zum Jenseits, womit die religiöse Problematikanvisiert ist. Ein solcher Vorwurf ist jedoch nicht nur unberechtigt,sondern zielt meilenweit am eigentlichen Wesen der fundamental-ontologisch orientierten Daseinsanalyse vorbei. Zudem kann einesolche Auffassung nur aus dem katastrophalen Mißverständnis herauserwachsen, wonach die „Welt" des In-der-Welt-Seins unsere gegenständliche Erde bedeute. Im Grunde ist jedoch „Welt" viel mehr alsdas. Mit „Welt" ist die Offenheit des Seins gemeint und nicht lediglichein Bereich von Seiendem. Zur Offenheit des Seins, dessen Hüter derMensch dank seines Seins-Verständnisses als lichtendes Wesen je schonist, gehört naturgemäß nicht nur die Leiblichkeit, sondern auch dasGeistige. Somit ist es Aufgabe einer daseinsanalytisch orientiertenPsychotherapie, dem Kranken zu ermöglichen, auch seine religiösenWeltbezüge zur vollen Entfaltung zu bringen. Es kann demzufolgeniemals darum gehen, in einer analytischen Behandlung eine irgendwienaturwissenschaftlich definierte Krankheit zu heilen und andererseitsdas Heil der Seele dem Seelsorger zu überlassen. Seelsorge im wahrenSinne des Wortes verstanden bedeutet Sorge um das menschliche Dasein. Allerdings wird die religiöse Problematik in der Psychotherapieverschiedentlich gehandhabt. Während dem naturwissenschaftlichenWeltbild die Religion und insbesondere die religiösen Bedürfnisse desMenschen ihrem eigentlichen Gehalt nach unverständlich erscheinenmüssen, versuchen andere Psychologien nur allzu gerne, dieselben inihr psychologisches System einzuverleiben. Nun hieße es jedoch derreligiösen Problematik des Menschen Gewalt antun, wollte man sielediglich triebmechanistisch erklären oder gar als neurotisches Symptomdeklassieren. Auch wird der Religion kein Dienst erwiesen, wenn sie

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„psychologisiert" wird. Die Daseinsanalyse billigt dem weltanschaulichen Problem des Kranken die gleiche Eigenständigkeit zu, wie allenanderen Phänomenen. Gewiß darf man Religion nicht mit Kircheverwechseln. Der Weg der Psychotherapie führt nicht nur in dieKirche, sondern auch aus der Kirche heraus. Was aber wohl der übereinstimmenden Erfahrung aller Psychotherapeuten entspricht, ist dieTatsache, daß ein Mensch, der eine analytische Behandlung bis zumErfolg zu Ende führt, nicht nur ein echteres Verhältnis zu seinerLeiblichkeit erzielt, sondern auch ein echteres zu seiner Geistigkeitund damit zu seinem ursprünglichen In-der-Welt-Sein.

Kehren wir kurz zu unserem Kranken zurück. Solange er in seinerverkrampften Lebenshaltung verharrte, war er auch ein braver undfolgsamer Kirchgänger. Ja, es gehörte geradezu zu seinen Charaktereigenschaften, die religiösen Gebote und Verbote mit peinlicher Genauigkeit zu beachten und zu befolgen. In der psychotherapeutischenBefreiung schien ihm zunächst der Halt, den er bisher in der Kirchegefunden hatte, völlig verloren zu gehen, und er empfand eine Hohlheit und Leere, die zu tiefer Angst und Verzweiflung Anlaß gab. Erbefürchtete, daß die Psychotherapie ihn schließlich in ein Wesen verwandle, das ohne sicheren Boden unter den Füßen haltlos im Nichtsschwebe. Leere und Sinnlosigkeit erwiesen sich jedoch bald lediglichals Ausdruck und Folge einer Weigerung, allen Phänomenen der Weltzu begegnen. Echte Begegnung bedeutet ja Offensein; wer sich denErscheinungen seiner Welt verantwortlich erschließt, entdeckt auch imLichte seines Daseins den unausschöpfbaren Sinngehalt des Lebens. Zusolcher Offenheit gehört jedoch zuerst, daß der Mensch fähig werde,die anerzogene Unfreiheit abzustreifen, die seiner Entfaltung hinderndim Wege stand. So erwies sich auch die „Leere" unseres Patientenkeineswegs als eindunkles Nichts; vielmehr wurde sie zu einem Lichte,in dessen Schein auch die Welt echter Religion erscheinen konnte.

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AUSSPRACHE I

Dr. phil. Johanna Herzog-Dürck: Zum Referat von Dr. Condrau: Esfragt sich, ob bei der Daseinsanalyse die Therapie selber, die analytischePraktik, nicht doch im großen und ganzen im Freudschen Entwurf verharrtund ihn weiterführt. Wenn die Gesamtheit der Weltbezüge des In-der-Welt-Seins eines Menschen erfaßt wird, kommt aber viel mehr in die therapeutische Situation herein, als was im Blickfeld der Analyse aus der Symptomatik der Neurose im allgemeinen zunächst zu erwarten ist. Muß sich nichtauch unser Therapie-Entwurf wandeln, erweitern? öffnen sich nicht neueLinien in Richtung eines kommunikativen Gespräches, einer erhellendenzwischenmenschlichen Deutung? Nicht so, daß der Therapeut dem PatientenLehren geben, ihm etwas beibringen würde. Das wäre das Allerverfehlteste.Vielleicht kann Herr Condrau uns sagen, ob nicht das erhellend-erschließendeGespräch, auch wo das In-der-Welt-Sein des Menschen an sein Über-die-Welt-Hinaussein grenzt, indiziert ist und unsere therapeutische Intentionund Intuition inspirieren darf. Binswangers Daseinsanalyse ist über dieHeideggersche weit hinausgegangen. Wo Heidegger den Menschen in derSorge als tiefstem Existential verwurzelt sieht, da ist Binswanger einengroßen Schritt weitergegangen: Er sieht als tiefste, fundamentale Seinsgegebenheit, Seinsverwurzelung des Menschen die Liebe an. Daraus könntenauch für die Therapieganz neueund wesentliche Impulse erwachsen.

Dr. med. Körte: Ich habe zwei Fragen an Herrn Condrau. Erstens: Ichhatte den Eindruck, daß er das Sein, das In-der-Welt-Sein und die Naturdes Menschen gleichsetzt. Zweitens: Wenn das In-der-Welt-Sein ein Existential des Menschen ist und die Neurose das Symptom dieses Gestörten desIn-der-Welt-Seins ist, wodurch unterscheiden sich dann die verschiedenenNeurosenformen?

Dr. med. Condrau: Wenn wir von der Natur des Menschen sprechen,fragen wir in der Tat nach der Natur des je in der Welt seienden Menschen. Dieses In-der-Welt-Sein ist ein ontologischer Begriff und als solchernicht irgend einem theologisch verstandenen Subjektivismus vorbehalten undals solcher natürlich auch auf jeden Neurotiker anwendbar. Dieser ist in derWelt; was ihn aber unterscheidet vom gesunden Menschen, ist nicht das In-der-Welt-Sein als solches, sondern der Austrag seiner Existenz in bezug aufbestimmte Weltbezüge. Denn das, was auch die verschiedenen Neuroseformenvoneinander unterscheidet, liegt in der ausgeklammerten „Welt" des In-der-Welt-Seins, als „Weltbezug" gefaßt. Zum Beispiel der Weltbezug zum Triebhaften kann sich in einer sexuellen Fehlhaltung äußern, während der Weltbezug des aggressiven Raffens, Sich-Bemächtigens, der Machtgier wiedereinen anderen Aspekt der Weltansicht zeigt.

Was die praktische Psychotherapie, wie sie von Frau Herzog-Dürck an-

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geschnitten wurde, betrifft, ist zu sagen, daß die Daseinsanalyse darüber nochkeine schlüssige Antwort geben kann. Ursprünglich war die Ansicht vonProfessor Boss, dem Begründer der psychotherapeutischen Daseinsanalyse,die, daß im Grunde zwischen der Psychoanalyse Freudscher Prägung und derDaseinsanalyse in der praktischen Arbeit gar kein wesentlicher Unterschiedbestehe. Er ging sogar so weit, zu sagen, daß Freuds Forschungen und therapeutische Erfolge gar nicht möglich geworden wären, wenn Freud nichtdefacto, wenn auch nicht explicite, daseinsanalytisch gearbeitet hätte. Daserhellt beispielsweise aus der Tatsache, daß Freud in der praktischen Arbeitdie Übertragung nicht gehandhabt hat, wie er sie theoretisch immer wiederdarstellte, sondern daß er genauso mit seinen Patienten in Kommunikationtrat, wie wenn die Aggressionen oder die Liebesansprüche ihm selbst gegoltenhätten. In der Theorie hat er gesagt: die Liebe des Patienten gilt nicht mir,dem Analytiker, sondern im Grunde genommen dem Vater oder einer anderen Person, die lebensgeschichtlich wichtig ist; ich bin also als Therapeut nurder Vertreter eines anderen. Da zeigt sich ein grundsätzlicher Unterschiedgegenüber der daseinsanalytischen Auffassung. Ein weiterer Unterschied inder daseinsanalytischen und psychoanalytischen praktischen Therapie ist dieTraumdeutung, indem die Träume nicht mehr gemäß einem abstrakten,spekulativen Schema erläutert werden. Es wird nicht nach Kräften geforscht,die dahinter stehen, es wird vor allem nicht reduziert. Man nimmt denTraum, wie er sich einfach als eine Äußerung dieser menschlichen Existenzzeigt. Die Behauptung, die Daseinsanalyse werde im Gegensatz zur Psychoanalyse zu einem kommunikativen Gespräch, ist in dieser Form sicher nichtzutreffend. Die Daseinsanalyse betont ein wesentliches Element der Psychoanalyse noch viel stärker, daß man nämlich nicht in ein irgendwie geartetesdialogisches Gespräch mit dem Patienten kommen, nicht versuchen solle, ihnin einer intellektuellen Gesprächsführung auf etwas hinzuführen, sonderndaß man immer wieder nichts anderes tun könne, als ihm den Ort zu zeigen,wo er sich befindet. Man würde also beim Traum meines Patienten, daß ersich in einem engen Kanal befindet, in den keine Luft und kein Licht hereinkommt, weder nach der Lebensgeschichte noch nach den Dynamismenforschen. Vielmehr würde man dem Patienten lediglich aufzeigen, daß ertatsächlich (und mag er noch so stark behaupten, er sei im Leben ein freierMann) in seiner ganzen Welt so eingeengt ist, wie dieser Traum es zeigt.Das heißt mit anderen Worten, daß man nicht einfach passiv oder schweigend, wie es immer wieder behauptet wird, einem solchen Patienten gegenübertreten soll, sondern keine Gelegenheit verpassen darf, ihn immer wiederauf seine je spezifische Gestimmtheit und auf seine Weltsituation aufmerksam zu machen. Aber den Weg aus dieser Beengtheit muß der Patient selbergehen, den können wir ihm andeutungsweise zeigen, wir können ihn abernicht für ihn finden. Wir müssen uns hüten, uns ein Vorstellungsschema voneinem Patienten anzueignen und zu glauben, daß er diese oder jene Möglichkeiten ergreifen müsse. Die Auswahl der Möglichkeiten, die ein Mensch inseinem Leben verwirklichen will, ist nicht dem Therapeuten anheimgestellt,sie bleibt der Verantwortlichkeit des Analysanden, des Kranken, des Neurotikers vorbehalten. Wenn ein Kranker den Analytiker aufsucht, hört seineVerantwortlichkeit nicht auf.

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Zum Abschluß möchte ich auf den Gedanken zurückkommen, daß Binswanger über Heidegger hinausgegangen sei, indem er eben die Liebe von derSorge abhob, und daß sich damit ein neuer Verstehenshorizont für die Daseinsanalyse eröffne. Darin hat Binswanger Heidegger mißverstanden, waser selbst zugegeben hat. Er ist nicht über Heidegger hinausgegangen, sondernhinter ihm zurückgeblieben, indem nämlich die Liebe in der Sorge schon eingebettet ist.

Dr. med. Langmann: Eine Frage betreffend den Heideggerschen „verfehlten Bezug zum Jenseits". Es hieß, die Therapie oder vielmehr das Sich-Ein-stellen auf den Patienten richte sich jeweils nach dem Weltbild und nach derReife des Patienten. Setzt nun die Daseinsanalyse in diesem Reifungsprozeßden Bezug zum Jenseits an das Ende oder ist er integrierender Bestandteilder einzelnen Stufen?

Dr. med. Condrau: Das ist eine ganz grundsätzliche Frage. Es gibt wederin der Daseinsanalyse noch in der Psychoanalyse noch meines Erachtens injeder analytisch orientierten Psychotherapie eine Stufenordnung, eine Rangordnung oder eine zeitliche Abfolge bestimmter Lebensbereiche. Der Weltbezug, der ins Jenseits hinüberweist, gehört in die Situation, in die Zeit hinein, in der er vom Patienten gebracht wird. Dieses Problem kann schon amAnfang der Analyse stehen. Meiner Erfahrung nach wird dieser Bezug inden meisten Fällen nicht gefunden, bevor nicht die irdischen, mehr diesseitsbezogenen Weltbezüge geregelt sind. Ein Mensch, der zu seinem Leib, zuseiner Kreatürlichkeit, zu seiner sinnlichen Welt keinen Bezug hat, wirdMühe haben, auch den echten Bezug zur geistigen Welt zu finden. Man kanndas nicht voneinander trennen, genausowenig, wie man zunächst einmal dasLeibliche behandeln kann und anschließend das Psychische oder umgekehrt.

Dr. med. Körte: In den Arbeiten von Dr. Condrau habe ich nicht den

Unterschied verstanden, den er zwischen dem daseinsanalytischen und demanthropologischen Ansatz macht. Auch am Anfang seines Referates "wurdevon diesem Unterschied gesprochen. Zweitens: Wie unterscheidet sich die Daseinsanalyse von der sogenannten personalen Psychotherapie?

Dr. med. Condrau: Die Anthropologen stehen uns in der praktischenArbeit nahe, besonders in bezug auf das Ablehnen triebmechanistischer Vorstellungen und allgemeiner psychologischer Spekulationen. Andererseits gehendie Anthropologen, wie schon der Name sagt, vom Menschen aus und nichtvom In-der-Welt-Sein des Menschen: darin liegt die philosophische grundsätzliche Unterscheidung. Die Daseinsanalyse geht nicht vom Menschen alseinem Subjekt aus, sondern sie geht vom Menschen als dem Hüter des Seinsaus, als dem lichtenden Offenheitsbereich, in dem sich überhaupt alles, wasWelt ist, ereignen kann, während die Anthropologen, und das gilt natürlichauch für die personale Psychologie, den Menschen als das subjektive Wesenin den Vordergrund stellen, was im Grunde genommen die Naturwissenschaften auch schon getan haben. Sie machen eine Unterscheidung zwischendem zentralen Ich, zwischen Person und den Gegebenheiten der äußerenWelt.

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Ellen Gregori, Psychotherapeutin: Auf dieser Tagung wird die aus derLiteratur bekannte Vielfalt der Heilweisen noch einmal von absolut verläßlichen Vertretern in wunderbar plastischer Weise dargestellt. Wir erfahren,auf wie vielen Wegen versucht wird, der kranken Seele zu helfen. Ich persönlich bin Schülerin von C. G. Jung, und in dieser Haltung bin ich sehrunorthodox und freue mich über alles, was ich von den anderen Richtungenan Wertvollem und Brauchbarem aufgreifen kann. Dabei kommt es mir vor,als seien die Grenzen zwischen den einzelnen Schulen gar nicht so trennend,wie ihre Vertreter uns hier glauben machen möchten. Sie erscheinen mir vielmehr wie die im Licht spielenden vielen Schliff-Flächen an ein und demselben Kristall.

Wir wissen sehr wohl, daß es keinen Psychotherapeuten gibt, der für allePatienten in Frage käme. Gönnen wir dem andern die, welche bei uns nichtgedeihen! Ich persönlich habe ein sehr einfaches Mittel, sofort zu erkennen,ob ich den Patienten in kurzer Zeit ans Ziel führen kann: ich verlange vonihm einen Initialtraum. Wenn er nach drei oder vier Stunden mir diesennicht bringen kann, dann sage ich: Ihr Unbewußtes scheint nicht willig zusein, mit mir zu arbeiten, vielleicht suchen Sie sich besser einen anderenTherapeuten. Ich weiß nicht, ob meine Kollegen in so kurzer Zeit jemandwegschicken; meine Behandlungen gehen aber auch nicht über Jahre.

Es wurde wiederholt sehr richtig gesagt, wir sollten dem Patienten nichtintellektuell unsere Ansicht aufdrängen. Vielleicht sollten wir auch nicht soviel Intellekt darauf verwenden, die Schulen voneinander zu trennen. Ichwürde vorschlagen, jede daraufhin anzusehen, welchem Typus Mensch siegemäß ist. Dann entdecken wir nämlich an jeder ihre spezifischenQualitäten.

Jung sagt, der persönliche Einsatz ist maßgebend; sobald der Arzt nichtebensoviel erlebt am Patienten, wie der Patient am Arzt, stimmt etwas nicht.Wenn aber ein Therapeut von früh bis spät Behandlungen durchführt, wasist da noch an persönlichem Einsatz möglich?

Man erlaube mir noch ein Wort zu den Theorien: die verzahnen sich so

vielfach mit den Ansichten Jungs, daß ein genauer Kenner von dessen Lehrenur staunt, daß Jung so selten erwähnt wird. Aber es ist erklärlich: werkennt ihn wirklich und über das hinaus, was heute schon zur allgemeinenBildung gehört? Begriffe wie Archetypen, kollektives Unbewußtes — wieleicht werden sie mißverstanden, wenn man sich nicht ernsthaft um sie bemüht! Jung hat kein Lehrbuch geschrieben, daher ist es eine harte Arbeit,ihn wirklich kennenzulernen. Wenn jemand selbständig Erfahrungen sammeltund damit Erfolge hat, ist es für ihn nicht dringlich, andere Richtungenkennenzulernen. Denn niemand weiß im vorhinein, wie fruchtbar es werdenkönnte, die eigenen Erfahrungen bestätigt und in einen ganz großen Zusammenhang eingeordnet zu finden, wie dieser universale Geist es ihm ermöglicht. Ich könnte mir denken, daß keiner der Referenten, die wir hiergehört haben, bei gründlicher Besinnung den Punkt ablehnen könnte, den ichfür einen der wichtigsten in der Jungschen Lehre halte: Jung hat der Fühlfunktion ihre Würde wiedergegeben. Wir haben uns seit vier Jahrhundertengewöhnt, vorwiegend das Denken zur Ergründung der Welt heranzuziehen,daher ist das Fühlen barbarisch und unerzogen geblieben. Wenn wir es kultivierten, dann würde es nicht auseinanderbrechen einerseits in Brutalität,

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andererseits in Sentimentalität, sondern es würde sich aus dem Gefühl jeneungeheuer große und wunderbare Menschenkraft entfalten, nach der wiralle rufen: die Liebe. Wir können ja nicht lieben, wenn wir unser Gefühlnicht geschult und kultiviert haben. Die Liebe ist, das wird man mir zugeben, ein Gefühl. Wenn wir an die Liebe Forderungen stellen, müssen wiruns um die Gesamtheit der Gefühle kümmern. Sie sind es ja meist, die beimPatienten krank sind (sein Denken ist oft durchaus intakt), und nur fühlendkann der Arzt erkennen, ob seine Arbeit heilende Kraft hat, noch ehe derPatient eine Formulierung darüber zustande bringt. Indem ich mich demPatienten öffne, nicht indem ich ihn belehre, fühlt auch er, und zwar: daßer angenommen ist. Das Annehmen, das wir alle kennen und für eminentwichtig halten, ist eine Sache des Gefühls und nicht der Überlegung. Es isteine Liebestat. Nicht die scharf umrissene Theorie ist das Heilende, sonderndie Menschlichkeit, die dahinter steht, und die genauso heilend wirkt imDienste einer anderen Theorie, die einem anderen Typus Mensch gemäßer istals unsere.

Die Chinesen haben diesen Sachverhalt so ausgedrückt: Das rechte Mittelin der Hand des falschen Mannes hilft nicht, in der Hand des rechten Mannes hilft sogar das falsche Mittel.

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PSYCHOTHERAPIE IM GEISTE DES ZEN

von Karlfried Graf Dürckheim

Wir stehen heute in einer Zeit der Wiederentdeckung des Menschen.Die einseitige Herrschaft des Welt-Ich ist am Ende. Der Menscherfährt sich in seinem überweltlichen Wesen, und auf dem Wege zuder Welt-Ich und Wesen vereinigenden Person heben sich die Gegensätze auf, die die zu Ende gehende Zeit beherrschten, so die Gegensätze zwischen Geist und Seele, zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Wissenschaft und Glaube, zwischen Leistung und Reife und soauch zwischen Seelsorger und Arzt. In diesem Zeichen begegnen sichheute auch der östliche und der westliche Geist. Wirklich fruchtbaraber wird diese Begegnung nur dort, wo die Spannung zwischen demwestlichen und dem östlichen Geist, so wie die Spannung zwischen demWeiblichen und dem Männlichen, nicht als Gegensatz zweier eigenständiger Wirklichkeiten, sondern als Ausdruck einer Ganzheit verstanden wird, die sich in der lebendigen Spannung zweier Pole darlebt.Die Spannung zwischen dem östlichen und dem westlichen Geist ist eininnermenschliches Problem. So wie der Mann unserer Zeit und jederZeit, um ein ganzer Mann zu werden, ein ganzer Mensch werden unddazu auch dem Weiblichen in sich den rechten Platz zubilligen muß, sohat auch der Westen allen Anlaß, sich darauf zu besinnen, daß er,um die Frucht seines Geistes voll austragen zu können, eineBezeugungdes ganzen Menschseins sein sollte und daher auch dem östlichen insich Raum geben muß. In diesem Zusammenhang gewinnt die Weisheitdes Ostens höchst aktuelle Bedeutung. In ihr wiederum ist es derZen-Buddhismus, der uns am nächsten steht, weil einerseits seine Lehrevon der Seinserfahrung vielVerwandtschaft mit den Zeugnissen christlicher Mystik aufweist, und andererseits, weil er alles andere als weltflüchtig ist, ja im Gegenteil den Menschen in besonderer Weise befähigt, mitten im Kämpfen, Gestalten und Lieben in der Welt dasgöttliche Sein zu bezeugen.

Mit der Wende zur Großen Therapie erfolgte die Abkehr einer einseitigenBezogenheit desArztes auf die Leistungsfähigkeit des Menschen

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in der Welt und die Hinwendung der Therapie zur Verwirklichungdes wahren Selbstes. Dies aber bedeutet die Ablösung einer reinsäkularen Auffassung des Menschen durch eine andere, die seinemtranszendenten Grundcharakter Rechnung trägt. Für eine empirischeund wissenschaftlich begründete Arbeit hängt nun alles davon ab, daßdas, was hier als überweltliche und transzendente Wesenswirklichkeitbehauptet wird, in nachprüfbarer Erfahrung verankert ist, und ebendiese Erfahrungen begegnen uns im Weisheitsgut des Ostens, in alleröstlichen Religiosität und wohl am unmittelbarsten im Zen. Zen zieltauf die Befreiung des von seinem Welt-Ich und seinen Ordnungenabhängigen Menschen durch die „Große Erfahrung" des Wesens, darindas Sein im Menschen lebendig anwesend ist. Uns interessiert hiernicht die spezifisch östliche oder buddhistische Umhüllung des Zen-Weges, sondern ausschließlich das Wesen der Sache: die Bereitung desMenschen zur Erfahrung des transzendenten Kernes und zu einerleibhaftigen Verfassung, in der er fähig wird, auch in der Welt vomSein zu zeugen.

Zen als Lehre ist ein Weisheitsgut und in seinen theoretischenGrundlagen ein Niederschlag von Erfahrungen gereifter Menschen,die die Schale ihres Welt-Ichs durchbrachen, das Sein geschmeckt unddie Möglichkeit seines Offenbarwerdens in der Welt durch ihr eigenesLeben bezeugt haben. Durch alle Äußerungen des Zen zieht sich dergoldene Faden von Erfahrungen hindurch, die keineswegs nur östlich,sondern allgemeinmenschlicher Natur sind, also im Prinzip jedemMenschen auf dem Wege zur Reife geschenkt werden können. Manchesdavon mutet im Westen nur deswegen östlich an, weil diese Erfahrungen im Zeitalter des Rationalismus verloren gingen oder unbeachtetblieben. Die mittelalterliche Mystik ist noch voll davon.

Die Ausstrahlungskraft der von einem größeren Leben zeugendenErfahrung und die in ihrer Mitteilung liegende Verheißung begründen die starke Wirkung zenistischer Schriften. Will man in wenigenSätzen und ganz unabhängig von aller östlichen Überlieferung dieentscheidenden Erfahrungen und die auf ihnen beruhenden Einsichtenaussprechen, deren Verwandtschaft mit den Grundsätzen des Zen esberechtigt erscheinen läßt, eine an ihnen orientierte Therapie als eineTherapie im Geiste des Zen zu bezeichnen, so müssen sie lauten:

1. Der Mensch ist seinem Wesen nacheine Weise des göttlichen Seins.2. Das, was der Mensch seinem Wesen nach ist, ist ihm in dem, was

er in seinem Bewußtsein hat, verborgen. Der Mensch befindet sichsolange in einer Entfremdung vom Sein, als er in der Gegenständlich-

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keit seines natürlichen Ich-Welt-Bewußtseins befangen, noch nicht zurInständlichkeit des Seins im Dasein befreit und auf dem Weg fortschreitender Verwandlung zur Freiheit im Sein gelangt ist.

3. Die Wurzel aller Entfremdung und damit allen spezifischmenschlichen Leidens ist die Identifikation des Menschen mit einem

Ich, das alles Erlebte fixiert, es in festen Bild-, Begriffs- und Wert-Ordnungen festhält und theoretisch wie praktisch auf gesicherte „Position" bedacht ist.

4. Wenn alles Leiden letztlich Ausdruck der in diesem Ich begründeten Entfremdung vom Sein ist, so hängt alles Heilwerden letztlichdavon ab, daß der Mensch von der Vorherrschaft dieses Ichs erlöstwird und durch ein Einswerden mit dem, was es verbirgt, also mitseinem Wesen, zu einem neuen Subjekt wird. Heilwerden bedeutetDurchbrechen der uns vom Sein trennenden Wand unseres im fixieren

den Ich verankerten gegenständlichen Bewußtseins und Erwachens zueinem neuen Bewußtsein. Dieser Vorgang des Durchbruchs durch dietrennende Wand, des Eingehens im Wesen und Wiederaufgehen alsverwandeltes Ich ist die „Große Erfahrung". Im Zen heißt sie Satori.Es ist die Metanoia des menschlichen Lebens und der Angelpunkt allerTherapie im Geiste des Zen.

5. Das echte Satori meint zweierlei: ein erschütterndes Erlebnis und

den Ausgangspunkt einer Verwandlung, die der Sinn dieses Erlebnissesist. Das Erlebnis ist ein Erwachen zum eigenen Wesen, und dieses bedeutet eine zugleich erlösende und verpflichtende Erleuchtung. Daseigene Wesen ist nichts anderes als der im Menschen angelegte Wegzu seinem Personsein, darin er als das verwandelte Ich transparentist für das Sein. In diesem Sinn ist Satori ein von der alten Ordnungbefreiendes Erlebnis, bringt in der Verwandlung des Bewußtseins erleuchtende Erkenntnis und ist durch die Geburt eines neuen Subjektszugleich ein den ganzen Menschen und sein Leben verwandelndesEreignis. Die Große Erfahrung ist also kein bloßes Gefühlserleben,sondern, wenn sie echt ist, der Ausgangspunkt eines verantwortlich zubeschreitenden Weges zur Verwirklichung desjenigen Subjektstandes,in dem der Mensch als ein verwandeltes Ich sein Einsgewordensein mitdem Wesenbeweist und bewährt. Dies ist möglich nur dank eines neuenBewußtseins und einer auch leibhaftig neuen Gesamtverfassung desMenschen, in der er als das Ich in der Welt zugleich transparentgeworden ist für das überweltliche Sein und auch fähig, es unter denBedingungen von Raum und Zeit zu spüren und zu bezeugen.

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Die auf diesen Grundlagen aufgebaute Therapie enthält notwendigerweise drei Faktoren: 1. Die Bereitung zur Einsfühlung mit demWesen. 2. Die Aufhebung dessen, was uns von ihm trennt. 3. Die Herstellung einer leibhaftigen Gesamt-Verfassung, die den Menschen befähigt, von dem zu zeugen, was er seinem Wesen nach ist: eine Weisedes Seins und dazu bestimmt, es in der Welt zu offenbaren.

Die unverwandte Bezogenheit auf das überraumzeitliche Sein undWesen begründet den esoterischen und initiatorischen Charakter einerTherapie im Geiste des Zen. Die Aufarbeitung dessen, was der Erfahrung und Bezeugung des Wesens im Wege steht (das unbereinigteUnbewußte, der Schatten!), ist der Sinn der psychologischen Arbeit.Die planmäßige Arbeit an der leibhaftigen Verfassung, die ein Lebenaus dem Sein ermöglicht und schließlich gewährleistet, vollzieht sich inder Übung, hier zu verstehen als ein exercitium ad integrum.

Die Zielsetzung ist nichts östliches, sondern findet sich in allerlebendigen Religiosität, die letztlich das Leben meint. Therapie imGeiste des Zen atmet Leben. Sie bedeutet ein immer kräftigeres Aufgehen des Lebens in seiner überweltlichen Fülle, seiner übermenschlichen Kraft, seiner überpersönlichen Ordnung und überindividuellenEinheit. Es ist das Leben, das immer wieder alles Gewordene einschmilzt, vom Hartgewordenen erlöst und in einem nie endendenProzeß schöpferischer Verwandlung den Menschen zu neuen Formenentbindet. So wird er immer durchlässiger für das „Große Leben",das Leben und Tod übergreift und jenseits aller Nöte des Daseins denMenschen bewegt, diese fruchtbar werden zu lassen für seinen innerenWeg. Die Erfahrung des Größeren Lebens eröffnet einen Zustand derTransparenz, darin der Mensch die Not der fünf großen „W" hintersich läßt. Das Große Leben ist jenseits des Was, Wo, Wann, Warum,Wozu. Wo das Sein ins Innesein tritt und weder vom gegenständlichenBewußtsein zu einem Seienden umgemünzt wird, noch in der Vagheiteines zuständlichen Bewußtseins zerfließt, sondern in der durchsichtigenWachheit eines inständlichen Bewußtseins gegenwärtig bleibt als Kerndes neuen Subjektes, dort steht der Mensch in der Freiheit einer ihntragenden und erneuernden Kraft, in der Klarheit einer ihn erhellenden Ordnung und in der Geborgenheit einer überweltlichen Einheit.Von dort her wird er auch fähig, das Leben zu meistern und zugestalten. Doch daß er fähig wird, die Angst zu überwinden, sichdurchzusetzen, fähig wird, zu kämpfen, sein Werk zu tun und in derGemeinschaft zu bestehen, „kommt dabei heraus", ist aber nicht derSinn. Der Sinn ist und bleibt: ein Leben in der Wahrheit des Wesens,

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im Dienste des Seins. So ist, wie für alle gültige Lebensführung, auchfür alle Heilkunst der Auftraggeber letztlich weder die uns forderndeWelt noch der nach Erlösung verlangende Mensch, sondern in beidendas zum Offenbarwerden drängende und verpflichtende übermenschliche und überweltliche göttliche Leben und Sein, personal gesprochen,Gott.

Therapie im Geiste des Zen ist gekennzeichnet durch die unverwandte Bezogenheit auf das Wesen. Wo immer der Therapeut nuran der historischen Wirklichkeit des Patienten interessiert ist und imVordergrund des Interesses das Stärken des natürlichen Ichs und seinBestehen in der Welt oder gar sein reibungsloses Funktionieren undseine Angepaßtheit an die Welt steht, ist die Therapie weit vomGeiste des Zen entfernt. Von ihr ist erst dort zu sprechen, wo derunverwandte Hinblick auf das Wesen das therapeutische Geschehenbestimmt. Dieses ist aber nur in dem Maße möglich, als im Therapeuten selbst das Organ für das Erspüren des Wesens ausgebildet ist under selbst sich eindeutig zum Dienst am Wesen entschieden hat, so daßdie Bereitschaft zur Erfahrung des Wesens und seiner Bezeugung zumbestimmenden Faktor seines Lebens wie seiner Arbeit wird.

Der Hinblick auf das Wesen erscheint unter anderem im Ernstnehmen des Numinosen, das heißt einer ganz bestimmten Qualitätdes Erlebens, darin sich die Fühlung des Menschen mit einerDimensionerweist, die jenseits seines gegenständlichen Bewußtseins liegt. DieseFühlung ist letztlich Ausdruck für das Aufgegangensein einer Bewußtseinsform, in der alles transparent wird auf das Sein, so daß allesErleben dann durchwirkt ist von jener einzigartigen und unverwechselbaren Qualität.

Mit der unverwandten Bezogenheit auf das Sein hängt es auchzusammen, daß die ganze Therapie mehr im Zeichen eines hervorbrechenden Lichtes, als im Zeichen des hemmenden Schattens, mehr imZeichen einer schwellenden Verheißung als im Zeichen einer bedrängenden Not und mehr im Hinblick auf eine Quelle der Freiheit als imBann des der Kausalität unterworfenen Ichs steht. Die unverwandteBezogenheit auf das Wesen rückt auch die schöpferischen Ereignisse,die glückhaften Zeiten und die Sternstunden des Lebens in das rechteLicht und unterbricht fruchtbar das einseitige Kreisen um die negativen Erfahrungen und ihre Folgen.

Die unverwandte Bezogenheit des Therapeuten auf das Wesenöffnet nicht nur den Sinn für die Erlebens- und Lebensqualitäten, indenen es anklingt, sondern öffnet auch das innere Auge für das Inbild

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des anderen, dessen Verwirklichung unter den Bedingungen der Weltdie aufgegebene Gestaltwerdung des Wesens ist. Dieses innere Augemeint die Gabe, das, was ein Mensch eigentlich, das heißt vom Wesenher ist, zu unterscheiden von dem, was er jetzt in seiner Erscheinungsform ist und auch von dem, was er hinter seiner Fassade tatsächlich,aber nur als der von der Welt Bedingte ist. Der Hinblick des Therapeuten auf das Wesen ist in seiner unbestechlichen Wahrhaftigkeit,Härte und Güte das maß- und richtunggebende Agens der therapeutischen Situation. Denn das, worauf der Therapeut bewußt oder unbewußt gerichtet ist, bestimmt auch den Gang des Heilsgeschehens, ober es will oder nicht, ob er es weiß oder nicht.

Eine auf das Wesen und auf das Erwachen aus dem Wesen gerichteteTherapie verpflichtet naturgemäß dazu, im Schüler das Organ für dasSpüren, Unterscheiden und Ernstnehmen des Wesens und der diePräsenz des Seins anzeigenden Qualitäten zu entwickeln. Dazu gehörtdas Bewußtmachen seinshaltiger Augenblicke, insbesondere der Sternstunden des Lebens, die Weckung des Sinns für die numinosen Qualitäten, insbesondere auch erinnerter Träume, bis hin zur Herstellungjener existentiellen „Wachheit", der seinshaltige Augenblicke so wenigentgehen wie dem Jagdhund die seinen Weg kreuzende Witterung einesWildes entgeht, weil er keinen Augenblick in seinem Wittern nachläßt.

Was immer im geistigen Leben planmäßig verfolgt werden soll,bedarf im Hinblick auf seine Voraussetzungen wie für den Weg unddie Mittel seiner Verwirklichung klarer Erkenntnis und begrifflidierOrdnung; so selbstverständlich auch die Arbeit im Geiste des Zen.Obwohl Zen aller Begrifflichkeit zutiefst abhold ist, gibt es so etwaswie die „Hohe Lehre des Zen" - die paradoxerweise selbst zugleichdie theoretische Legitimation für das Aufheben aller sich verfestigenden Begriffe und Lehren ist. Auch Zen weiß, daß die Vorstellung voneiner völlig voraussetzungslosen, auf alle Begriffe verzichtenden Therapie eine Utopie ist, die nur auf eine Verhärtung einer unbewußtvorhandenen Theorie hinausläuft. Wo die Klarheit über die Grundkategorien des eigenen Lebens- und Selbstverständnisses fehlt, bleibtdas geistige Leben eine fortgesetzte Improvisation, deren AusgangGlückssache ist. So kann auch die Therapie im Geiste des Zen nichtdarauf verzichten, die in einem Menschen immer vorhandene Auffassung über das, was wirklich ist oder nicht, sein soll oder nicht,bewußt zu machen und, sofern es wesenswidrig ist, den Weg zu etwasNeuem auch begrifflich zu bereiten.

Und so kommt auch Zen nicht ohne gewisse Grundbegriffe aus

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und scheut sich nicht, im Darreichen gewisser Bilder, Geschichten undAnalogien das geistige Gefäß vorzubereiten, das die Voraussetzungdafür ist, daß der Mensch im entscheidenden Augenblick erkennt, wasihm widerfährt, und tiefstes Erleben nicht, nur weil er es nicht erkennt,vorbeigehen läßt. Andererseits ist es wieder charakteristisch für eineTherapie im Geiste des Zen, daß sie im Schüler alle Bilder und Begriffe, einschließlich der vom Lehrer selbst dargereichten, immer wieder zerschlägt, ja, daß das Einstürzenlassen jeglicher selbstverständlichgewordenen begrifflichen Ordnung zu den Grundmethoden der Zen-Therapie gehört. Während auf der einen Seite also das Bewußtseindes Schülers planmäßig auch mit Bildern und Begriffen versehen wird,so daß er darauf vorbereitet ist, am Sein, wo immer es in ihm auftaucht, nicht vorbeizulaufen, wird ihm bei jeder Gelegenheit gezeigt,welch große Gefahr der Begriff für das Zulassen, Wahrnehmen, Fruchtbarwerden und Darlebenkönnen des lebendigen Seins ist. Wo immermöglich, wird daher dem Schüler der Boden seiner begrifflichen Ordnung, auf dem sich sein Leben gefestigt hat, wieder unter den Füßenweggezogen.

Auf dem Hintergrunde der in der Sprache, in Rede und Antworterscheinenden begrifflichen Ordnung spielt in der Therapie des Zendas Schweigen eine besondere Rolle, und für die Arbeit im Geistedes Zen ist die bewußte Handhabung des Wechsels von Rede undSchweigen charakteristisch. Auch wir kennen längst die Methode deszur Wahrheit, Selbstbesinnung und Klarheit zwingenden Schweigens,darin sich die Situation des Schülers produktiv zuspitzt, die allzuleichtfließende Rede gestaut wird, Begriffe die Schweigeprobe nicht bestehen, kurz das beharrliche Schweigen des Führenden den Geführtenmehr zu einer selbstgefundenen Selbsterkenntnis bringt, als viele Wortees vermögen. Dem gegenüber steht wiederum der überraschende Gebrauch des harten Wortes, des überraschenden Bildes, der paradoxenBegrifflichkeit. Schweigen wie Reden haben den gleichen Zweck: dasEinstürzenlassen oder allmähliche Einschmelzen einer Begrifflichkeit,in deren festliegender Ordnung das Leben zum Stillstand kommt.

Für alle Therapie im Geiste desZen ist kennzeichnend: die Führung.Zen-Arbeit geschieht mit Führung. Für unsere geläufige Auffassungvon Therapie ist dies ein heißes Eisen. Es scheint gegen die Grundregelzu verstoßen: nicht eingreifen, kommen lassen, nur spiegeln! Aberliegt nicht immer allein schon in der Weise, wie der Therapeut dasitzt,wie er spricht oder schweigt, woran er denkt und was er sich wünscht,ein Moment der Führung? Selbst wenn es ihm unbewußt wäre, ginge

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von seiner Lebenssicht und seinem Heilungswillen ein führender Einfluß aus. Aber Führung ist nicht als ein leider nicht auszuschließenderFaktor anzusehen, sondern zu bejahen und zwar umsomehr, als dieTherapie keineswegs neutral sein will, sondern zugestandenermaßenVollzug einer bestimmten Lebensauffassung ist. Dies ist in einerTherapie im Geiste des Zen der Fall. So ist auch das Hinführen zurErfahrung der Wesensnatur, zum Zwecke des Aufgehenlassens despersonalen Kernes, keine unerlaubte Beeinflussung. Und dieLehre vomLicht aus dem Wesen und dem es verdunkelnden Welt-Ich ist ebensowenig eine Theorie wie die Feststellung, daß es am Tage hell und inder Nacht dunkel ist. Etwas anderes ist dann freilich die Interpretationdes unmittelbar zu Erfahrenden, die beispielsweise christlich oderbuddhistisch sein kann. Beeinflussung in diesem Sinne ist etwas anderesals die Führung zum Wachwerden aus dem Wesen überhaupt. Ein Bereiten für die Erfahrung des Seins und ihr Fruchtbarwerden für dieReifung zur Person ist eine Anleitung und ein Begleiten auf demWeg, auf dem nichts übersprungen werden kann und dessen Phasenund Schritte lebensgesetzlich vorgezeichnet sind, so das Voranschreitenaus dem Statischen ins Dynamische, aus der Versachlichung ins Personale, aus dem Kollektiven ins Individuelle, aus allen Einseitigkeitenin die Ganzheit vollen Menschseins, aus der Verhaftung im Säkularenins Offensein für die Transzendenz, aus einem Festsitzen in einerbegrifflich vernagelten Wirklichkeit in die Wirklichkeit des immererlösend schöpferischen Lebens, das in ständiger Verwandlung allesForm Gewordene durchseelt und übergreift. Und dazu kommt danninhaltlich eine Kenntnis der typischen Grundsituationen, in die derMensch auf seinem Stufen-Gang aus dem Vorpersonalen über das Persönliche zum Überpersönlich-Personalen voranschreitet. Therapieohneklar bewußte Führung ist eine Irreführung oder eine Selbsttäuschung.Sie zielt, wo sie im Geiste des Zen erfolgt, eindeutig und zielbewußtauf Erleuchtung und Verwandlung. Wer freilich die Rede vom Wesenund vom Sein als eine Theorie ansieht, dem ist nicht zu helfen. Ersteht „draußen". Das „Drinnen-Stehen" macht den esoterischen Charakter aller Zen-Führung aus, die im Grunde den Weg der Einweihung meint.

Am deutlichsten erscheint der Führungscharakter des Zen im Verhältnis von Lehrer und Schüler in den vom Lehrer bestimmten, aufgegebenen, geleiteten und kontrollierten Exerzitien.

Das Exerzitium steht im Mittelpunkt aller Therapie im Geiste des

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Zen. Da jede Form des Exerzitiums immer auch eine Übung im Leibeist, ist jede Therapie im Geiste des Zen immer auch ganz bewußt eineArbeit am Leibe. Die Vorstellung einer inneren Entwicklung ohnegleichzeitige Verwandlung im Leibe ist eine Wahnvorstellung. DieFührung auf dem Wege geistiger Entwicklung muß also bewußt undplanmäßig ihre Aufmerksamkeit auch der Verwandlung im Leibezuwenden. Diese darf auch nicht im Hinblick auf die „unauflöslicheVerbundenheit von Leib und Seele" außer acht gelassen werden, weilman sich ja darauf verlassen könne, daß jede geistige Erkenntnis undErfahrung sich automatisch auch im Leibe auswirkt.

Exerzitium meint Übung, und zwar nicht Übung zu einem rechtenKönnen, sondern zu einem rechten Sein, also ein Exerzitium adintegrum. Übung in diesem Sinne zielt auf Reifung, das heißt aufeinen Menschen, dessen Erleben, Verhalten und Handeln davon zeugt,daß er durchlässig geworden ist für das in ihm verkörperte und zumOffenbarwerden drängende Sein. Die rechte Transparenz für dieTranszendenz ist aber keine nur innere Angelegenheit, und auch dieImmanenz des Seins betrifft den ganzen Menschen, also auch denMenschen als Leib. Die hier notwendige Auffassung von dem, was„Leib" ist, weicht freilich von der herkömmlichen ab, darin der Leibals ein seelenloser Körper verstanden wird, dessen Verhältnis zu einerkörperlosen Seele ein „Problem" ist. Der Leib, recht verstanden, istaber nicht etwas, das der Mensch wie einen Körper hat, sondern derLeib ist der Mensch, der Mensch in seinerWeise, in der Welt da zu sein.

Immer erfährt, äußert und verwirklicht der Mensch sein Leben inzweierlei Weise: Einerseits in seiner Weise, sich zu erleben, andererseits in seiner Weise, sich darzuleben, das heißt „darzuleihen". Wieweitder Mensch auf dem Wege vorangeschritten ist, wie weiter transparentgeworden ist oder vom Wesen her verwandelt, bekundet sich nicht nurdarin, was er denkt und fühlt, sondern genau so in der Weise, wie erdasitzt, dasteht, sich bewegt, kurz wie er da ist: gelöst oder verspannt,offen oder verschlossen, gelassen oder erregt etc. Fragen wir nun,woran das Exerzitium, das den Leib einschließt, vor allem anzusetzenhat, so lautet die Antwort: am Atem, am Gefüge des Verhältnissesvon Spannung und Gelöstheit, vor allem aber an der durch denSchwerpunkt bestimmten gesamten Haltung, in der sich ganz eindeutig die Rolle bekundet, die das Welt-Ich in einem Menschen spielt.Wenn uns bei den Begriffen Atem, Spannung, Haltung in erster LinieKörperliches einfällt, so zeigt das, wie sehr der westliche Begriff desMenschen sich verwirrt hat. Sowie der Gesundheitsbegriff der Medizin

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durch die Vorstellung einer vollendeten Leistungsfähigkeit undSchmerzfreiheit bestimmt ist, so ist auch unser Körperbewußtsein bisher nur im Hinblick hierauf entwickelt. Man nimmt seinen Körper inder Regel nur dann wahr, wenn etwas nicht in Ordnung ist. DerKrampf zwischen den Schultern wird nur bemerkt, wenn er schmerztund eine Bewegung erschwert. So gesehen, kann er technisch behandeltund beseitigt werden. Vom personalen Leibbewußtsein aus bedeuteter aber etwas anderes. Jede Verspannung ist personal gesehen Ausdruck einer personalen Haltung und zwar einer Haltung der Abwehr,Absicherung und des Mißtrauens, kurz ein Zeichen für die Vorherrschaft des um seine Position besorgten Welt-Ichs. Die Beseitigungsolcher Haltung erfordert daher eine nicht nur technische,sondern einepersonale Übung, in der es darum geht, aus der Ungelassenheit gelassenzu werden, das heißt eine Haltung des Vertrauens in die Kräfte herzustellen, die das Ich nicht mehr beherrscht. Die entgegengesetzteFehlhaltung, die spannungslose Aufgelöstheit bedeutet personal gesehen ein Sich-gehen-Lassen auf Grund eines Mangels an Verantwortlichkeit für die Form. Solche Aufgelöstheit ist also nicht durch einperipheres Sichstrecken oder durch ein „Halt dich gerade!" zu korrigieren, sondern durch eine andere Haltung des Menschen, in der erwach, seinem Inbild gehorsam, die von innen her erspürbare und ihmaufgegebene Gestalt in seine Verantwortung aufnimmt und verwirklicht. Ebenso ist das „Ja des Grundes", darin sich im Menschender elanvital im unterbewußten Innesein bezeugt, keineswegs eine nur innereEinstellung, sondern im ganzen Tonus wie in der Strahlung der Personleibhaftig am Werk. Es macht den Menschen in seiner Leibhaftigkeitlicht oder dunkel. Heiles Leben der Person ist ein fortgesetztes Werdenund Entwerden der lebendigen Form. Jede Deformation bekundet einStehengebliebensein und hängt in der Regel mit dem zum Haften undFesthalten neigenden Welt-Ich zusammen, das, wenn es sich absolutsetzt, der Erzfeind personaler Selbstverwirklichung ist. So ist seineAblösung, das heißt die Herstellung des rechten Verhältnisses zwischenWelt-Ich und Wesen ein zentrales Ziel des Exerzitiums, und es kanndies wiederum nur sein, weil sich eben dieses Verhältnis ganz deutlichim Leibe ausdrückt und verwirklicht. Das rechte Verhältnis gründet imVollzug der rechten Mitte.

Therapie im Geiste des Zen ist immer bewußte Arbeit an der rechtenMitte, wobei Mitte wiederum nichts nur Geistiges, geschweige dennKörperliches meint, sondern eine Gesamtverfassung des Menschen.Während in dem vom Welt-Ich beherrschten Subjekt die Mitte, das heißt

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das, worum sich alles dreht, eine feste Position ist, dreht es sich dort,wo der Mensch vom Wesen her da ist, um die Bewegung der Verwandlung selbst. Die Arbeit an dieser Mitte ist die Arbeit am Hara.Darin ist diejenige Gesamtverfassung des Menschen gemeint, in der ervon der Vorherrschaft seines (am Gewordenen haftenden, alles festhaltenden, zu weit oben zentrierten und immer oben hinaus wollenden) Ich freigeworden und gelassen in einem Grunde verankert ist,der ihn von woanders her trägt, fortgesetzt verwandelt und so indurchlässiger Fühlung mit seinem Wesen hält - und gerade dadurchweltoffen und welttüchtig macht. Hara, die Erdmitte des Menschen,ist sozusagen der Garant dafür, daß das Rad der Verwandlung nichtzum Stillstand kommt, so daß jede Daseinsform die Dialektik zwischendem Bewußten und Unbewußten, zwischen Person und Schatten,zwischen Ich und Wesen in Gang hält, und der Mensch also zur Erfüllung des personalen Grundgesetzes auf dem Wege bleibt.

Die Übung, die in der gesamten Übungspraxis des Ostens und soauch im Zen im Mittelpunkt steht, ist das Stillwerdenlassen von Leibund Seele in der Übung des bewegungslosen Sitzens. Es ist verwunderlich, daß der westliche Mensch unserer Zeit dieser Übung oft nochskeptisch gegenüber steht, obwohl sie durchaus zur Meditationspraxisdes Mittelalters gehörte, sich also auch in unserer eigenen Überlieferungfindet.

In der Unausweichlichkeit der Begegnung mit dem einerseits starrenund zum Ausgleich immer auch zur Auflösung neigenden, von tausendBildern, Gedanken und Geistern geplagten Ich wie mit den aus demUnbewußten steigenden Impulsen vollzieht der Übende in unentwegter Versammeltheit in der rechten Mitte und der durch sie gewährleisteten Verwandlungsbewegung des Atems das Läuterungsexerzitiumschlechtweg. Im Zen heißt diese Übung Za-Zen.

Während Za-Zen vor allem als eine Disziplinierung der Motorikerscheint, durch die das unbewegte Zentrum des bewegten Lebens angesprochen und hervorgerufen wird, zielen andere Übungen auf eineErhellung der Sinne. In der recht verstandenen Kultur der Sinnegewinnt der Mensch die Freiheit von der alles verfestigenden Ratiound vermag einen Zugang zum Reich der Qualitäten zu gewinnen. Erkann die Mühle des Denkens zum Stillstehen bringen, wo dann derSchleier der Begriffe zerreißt und in leuchtend sinnenhaften Erfahrungen sich die Fülle des Seins auftut und Schließlich in einer übersinnlichenSinnlichkeit spiegelt.

Die Übung der Sinne vollzieht sich in der Regel im Verein mit der

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Übung gewisser Gestaltungsvermögen. So wie das Sitzen das innereGespür für die rechte Gesamtverfassung verfeinert, so kann durchdiese Übung, wenn nur der Akzent vom „Gegenstand" auf den„Innenstand" des ganzen Menschen gelegt wird und es im Tun zurÜberwindung der Subjekt-Objekt-Spannung kommt, ein wesentlicherBeitrag zur Weckung der schöpferischen Grundkraft und damit auchzur Weckung des höheren Bewußtseins geleistet werden. „Das wacheZeichnen, Malen, Modellieren, aber auch das Spielen eines Instrumentes kann, in der rechten Weise vollzogen, dazu dienen. So kann sichbeispielsweise das meditative Zeichnen, worin der Mensch lernt, sichUrbewegungen des Lebens zu erschließen, sich ihrer in Urzeichen innezu werden und losgelöst von allen Vorstellungen in voller Verantwortung herauszulassen, in Richtung einer Reinigung des Grundesund einer Erweckung der wesenseigenen Form wirken. In langerWiederholung ernstgenommene Begegnung mit den Urformen dessinnenhaft Wirkenden (etwa des Runden, Eckigen, Strahligen, Geschlossenen oder Offenen, des Welligen oder Zackigen, der Spirale etc.),entbindet nicht nur die schöpferischen Kräfte der Tiefe, sondern kon-stelliert bei dauernder Integration zugleich die Individualität. In solchem hingebungsvollen Tun, in dem der Mensch sein Ich eingehenläßt in eine die Welt einschließende Präsenz aus dem Wesen, wo sichalso der verantwortliche Bezug der Welt in einer ichlosen Einswerdungmit der Sache horchend und gestaltend erfüllt, werden in einer Modellsituation Haltungen gestiftet, die den Prozeß der Verwandlung fördern und in den Alltag hineintragen." (M. Hippius)

So wie das Leben uns herausfordert zum Kämpfen, Erkennen undGestalten - so muß auch das Exerzitium den Menschen dafür bereiten,

diesen Forderungen immer weniger nur vom Ich her und immer mehrvom Wesen her genügen zu können. Er muß lernen, jede Handlungals eine Gelegenheit zur Bewährung der rechten Mitte zu nutzen. Indiesem Sinne ist es möglich, jede wiederholbare Handlung in denDienst der Selbstwerdung zu stellen. Das Grundprinzip solchen Übensist immer das gleiche: Zuerst gilt es, die Technik zu gewinnen, dazusind gegenständliche Aufmerksamkeit und zielbewußter Wille erforderlich. Das Exerzitium im eigentlichen Sinne aber beginnt erst da, wodie Technik beherrscht wird, das Ich, das ehrgeizig ist und alles machenmuß, zurücktreten kann, der Übende schließlich das von seinem Ichgereinigte Instrument einer vollendeten Technik einem Tieferen insich zur Verfügung stellen kann, das nun in der Sprache der besonderen Leistung das Sein offenbart. Wo immer das erfahren wird, fühlt

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der Mensch sein weltüberlegenes Wesen als eine ihn geheimnisvoll beseelende und zu einer bestimmten Gestalt hindrängende Kraft, in derer wahrhaft er selbst ist.

Und was haben nun diese Seins-Erfahrungen mit Religion zu tun?Was ist das Verhältnis eines Wissens um Seinserfahrungen zu christlicher Religiosität? Sind die Seinserfahrungen etwas nur östliches?Begründet die Lehre von den Seinserfahrungen und der Weg, der vonihnen aus und zu ihnen hin führt, gar eine neue Religion? Dies sinddie Fragen, die immer wieder dort gestellt werden, wo von Seinserfahrungen gesprochen wird.

Die Lehre von den Seinserfahrungen begründet keine neue Religion,sondern betrifft den menschlichen Kern jeder lebendigen Religiosität,der christlichen nicht weniger als der buddhistischen. Jede Kultur wiejede Stufe des Menschseins gewinnt eine Gestalt, die ihren besonderenGeist spiegelt, und gibt in besonderen Begriffen und Bildern eine ihrerTradition entsprechende Interpretation letzter Seinserfahrungen, sowie eine Deutung der Begegnung mit denen, die das in ihnen offenbar werdende Sein, über alle Maße hinaus, verkörpern.

So wie sich ursprüngliches Erleben im gegenständlichen Bewußtseinzu einer festen Welt- und Wertordnung verwandelt, so schlägt sichreligiöse Urerfahrung und ihre Verkündung in immer neu revidiertenund schließlich sakrosankten Schriften nieder. Für den, der mit deminneren Auge lesen und mit dem inneren Ohr hören kann, lebt auch,ja bisweilen gerade in dieser „Fassung" ursprünglicher Erfahrung derlebendige Urstrom weiter - so wie je nach der Verwurzelung im ursprünglichen Leben dieser auch noch in einer begrifflich gefestigtenWeltanschauung schöpferisch am Werk ist. Das Gewicht aller festliegenden Form neigt aber immer dazu, sich am Ende vor die ursprüngliche Erfahrung zu stellen. Und die sich verfestigende Ordnung, in derder Mensch sein Leben in der Welt wie auch sein Verhältnis zum göttlichen Sein begreift, tritt schließlich als ein zu Glaubendes an Stelleursprünglicher und erfahrener Offenbarungen des Lebens. Dies Abgeschnittensein vom Ursprung bringt Leiden. Im Leiden wächst insgeheim die Bereitschaft, zu gegebener Zeit den Urquell wieder zuspüren, den Ursinn zu vernehmen, die Ureinheit zu erfahren, all dasalso, was wir selbst in unserem Kern und unserem Wesen sind. Wodas eintritt und wir uns einmal am Ende unserer Kraft, also in derSchwäche, in der Verzweiflung oder in der Verlassenheit unversehensvon einer unbegreiflichen Kraft beseelt, in einer anderen Ordnungaufgehoben und in einer nie gefühlten Liebe geborgen erleben, zu

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neuem Leben entbunden und zu neuer Gestaltwerdung verpflichtet,da erfuhren wir wirklich Sein. Das heißt, wir haben dann überjeden Zweifel hinaus etwas erfahren, das wir im Unterschiede zuallem weltlichen Dasein „göttliches" Sein und im Unterschied zu unserem weltbedingten und weltabhängigen Ich unser weltunabhängigesund unbedingtes „Wesen" nennen können. Diese Erfahrung ist wederchristlich noch buddhistisch. Sie gehört vielmehr zu einer bestimmtenStufe menschlichen Werdens, bezeugt eine bestimmte Bewußtseinsform, die allgemeinmmenschlicher Natur ist. Ebenso gibt es einenallgemeinmenschlichen Weg der Verwandlung: Das Werden des Welt-Ichs und seiner Ordnung, sein Sterben und Eingehen im Sein undsein Aufgehen zu neuer, auf das Sein hin transparenter Gestalt, alsoeinen Weg, der dem Menschen eingezeichnet ist, weil er ein Mensch ist.So gewiß also Christentum und Buddhismus als Lehre voneinanderverschieden sind und der Versuch, sie miteinander durch wechselseitige Anleihen zu verbinden, müßig ist - in der Wurzel sind sieverbunden im göttlichen Sein und menschlichen Wesen. Die Gestaltder verschiedenartigen Interpretation seiner Erfahrung hängt von derjeweiligen Gestalt des Geistes ab, in dem es aufging.

Die Urerfahrung des Seins lebt in der Mystik, die in allen Religionen im Grunde die gleiche Sprache spricht. Wer freilich keinen Sinnfür Mystik hat, sie, weil er gänzlich mit der Stufe des gegenständlichenBewußtseins identifiziert ist, als etwas nur Subjektives ansieht, dermuß jede Rede von einer gemeinsamen Wurzel aller Religionen verneinen und die das letzte und gemeinsame Geheimnis umschließendebesondere Gestalt seiner eigenen Tradition als die ausschließliche undeinzig wahre Offenbarung des Göttlichen behaupten. Und so gibt esauch heute, obwohl Jahr um Jahr die Zahl der christlichen Priesterwächst, die die menschliche Bedeutung auch östlicher Zeugnisse derSeinserfahrung in eindrucksvollen Schriften bezeugen, auf der anderenSeite immer noch streitbare Vertreter der Auffassung, daß das allesdem Evangelium widerspricht, Christus verrät und verführerischesTeufelswerk ist, was nicht die Sprache des Evangeliums spricht.

In diesem Zusammenhang spielt eine besondere Rolle die Gegenüberstellung der angeblich unpersönlichen Religiosität des Ostens undder persönlichen Begegnung mit dem Absoluten, das heißt der Begegnung mit Christus und einem persönlichen Gott in der christlichenReligion. Diese Unterscheidung besteht gewiß zu Recht. Aber nurUnkenntnis oder Mangel an eigener Erfahrung kann zu der generellenBehauptung führen, Seinserfahrungsei als solche Erfahrung von etwas

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Unpersönlichem. Seinserfahrung enthält vielmehr immer eine persönliche und eine unpersönliche Komponente, und es hängt von vielerleiBedingungen ab, welche der beiden Seiten sich in und nach dem unmittelbaren Erleben betont und in welchem Sinne die Erfahrunginterpretiert wird. Die Tatsache, daß die Seinserfahrung im Ostenvielfach unpersönlich interpretiert wird, sagt keineswegs, daß sie dasauch wirklich ist. Wo der Mensch von frühauf lernt, das höchste Seinsei jenseits aller Gestalt, und so entbehrten im Grunde alle Wesenauch eines eigenen Kernes, erscheint ganz natürlich als das höchste allerZiele die Erlösung, als ein Freiwerden vom Haften an jeglicher Formund als Eingehen in das ungeschiedene All-Eine. Und hier kann sichfreilich die persönliche Komponente der Seinserfahrung schwer entwickeln. Umgekehrt, wo ein Mensch in einem Räume aufwächst, woder Glaube an einen persönlichen Gott und an Christus vorherrscht,und die individuelle Seele in ihrer Eigenwirklichkeit anerkannt ist,dort betont sich ganz natürlicherweise in der Seinserfahrung die persönliche Komponente, das heißt, sie wird ihm zur Stätte einer personalen Begegnung, in der das zutiefst noch unverpflichtete und weil vonder Welt abhängige, auch noch unfreie Ich zu der im tiefsten verpflichtendenund der Welt gegenüber freien Person verwandelt wird.

Echte Seinserfahrung hat immer zwei Komponenten: Sie bringtErlösung von hartgewordenen Lebens-, Wert- und Glaubensordnungendes sich in ihnen begreifenden und haltenden Ichs. Sie bringt andererseits die Geburt eines neuen, dem überweltlichen Sein verbundenen unddaher der Welt gegenüber freien Selbstes. Das Aufgehen des neuenSelbstes im Eingehen des alten Ichs erscheint aber zugleich als Geburteines neuen Gewissens, das heißt, das neue Selbst, die in der Seinserfahrung sich selbst erfahrende Person, ersteht aus Antwort auf einenin der Tiefe der Seinserfahrung vernommenen Ruf, der uns erstmaligwirklich als Person hinstellt, zu einer bestimmten Lebensführung verpflichtet und unter der Voraussetzung der Treue zu einem bestimmtenWeg letzte Erfüllung verheißt. Diese Erfahrung hat personalen Charakter, insofern es sich um die Begegnung mit einer Macht handelt, dieeben im Rufen, Fordern und Verheißen als eine persönliche Machterfahren wird.

Zum Thema „Persönlich - Unpersönlich" sei auch noch dieses bemerkt: Was auch immer nicht einfach nur sachlich angetroffen, sondernpersönlich begegnet wird, was auch immer physiognomisch erfahrenwird, also den Charakter eines uns begegnenden Wesens annimmt, istauch, in der entsprechenden Hinwendung, das „Absolute".

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Die theologische Zurückhaltung gegenüber Seinserfahrungen istdurchaus verständlich, da in ihr, so wie alle Bilder und Gegenständedes im Subjekt-Objekt-Schema befangenen Ichs, auch die zu dieserStufe gehörenden festgewordenen Gottes- und Christusvorstellungenzunächst einmal verschwinden —in einer überwältigenden Erfahrung,deren Fülle, Reichtum und Kraft jede bisherige Vorstellung des Göttlichen sprengt. Daher auch scheut sich der von einer wirklichen Seinserfahrung Gesegnete, im Hinblick auf das, was er erlebte und was ihnrief, einfach von Gott oder Christus zu sprechen. Er scheut sich davor,nicht weil er nicht an Gott oder Christus glaubte, sondern aus Scheu,das Erfahrene im Aussprechen einer Bewußtseinsform auszuliefern,deren Bilder und Begriffe seiner eigenen über alle Bilder und Begriffehinausgehenden Erfahrung nicht gemäß sind. Wer die Erfahrungwirklich gemacht hat, muß der Versuchung widerstehen, allzuschnell(womöglich, um alte Freunde nicht zu verlieren oder mit sich zu versöhnen) und leichthin von Gott oder Christus zu sprechen. Der Sachenach aber kann für mich kein Zweifel darüber bestehen, daß in einerechten Seinserfahrung Christus gegenwärtig ist. Ja, man sollte dieFrage stellen, warum gegenüber tiefster Seinserfahrung überhauptdaran gezweifelt wird, etwa aus dem Grunde, weil der Betreffendenicht von Christus spricht oder vielleicht, weil er nicht im Räumechristlicher Religiosität aufwuchs, nie von Christus gehört hat?

Zuletzt sei noch dieses bemerkt: Nur der Seelsorger, der um Seinserfahrungen weiß, wird in der Lage sein, in demjenigen, der nichtsmehr von Christus und Gott hören will, jene Tiefenschicht menschlichen Seins aufzuschließen, deren Artikulation im Prozeß eigenerWandlung neuen Glauben begründet. In der Seinserfahrung geht dasOhr auf, mit dem der Mensch fähig wird, zu hören, und mit einemMale vernimmt er die innere Wahrheit des Evangeliums, die ihmverloren ging, weil sie im Netz seines gegenständlichen Begreifenserstickt war.

Doch was hat das alles mit „Zen" zu tun? Setzt es womöglich eineNachahmung östlicher Exerzitienpraxis voraus? Gewiß nicht. „Psychotherapie im Geiste des Zen" bedeutet lediglich eine Weise, den Menschen zu sehen und zu führen, die fern von aller Dogmatik wie vonallen pragmatischen Nebengedanken ganz unmittelbar auf eine Verwandlung zielt, die das Erfahren, Offenbarwerden und Bezeugen desSeins im Dasein ermöglicht.

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RELIGIONSPSYCHOLOGIE

mit besonderer Berücksichtigung von C. G. Jung

von A.Inge Allenby

C. G. Jungs Schriften über die psychologischen Grundlagen der Religion bilden einen wesentlichen Teil seines Lebenswerkes. Allerdingsbereitet es gewisse Schwierigkeiten, diese Schriften in das Fachgebietder Religionspsychologie einzuordnen - und zwar deshalb, weil alleAussagen Jungs über das Religiöse eine ihm eigene Schau vom Wesendes Menschen zur Voraussetzung haben.

Aus diesem Grunde möchte ich mit zwei Persönlichkeiten beginnen,die als Jungs geistige Vorfahren bezeichnet werden können. Das Charakteristische in Jungs Einstellung wird sich vielleicht klarer herausheben, wenn man es im Zusammenhang dessen, was vorausgeht, betrachtet.

Der eine dieser geistigen Vorfahren ist William James. Für das englischsprechende Publikum ist William James der Vater der Religionspsychologie. Er formulierte das Thema, um das auch Jungs Beobachtungen und Gedanken sich bewegen. Zunächst William James' empirische Einstellung: Religion ist, was dem Menschen hilft, sein Lebenzu führen. Das heißt: es ist nutzlos, nach dem objektiven Wahrheitsgehalt der Religionen der Menschheit zu fragen. Religiöse Vorstellungen beeinflussen den, der sie hegt; sie wirken, und darin liegt ihreWirklichkeit. Ferner: William James formuliert die grundlegendeQualität, welche allen Religionen gemeinsam ist, in der folgendenWeise. Es ist, sagt er, auf der menschlichen Ebene, ein Zustand derUnbefriedigtheit und dessen Auflösung. Oder, anders ausgedrückt:das Wesen des Religiösen offenbart sich in einem Erlebnis, und diesesErlebnis ist ein Prozeß, eine Entwicklung, eine Verwandlung. Letztlich erfolgt die Lösung der Unbefriedigtheit, die Befreiung von ihrdurch ein Drittes —oder, wie James es bezeichnet, durch ein „Mehr",das heißt durch das Aufbrechen einer Lebensquelle, welche, vom Menschen her gesehen, aus der unbewußten Seele stammt1.

1 W.James, Die Religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit, dt. Übers.,Leipzig 1907, S. 458 ff.

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Es ist ohne weiteres ersichtlich, wie nahe die Auffassungen vonWilliam James und Jung sich berühren. Zur Zeit, als William Jamesdie berühmten Giffort lectures hielt, war die Erforschung der unbewußten Psyche in ihren Anfängen. In der Zwischenzeit hat sich einreiches Beobachtungsmaterial angesammelt, und man hat zahlreicheVersuche gemacht, es zu klassifizieren. Freud beobachtete, daß ein beträchtlicher Teil des Unbewußten aus verdrängten Inhalten besteht,und er brachte die mannigfachen infantilen Motive ans Licht, die religiöses Verhalten beeinflussen können. Jung drang tiefer als Freud indie unbewußten Quellen geistigen Lebens ein; auch ist Jung vornehmlich daran interessiert, den Menschen zur Reife zu entwickeln, einbezüglich seiner religiösen Haltung. Vor allem hat Jung es sich zurAufgabe gemacht, jenes „Mehr" zu erforschen, jenen aus der Psycheaufquellenden Lebensstrom, welcher für William James das Wesendes religiösen Bewußtseins bestimmt. Jenes „Mehr", sagt Jung, stammtaus den Archetypen; es besteht aus instinktiven, angeborenen Formender Sinngebung und der Anpassung. Diese im Instinktbereich wurzelnden Kräfte heben den Menschen über die Ausweglosigkeit der bewußten Lebenslage hinaus; er fühlt sich befreit. Mit dem Begriff desArchetypus bezeichnet Jung also Formen der unbewußten psychischenEnergie, welche allen Menschen gemeinsam sind, welche aber nichtunter der Kontrolle des Willens stehen und daher vom Menschen als

ein von außen Kommendes erlebt werden, als eine Kraft, die numinosenCharakter hat. Kurz, in Jungs Auffassung ist die unbewußte Psychenicht nur der Ort, in dem des Menschen Lebenswille sich erneuert,sondern ebenfalls der Ursprung spezifischer religiöser Vorstellungen.Hierin geht er über William James hinaus. Viele Menschen unsererZeit betrachten Religion als ein System von Dogmen, in denen ewiggültige Wahrheiten niedergelegt sind, ein für allemal offenbart, unddenen der einzelne nichts hinzufügen kann als den Akt des Glaubens.Vom Standpunkt der Tiefenpsychologie aber treten diese Wahrheitenin die Unmittelbarkeit der Erfahrung, und zwar dann, wenn derMensch sich in einer Situation befindet, die seine bewußte Leistungübersteigt. In der Ergriffenheit der Liebe, in der Gegenwart von Tododer Geburt, oder der Unerbittlichkeit eines Schicksals, das ihn zurOhnmacht verurteilt - in diesen und ähnlichen Situationen begegnetder Mensch einer Macht, die ihm überlegen ist. Oder anders gesagt, erbegegnet dem Göttlichen. Diese typischen Grenzsituationen menschlicher Existenz haben sich gleichsam von Urzeiten her der menschlichenSeele eingeprägt, und zwar als Wahrnehmungen, welche das Uner-

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forschliche zum Bild, zum Sinn gestalten. Hier also liegt, in Jungs Auffassung, der Ursprung religiöser Vorstellungen.

Vom Standpunkt Jungs aus ist die Situation, in der das Transzendentezur lebenden Wirklichkeit wird, in den natürlichen Lebensverlauf desMenschen eingebettet. In theologischen Kreisen wird zur Zeit oft überdie Notwendigkeit gesprochen, Religion aus der Absonderung derKirche in die Mitte des Lebens zurückzuversetzen. Eine solche Verlagerung stimmt überein mit dem Befund der Tiefenpsychologie, welche überdies das geistige Mittel zur Verfügung stellt, um das Religiösedort erkennenzu können, wo es der Natur des Menschen entsprechendseinen Ort hat.

Und nun der andere Gelehrte, den ich als Jungs geistigen Vorfahrenbezeichnete. Ich möchte damit nicht behaupten, daß Jung unmittelbarvon ihm beeinflußt wurde; aber Jung erwähnt ihn des öfteren, undjedes Mal so, als wenn er eine geistige Verwandtschaft in ihm erkenne.Es ist Joachim von Fiore, einer der großen religiösen Denker desMittelalters.

Joachim von Fiore lebte an der Wende des 12. Jahrhunderts (1135bis 1202). Er war Mönch, Zisterzienser, und später Abt eines von ihmgegründeten Ordens in S. Giovanni in Fiore in Calabrien. Joachimschrieb eine Reihe von Werken, von denen eines auf dem Laterankonzil von 1215 verurteilt wurde und somit der Nachwelt verlorenging. Trotzdem übte Joachim einen tiefen Einfluß auf nachfolgendeGenerationen aus.

Joachim war ergriffen von der Idee des Menschen der Zukunft. Erwar überzeugt, daß der Mensch - genauer gesagt, der Mensch derchristlichen Weltepoche - im Begriff sei, in einen anderen Zustand einzutreten, und damit in eine neue Beziehung zum Göttlichen. Er sah dieVerwirklichung des Göttlichen in der menschlichen Geschichte als einendreiteiligen Stufengang. Am Anfang steht das Zeitalter des Vaters,zeitlich mit der Geschichte des Alten Testamentes zusammenfallend;dann das Zeitalter des Sohnes, vom Beginn des Christentums bis etwazur Mitte des 13. Jahrhunderts; und letztlich das Zeitalter des Heiligen Geistes, der dritten Person der Trinität. Joachim faßt also die totale christliche Weltepoche als einen fortschreitenden Entwicklungsprozeß auf, in welchem jedes Zeitalter sich aus dem vorausgehendenentfaltet und in welchem jedes einer neuen Manifestation des Göttlichen zugeordnet ist. Das dritte, unter der Herrschaft des HeiligenGeistes stehende Zeitalter, so nimmt Joachim an, wird durch eine erneute Ausgießung des Heiligen Geistes eingeleitet werden; eine Pa-

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rallelersdieinung zum Pfingstwunder, welches zu Beginn der zweitenEpoche den Aposteln widerfuhr. Wie damals, so werden auch dannnur einige wenige Auserwählte zum Gefäß der neuen Inspirationwerden; aber diese wenigen sind ermächtigt, die ganze Menschheit zuerneuern. Das bevorstehende Herabkommen des Heiligen Geistes inden Menschen wird diesen zu einer höheren Stufe geistiger Erkenntnis führen, und gleichzeitig zu einer vertieften Form der Demut.

Es ist ungemein interessant, zu verfolgen, wie Joachim sich die Wirkung dieser zu erwartenden Herrschaft des Heiligen Geistes vorstellt.Der Mensch, sagt er, wird dann fähig sein, das Wesen des Göttlichenunmittelbar zu erfahren, durch innere Versenkung, unabhängig vonder Vermittlung der Kirche, der Hierarchie des Priestertums und derSakramente. In psychologischer Sprache würden wir dies die Fähigkeitdes symbolischen Erlebens nennen. Nach der Auffassung gewisser Forscher hat Joachim diese revolutionäre Idee bis zu ihrem logischenSchluß verfolgt; er erwartet, daß die Kirche als weltliche Institutiondann überholt sein und abgelöst werden wird durch die „Ecclesia Spi-ritualis", die unsichtbare Gemeinschaft aller, die in der neuen Offenbarung des Heiligen Geistes vereinigt sind2.

Joachim, der mittelalterliche Seher, und Jung, der zeitgenössischeErforscher des Unbewußten, haben eines gemeinsam: beide sehen denMenschen an der Schwelle einer neuen Entwicklungsstufe. Wie Joachimso ist auch Jung —so scheint es mir wenigstens —erfüllt von der Ideedes zukünftigen Menschen. Jeder Versuch einer Darstellung von JungsGedankensystem klingt irgendwie falsch, und so, als wenn das Wesentlichste fehlte, wenn man nicht davon ausgeht, daß Jung ein Ziel vorAugen hat: eine Stufe der Entwicklung, welche in seiner Auffassungdem Menschen aus unbewußtem Drang und unbewußter Notwendigkeit auferlegt ist. Es mögen zur Zeit nur wenige Menschen sein, diediese Stufe erreichen; aber selbst wenn es nur wenige sind - das Zielist gegeben. Jedenfalls macht es einen Unterschied, ob solch ein Zielgesichtet worden ist oder nicht. Eine Richtung ist vorgezeichnet, diemenschliches Bemühen bestimmt. Diese Richtung beeinflußt ebenfalls

2 H. Grundmann, Studien über Joachim von Floris, Leipzig, Berlin 1927.E. Benz, Ecclesia Spiritualis, Stuttgart 1934. E. Benz, Creator Spiritus. DieGeistlehre des Joachim von Fiore, Eranos Jahrbuch 1956, Zürich 1957. CG.Jung, Aion, Zürich 1951; S. 128ff. et passim. C. G. Jung, Mysterium Con-iunctionis, Zürich 1955—57, Vol. 3; Kommentar von Dr. M. L. von Franz;S.271 ff. et passim.

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jegliche Hilfeleistung an Menschen, die selbst noch unbewußt sindund im Dunkeln tasten.

Dieses Ziel hat Jung in einer spontan abgefaßten Schrift, der „Antwort auf Hiob", folgendermaßen beschrieben: Gott will zum Menschen werden; Gott will die in Christus erstmalig geschehene Inkarnation im einzelnen Individuum fortsetzen; durch die Vermittlungdes Heiligen Geistes will Gott in die Wirklichkeit des kreatürlichen,sündenbeladenen einzelnen Menschen eingehen3.

Hier liegt eine Konzeption vor, welche Joachims prophetischen Aussagen verwandt zu sein scheint. Allerdings befinden wir uns gegenwärtig in einer anderen geschichtlichen Situation. Für Joachim war derUntergang der kirchlichen Institution eine Folgeerscheinung der sichausbreitenden Geisteskirche; für unser Zeitalter hat sich diese Abfolgeumgekehrt. Der korporative Zusammenhalt der Kirche ebenso wieviele andere kollektive Bindungen der Gesellschaftsordnung sind inAuflösung begriffen. Die Mehrzahl der Menschen unserer Zeit sindnicht mehr von Tradition getragen, weder im weltlichen noch im religiösen Sinne. Die Gefahr, wie wir wissen, ist groß, daß der einzelnezum Massenmenschen regrediert. In anderen regt sich, vielleicht ausinstinktiver Abwehr, ein um so rücksichtsloserer Wille zur Selbstbestimmung und Unabhängigkeit. Dietrich Bonhoeffer hat das berühmteWort vom „mündig gewordenen Menschen" geprägt. Er verstand, daßder heutige Mensch mit Recht danach strebt, sich von der Autoritätder Tradition frei zu machen, auch von der Autorität der Kirche, umzu sich selbst zu kommen - sogar auf die Gefahr hin, daß das Göttliche keinen Platz in seiner Welt hat.

Und noch ein anderer, tiefgreifender Unterschied wird erkennbar.Joachim ist erfüllt von der gläubigen Zuversicht einer Zeit, die nochkeinen Zweifel am Göttlichen kennt. Die Gaben des Heiligen Geistes,die sich auf den Menschen herabsenken werden, haben in seiner Auffassung ausschließlich positiven, schöpferischen Charakter. Wir befinden uns heutzutage in einer anderen Lage. Nicht nur die Erschütterung zweier Weltkriege und ihrer Begleitumstände, sondern ebensosehrdas Erlebnis des Unbewußten hat uns vor die folgenschwere Erkenntnis der Doppelseitigkeit alles Lebendigen gestellt: es zerstört und eserschafft; es hat die Kraft zum Vernichten und ebenfalls die Kraft desSchöpferischen. Dies jedenfalls ist Jungs Anschauungsweise. Der Geist,von dem der heutige Mensch ergriffen wird oder ergriffen werden

3 CG. Jung, Antwort auf Hiob, Zürich 1952, S. 155 et passim.

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kann, ist der Beherrscher der Gegensätze - und er ist ebenfalls derschöpferische Drang, der sie zu vereinigen strebt. Die Erfahrung desUnbewußten bestätigt und betont, was die Wirklichkeit des Lebensohnehin ausspricht: Welt und Psyche haben dunkle Abgründe, in welchen das Dämonische und das Göttliche nahe beieinander wohnen.

Dies ist an sich keine neue Erkenntnis. Schon das späte Mittelalter(Nicolaus Cusanus) definierte die Gottheit als eine „coincidentia oppo-sitorum". Im Unterschied zum mittelalterlichen Denken aber liegtheute der Akzent auf des Menschen Anteil an der Antinomie der Le

benskräfte, und auf des Menschen Leiden an ihr. In Jungs Auffassungliegt hier des Menschen Aufgabe, wenn sein Mündig-geworden-Seinsich zur Reife fortsetzt. Der ausschlaggebende Faktor in diesem Reifungsprozeß aber ist das Bewußtsein. Gewiß, der Mensch entschließtsich nicht aus freier Wahl zum Erlebnis der Gegensätze und zum Leidenan ihnen; es ist die unbewußte Psyche, welche ihn dazu treibt. Dies giltnicht nur für den psychisch Erkrankten, sondern für den heutigenMenschen ganz allgemein. Es ist hier nicht möglich, auf die Ursacheneiner solchen Situation einzugehen. Aber der Zweck, die Zielsetzung,ist klar. Nimmt der Mensch die Forderung des Unbewußten an, dannergibt sich eine Veränderung und Erweiterung seines Bewußtseins; ein„Mehr" an Bewußtheit; eine nächste Stufe der Bewußtseinsentwicklung. In Jungs Sprache ist es das Göttliche selbst, welches eine solcheEntwicklung vom Menschen verlangt, und welches ihn dazu befähigt,wenn der Mensch dem göttlichen Anspruch Genüge tut. Dies ist JungsVorausschau des kommenden Zeitalters.

Es ist, so scheint mir, an dieser Stelle, daß Religion und Tiefenpsycho-logie voneinander abweichen. Religion - das Wort in traditionellemSinne verstanden - legt das Schwergewicht auf den „Glauben"; Tiefenpsychologie auf das „Bewußtsein". Die Gegensätzlichkeit ihres Standpunktes ist zwar nicht absolut, aber sie besteht und sollte anerkanntwerden. Nur dann kann ein Zwiegespräch zwischen Religion undPsychologie fruchtbar sein.

Versucht man, die Funktion des Bewußtseins im psychischen Haushalt zu beschreiben, so ergeben sich zwei wesentliche Aspekte. Erstens,Bewußtsein ist Träger der Identität; es vermittelt dem Menschen einGefühl oder eine Vorstellung dessen, wer er ist, und was ihn von anderen unterscheidet. Zweitens, Bewußtsein ist das Instrument derWahrnehmung dessen, was dem Menschen gegenüber steht, und wasnicht zu ihm gehört; es ist das Mittel der Unterscheidung des Ich vomNicht-Ich. Das Nicht-Ich ist der andere, den ich für meine eigenen Feh-

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ler nicht verantwortlich machen kann; es ist das, was mir widerfährtoder mir zur Aufgabe gestellt ist; das, woran ich mich erprobe oderwas mich zu überwältigen droht, von außen oder innen. Ohne einesolche Grenzsetzung zwischen Ich und Nicht-Ich gibt es keine Wirklichkeit, oder genauer gesagt, keine Wahrnehmung der Wirklichkeit.Bewußtsein erzeugt sozusagen den Raum, in dem sich der Mensch inFreiheit bewegt.

Bewußtsein in dem Sinne, in dem das Wort hier verstanden wird,ist allerdings mehr als ein Akt des Unterscheidens; es bezeichnet eineEinstellung des Menschen zu sich selbst und zu seiner Umgebung.Durch Bewußtheit lernt der Mensch sich selbst zu tragen, sein eigenesGutes und sein eigenes Böses - und dazu bedarf er der zusätzlichenFähigkeit, sich selbst zu vergeben und ebenfalls sich selbst einen Wertzuzumessen.

Bewußtsein ist also das geistige Mittel, das es dem Menschen ermöglicht, sich in sich selbst zu sammeln, so daß er der Suggestionskraftder Umwelt widerstehen kann und einen Ruhepunkt in sich selbst bewahrt. Dies ist die Voraussetzung dafür, daß er die Grenzsituationseiner Existenz überhaupt zu erfahren imstande ist; ohne ein Ich gibtes kein Du, und ebenfalls kein göttliches Gegenüber. Ferner, ohne einIch hat der Mensch keinen Standort, von dem er das kalte, unmenschliche, dämonische Gesicht des Seins zu erkennen, noch zu erleiden vermag; er ist ihm hilflos preisgegeben. Tritt er aber bewußt in die Gegensätzlichkeit des Lebens ein, in Kampf und Leiden, in Selbstverteidigungund Niederlage - dann trägt er, in welch geringem Maß auch immer,zu ihrer Versöhnung bei. Hierin liegt die Erweiterung des Bewußtseins, auf die es Jung ankommt. Hier liegt die Bestätigung, die derMensch unserer Zeit oder der Mensch der Zukunft kaum noch als Mit

glied eines Kollektivs erfahren kann: die Bestätigung seines individuellen Eigenseins als vom Göttlichen gewollt und getragen. Das Gottesbild wird damit individualisiert.

Jungs Idee des zukünftigen Menschen mag manchen allzu esoterischerscheinen. Aber kein geringerer als Paul Tillich hat sich in ähnlichemSinne geäußert. Tillich hat sich ernstlich mit der Frage beschäftigt, obdas geistige Erbe des Christentums eine Zukunft hat, und wenn, inwelcher Form. Seiner Ansicht nach werden die offiziellen Repräsentanten der Kirche nicht in der Lage sein, die Wirklichkeit des Religiösen lebendig zu erhalten. Diese Funktion werden einzelne Individuenerfüllen, für welche die geistige Dimension des Lebens zur persönlichenErfahrung geworden ist, und die sich in kleinen, anonymen, halb-

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esoterischen Gruppen zusammenfinden. Tillich sieht es als Aufgabeder traditionsgebundenen Kirche, solche Gruppen anzuerkennen undzu unterstützen. Er erwartet also —und dies wäre allerdings eine bedeutsame Veränderung in der Struktur des Christentums - daß dieKirche der Zukunft das subjektive Element individueller, innerer Erfahrung anerkennt und in sich aufnimmt4.

Ich möchte durch einige Beispiele erläutern, wie die Erziehung desMenschen zum Bewußtsein sich in einzelnen Fällen auswirkt.

Mein erstes Beispiel betrifft eine Frau, die viele Jahre in Indien als Missionarin tätig war. Krankheit wie depressive Zustände zwangen sie, die Missionstätigkeit aufzugeben.

Die Kindheit dieser Patientin war voller Schwierigkeiten. Der Vater verließ die Mutter; einStiefvater trat an seine Stelle,der immer ein gefürchteterFremder in der Familie blieb. Schon früh entwickelte sich in der Patientindie Neigung, Mutters gutes kleines Mädchen zu sein; diese Rolle half ihr,innere Ängste und Affekte zu verdrängen. Im Verlauf ihrer Studienjahrefühlte sie sich plötzlich zur Missionstätigkeit berufen. Wie zu erwarten, bestärkte die Ausbildung zur Missionarin die bereits vorhandene Tendenz,Mutters gutes kleines Mädchen — oder in diesem Fall die vorbildlich guteMissionarin in den Augen anderer zu sein. Hier ist also ein Mensch, der ininfantilen Ängsten und Affekten steckengeblieben ist, ohne Eigensein, undder plötzlich in den Rang der Vorkämpfer für eine sublime religiöse Ideeerhoben wird. Eine solche Diskrepanz zwischen mangelnder persönlicherReife und einer vom Kollektiv geforderten geistigen Überlegenheit mußte,früher oder später, zu psychischen Störungen führen. Es ist an sich kein religiöses Problem. Wo aber, wie in diesem Fall, der Mensch an einer durchReligion verursachten Inflation krankt, da wird die Heilung ebenfalls vomReligiösen herkommen.

Einmal träumt diese Patientin, daß sie mit ihrer Tante zur Messe geht.Sie weiß im Traum, daß es ihre Absicht gewesen war, nicht zur Kirche zugehen; aber plötzlich befindet sie sich dort, als ob sie sich gefürchtet hätte,der Tante ihren Entschluß mitzuteilen. Wie kann sie entrinnen? Wenn sie

jetzt aufstünde und die Kirche verließe, so würde ihre Handlung die Anwesenden schockieren oder gar eine allgemeine Auswanderung aus der Kircheverursachen. Sie wartet, im Traum, bis die anderen Gemeindemitglieder sichvon ihren Sitzen erheben und dem Altar zuströmen, um das Abendmahl zuempfangen. Auch sie steht auf, entflieht aber in der entgegengesetzten Richtung, dem Ausgang zu. Kurz vor dem Ausgang sieht sie sich um und bemerkt,daß über der Lehne des Stuhles, auf dem sie gesessen hat, immer noch ihreJacke hängt.

4 P. Tillich, Spiritual Problems of Post War Reconstruction, in: The Protestant Era, London 1951, S.293ff.; dt. in: Der Protestantismus, Stuttgart1950.

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Eine Weile später träumt sie, daß sie ihre Wohnung verläßt und dieTreppe zur Straße hinuntergeht. Hier spiegelt sich eine Wirklichkeitssituation; sie wohnt tatsächlich im obersten Stockwerk eines würdigen altenHauses in nächster Nähe der städtischen Kathedrale. Im Traum nun gehtsie die Treppe hinunter und bemerkt, daß der Ausgang auf die Straße nichtdie gewohnte Haustür ist, sondern ein riesiges gotisches Portal. Und dannwird ihr klar, daß ihre Wohnung sich über der Kathedrale selbst befindet,ins Dach der Kirche eingebaut.

Die Patientin hatte keine besondere Reaktion zu diesem Traum, nur leiseVerwunderung. Die Reaktion ihres Analytikers war um so heftiger, und wirhatten eine schwierige Zeit miteinander.

Hier haben wir den Kern des Problems. Und wie so oft im Verlaufe

einer therapeutischen Behandlung, möchte man dem Unbewußtendanken, daß es in Form eines prägnanten Bildes zum Ausdruck bringt,was ein außenstehender Beobachter niemals mit derselben Schlagkraftin Worte zu kleiden vermöchte. Außerdem läßt ein solcher Traum er

kennen, daß das Unbewußte selbst die Forderung stellt, von der illusorischen Höhe herabzusteigen; es ist in erster Linie nicht der Therapeut, sondern die Psyche, welche auf Entwicklung des Bewußtseinsdrängt.

Die Patientin lebt also über der Kathedrale, höher als die Kirche selbst.Unter ihren Füßen ist der Thron des Bischofs, der Altar, die Kreuzgestalt,welche der Kirche ihr architektonisches Gepräge gibt; und Jahrhundertechristlicher Geschichte, die in den Gräbern und Monumenten der Kathedraleihre Spuren hinterlassen haben. Trotz mancher bisher gewonnenen Einsichtenist die Patientin sich dessen durchaus noch nicht bewußt, in welchem Maßesie Religion zur Vergrößerung ihrer eigenen Person mißbraucht. Immer nochmöchte sie besser sein als andere Menschen und sich aus der Angst der Minderwertigkeit in eine erhobene Position retten.

Wenige Nächte später hat sie wiederum einen Traum, und dieses Mal istsie tief beeindruckt und beunruhigt. Mit einem schattenhaften Gefährtenbefindet sie sich in einem riesigen Schloß. Jemand verfolgt sie; sie eilt dieTreppen hinunter; der Verfolger ist ihr auf dem Fuß; angsterfüllt eilt sieschneller und schneller hinab, eine Treppe nach der anderen, um sich in denKellergewölben zu verbergen. Der Verfolger ähnelt einem Geistlichen; erist mit einem Mantel bekleidet; aber er ist kein gewöhnlicher Mensch, erist überlebensgroß; er sieht aus wie ein Engel.

So weit der Traum. Mir kamen die Cherubim in den Sinn, die mit zorniger Geste das erste Menschenpaar aus dem Paradiesgarten vertreiben. Indieser aus der Tiefe der Psyche aufsteigenden Figur des Engels erfährt diePatientin, vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben, eine numinose Gegenwart, und diese Begegnung ist schreckenerregend. Wovor sie sich lebenslanggefürchtet hat, und was sie lebenslang mit krampfhafter Anstrengung zuvermeiden versuchte, geschieht —: sie ist ausgestoßen, verworfen. Eine übermenschliche Autorität, in dem Engel personifiziert, verlangt gebieterisch, daß

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die Träumerin das Schloß verläßt — ein Gebäude, das viel zu umfangreichist, um ihr begrenztes individuelles Dasein zu behausen —und daß sie ihreeigene Kleinheit auf sich nimmt.

In der therapeutischen Arbeit haben wir esoft mit Menschen zu tun,die an Ich-Losigkeit leiden und deren religiöse Einstellung dadurchverhindert oder verfälscht wird. Die Symptome, die ein mangelhaftesIch-Bewußtsein kennzeichnen, sind allerdings vielfacher Art. In demeben besprochenen Beispiel sahen wir, wie ein Mensch, der in der infantilen Psyche gefangen geblieben ist, sich eine falsche Identität zulegt, indem er sich mit den Ideen und Idealen eines Kollektivs identifiziert. Nun gibt es Fälle, in denen derselbe Fehler in umgekehrterRichtung begangen wird. Dann identifiziert sich der Mensch nicht miteinem äußeren, sondern mit einem inneren Kollektiv. Das heißt, er lebtin einer mythischen Welt; sein Ich und seine Wirklichkeit sind vonden FigurendeskollektivenUnbewußten kaum zu unterscheiden. Solchein Mensch ist in der Regel psychisch stärker gefährdet als der eben besprochene Typ.

Hier ist das Beispiel einer Frau, die einen schweren Nervenzusammenbruch erlitt. Ihre Kindheit war überschattet von der Gestalt ihres Vaters.

Er war der Tyrann der Familie, von allen gefürchtet, vor allem von derMutter, die eine Art Schattendasein neben ihm führte. Er muß ein zutiefstunbefriedigter Mensch gewesen sein, unfähig sein männliches Erbe anzutreten, unfähig zu lieben. Es wäre eine gesunde Reaktion gewesen, wennseine Kinder ihn hätten hassen können. Meine Patientin tat das Gegenteil —teils aus Angst, teils getrieben von dem verzweifelten Bedürfnis nachirgendeiner Art von Beziehung mit dem Vater, teils aus angeborener intuitiver Einfühlungsfähigkeit. Sie fühlte sich so intensiv in die verborgeneTragik des Vaters ein, daß ihre eigene Lebensenergie davon aufgesogenwurde. Man könnte es auch umgekehrt darstellen. Unbewußt verlangte derVater so stark nach Mitleid und Liebe, daß er die keimende Weiblichkeitseiner Tochter usurpierte und in seine eigene Psyche hinabzog. Ein Vater,der Beschützer, der ein Träger der Kraft sein sollte, dem das aufwachsendeMädchen vertrauen kann, und ebenfalls ein Vermittler geistiger Werte — erwurde für seine Tochter zum verschlingenden Vater; nicht ein VorbildGottes, sondern eher des Teufels.

Es wäre nutzlos, einen solchen Menschen darüber aufzuklären, daß Gottein Ebenbild der Liebe ist. Erst muß die innere Lösung vom Vater erarbeitetwerden —oder genauer gesagt, die Befreiung von einem dämonischen archetypischen Vaterbild, welches die Kraft einer in sich selbst ruhenden Weiblichkeit verlangt, um erlöst zu werden.

Diese Patientin lebte zur Zeit in einer therapeutischen Gemeinschaft, welchein orthodox-anglikanischem Sinne geführt wird. Sie fügte sich, anscheinendohne Schwierigkeiten, den Gebräuchen des Hauses und nahm an den dortabgehaltenen Gottesdiensten teil. Aber eines Tages kam sie in großer Auf-

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regung zu mir. Es war Ostern. Die ganze Osterwoche hindurch hatte sie demTag für Tag sich entfaltenden Drama der Passion Christi beigewohnt. Undplötzlich war sie von Angst gepackt. Sie fürchtete, daß sie im Begriff stand,zu vergessen, wer sie war; technisch ausgedrückt: sie stand am Rande einergefährlichen Dissoziation. Es war, als wenn in der Gestalt Christi das Bilddes Vaters als hilfloses Opfer von neuem in sie einbrach und drohte, sieaus der Realität ihres eigenen Lebens, das noch so wenig gefestigt war, herauszureißen. Die Übermacht der unbewußten Bilder, ausgelöst durch daskirchliche Ritual, übte eine solche Faszination auf sie aus, daß sie beinahenochmals dem Wirklichkeitsbereich des Bewußtseins verlorenging.

Dies ist das Beispiel eines Menschen, für den in der gegebenen Situation Religion keine Heilswirkung hat, sondern psychische Gefahr bedeutet. Und zwar deshalb, weil - psychologisch ausgedrückt - die Libido dieses Menschen in überwiegendem Maße noch im Mythos gefangen liegt. Die übliche Ermahnung an den gläubigen Christen,„überlasse es Gott; unterwerfe deinen Willen dem Willen Gottes" wäreunangebracht, denn diese Frau muß erst dazu kommen, einen Willenzu haben, ein zureichendes Maß geformter Energie, damit sie der Versuchung widerstehen kann, sich ihres Eigenseins zu entledigen. Dieszu erreichen wird ihre Lebensaufgabe sein. Auch ist der vorgezeichneteWeg ein individueller. Denn auf Grund ihrer Lebensgeschichte scheintdiese Patientin dazu berufen zu sein, die furchtbare Antinomie desGöttlichen zu erfahren; es enthält die Gefahrdes Verschlingens, und eshat die Kraft des Heilens.

Ein letztes Beispiel. Dieses Mal handelt es sich um einen Mann, einenanglikanischen Geistlichen. Persönliche Probleme brachten ihn in die Analyse. Seine religiösen Überzeugungen waren niemals in Frage gestellt; das,was sich im Lauf der therapeutischen Arbeit veränderte, war seine persönlicheEinstellung zu ihnen, sein persönlicher Standpunkt.

Zwei Konflikte kamen zur Sprache, einer nach dem anderen. Zuerst mußtedieser Mann dazu kommen, sich von dem Ideal des vorbildlichen Priesterszu befreien. Ein solches Idealbild wird dem Geistlichen von so vielen Seitenvorgehalten und ganz besonders durch die Erwartungen und Projektionenseiner Gemeinde. In dem Maße, in dem er es erreichte, sich als den Menschen, der er war, zu akzeptieren, hörte er auf, sich darum zu ängstigen,ob er in den Augen anderer ein guter Priester sei oder nicht. Damit abergeriet er in den zweiten Konflikt. Eine Gruppe in seiner Gemeinde gingdarauf aus, ihn zu befeinden und ihm jede mögliche Schwierigkeit in denWeg zu legen. Indem er zu seiner eigenen Realität kam, enthüllte sich dieRealität der anderen, und Spannungen und Mißverständnisse waren dieFolge. Allmählich kam er zu der Überzeugung, daß er es auf sich nehmenmüsse, isoliert und mißverstanden zu sein —ja, daß gerade dies das Kreuzwar, das er tragen mußte, um das Vorbild Christi in seinem eigenen Lebenzu verwirklichen.

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Einmal bringt er den folgenden Traum: er steht in einer Erdmulde, in derein Rosenstrauch wächst. Er ist damit beschäftigt, die Rose energisch zurückzuschneiden. Außen, am Rande der Erdmulde, etwa in seiner Augenhöhe,stehen mehrere Leute aus seiner Gemeinde, und sehen seiner Arbeit erstauntund verständnislos zu.

Der Träumer ist ein verhältnismäßig unkomplizierter Mensch, direkt,offenen Herzens; es geht gegen seine Natur, Feinde zu machen — abergerade dies war es, was er hatte annehmen müssen, und was ihm zur innerenreligiösen Erfahrung wurde. Und dann, an diesem Punkte, antwortet dasUnbewußte mit einem „Mehr" —um William James' Ausdruck zu zitieren.Es gibt dem Träumer die Ehrenstellung eines Gärtners, der den Rosenbuschbeschneidet. Erforderlich dafür ist, daß ein Gärtner kundige Hände hat,denn er muß unbarmherzig in das planlos wuchernde Gesträuch eingreifen,damit der Busch seine Kräfte sammeln und die Pracht seiner Blüten hervorbringen kann.

Was ist nun dieses „Mehr", welches das Unbewußte dem Träumer zuspielt? Es liegt nahe, an die mystische Rose zu denken, jenes Symbol einesin sich vollendeten Gefäßes, aus welchem der Geist, der Buddha, der Erlösergeboren wird. Oder an jene berühmte Stelle des Johannes-Evangeliums, inder es heißt: „Ich bin der rechte Weinstock, und mein Vater der Weingärtner. Einen jeglichen Reben an mir, der nicht Frucht bringet, wird erwegnehmen; und einen jeglichen, der da Frucht bringet,wird er reinigen,daßer mehr Frucht bringe ..." (Joh. 15; 1,2). Es ist durchaus möglich, daß dasUnbewußte des Träumers auf diese Bibelstelle anspielt, mit der er natürlichvertraut ist, sie aber in eine andere Bildform umsetzt. Jedenfalls bezieht sichder Traum auf den individuellen Charakter und die augenblickliche Situation des Träumers. Dieser Mensch, der Intrigen und Selbstüberhebung inanderen nicht dulden kann, der deswegen im Konflikt mit seiner Gemeindesteht, der eine religiöse Auffassung zu verwirklichen strebt, die allen unbequem ist, und die ihnen verständlich zu machen ihm bisher nicht gelungenist —er setzt, im Traum, dem, was bloße Natur ist, Grenzen, damit es sichverwandeln kann. Er bereitet für die Zukunft vor; mehr kann er nichtleisten. Wann der Rosenbusch in der Schönheit seiner Blüten zur Vollendungkommen wird, liegt jenseits menschlicher Verantwortung.

Hier also weist das Unbewußte dem Träumer einen Ort an, an demsein begrenztes menschliches Bemühen eine überpersönliche, eine symbolische Bedeutung gewinnt. Indem er zu sich selbst kommt, begegnetdie Wirklichkeit seiner individuellen Situation der Wirklichkeit des

Transzendenten.

Und nun ein kurzes Schlußwort.

Manche Aussprache zwischen Vertretern der Religion und der Tiefenpsychologie scheitert daran, daß jeder sich in dem ihm geläufigenGedankensystem bewegt, oft dieselben Begriffe benutzend wie seinGesprächspartner - Begriffe, die jeweils in einen anderen gedanklichenRahmen gehören.

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Aus diesem Grunde habe ich versucht, so weit das im Rahmen einesReferates möglich ist, auf jene Vorstellungen und Vorausseteungenhinzuweisen, welche der Tiefenpsychologie Jungs ihren inneren Zusammenhang geben. Sie sollten als ein Ganzes gesehen werden, eheKritik oder Diskussion beginnen.

Die Befunde der Tiefenpsychologie erheben nicht den Anspruch, einAllheilmittel für die Notlage des heutigen Menschen zu sein. Ihre Bedeutung liegt in einer anderen Richtung: sie bringen etwas zum Ausdruck, was in die Zukunft weist; etwas, was eine neue Hoffnung enthält.

Jungs Einstellung zum Religiösen geht davon aus, daß der westlicheMensch unserer Zeit an der Schwelle einer nächsten Entwicklungsstufesteht. Die vorgetragenen wenigen Beispiele aus meiner Praxis bietenan sich keinen hinreichenden Beweis für eine solche gewichtige Annahme. Trotzdem glaube ich, daß sie symptomatisch sind. Sie weisendarauf hin, daß der heutige Mensch ein „Ich" haben muß, ein Bewußtsein seiner Identität - nicht nur um den Umständen seines Lebens gerecht zu werden, sondern ebenso sehr um eine Einstellung zum Religiösen zu finden, die für ihn sinnvoll ist. Ist aber ein solches Bewußtsein vorhanden oder erworben, dann ist die Möglichkeit gegeben, daßder Mensch das Transzendente als tragenden Grund seiner individuellen Existenz erfährt, so daß nicht nur sein eigenes Dasein, sondern auchdie Welt, an der er teil hat, in die großen Ordnungen der Natur unddes Geistes einbezogen ist.

Jungs Aufruf zur Bewußtheit stammt aus der Erkenntnis der unermeßlichen Untergründe der Psyche. Sie gefährden den Menschen, wenner sie ignoriert; sie geben ihm Größe, wenn er ihnen Beachtung zollt.Es kommt auf des Menschen bewußte Einstellung an, ob die einbrechenden Energien ihn überwältigen, oder ob sie ihn tragen werden.

Darum steht Jungs Religionspsychologie unter dem Prinzip derGegensätze. So wie er die Dinge sieht, wird das religiöse Phänomengleichermaßen säkularisiert. Das bedeutet allerdings nicht, wie es heuteoft verstanden wird, daß sorgsame Pflege menschlicher Gemeinschaftdie Beziehung zum Tranzendenten ersetzen könnte. Es bedeutet vielmehr, daß die metaphysischen Größen der Tradition als Funktionender Psyche erlebt und erkannt werden. Hier berührt sich Jung wiederum mit Joachim von Fiore. Auch in Joachims prophetischer Vorausschau wird zu einer Wirklichkeit auf der menschlichen Ebene, was zuvor als eine Wirklichkeit im Transzendenten verstanden war. Der Pro

zeß der Vermenschlichung eines zuvor im Göttlichen Enthaltenen ist

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vermutlich eine periodisch wiederkehrende Erscheinung in der Geistesgeschichte der Menschheit - eine Erscheinung, die immer dann hervorgerufen wird, wenn tatsächlich eine nächste Stufe der Bewußtseinsentwicklung sich vorbereitet. Für unsere Zeit besteht sie darin, daßbeides, das dämonische und das schöpferische Prinzip des Daseins nachdem Bewußtsein des Menschen verlangen, um sich in ihm zu versöhnen.

Als Letztes möchte ichmich auf einen Ausspruch Jungs über Joachimberufen, der auf Jung selbst anwendbar ist5. Joachim wie Jung warenergriffen und erfüllt von einem dunklen Drang des Zeitgeistes nachVerwandlung. Sie ließen diesen Ruf des Zeitgeistes auf sich wirken;sie rangen darum, seinen Auftrag zu verstehen und ihm Ausdruck zuverleihen, und eben dadurch haben beide, jeder in seiner historischenSituation, dazu beigetragen, ihn zu verwirklichen.

C. G. Jung, Aion, a. a. O., S. 129 f.

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AUSSPRACHE II

Professor Köberle: Ein starkes, waches Bewußtsein ist gewiß aufs höchstezu wünschen. Die beiden Vorträge von Dr. Beeli und Graf Dürckheim bestätigen uns aber aufs neue, daß ein solches Bewußtsein nicht durch Steigerungder Intellektualität zustande kommt, sondern durch Bereicherung und Auffüllung aus dem unendlichen Meer der Bilder und der archetypischen Mächtedes Unbewußten. Dadurch, daß sich das Gehirn zu intellektueller „Akrobatik" emporentwickelt, wird das Bewußtsein nur kälter, dünner und abstrakter, aber nicht reicher. Etwas anderes, das damit zusammenhängt, gingeindrucksvoll aus dem Vortrag vom Grafen Dürckheim hervor: Je rationalisierter ein Mensch in seinem Bewußtsein ist, um so dürftiger wird in seinemLeben das Offensein für den Reichtum der sinnlichen Erscheinungswelt, diezu uns einströmen möchte über das Schauen, Hören, Fühlen, Schmecken undüber den Tastsinn. Auch da besteht eine Korrespondenz: Je abstrakter, umso ärmer in der Fähigkeit, Sinnliches als Geschenk anzunehmen. Auch dasergibt eine Verarmung der menschlichen Existenz.

Vikar Dr. Beeli: In früheren Jahrhunderten haben bei uns viele Menschenin einer ähnlichen religiösen Ergriffenheit wie im Osten gelebt. Man fragtsich nun, wie kamen diese Menschen dazu, einen solchen Schatz untergehenzu lassen, dieses Gold gegen Talmi einzutauschen? Ist der Weg zu diesemSchatz so schwer, daß sich der Mensch aus lauter Bequemlichkeit abwendet?Oder verspricht die andere Haltung, die der Rationalität, vordergründigeinen greifbareren oder rascheren Erfolg, einen Reichtum, der verführerischist und verkennen läßt, daß etwas anderes weit gewichtiger ist. Das gilt fürjeden einzelnen, der immer wieder in der Gefahr ist, an den wirklich wesentlichen Dingen vorbeizugehen. Das gilt aber auch für ganze Epochen, fürganze Völker. Ich nehme an, daß auch in Japan etwas Ähnliches im Gangist. Es wäre sicher falsch, zu sagen, alle Japaner seien meditative Menschen.Das stimmt heute nicht mehr.

Dr. rer. nat. v. Hauff: Professor Bitter wies mich gerade darauf hin, daßman geneigt ist, das Rationale nicht richtig zu werten. Man sollte nicht vergessen, daß die Technik, die Beherrschung der Natur aus Kenntnis der Naturgesetze, zu etwas geführt haben, was wieder Freiheit verschafft. WolfgangKöhler sagte einmal vor über dreißig Jahren in einer Vorlesung: Die gutenPsychologen gehen uns verloren, weil sie Techniker oder Physiker werden.Er meinte damit, daß die menschliche Intelligenz nur eine bestimmte Möglichkeit hat, sich auszuschöpfen. Wenn in unserer Zeit Physik und Chemiein ihrer technischen Anwendung und damit auch die Medizin vordergründiggeworden sind, dann wird vieles andere zurücktreten müssen. Wir solltenbei allen unseren Überlegungen, die den einzelnen betreffen, nicht vergessen,daß wir die technischen Errungenschaften ausschließlich einer Gemeinschafts-

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arbeit verdanken und daß wir Eisenbahn, Auto und Flugzeug nicht entbehren möchten!

Professor Köberle: Dieses Schloß, in dem wir uns alle so wohlfühlen, istzweifellos auch dank seiner technischen Vollkommenheit ein so angenehmerAufenthaltsort. Gleichwohl würde ich zu dem, was wir eben gehört haben,hinzufügen: Wenn es gelänge, einmal die Techniker und Ingenieure für dieTiefenpsychologie zu erwärmen, dann würden sie vielleicht mit der MutterNatur etwas mütterlicher umgehen, als sie es im allgemeinen tun, und daswäre mir um der Mutter Natur willen willkommen.

Pfarrer Daur: Mir kam bei dem Vortrag von Mrs. Allenby eine Erinnerung an Carl Gustav Jung. Wie wir vor nun beinahe dreißig Jahren einmalin einem kleinen Kreis mit ihm zusammensaßen, fragte ihn jemand, wasdenn eigentlich die Aufgabe des Menschen sei. Die Antwort Jungs war überraschend. Er zitierte das Wort Jesu: Wenn Du weißt, was Du tust, so bistDu selig, wenn Du aber nicht weißt, was Du tust, so bist Du verdammt. Erwollte damit sagen, es komme darauf an, bewußt zu leben. Nun war mirdas damals, als ich mit Jungs Gedanken noch nicht so vertraut war, überraschend: ausgerechnet der Mann, den ich für den Anwalt des Unbewußtengehalten hatte, empfahl, bewußt zu leben. Mir ist seitdem immer deutlichergeworden, welch große Bedeutung auf den verschiedensten Gebieten dasvon Jung zitierte Jesus-Wort hat. Aber wie verhält sich das beides zueinander, der Rat, mehr zu hören auf das Unbewußte, die innere Stimme?

Pfarrer Seipolt: Ich bin katholischer Seelsorger und wollte an Herrn Professor Dürckheim eine praktische Frage stellen. In wenigen Tagen hat manals Seelsorger wieder vor dem katholischen „Fußvolk" und inmitten derLiturgie zu stehen. Gerade im katholischen Bereich gibt es in der Gemeindeeine Fülle von liturgischen Gebärden und Verhaltensweisen. Da stellt sichmir nun die Frage nach der Häufigkeit dieser Verhaltensweisen. Ist es nichtbesser, bei einzelnen wenigen Gebärden neu aufzubauen?

Dr. med Helene Roesli: Ich möchte Herrn Professor Dürckheim bitten,uns einen Übungsweg aufzuzeigen, um zur Großen Erfahrung gelangen zukönnen. Sie haben heute morgen von Grenzsituationen gesprochen, Not, Verzweiflung, Todessituation, in denen die Große Erfahrung spontan aufleuchtenkann. Dr. Beeli hat uns in seinem Vortrag berichtet, daß in genau denselbenSituationen religiöse Archetypen aus dem Unbewußten aufsteigen können. —Die zweite Bitte richtet sich nach einer präziseren Anleitung zur Einübungin die Leiblichkeit.

Renate Jutz: Wie kann jemand, der im Sinne von Professor Dürckheimoder von Jung eine persönliche religiöse Erfahrung im Traum oder im Wachbewußtsein macht, erkennen, ob es sich um eine echte Gotteserfahrung handelt? Gibt es ein Kriterium für die Objektivität dieser Erfahrung? Könntees nicht auch ein Bild des Teufels sein, was für ein Gottesbild gehalten wird?

Professor Mann: Die Psychologie, vor allem die Tiefenpsychologie, solltenicht müde werden im Rufen nach theologischer Bemühung um ihre Ziele.Das ist notwendig, weil der Theologe, der sich mit tiefenpsychologischenFragen beschäftigt, allzu leicht in eine gewisse Isolierung gerät.

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Aber nun habe ich noch eine ganz konkrete Frage, vor allem an die beiden Referenten Professor Dürckheim und Dr. Allenby: Was haben Sie fürWünsche und Forderungen an einen evangelischen Universitäts-Theologen?

Professor Köberle: Sicher muß auch einmal damit gerechnet werden, daßein Mensch vom Unbewußten her so überflutet wird, daß er Mühe hat, nochdie Steuerung seines Lebens in bewußter Verantwortung festzuhalten. Ichfinde immer, daß Hölderlin ein Musterbeispiel dafür ist. Für Hölderlinwaren Apollon und Dionysos, Demeter, Eleusis, Kreta, Olymp so übermächtige, selige Wirklichkeiten, also Wirklichkeiten aus dem unbewußtenRaum, der vom antiken Erbe her ins Abendland eingeströmt ist, daß er Mühehatte, als Hauslehrer in Frankfurt noch gleichzeitig sehr nüchterne Dingezu bewältigen. Aber C. G. Jung sagt mit Recht, heute ist die umgekehrteNot die viel größere, daß die Zahl der Menschen immer mehr zunimmt, diezwar verstandesmäßig und abstrakt reflektieren, die aber den Zugang zurWelt des Unbewußten abgeriegelt haben. Es beginnt dann zunächst mit einemseelischen Unbehagen und kann schließlich zur seelischen Erkrankung führen,weil die Verarmung, die Dürftigkeit auf die Dauer gar nicht aufzuhaltensind, wenn ausschließlich aus dem Bewußtsein heraus gelebt wird. Wir müssenimmer darauf achten, von welcher Seite her ein Mensch mehr gefährdet ist,von der Überflutung durch das Unbewußte oder von der Abriegelung gegendas Unbewußte. Das Letztere dürfte heutzutage die häufigere Gefahr undNot sein.

Dr. Dr. A. Inge Allenby: Bei mir in London trifft sich einmal im Monateine kleine Gruppe von Pfarrern, Psychologen und Menschen, die an beidenGebieten interessiert sind. Diese Gruppe hat viele Jahre zusammengehalten.Es hat ungefähr zwei bis drei Jahre gedauert, bis wir gegenseitig zu verstehen begannen, worüber wir sprachen; es hat ungefähr fünf Jahre gedauert,bis wir lernten, psychologische und theologische Begriffe in dem ihnen zugehörigen Rahmen zu handhaben; und erst jetzt fangen wir an, richtig zuarbeiten. Ich wünschte, es würden sich mehr Gruppen dieser Art zusammenfinden.

Professor Graf Dürckheim: Zum Thema: der Japaner. Natürlich sind „dieJapaner" weder bessere noch allesamt geistig erfahrenere Menschen als wir,aber sie haben eine geistige Tradition, in der die Reife eine größere Bedeutung hat als die Leistung und die Seinserfahrung eine größere Bedeutungals die religiöse Lehre. Und das interessiert uns. Ich bin überzeugt, daß wirin wenigen Jahrzehnten aber nicht mehr auf östliche Berichte über Seinserfahrungen zurückgreifen werden, sondern ganz selbstverständlich die eigenen Seinserfahrungen anerkannt haben werden — ohne, wie es heute nochder Fall ist, dadurch als „östlich" verdächtigt zu werden.

Professor Bitter bin ich dankbar, vor der Einseitigkeit einer Verurteilungdes Rationalen gewarnt zu haben. Es wäre auch unsinnig, einen Krieg gegendie Ratio schlechthin entfesseln zu wollen. Wir haben vielmehr stolz zu seinauf das, was sie uns geschenkt hat. Nur die Alleinherrschaft des Rationalenist die Gefahr, und wir müssen uns auch immer wieder fragen, was eigentlich der letzte Sinn alles Rationalen ist. Ich glaube, man sollte sagen: Dergroße Sinn der Ratio ist es, dem Nicht-Rationalen Räume zu schaffen.

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Ein Wort zum Thema Seinserfahrung und Begriff. Wir alle wissen, daßder Zugriff des Begriffes qualitatives Erleben stören und auch zerstörenkann. Das gilt ganz besonders auch für die Seinserfahrung, die ihrem Gehalt nach jenseits aller Begriffe ist. Und doch gibt es auch hier ein Begreifenin einem höheren Sinne, das etwas anderes ist als das Einfügen in dieOrdnung des gegenständlichen Bewußtseins. Es gibt ein Begreifen, darin dasErlebte zur vollen Klarheit dadurch kommt, daß es sich fühlbar einer lebendigen Ordnung des Herzens einfügt, und es gibt ein Begreifen in lebendigenBildern und symbolischen Formen, deren Gehalt nicht dem gegenständlichenBewußtsein, sondern der Ordnung des inständlichen Bewußtseins angehört.

Die Zeit ist heute, gerade weil sie die rationale Ordnung und Meisterungder Wirklichkeit bis an eine Grenze vorantreibt, in besonderer Weise reifgeworden, ernst zu nehmen, was jenseits dieser Grenze liegt. Wer öfters Gelegenheit hat, z. B. vor jungen Ingenieuren zu sprechen, kennt die ungeheure Sehnsucht und tiefe Aufgeschlossenheit, die sich bei ihnen den Problemen des inneren Lebens und gerade auch religiösen Grundfragen gegenüber findet. Und sie sind für den inneren Weg gewonnen, sobald sie verstanden haben, daß das Ernstnehmen der hier aufgehenden Wirklichkeit inkeiner Weise die Anerkennung jener anderen Wirklichkeit in Frage stellt,die der Ratio zugeordnet ist.

Zum Thema „Mündigkeit des Menschen": Mündigkeit bedeutet immer einAuf-sich-selbst-Stehen. Es gibt die unreife Mündigkeit, in der der Menschsich wirklich einbildet, völlig auf sich selbst zu stehen, während die gereifteMündigkeit ihr „Auf-sich-selbst-Stehen in der Welt" auf ein „Nicht-auf-sich-selber-Stehen gegenüber Gott" gründet. Die Vorstellung einer Unabhängigkeit in der Welt, losgelöst von aller Bindung an das göttliche Sein, gleichtder eingebildeten Vorstellung, „erwachsen" zu sein, die der Vorpubertäteignet. Der Mensch von heute befindet sich häufig in diesem Geisteszustanddes selbstsicheren Knaben. Es ist dies ein Zustand, der vor der erschütternden Begegnung mit der eigenen Tiefe in der Pubertät liegt. In der Zeit derersten Reife ahnt der Jugendliche auf dem Hintergrund erlebter Unganzheitdas Glück des Ganzwerdens. In der Sehnsucht zur Ganzwerdung im Einswerden mit dem anderen Geschlecht spürt er sein eigenes Wesen. So auchgeht der Menschheit von heute in der Sehnsucht zur Ganzwerdung auf demHintergrunde aller Einseitigkeiten und Zerrissenheiten das Organ zur Erfahrung der eigenen Wesenstiefe auf, und es bedarf nur eines nüchternenRealismus, um die Vernebelung durch die Ratio zu durchstoßen und dasfaktisch Erfahrene anzuerkennen.

Zur Frage von Pfarrer Seipolt, „Die Gebärde in der Liturgie", möchte ichsagen: Dem protestantischen Geist, der ganz auf die Spontaneität der Persönlichkeit gestellt ist, scheint alles eine Gefahr, was durch die ständige Wiederholung innerlich leer werden kann. Zweifellos liegt hier eine Gefahr vor.Hier besitzt der Osten eine überraschende Weisheit. Dort heißt es: Geradedas kann religiös lebendig werden, was einfach ist und wiederholbar; bleibtman dabei wach, dann kann man erfahren, daß gerade, weil das aufmerksame und alles steuernde Ich zurücktreten kann, jene existentielle Wachheitmöglich wird, die für die Präsenz aus dem Wesen kennzeichnend ist. Schauspieler und Musiker wissen davon etwas zu erzählen. Häufige Wiederholung

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kann zur leeren Routine verflachen. Sie kann aber auch die Voraussetzungdafür werden, daß eine tiefere Wirklichkeit hervortritt, weil im vollendetenKönnen das zu Tuende vom Ich befreit, transparent wird auf das Sein.

Zur Frage von Dr. Roesli nach der Großen Erfahrung und dem Verhältnis zur Leiblichkeit und zur Frage von Frau Renate Jutz nach den Kriterienfür die Gültigkeit der Großen Erfahrung. Es gibt zunächst eine Faustregelzur Antwort auf die Frage, ob man einer göttlichen oder teuflischen Machtbegegnet ist. Man frage sich danach,ob man durch dieBegegnung sich reicher,heller und wärmer fühlt oder aber ärmer, dunkler und kälter. Wo derTeufel im Spiel ist, wird Leben entweder verhärtet, versteinert und starr,oder es löst sich auf und verfault, oder aber drittens: Es erscheint im Menschen wie ein gleißendes Licht, er fühlt sich selber wie Gott.

Das Kriterium für die Echtheit der Seinserfahrung ist eine unverwechselbare Qualität des Erlebens, eine Transparenz bezeugende und erzeugendeStrahlung und ein verpflichtender Anstoß zu einer Verwandlung von Grundauf. Echte Seinserfahrung hat immer zwei Komponenten: die beglückendeErlösung vom Bann des fixierenden und haftenden Ichs und seinen Ordnungen und die Geburt eines neuen, eines absoluten Gewissens.

Zum Thema „Seinserfahrung und Gotteserfahrung": Daß jede Gotteserfahrung eine Seinserfahrung ist, duldet wohl keinen Zweifel. Wie weit manaber jede echte Seinserfahrung auch eine Gotteserfahrung nennen kann, isteine offene Frage. Ohne Zweifel muß heute an den Theologen die Fragegestellt werden: wo ordnet er die großen Seinserfahrungen ein, in denen derMensch angesichts der Vernichtung das Unvernichtbare, mitten im Widersinn einen allübergreifenden Sinn und mitten in der Verlassenheit tiefsteGeborgenheit erfährt? Die Menschheit von heute vollzieht auf breiter Fronteinen Schritt nach vorn, der sie befähigt, über allen Zweifel hinaus eineWirklichkeit zu erfahren, die, von seltenen Ausnahmen abgesehen, für einevergangene Generation nur in den Bereich des Glaubens gehörte. In diesemZusammenhang wird sich auch unsere Theologie in Zukunft positiver alsbisher damit befassen müssen, daß es Grade höchster Reife gibt, mit Bezugauf die andere Religionen ganz selbstverständlich vom Erleuchteten, vomErwachten, vom Eingeweihten sprechen. Es scheint mir auch gefährlich,wenn heute von theologischer Seite im Namen des Evangeliums grundsätzliche Bedenken gegen die Behauptung von Seinserfahrungen erhoben werden,nur weil diejenigen, die davon Zeugnis ablegen, sich scheuen, in jener Sprachedavon zu sprechen, deren exoterische Verhärtung häufig der wahren Seinserfahrung widerspricht oder im Weg steht. Eins aber ist gewiß, in einer Zeit,in der Millionen von Menschen in den Grundfesten ihres Glaubens erschüttert sind, zugleich aber voller Sehnsucht nach einer transzendenten Begründung ihres Lebens, ist es von ausschlaggebender Bedeutung, daß der Mensches lernt, die Erfahrungen ernst zu nehmen, in denen sich ihm sein weltüberlegenes Wesen und durch dieses hindurch das göttliche Sein offenbart. DieseErfahrungen sind an sich weder christlich noch buddhistisch, sie sind imtiefsten Sinne menschlich, das heißt, sie werden überall in der Welt demMenschen geschenkt, wo er an der Grenze seiner weltlichen Weisheit undKraft, wenn er sich dreingibt, über allen Zweifel hinaus das überweltlicheSein als Kraft, Gesetz und Liebe erfährt.

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PSYCHOTHERAPIE UND RELIGION

IN DER ÄRZTLICHEN PRAXIS*

von Wolfram Kurth

In dieser Woche wandelten wir oft gleichsam zwischen den Säuleneines Tempels in esoterisch-lichter Höhe eines „noetischen Oberbaues",um es mit dem Psychologen Philipp Lersch zu sagen. Es wird nun amSchlüsse notwendig, wieder herunterzusteigen in die Ebenen unsereskonkreten Menschseins, in die Praxis des Alltags, wo uns der leidendeMensch begegnet, der unserbedarf. In diesen Bemerkungen zur Psychotherapie und Religion in der Praxis des Arztes wollen wir von einergleichsam synoptischen Arbeitsweise ausgehen, in der die wertvollenSchätze der Schulen in dem Sinne verwertet werden: Prüfet alles unddas Gute behaltet. Gleichzeitig wollen wir versuchen, etwas von denBeziehungen zwischen Seelsorger, also Pfarrer, und Arzt-Psychotherapeut im Rahmen der gemeinsamen Aufgaben und Sorgen um diesenleidenden Menschen des Alltags zu sagen.

Die Grundsituation unsererTage - Verlust der Traditionen, Verlustbisher gültiger Werte und Leitbilder, die Fraglichkeit oder vielmehrIn-Frage-Stellung der Ideale, wachsende Unruhe und innere Unsicherheit, Kontaktarmut und gegenseitiges Mißtrauen, Skepsis und Enttäuschung, der „Verlust der Mitte", wie man es auch genannt hat - istdie Folie für die Psychotherapie unserer Zeit.

Die Kompliziertheit der Umweltverhältnisse, die sich daraus ergibt,ist geeignet, das Individuum vor oft unlösliche Komplexe zu stellen.Auch für den Arzt sind heute die Anforderungen größer und belastender, als noch vor fünfzig Jahren, und erst recht hat es der Seelsorgerschwer. In vier Abschnitte will ich im folgenden meine Ausführungenfassen.

1. Unsere Vereinigung hat sich das Ziel gesetzt, an einem Strang sozusagen ziehend, wenn auch von unterschiedlicher Fragestellung undverschiedenem Blickwinkel ausgehend und auf verschiedene Ziele hin

* Professor Dr. Dr. h. c. J. H. Schultz zum 80.Geburtstag in herzlich-dankbarer Verehrung.

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gerichtet, das Gemeinsame zum Wohl dieser Kranken herauszuarbeiten. Sie will ferner die Unterschiede, bedingt durch die beiden Berufe,Pfarrer und Arzt, darlegen.

Seit jehergehen die Menschen zumArzt. Bis vor fünfzig Jahren nochwaren es im wesentlichen konkrete, vor allem körperliche Beschwerden, die dazu Veranlassung gaben. Seit hundert Jahren oder wenigerwerden auch Kranke zum Arzt gebracht, die vorher oft im Narrenhaus zusammen mit Verbrechern in Ketten gebunden lagen. Es warendie Geisteskranken, gequält von ihren Wahnideen; jene, die man einJahrhundert vorher vielleicht als Hexen verbrannt hätte.

Die wachsenden Erkenntnisse der Wissenschaft von Mensch undTier, in den letzten hundert Jahren, besonders aber um die Jahrhundertwende erarbeitet, sind geeignet, das Individuum Mensch im Verhältnis seiner Mit- und Umwelt in neuartigem Sinne zu betrachten.Vor allem einem gelang es, die Erkenntnisse über das seelische Strukturbild grundlegend zu verändern: Sigmund Freud. Ohne seine Pionierarbeit wäre unser Tun am Menschen nicht vorstellbar.

Drei große Gruppen von Krankheiten, die den Nervenarzt angehen,werden seit langem unterschieden: 1. die psychotischen Ursachen, dieschon seit mehr als hundert Jahren ärztlich betreut wurden, 2. jeneuntereinander verschiedenartigen Gruppen der Psychopathen, die vorwiegend durch charakterliche Abseitigkeiten imponieren, und 3. diegroße Gruppe, deren Artung und krankhafte Verhaltungsweise dieDiagnose Neurose gestattet. Diese geht jedoch den Psychotherapeutenam meisten an. Es handelt sich hier um seelisch bedingte Verkramp-fungszustände, oft in körperlichen Störungen auftretend, basierendauf Traumen verschiedenster Genese, seien es akute, seien es langdauernde, deren zugrundeliegende Erlebnisse nur mangelhaft oderauch gar nicht verarbeitet wurden. Die bionomen Grundlagen (J. H.Schultz1) sind hier umfassend gestört.

So steht ein Mensch vor uns, zerrüttet, gequält, mit sich und derWelt uneins, oft am Rande der Existenz, unmittelbar vor dem Abgrund. Dieser Mensch nun ist es, um den sich die Psychotherapie bemüht, um ihm aus seinen Nöten und Fehlentwicklungen herauszuhelfen. Die Ursachen dieser Verkrampfungen können verschiedener Artsein. Zum großen Teil liegen sie, wie angedeutet, in der unbewältigtensozialen Vergangenheit oder Gegenwart, vor allem in Hinsicht aufeine mangelhafte Du-Begegnung.

1 J.H.Schultz, Bionome Psychotherapie, Stuttgart 1951.

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Aber auch nicht wenige dieser Kranken werden mit den Konfliktennicht fertig, die sich aus ihrer Einstellung zur Religion ergeben. Auchdies ist ein charakteristisches Symptom unserer Zeit, zumindest im angeschlagenen Europa. Es drückt sich bei vielen in einem Wankender religiösen Glaubenshaltung aus. Hinzu kommt, daß diese religiösen Fragen und Faktoren nicht selten auch mit sozialen verknüpft sind.Mit dem Zusammenbruch aller Werte, zuerst der materiellen, dannauch oft der ideellen, tritt für viele jene Öde und Leere im Glaubensleben ein, die als Folge der Vereinsamung und Trostlosigkeit und damit der Sinnlosigkeit des Lebens dieser Welt anzusehen ist.

Man müßte nun erwarten, daß ein derart Leidender sich um Hilfeund Rat an seinen Priester oder Pfarrer wendet. Und so war es auch

früher weitgehend. Daß es heute nicht mehr so ist, ist eine Tatsache;sie kann nicht im einzelnen Gegenstand dieser Erörterungen sein. Nurein Zitat aus dem Munde des internistischen Klinikers, meines LehrersRichard Siebeck, sei hier angeführt: „Heute ist die Heilkunde weitgehend säkularisiert, mancher sucht heute den Arzt auf, der früherzum Pfarrer gegangen wäre."

Es ist auch nicht Aufgabe dieser Ausführungen, festzustellen, wieweit sich nun der Pfarrer mit dieser Situation auseinandersetzen kann

und muß. Das ist Sache des Pfarrers selbst. Diese Verhältnisse zu klä

ren und die Kompetenzen abzustecken, ist jedoch Aufgabe unsererVereinigung.

2. Aus den oben ausgeführten häufigen Überschneidungen von sozial-menschlichen und religiösen Faktoren und auch aus der Tatsache,daß religiöse Probleme Quelle und Ausgangspunkt mancher erheblicher seelischer Krisen werden können (man denke z. B. an C. G. Jungoder an existenz-psychologische Betrachtungen), ist es zu verstehen,daß sich die verschiedenen psychotherapeutischen Schulen mit demVerhältnis neurotisch kranker Menschen zur Religion auseinandersetzen.

Die ursprünglich einzige und führende Bewegung im Rahmen derPsychotherapie, die Psychoanalyse, „stand sowohl dem Phänomen derReligiosität des Einzelnen als auch der kulturellen Bedeutung der Religion und schließlich dem Gottbegriff verständnislos gegenüber", wiedas Pflanz2 in seinem Handbuchaufsatz mitteilt. Die Gründe dafür

sollen uns hier nicht beschäftigen. Seit den Bemühungen Pfisters3 nach

2 M.Pflanz, Handbuch der Neurosenlehre und Psychotherapie, München1959, l.Bd., S.75ff.

3 O. Pfister, Das Christentum und die Angst, Zürich 1944.

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dem zweitenWeltkriegehat sich jedoch hierin einiges geändert. Daraufwies auch Kemper4 schon im Jahre 1947 hin. Auch er konnte sich denNöten vieler Kranker nicht verschließen, die früher mit ihren Sorgen,wie das schon Siebeck gesagt hatte, den Seelsorger aufsuchten. Jenepansexualistische Methode, wie sie von PiusXII. noch in derEnzyklikavon 1952, die Psychoanalyse abwertend, genannt wurde, ist überholt.

Bereits 1932 äußerte CG. Jung5 in einem Vortrag vor elsässischenGeistlichen, das tiefste Problem aller Patienten, die jenseitsder Lebensmitte ständen, sei das religiöse.

Daß heute die Begriffe von Schuld und Gnade in den Rahmen einerpsychotherapeutischen Behandlung eingebaut werden können, wärevor zwanzig Jahren noch nicht vorstellbar gewesen. (Ich erinnere hieran Bally6, Müller-Braunschweig7, Jores8, Herzog-Dürck9; letzterespricht von „Hadern mit Gott".) Und an anderer Stelle erkennt Jungdie Wurzeln der neurotischen Erkrankung im Unheilsein des Kranken,„daß er nämlich keine Liebe hat, sondern bloß Sexualität, keinen Glauben, weil ihn die Blindheit schreckt, keine Hoffnung, weil ihn die Weltund das Leben desillusioniert haben, und keine Erkenntnis, weil er seinen eigenen Sinn nicht erkannt hat" 10.

Erst mußte wohl der zweite Weltkrieg über uns kommen, um nunauch einer betont christlichen Therapie einen geeigneten Boden zu bereiten.

So sieht Heun denjenigen Therapeuten in einer guten Lage, nichtzuletzt zum Heil der Patienten, der „in der Gnade steht". Besondersist aber hier Frankl11 zu nennen, der nach dem Kriege seine ärztlicheSeelsorge im Sinne der Existenzanalyse begründete; die Logotherapieder dritten Wiener Schule setzt bei dem „neurotischen Daseinsmodus"als einem „Verfallenen", einem der Neurose anheimgefallenen Verantwortungsgefühl ein. Verantwortung haben „des Daseins", soll demneurotischen Menschen bewußt gemacht werden. Dabei bemüht sich im

4 W. Kemper, Die Seelenheilkunde in unserer Zeit, Stuttgart 1947.5 CG.Jung, Die Beziehungen der Psychotherapie zur Seelsorge, Zürich

1948.

6 G.Bally, in: Schweiz. Archiv f. Neurologie, 70, 1952.7 C Müller-Braunschweig, Prolegomena zum Grundriß einer praktischen

und theoretischen Tiefenpsychologie, in: Psyche I, 1947/48, S. 189ff.8 A. Jores, Der Mensch und seine Krankheit, Stuttgart 1956.9 J. Herzog-Dürck, Zwischen Angst und Vertrauen, München 1953.

10 CG. Jung, Psychologie und Alchemie, Zürich 1944.11 V. Frankl, Ärztliche Seelsorge, Wien 1952.

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Gegensatz zur Psychoanalyse, welche Triebhaftes bewußt machen will,die Existenzanalyse um die Bewußtmachung des Geistigen. Es gehtnicht um „Getriebensein", wie uns Frankl sagte, sondern um „Verantwortlichsein", um „die geistige Existenz".Diesegeistige Existenz reichtins Unbewußte hinab. An diesen unbewußten Wurzelschichten zeigtsich, daß Existenz in Transzendenz gründet. Die Existenzanalyseglaubt, daß der Mensch unbewußt auch viel religiöser ist, als er ahnt(in Anlehnung an Freuds These: der normale Mensch sei nicht nur vielunmoralischer, als er glaube, sondern auch viel moralischer, als erwisse).

Über die Abgrenzung der Psychotherapie von der Religion im Sinnevon FranklsLogotherapie ist noch später zu sprechen, jedoch soll schonhier gesagt werden, daß Frankl auch in der kranken menschlichenSeele Gott wieder aufrichten will (vgl. auch Kurth12). Von der Seelen-Heilkunde zu einer Seelenheil-Kunde zu gelangen, ist ein Ziel dieserBewegung, wie das früher schon Kunkel zum Ausdruck brachte.

3. Die Beziehung zwischen Therapie und Seelsorge hat mich seitjeher lebhaft beschäftigt. Sie fand ihren Niederschlag in meinem Buch„Psychotherapie in der Seelsorge", gemeinsam mit Bartning13. Dabeiist von vornherein auf bestimmte Unterschiede in der begrifflichenAuffassung von der Seele hinzuweisen. Unter Seele versteht der Seelsorger etwas anderes als der Psychotherapeut. Bartning sagt einmal,daß Psychotherapeut und Seelsorger nicht in Idealkonkurrenz stünden;sie handeln und meditieren in verschiedener Absicht, sie gehen jedenfalls von verschiedenen Absichten aus. Aber sie stehen in Realkonkurrenz, denn der Mensch in seiner Not ist für den einen wie für den anderen real identisch. Und die Erkenntnis, in der sich das Ringen undReifen im Dasein spiegelt, ist ebenfalls real identisch14. J. H. Schultzwarnt deshalb mit Recht vor den „Warenhaushändlern mit Konfessionoder gar Religionsersatz von der Stange".

Für den Seelsorger ist Seele, wie es bei dem in naturwissenschaftlichem Denken erzogenen Arzt verständlich ist, keineswegs nur „eineauf rätselhafte Weise erlebte Hirnfunktion" (J. H. Schultz). Seele istfür den Geistlichengebunden an Gott, oft im Sinne der negativen Bindung, nämlich einer Schuld. Der Mensch befindet sich im Stande der

12 W.Kurth, Leitfaden der Psychotherapie, München - Basel 1960, S.45ff.13 G.Bartning und W. Kurth, Psychotherapie in der Seelsorge, München

1964.

14 Ebd., S. 103.

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Sünde und ist dadurch von Gott getrennt. Der Sünder ist sich derSünde bewußt.

Hierin liegt, wie ich meine, ein grundsätzlicher Unterschied zumneurotisch kranken Menschen; denn dessen falsche, schicksalbedingteEntwicklung, die schließlich zur Krankheit führt, muß nicht ohne weiteres persönliche Schuld in sich schließen. Hier wird nicht gegen GottesGebot verstoßen, wie es der Sünder tut. Die Krankheit überfällt denMenschen ohne seinen Willen, wenn wir davon absehen wollen, daßbestimmte Kranke, z. B. Süchtige, doch vielleicht, wenn sie mehr Abwehr aufbringen könnten und wollten, nicht krank würden.

Das Hauptsymptom, welches aus Krankheit, Fehlhaltung und Sünde entspringt, ist die Angst. Sie ist so alt wie die Menschheit: „Warumverbirgst du dich, Adam?", heißt es schon in den Anfangskapiteln desAlten Testaments. Diese Angst belastet heute in zunehmendem Maßeunser gesamtes Dasein. Sie begleitet den Menschen durch sein ganzesLeben als integrierender Bestandteil menschlichen Daseins in der Welt,wie es Heidegger einmal ausdrückte. Die Ursache für die Zunahme derAngst in unseren Tagen erkannte Sdiottlaender in der „Abnahme derHerzenstemperatur". Der Mangel anKontaktfähigkeit treibt denMenschen in die Isolierung, Abkapselung und Vereinsamung. Und in seinem Alleinsein überfällt ihn nun die Angst.

Der Arzt sieht längst, daß die Schuld hieran vor allem das Kollektiv trifft, im Sinne der Gesellschaft ganz allgemein oder auch im Sinneder näheren Umgebung des Kranken, der Eltern oder Pflegeeltern,Großeltern, also dernahen Umwelt in derZeit. Die persönliche Schulddes Kranken ist, an dieser allgemeinen Schuld gemessen, oft nur geringoder gar nicht feststellbar.

Es erhebt sich nun die Frage: Welche Hilfen stehen dem Geistlichenfür das Seelenheil des sündigen Menschen zur Verfügung, undwie kanner sie einsetzen? Hier ist das Wort das Heil der Welt. Auch Christusbedeutet ja Logos, das heißt, im Wort gegenwärtige pneumatischeKraft. Diese spendet der Seelsorger (vgl. auch Allwohn)15, vor allemder katholische Priester, dank seiner Mittlerrolle, dem büßenden,reuigen Sünder Absolution zu erteilen. Allerdings hat der Beichte dieGewissenserforschung vorauszugehen, in ihr wird der Sündige zurBeichte reif. Bartning will Beichte im engeren Sinne und Beichtgespräch auseinandergehalten wissen und fordert gleichzeitig, daß dieevangelische Beichte nicht in dem Maß, wie es bei der katholischender Fall ist, überpersönlicheFaktoren betonen dürfe.

15 A.Allwohn, Das heilende Wort, Göttingen 1958.

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Grundsätzlich aber besitzt der Geistliche und noch mehr der Prie

ster mit der Beichte ein erhebliches Mittel an machtvoller Substanz,aus der dann die Kraft zur Hilfe erwachsen kann. So kann Beichte in

der Hand des Seelsorgers zum Heilmittel werden, und hierin wirdsozusagen der Priester zum Arzt.

Der Arzt ist in dieser Hinsicht nicht durch ein Amt gestützt. Er istbei der Art Beichtgespräch, wie er es durchführt, ganz auf sich selbstgestellt, ähnlich wie auch der protestantische Geistliche. Die Basis isthier das Vertrauen des Patienten zum andern, zum Mitmenschen, zumArzt und Helfer. Das Mittel der Wahl ist auch hier das Wort, welchesheilt und welches Berge versetzen kann.

Aber dieses heilende Wort ist nicht direkt Gotteswort, und hierindarf der Arzt nicht überfordert werden. Bewegen sich Religion undHeilkunst doch in verschiedenen Ebenen, obwohl man vom Arzt, soweit er Christ ist, erwarten kann, daß auch er des geistlichen Wortesmächtig ist. Aber das Ziel ist ein anderes, wenn auch beide, Arzt undPriester, den Menschen von seiner Angst befreien wollen. Der Arztjedoch bleibt im Diesseits stecken, der Weg zum Transzendenten istihm von seiner Wissenschaft her nicht ohne weiteres zugänglich.

4. Eine Tagung wie diese darf auch nicht bei den Prinzipien, in theoretischen Bereichen, im Rahmen allgemeiner Betrachtung enden, daswäre zu blutleer. Das Bild des kranken Individuums drängt immerwieder nach vorne und will bewältigt werden. Ganz kurz in diesemZusammenhang nur drei Beispiele, obwohl ich weiß, daß ihre Darstellung in der Kürze der Zeit nur eine fragmentarische sein und nureinige wesentliche Akzente betonen kann.

Ein achtzehnjähriges Mädchen wird vom Vater - der selbst langjähriger Patient war und dem seinerzeit geholfen wurde, woher seintiefes Vertrauen stammt - zur Sprechstunde begleitet. Dieses Mädchenscheiterte in seiner Existenz. Seit früher Kindheit wurde sie von Ängsten geplagt; ihre Lebensunsicherheit versuchte sie durch gemacht forsches Auftreten zu überkompensieren; sie fühlte sich von niemandemverstanden, vertraute niemandem, auch trug sie den Plan, sich dasLeben zu nehmen, seit Jahren mit sich herum und führte ihn schließlichaus. Voraus gingen mehrere Perioden einer intensiven, wie sie selbersagte, „Freßlust". Vorausgegangen waren auch, nachdem sie in derSchule scheiterte (als früher beste Schülerin) und mehr und mehr absank, mehrere Versuche, sich in einem Berufe durchzusetzen. Sie mißlangen. Kontaktschwierigkeiten wurden vordergründig. Als evange-lisdie Christin von ihrer Kirche nicht angesprochen, kam sie auf die

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etwas naive Idee, Nonne zu werden (sie würde in diesem Zustandals Novizin von keinem Orden aufgenommen werden). Sie suchte deshalb den katholischen Geistlichen auf, der ihr auch nicht weiterhelfenkonnte. „Was mich jetzt wieder davon abhielt, zum Priester zu gehen,ist folgendes: er hat damals, als ich mit ihm über meine religiösen Zweifel gesprochen habe, schon hilflos mit den Achseln gezuckt. Was würdeer jetzt tun, wo mein Fall noch wesentlich schwieriger geworden ist."Sie spricht vom Teufelskreislauf, in dem sie sich bewege und dem sienicht entrinnen könne, und sie entrann ihm nicht: der Suicidversuchwar echt, sie war sechs Tage bewußtlos. Sie bewegte sich monatelangin der Gefahrenzone, denn sie schaltete nach außen hin ab, wollte vonniemandem etwas wissen, wollte sich bewußt nicht aufschließen undwar tief von allen enttäuscht.

Hier stellt sich ein wirkliches Problem, an dem beide, der Psychotherapeut, aber auch der Seelsorger, fast verzweifeln können. Ein gewisser Ausweg lag im Faktor Zeit, wobei selbstverständlich die dringende Notwendigkeit bestand, um das Mädchen vor weiterem Unheilzu bewahren, vorsichtig tastend immer wieder an sie heranzukommen,in der Hoffnung, daß sie sich einmal erschließen würde. Die letztenSchwierigkeiten lagen hier übrigens in sexuellen Konflikten, die dasMädchen nicht lösen konnte. Die Freßlust ist als Ersatzbefriedigunganzusehen. Sie kam selbst darauf, wie sie in ihrem Tagebuch mitteilte.Daneben bestand eine gewisse Belastung im Sinne einer Depressionvon endogenem Charakter. Wenn hier jemand helfen konnte, dannmußte diese Hilfe vom Psychotherapeuten kommen. Schließlich besann sie sich nach Monaten und nahm von sich aus den Kontakt zu mirauf. Intensive vertiefte Aussprachen, später unterstützt durch autogenes Training, waren das Mittel der Wahl.

Ein zweites Bild: Ein ehemaliger Geistlicher, heute in einem sozialberatenden Berufe tätig, verzweifelte an seiner Umwelt in den kaumzu überbietenden, für ihn schauerlichen Erlebnissen während der französischen Gefangenschaft. Er war damals Schüler und stand vor demStudium; er studierte nach der Heimkehr Theologie auf Grund einerArt Gelöbnis, dabei auch aus echter Überzeugung. Er scheiterte ander Lehre der Kirche (Apostolicum usw.) und gab, schon ordiniert,nach langen Gesprächen mit seinen Oberen den Beruf des Pfarrers auf.Er ist in gewissem Sinne fanatisch, introvertiert, es gibt für ihn nur einEntweder-Oder. Er ist verheiratet, lebt aber in einer brüchigen Ehe.Er gerät oft in Erregungszustände, die sich dann in starken emotionalen Entladungen äußern, und hat somit auch im Beruf viel Ärger. Er

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wird mit seinen inneren Konflikten nicht fertig und versucht nebenberuflich einen Ausweg in einer sogenannten freikirchlichen Christengemeinschaft, um sich hier mit ähnlich Denkenden in den Fragen desGlaubens auseinandersetzen zu können.

Der praktische Arzt überwies diesen Mann, weil sich nun auchnoch verschiedene körperliche Störungen, Verkrampfungszustände,Potenz- und Schlafstörungen einstellten. Hier,bei diesem übrigens sehrintelligenten Patienten, wäre bloßer billiger Trost nicht möglich. Hierbedarf es des intensiven therapeutischen Gespräches; jedoch nicht imSinne der eigentlichen klassischen Psychoanalyse, sondern vorwiegendin dem Maße, geduldig und verständnisvoll zuzuhören. Auch hierüberschneiden sich die Territorien des Seelsorgers mit denen des Psychotherapeuten. Das letzte Wort hatte, nachdem der Zugang zum Seelsorger nicht mehr möglich war, der Psychotherapeut.

Ein letztes Beispiel, ebenfalls schwierig gelagert, bezieht sich wiederauf einen, allerdings noch jungen Theologen. Es handelt sich auch beiihm, um mit Schätzing zu sprechen, um eine ecclesiogene Neurose. Erhat die zweite Prüfung hinter sich und außerdem ein abgeschlossenesVolksschullehrerstudium. Unmittelbar vor dem Einsatz in die Praxis,vor der Kanzel, verzagte und versagte er. Auch hier sind es Glaubensfragen, Skrupel, die ihn schon lange belastet und nun vollendsan den Rand der Existenz getrieben haben. Mit Prügeln versuchteder pietistisch archaisch-fromme, dabei gutmeinende Vater den schonSechzehnjährigen zum Glauben zu erziehen; er bestrafte ihn, weil ereinem gewissen Gebetsritual nicht regelmäßig nachkam. Das damitverbundene seelische Trauma hat dieser Mann bis heute nicht verwunden. Er studierte nun aus einer Art Versündigungszwang heraus,in der Absicht, seinen mangelnden Glauben durch geistliches Wissenauszugleichen und damit sozusagen „hinter sich" zu kommen, wie dasnicht selten auch junge Menschen tun, die Psychologie studieren, weilsie meinen, nun bei sich selber klarer sehen zu können.

Dieser junge Mann hier findet nunnicht mehr aus noch ein. Infantil-neurotischeVerhaltensweisen - ein Sich-bergen-Wollen bei der Mutter,mit demkonkreten (nicht sexuell getönten) Wunsch, zu ihr ins Bett zukriechen - zeigen sich. Dazu kommt die Unfähigkeit zum Handelnoder sich durchsetzen zu können, auf dem Boden einer schizothym-introvertierten Persönlichkeit mit Neigung zu übertriebener Selbstbetrachtung und mit anderen, zu diesem seelischen Typus passendenSymptomen, z.B. einer Schlafstörung. Dabei zerredet er alles in einemübergroßen Mitteilungsbedürfnis, völlig egozentrisch, sich im Kreise

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um sich selber drehend. Er sucht dann auch noch Anschluß - ausdem Verlangen nach einer gewissen Weltflucht - zu der etwas esoterischeingestellten Lebensgemeinschaft der Brüder von Taize oder ähnlichen,auf christlichem Glauben begründeten Konventen, um hier endlichRuhe vor dem ewigen Getriebensein zu finden.

Ein mehrmonatiger analytischer Versuch durch einen Kollegenschlug restlos fehl. Der Zustand wurde schlimmer. Diesen Nötenkonnte der streng analytisch vorgehende Therapeut nicht abhelfen.Der Pfarrer reicht hier aber auch nicht aus, obwohl vorübergehenderTrost möglich ist. Seine geistlichen Freunde bemühen sich sehr um denPatienten, wenngleich grundsätzlich der Zustand nicht gebessert werden konnte. Auch hier bedurfte es vor allem des geduldigen Zuhörens.Dieser junge Mann mußte die Möglichkeit bekommen, alles, was ihnakut bedrängte, abzuladen; diese Möglichkeit hatte ihm, wie gesagt,der Analytiker nicht gewährt, denn er beschäftigte sich lediglich mitden die frühe Kindheit dieses Mannes angehenden Träumen. Gleichzeitig war aber auch eine ganz aktive praktische Führung mit festerHand notwendig, die ihn in eine seinem Niveau entsprechende konkrete, geregelte Arbeit einspannt, im Sinne von „des Dienstes ewiggleichgestellter Uhr". So wird er gezwungen, von sich selbst loszukommen, von seinen eigenen Problemen und Nöten, weil er sich mitdenen des Andern, des Nächsten, auseinanderzusetzen gezwungen ist.Schließlich ist hier nicht zu vergessen, daß der schwere körperlicheErschöpfungszustand, der bei ihm zusätzlich vorlag, praktisch ärztlichdurch entsprechende roborierende Medikation gestützt werden mußte.

Auch dieser Fall der Praxis, wie die beiden anderen, ist kein glattaufgehendes Schulbeispiel aus dem Lehrbuch. Auch hier tut sich dietiefe Problematik an einem beruflich glänzend fundierten, hochintelligenten Menschen auf, der vom Intellekt her alle Voraussetzungen mitbrächte, um in seinem Beruf Hervorragendes zu leisten, der aber trotzdem scheiterte, weil er im eigentlichen Grunde seines Seins getroffenwurde und bisher niemanden fand, von dem er meinte, er könne ihnverstehen.

Was ist also zu tun: Seelsorger und Psychotherapeut müssen wissen,wo generell ihre Grenzen liegen, wieweit die Felder gegenseitig abzustecken sind, und sie müssen auch über die Überschneidungen ihrerGebiete Bescheid wissen. Beide bemühen sich, Konflikte zu beheben.Aber wesentlich ist, zu erkennen, daß die Ursachen selbst vom verschiedenen Blickwinkel aus angeleuchtet werden müssen. Schuld imgeistlichen Sinne bedeutet nicht Krankheit, und Absolution ist keine

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Therapie, mag in beiden auch ein heilsamer Faktor liegen, weil durchdie Entlastung Befreiung eintritt.

Das Gemeinsame beider Berufe liegt in der Menschen-, der Seelenführung - mit dem Ziel der Hilfe. Psychotherapie bringt, wieeingangsangeführt, heute weitgehend Verständnis für die Belange des Glaubensund die Schwierigkeiten und Skrupel auf, die aus einem vertieften,übersteigerten Glaubensleben erwachsen können. Der Psychotherapeutmuß dafür ein Organ haben.

Darin liegt somit ein Gemeinsames beider Berufe, dem des Seelsorgers und dem des Psychotherapeuten. Allerdings sagt Frankl mitRecht, wer die Therapie zur Ancilla der Theologie zu machen versuche, wer also die Psychotherapie vermagden wolle, der raube ihrmit der Forschungsfreiheit nicht nur die Würde einer selbständigenWissenschaft, sondern nehme ihr auch den möglichen Nutzwert, densie für die Religion haben kann. Je weniger sich die Psychotherapiedazu hergibt, dieDienste einer Ancilla zu leisten, umsogrößer werdenihre Dienste ausfallen, die sie der Theologie tatsächlich leisten wird.Man muß nicht Magd sein, um dienen zu können.

Im einzelnen ist Beichten kein Bestandteil der Analyse. Und Pfister,der an sich selber gerade die Parallelität beider Berufe erstrebte, weistauf sehr deutliche Unterschiede hin: Jesus stellt das Heil der Seelenüber die Krankenheilung. Die neutestamentalische Seelsorge will geistliche Güter vermitteln mit dem Ziel der Erlösung von Sünde undSchuld. Die Psychotherapie hingegen will lediglich von Hemmungenauf dieser Welt befreien.

Trotz der Feststellung, daß unser Wissen Stückwerk ist, ist zufordern und zu erstreben, daß beide Berufe, wenn auch verschiedenenZielen zugewandt, letztlich doch gemeinsam an der Aufgabe arbeitenmüssen, den, der sich ihnen anvertraut, auf ihre Weise zu befreienvon Angst, möge sie auf Schuld beruhen oder auf nicht schuldhafterBelastung und Fehlentwicklung. Oft reicht das Gespräch, das ärztlicheoder geistliche, allein nicht aus. Ganz praktische Belange rücken vielmehr sehr häufig in den Vordergrund. Viele Register sind hier zuziehen. Nicht zuletzt deswegen sind für die Praxis und den Praktikerdie sogenannte kleine Therapie, das explorativ-vertiefte analytischeGespräch, sowie die Suggestiv-Methode des autogenen Trainings undder Hypnoseso wichtig. Bei der Rand- und oft auch der Schichtneuroseim Sinne von J. H. Schultz reicht sie meist aus16. Vor allem aber hat

J.H.Schultz, a.a.O.

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hinter jeder Therapie, der großen analytischen sowie der sogenanntenkleinen - und das scheint mir doch sehr wesentlich zu sein -, die Persönlichkeit des Therapeuten zu stehen. Dessen Qualitäten sind allerdings nicht aus dem Lehrbuch allein zu beziehen.

Um die Kompetenzen gegenseitig abstecken zu können, sind Kenntnis über und Verständnis für die beiderseitigen Belange von Arzt undSeelsorger nötig. Das jedoch kann man lernen, und dazu sind wirhier. Von dieser Erkenntnis aus helfen wir uns gegenseitig aus demDilemma, in gemeinsamer Arbeit wird dann Seelen-Heilkunde zurSeelenheil-Kunde.

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AUSSPRACHE III

Dr. med. Speer zum Vortrag von Dr. Kurth: Ich bin Herrn Dr. Kurth sehrdankbar, daß er in seinem Vortrag so klar die heutige Situation der Psychotherapie aufgezeigt hat. Als praktischer Nervenarzt und Psychotherapeutmöchte ich auch bitten, daß zwischen Seelsorge und Psychotherapie deutlichunterschieden wird. Wenn wir die Religion so verstehen, wie dies PfarrerDaur in seiner Ansprache am Anfang der Tagung getan hat, so verstehe ichunter Seelsorge die innere Führung des Menschen von der Stufe der Kultreligion zum pneumatischen Leben. Diese Führung der inneren religiösen Entwicklung des Menschen gibt es. Auch bei dieser Entwicklung treten nun innereSchwierigkeiten, Ängste und Nöte auf; diese Ängste und Schwierigkeiten sindaber nicht neurotisch, sondern normal und notwendig. Ich habe hier im Gespräch von Theologen gehört, daß eine Seelsorge in dem von mir erwähntenSinne nicht möglich und auch nicht wünschenswert sei, und daß Menschen mitinneren Schwierigkeiten zum Psychotherapeuten gehen müßten. Diese Ansichterscheint mir schief und hat ihren Grund wohl darin, daß es eine Seelsorgeim Sinne einer Führung der inneren religiösen Entwicklung des Menschenheute kaum noch gibt. Die Möglichkeit zu einer solchen Führung ist aber gegeben. Sie liegt in der Mystik. Ich möchte unsere Theologen herzlich bitten,sich doch von dem Vorurteil freizumachen, daß Mystik etwas Unklares, Verschwommenes, Phantastisdies ist. Mystik ist Wirklichkeit, die stärkste Wirk-lidikeit, die es gibt, eine noch viel stärkere Wirklichkeit als das sogenanntemenschliche Unbewußte. Und Mystik fordert größte Nüchternheit und geistigeZucht. Mögen unsere Theologen Mystiker werden! Dann wird es wieder eineSeelsorge geben, die dazu beiträgt, daß das innere Licht im Menschen leuchtet.Dann wird die Psychotherapie gerne die Magd der Theologie sein, indem sieihr hilft, lege artis beim Menschen Verdrängtes bewußt zu machen, das nachAlter, Lebenssituation und Geschlecht bewußt sein sollte.

Dr. med. Reuter: Eigentlich hat Herr Dr. Speer das vorweggenommen, wasich sagen wollte. Es hat mich besonders an dem Vortrag von Herrn KollegenKurth gefreut, daß das Autogene Training erwähnt wurde. Sie ahnen garnicht, wie gerade das Thema der Meditation auch uns Ärzte angeht. Auf dereinen Seite verleiht das Autogene Training dem geübten Arzt das reale Erlebnis psychosomatischer Zusammenhänge und damit Umschalt-Möglichkeiten.Obwohl „nur" meditativ, also in der Vorstellung erzeugt, sind die Ergebnisseim klinischen Versuch meßbar (thermisch, plethysmographisch und elektro-kardiographisch). Auf der anderen Seite macht das Autogene Training dieleibseelische Repräsentanz des analytischenReifevorganges wie alles schicksalhaften Daseinserlebens erkennbar. Darüber hinaus macht Professor J. H.Schultz in seiner Oberstufe Hinweise auf sich aus der Integrierung der sechsGrundübungen ergebenden Erlebensweisen echter Mystik (unter energischerAbweisung alles verworrenen Mystizismus).

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Ich habe gestern in meiner Gruppe beglückt erlebt, daß die analytischePsychologie C G. Jungs und die meditativen Methoden in einem Punkt sichfinden. Denn was in der analytischen Psychologie fühlbar wird, ist schließlichdasselbe, was wir im Autogenen Training rein übungsmäßig anstreben, nuidaß die tieferen, wie die Yogis sagen, feinstofflicheren Aspekte bis zu dengeistigen Aspekten hin mit erfaßt werden. Um in der Meditation etwasweiterzukommen, möchte ich gerne den Weg des Grafen Dürckheim kennenlernen. Aber ich warne davor, verschiedene Meditationsmethoden interferieren zu lassen. In der Interferenz verschiedener Methoden kann es nämlichleicht zu störenden Impulsen, zu Dissoziationszuständen kommen, so daßnachher der Psychiater das Wort hat. Das Autogene Training von HerrnJ. H. Schultz erzielt meßbare Ergebnisse, zum Beispiel Temperaturveränderungen.

Dr. med. Wrage: Der Psychotherapeut spielt in der Gesellschaft zahlenmäßig keine große Rolle. (Professor Bitter: in Deutschland werden ca. 3000Analytiker benötigt, nur ca. 300, und diese von verschiedenen Schulen undRichtungen, sind vorhanden.) Er ist aber ein gesellschaftlicher Faktor wegendes Gewichtes seiner Aussage.

Die dringend notwendige Zusammenarbeit von Arzt und Seelsorger stehtmeines Erachtens in Gefahr, sich an Hand von Fall-Darstellungen zu zerstreiten. Ich habe deshalb die Bitte, daß wir uns in einem so großen Gremiumwie diesem, wo die Fall-Darstellungen viel zu knapp sein müssen, ihrer möglichst ganz enthalten, weil wir sie nicht nach allen Gesichtspunkten durchdiskutieren können.

Für den Fachmannbietet das, was in einemReferat zur Illustration gebotenwerden kann, viel zu wenig; für den analytischen Laien besteht aber die Gefahr, daß er aus den wenigen Fakten Schlagworte ableitet.

In diesem Zusammenhang möchte ich auch darum bitten, Schlagworte, wiezum Beispiel das der „ecclesiogenen Neurose", grundsätzlich vorsichtiger zuverwenden. Wir klassifizieren damit viel zu sehr und sollten uns viel eherbemühen, behutsamer miteinander umzugehen. Dann können wir auch mehrvoneinander lernen.

Professor Lüthi: Ich möchte mich ganz kurz mit dem Aufruf auseinandersetzen, die Theologen sollten Mystiker werden, weil mir das ein sehr wichtigesThema gerade in diesem Kreis zu sein scheint. Dieser Aufruf steht mir sehrnahe, er ist ein Stück weit durchaus berechtigt, weil die Theologie, und zwarvon der Offenbarungs-Theologie bis zur hermeneutischen Richtung, diesendritten Strom, die Mystik, vernachlässigt hat. Ich möchte also dem Aufrufgrundsätzlich recht geben. Aber ich möchte auch die Gnostiker und Mystikerbitten (und das ist zugleich mein Aufruf an die Theologen), eine Mystik imRäume des heutigen Weltbildes zu entwickeln und sie nicht jenseits diesesWeltbildes und seiner Strukturen anzusiedeln. Dazu ein ganz kurzer Hinweis: Es gibt moderne Künstler, sagen wir etwa Kandinsky, die man nurmystisch verstehen kann. Ich würde sagen, Kandinskys Bilder sind weltlicheIkonen. Es sind Ikonen für den Menschen von heute, durch die er einen Weggeführt wird innerhalb heutiger weltbildhafter Strukturen und nicht außerhalb derer. Oder nehmen wir geometrische Probleme. Auch Mathematiker

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können einem plötzlich irgendein Problem in einem mystischen Vokabularerklären, und auch hierin ist unsere Zeit enthalten. Das beste, das wichtigsteBeispiel scheint mir die Idi-Du-Philosophie von Martin Buber zu sein, die soviel Widerhall auf allen Gebieten, nicht nur in Psychologie und Kunst, gefunden hat. Unser ganzes personales Zeitalter können wir mit dieser Philosophie erhellen. Und diese Ich-Du-Philosophie ist undenkbar ohne den mystischen Hintergrund des Chassidismus und letztlich der Kabbala. Durch Buber,durch das dialogische Denken wurde er verbunden mit den Strukturen desheutigen Weltbildes. Ich möchte zusammenfassen: Weder esoterische Mystik,noch sakrale, sondern „profane". Gott nicht oben, sondern in der Person, imGegenüber. Jede Zeit hat ihre Mystik, aber sie muß in Zusammenhang gebracht werden mit unseren Strukturen, sonst kann sie uns nicht helfen.

Dozent Dr. med Kurth: Wir beide, Pfarrer und Ärzte, sollten in aller Anerkennung der Aufgaben, die von verschiedenen Aspekten kommen und auchzu verschiedenen Zielen führen, uns bewegen. Mit den ecclesiogenen Neurosen ist es nicht so schlimm. Auch wir Ärzte, die wir in unserer Personaunter der Last der Aufgaben erdrückt werden, könnten bei uns wahrscheinlich entsprechende neurotische Symptome finden. In der gegenseitigen Hilfeund Ergänzung können wir das erarbeiten, was unserem Kranken zum Bestendient. Er vertraut sich uns Ärzten an, wenn er von seiner laienhaften Sichtaus meint, ihm müsse vor allem körperlich geholfen werden. Er weiß nicht,daß hinter dem Körperlichen ja meist viel mehr steckt. Wir Ärzte sollen, wennwir auch das nicht immer bekennen müssen, jene Haltung ausstrahlen, die mitviel Takt und viel Zurückhaltung den Kranken wissen läßt, daß er auch ineinem höheren Sinne, in einem religiösen, transzendenten Sinne verstandenwird, wenn er verstanden sein will.

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BERICHT ÜBER GRUPPENAUSSPRACHEN

Pfarrer Messer (Gruppe 1): Herr Laiblin hat uns aus der Sicht des Psychotherapeuten in die religiöse Krise Einblick gegeben. Sie ist verursacht durcheinen Verlust an religiösen Symbolen, die ihre Wirkkraft verloren haben,besonders auchdadurch, daß sie in der Kirche entsymbolisiert wurden. Er hatuns an den Beispielen der katholischen Kirche, der Messe, der Trinität undder anderen Symbole gezeigt, daß durch die Tiefensicht der PsychologieC. G. Jungs diese Symbole wieder religiöse Kraft für das christliche Lebenbekommen können. Zweitens bedeutet dieser Symbolverlust eine Loslösungvon der Gemeinschaft, nicht im soziologischen Sinn, sondern als Verbundenheit mit den großen gemeinschaftstragenden Kräften. Dadurch ist der Menschin eine Isolierung geraten. Eine Überwindung der religiösen Krise bestehtdarin, daß man zu dieser Gemeinschaft, zu diesem gemeinsamen Ganzen zurückkehrt. Die Gewinnung des Verhältnisses zu der Gemeinschaft erlangt mandurch den Gang in die Tiefe, besonders deutlich gemacht durch eine tiefenpsychologische Erklärung der Märchen. Wir erfuhren, wie die Märchen verschiedener Zeiten, auch verschiedener Völker, die völlig unabhängig voneinander entstanden sind, dieselben Sachverhalte, dieselben tiefenpsychologischenErkenntnisse bringen; so zeigen zum Beispielunsere Märchen von Frau Holle,vom Aschenbrödel und Märchen aus der Südsee dasselbe. Besonders für dieTheologen ist es wichtig, daß wir auch für das Neue Testament von diesemGang in die Tiefe sehr viel gewinnen können. Wenn ein Mensch in die Tiefeseines Wesens zu den „Müttern", zu den mütterlichen Symbolen hinabsteigt,wird er wieder fähig, das Neue Testament mit anderen Augen zu lesen, so daßer auch seinen Glauben wieder ergreifen kann. Man darf natürlich mit denJungschen religiösen Symbolen, den Allegorien und Gleichnissen nicht alleVorgänge des Neuen Testaments erklären wollen. Für mich war es gewinnbringend, zu erfahren, daß Menschen durch diesen Gang in die Tiefe wiederzum Neuen Testament geführt werden können.

Theodor Glantz (Gruppe 2): In der Gruppe 2 tauchte die Frage nach demVerhältnis des gläubigen Christen zur Psychotherapie auf. Ich möchte ausmeiner psychotherapeutischen Erfahrung heraus versuchen, auf diese heikleund auch sehr wichtige Frage Antwort zu geben. Für den gläubigen Christenist der erste Gang zum Psychotherapeuten oft außerordentlich schwer. Derwohlgemeinte Titel einer kleinen Broschüre sagt: Leg deine Nerven in GottesHand. Das ist leichter gesagt als getan. So gewiß unser Herr außerordentlicheHilfe in seelischen Nöten geben kann und will, so hat doch der Tröster, wieLuther den Heiligen Geist nennt, seine natürlichen Grenzen, und zwar inErbfaktoren des Menschen, in psychischen Fixierungen, allgemein in neurotischen Verzerrungen. Wer dazu etwas Näheres wissen möchte, sei verwiesenauf ein kleines Büchlein von Dekan Theodor Haug „Wirkungen des Heiligen

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Geistes heute". Die Grenzen des Heiligen Geistes resultieren nicht etwa ausseiner mehr oder weniger großen Ohnmacht, sondern beruhen wohl auf einerkaum faßbaren, liebenden Wertschätzung des Schöpfers für jedes seiner Geschöpfe, wie verquer es auch sein möge in Geist, Seele und Leib. Etwas vondieser eigentümlichen Behutsamkeit wird mir jedenfalls immer wieder deutlich an dem Offenbarungswerk Jesu: Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfean. So jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftun, zu dem werdeich eingehen ...

Eine zweite sorgenvolle Frage lautet, ob der Psychotherapeut auch gläubiger Christ ist. Diese Frage ist falsch gestellt. Wenn man krank ist, fragt manwahrscheinlich auch zuerst: Ist der Arzt, zu dem man gehen möchte, tüchtig?Die Frau, die ihren Stoff zur Schneiderin bringt, fragt auch nicht: Ist daseine gläubige Schneiderin, sondern sie fragt: Kann sie etwas? Merkwürdigerweise fragt man beim Psychotherapeuten, mit dem man sich ja nicht verheiratenwill, ob er ein gläubiger Psychotherapeut sei. Man sollteden Psychotherapeuten nicht dadurch überfordern, daß maneinen Glauben von ihmverlangt, den er sich nicht erarbeiten kann, der ihm nicht auf wissenschaftlichemWege zukommt, sondern doch allein aus Gnade. Der Psychotherapeut, derseine persönlichen religiösen Auffassungen abseits vom Glauben der christlichen Gemeinde vertritt, muß deswegen kein schlechter Psychotherapeut sein,und der Psychotherapeut, der sein religiöses Konfessionsschildchen aushängt,muß deswegen noch kein guter Psychotherapeut, kein vertrauenswürdigerSeelenführer sein. Der Glaube der Bibel ist ein von Gott gewirktes Ereignis,das jedem Menschen, ob reif oder jung, neurotisch oder analysiert, zuteil werden kann. Man erinnere sich an die Geschichte vom Schriftgelehrten Gamaliel,Apostelgeschichte 5: Glaube an Christus kann nicht weganalysiert werden.Wenn gläubige Christen eine Angst spüren, das könnte doch geschehen, dannüberschätzen sie die Möglichkeiten des Psychotherapeuten. Analysiert werdenkönnen und müssen die Glaubensäußerungen, nicht die Glaubensinhalte.

Dr. med. Wrage (Gruppe 3): Unsere Aussprache, an der Graf Dürckheimteilnahm, stand unter dem Eindruck seines Referates. Wir begannen mit derDiskussion über das Wörtchen „und" in der Überschrift unserer Tagung undstellten fest, daß die Psychotherapie, die der Bewußtseinserhellung, der Ver-fügbarmachung des Unbewußten dient, das Ziel der Religion oder vielmehrder Religionsgemeinschaft, zur Heiligung des Lebens zu führen, nicht erreichenkann.

An Graf Dürckheim wurden ferner folgende Fragen gestellt:a) Was ist Zen? — Zen muß verstanden werden wie ein Paradox. (Beispiel:

die smaragdene Felswand.)b) Wo sind die Übungen, die Graf Dürckheim uns im Referat andeutete, in

Deutschland zu vollziehen? Außer in Todtmoos nirgendwo.c) Frage nach dem Yoga. — Hierbei ist größte Vorsicht geboten, denn das,

was in Deutschland und der westlichen Welt an Yoga geboten wird, gehtmeist nicht auf die eigentliche Situation des Patienten ein, sondern versucht, durch Leitgedanken und Leitmotive zu beeinflussen, ohne die eigentliche psychische Situation des Patienten zu berücksichtigen.

In einem weiteren Gesprächsteil wurde die Frage nach der religiösen Er-

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fahrung im Christentum gestellt. Wir waren uns einig, daßvon der Theologiegefordert werden sollte, mehr tiefenpsychologische Erkenntnisse in ihrer Anwendung wirksam werden zulassen. Wir meinten, daßeine „Methode religiöser Erfahrung" dem Christentum fehle.

Einweiterer Diskussionspunkt war die Frage, wie weit die Ich-Entwicklungerst abgeschlossen sein muß, bevor eine ethische Erziehung möglich wird. —Wirkamen zu der Auffassung, daß eine ethische Erziehung nur aus dem Sein(im Sinne C.G.Jungs), also aus einer vollendeten Entwicklung des Menschenheraus möglich ist. Wenn vorzeitig eine ethische Erziehung angestrebt wird,könnte es zuFehlentwicklungen kommen. Das Problem, im Zusammenhang stehend mit der Gewissensbildung des Kindes und Jugendlichen, wurde nicht zuEnde diskutiert und sei als offene Frage aneine spätere Tagung weitergegeben.

Vikar Dr. Beeli (Gruppe 4): Professor Ulrich Mann hat die Frage aufgeworfen, wann beginnt eigentlich die Seele des Menschen? Er führte die dreiHauptauffassungen an: die Seele sei etwas Präexistentes, in das der Menschgewissermaßen hineintritt; die Seele werde imMoment der körperlichen Zeugung von Gott geschaffen; und die Seele werde vererbt oder weitergegebenvondenEltern an das Kind. Andererseits wird die Auffassung vertreten, daßder Mensch erst zum Menschen werde im Ich-Du, im Umgang mit dem Menschen, vor allem mit der Mutter. Von ihm und von anderer Seite wurde mitRecht auf die Konsequenzen ethischer und juristischer Art hingewiesen, etwabei der Frage: Darf man und gegebenenfalls bis wann darf man ein werdendes Menschenkind abtreiben? Vielleicht könnten drei Schulen der Psychotherapie etwas dazu sagen, und zwar nicht in Gegensatz, sondern in An-gleichung an die drei Auffassungen. Die Psyche, soweit sie von kollektivenStrukturen her begründet ist, kann als etwas Präexistentes, als etwas Überzeitliches verstanden werden, an dem der Mensch Anteil hat. Das ist da, eheer zum Leben kommt, und existiert auch weiter. Was Szondische Psychologieangeht, könnte man sagen, der Aspekt der Seele, der von einer Generationzur anderen weitergeht, ließe sich gar nicht schlecht vereinbaren mit der Auffassung der Weitergabe der Seele. Die Freudsche Psychoanalyse oder auch diePersonale Psychotherapie würde wahrscheinlich den individuellen Anfang derSeele mit jedem einzelnen Menschen ansetzen, besonders auch in der Wechselwirkung mit den Mitmenschen. Ich glaube, das alles heißt aber noch nichtSeele in dem Sinn, wie sie der Seelsorger versteht, das alles bleibt noch imRaum der Psyche. In dem Büchlein „Welt und Person" von Guardini versuchte er, herauszuarbeiten, daß das Personsein, das Bewußtsein, daß ich derunverwechselbare Einzelne bin, der mit keinem anderen zu vertauschen ist,darin wurzelt, daß Gott mich und nicht einen anderen beim Namen ruft, wiees ja auch beim Propheten zu lesen ist: Ich hab Dich bei Deinem Namen gerufen. Das ist eine völlig andere Dimension, die nicht insBiologische, nicht insPsychische hineinreicht; sie kommt vielmehr von oben her. Es wurde dannnoch gesagt: Der Mensch ist Mensch, also im eigentlichen Sinne beseelt, vondem Augenblick an, wo er nicht nur Eindrücke empfangen hat, bewußt oderunbewußt, sondern wo auch Ausdruck im weitesten Sinn von ihm ausgeht.Man könnte sagen, mindestens dann, wenn das Kind zum ersten Mal an dieBrust der Mutter gelegt wird, zeigt es Ausdruck, vielleicht schon mit dem

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ersten Schrei nach der Entbindung. Wir müßten einmal die Mütter fragen,ob sie nur zum Kind sprechen, oder ob das Kind auch schon zu ihnen gesprochen hat, ehe es da ist. Ich glaube, hier sind viele Fragen offen.

Dr. rer. nat. v. Hauff (Gruppe 5): Für uns war das Problem, wie weit sindgeistliche Seelsorge und Psychotherapie dasselbe, wo sind die Grenzen, wokönnen sie sich gegenseitig helfen und unterstützen, und wo treten sie alsKonkurrenten auf? Sie spüren an der Weite des Problems, daß man es in derkurzen Zeit nur als Problem aufreißen konnte und jeder der Teilnehmer seineeigene Schwierigkeit, sei er nun Therapeut oder Theologe oder Arzt oderSeelsorger, aufwies. Überraschend war für uns alle, wie ganz spontan zweievangelische Geistliche gegenteilige Ansichten vertraten. Der eine sagte, wasfrüher einmal Aufgabe der Seelsorge war, sei heute in der rein praktischenArbeit in den Hintergrund getreten. Und der andere sagte, das Gegenteil seirichtig: Seelsorge sei viel wichtiger und zentraler geworden, als es früher derFall war. Der eine steht stark in der Gemeindearbeit und der andere in derTelefonseelsorge. Für uns war wichtig, daß man nicht sagen darf, in derevangelischen Kirche sei das Bedürfnis nach Beichte geringer, oder es gebesehr viel mehr fürsorgerische Arbeit. All das zu generalisieren ist abwegig.Dann war glücklicherweise auch ein katholischer Priester da. Auf unsereFrage, wie es bei der Beichte zugehe, erklärte er: Wenn wir zwei oder dreiMinuten für jedes Beichtkind haben und wissen, dahinter warten bereits dieanderen, um an den Beichtstuhl heranzukommen, dann ist eine individuelleund unmittelbar von Mensch zu Mensch geschehende Seelsorge gar nicht möglich oder zumindest außerordentlich erschwert. So kamen wir doch zu derAuffassung, daß beide Wege, der Weg des Psychotherapeuten und der Weg,den der Seelsorger geht, weder konkurrierend sind noch dasselbe sind, sondern daß das Ideale wohl immer sein wird, sich gegenseitig zu unterstützen,zu helfen und zu ergänzen, aber keine Vermischung entstehen zu lassen.

Dr. phil. Alice Kündig (Gruppe 6): Erstens wurde gefragt, ob Psychotherapie ohne anthropologischen Entwurf überhaupt möglich sei, und im Zusammenhang mit dieser Frage auch nach dem „Woraufhin" in der Psychotherapie gesucht. Eine zweite Frage lautete: Welche Rolle spielt die Natur inder Psychotherapie? Die dritte Frage war diejenige nach der Möglichkeittherapeutischen Geschehens in der Predigt. Eine vierte und letzte Frage, diean den Psychotherapeuten gerichtet war, lautete: Ist nicht die sogenannteLiebe oder Offenheit des Analytikers dem Patienten gegenüber, wie sie in derDaseinsanalyse oder in der Personalen Psychotherapie gefordert ist, insoferngefährlich, als das bei Freud so wichtige Erlebnis der Versagung dabei verlorengeht?

Was die erste Frage anbetrifft, so möchte ich meinen, daß es doch wohl keinePsychotherapie gibt, hinter der nicht irgendeine Weltanschauung steht oderein bestimmtes Menschenverständnis; denn der Mensch geht ja immer miteinem Vorverständnis von der Welt an die ihm begegnenden Dinge und Mitmenschen heran; das ist auch in der Daseinsanalyse der Fall, selbst wenn diesesichnoch so sehr bemüht, ohne ein festgelegtes System, das heißt mit einer reinphänomenologischen Betrachtungsweiseauszukommen. Ihr Menschenverständnis zeichnet sich dann eben gerade dadurch aus, daß sie den Menschen als

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Lichtung, Offenheit, In-der-Welt-Sein, Mit-Sein versteht und als einen, dersich ständig dazu aufgerufen weiß, sich als Selbst-Sein, das heißt in seinerbestmöglichen Daseinsweise auszuzeitigen. Daraus ergibt sich auch das Woraufhin in der Psychotherapie: die Selbstverwirklichung des Menschen. Dabei wirdaber nicht eine bestimmte konkrete Form des individuellen Daseins erstrebt,zu der der Mensch in der Therapie kommen oder gar geführt werden soll;vielmehr geht es in der Daseinsanalyse darum, all das aus dem Wege zu räumen, was den Menschen daran hindert, innerhalb der ihm zur Verfügungstehenden Möglichkeiten seinen eigenen Seinsmodus in freier Entscheidungund mit voller Verantwortung zu wählen und zu übernehmen. Zu jederPsychotherapie aber gehört das Vertrauen, daß sich im Laufe der Behandlungbeim Menschen eine Art Reifungsprozeß vollzieht. Ohne dieses Vertrauen— man könnte auch etwas ungeschützt formulieren: ohne den Glauben daran,daß etwas Positives geschieht —kann wohl keine Psychotherapie erfolgreichdurchgeführt werden.

Bevor ich auf die beiden folgenden Fragen eingehe, möchte ich zuerst dievierte Frage zu beantworten versudien, die Frage, ob nicht die Gefahr bestehe, daß durch die Liebe, die in der Daseinsanalyse vom Therapeuten gefordert wird, das Erlebnis der Versagung verlorengeht. Dies ist bestimmtnicht der Fall, denn auch in der Versagungssituation, das heißt auch dort, wosich der Therapeut sehr zurückhält, indem er zum Beispiel den Fragen desAnalysanden mit Schweigen begegnet, ist diese Liebe und Offenheit des Therapeuten dem Patienten gegenüber (Medard Boss verwendet dafür den Ausdruck „Psychotherapeutischer Eros") genau so vorhanden wie in einer Psychotherapie, in der sich der Psychotherapeut etwa in zusprechenden Worten anden Patienten wendet. Die Versagung ist nur eine andere Form psychotherapeutischen Verhaltens, durch die der Raum geschaffen wird, in dem derMensch zu sich selbst kommen kann.

Die Frage nach der Rolle der Natur in der Psychotherapie hängt zusammenmit der umfassenderen Frage nach der Beziehung zwischen Mensch und Naturüberhaupt. Ein Wesensmerkmal menschlichen Existierens ist, daß der Menschstets in Bezügen zu den ihm begegnenden Dingen steht. Gerade im Menschen,verstanden als Lichtungsbereich des Seienden, kommt die Welt, die Natur,ja erst zum Austrag, zur Erhellung, das heißt zu ihrer Bedeutung. Sie hatdem Menschen etwas zu sagen; die Dinge kommen zur Sprache. Insofern istdie Natur auch nicht denkbar ohne ihre Beziehung zum Menschen und damitauch nicht aus dem psychotherapeutischen Gespräch auszuschließen.

Nun zur dritten Frage, ob in der Predigt etwas Therapeutisches geschehenkann: Im Referat von Professor Bernet haben wir gehört, daß Therapie undHermeneutik in einem korrelierenden Verhältnis zueinander stehen. Insofern,als in der Predigt auch eine Auslegung des Menschen auf seine Existenz hingeschieht — hier allerdings im Dienste der Verkündigung — kann die Predigtals erfreulichen Nebeneffekt auch therapeutische Wirkung haben. Dies istzwar nur da möglich, wo der Mensch noch irgendwie auf seine Existenz hinansprechbar ist. In schwereren psychopathologischen Fällen dagegen bedarfes oft einer vorausgehenden psychotherapeutischenBehandlung, um dem Menschen erst wieder zur Offenheit für das Wort und damit zum rechten Hörenzu verhelfen.

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KATHOLISCHE KIRCHE UNDPSYCHOANALYSE

von Oliver Brachfeld

"There is a crying need for catholic Psychiatric clinics", schrieb inden vierziger Jahren Pater Thomas Moore, O.S.B., Ordinarius fürPsychiatrie an der Catholic University zu Washington. Der Widerhall in Europa blieb nicht aus: Prof. Dr. H. J. Urban von der Universität Innsbruck reagierte darauf ebenso wie in Frankreich die ausder Schule Rene Laforgues hervorgegangene, außerordentlich rührigeSchriftstellerin und Psychoanalytikerin Maryse Choisy. Dieser letzteren ist es gelungen, nicht nur eine vielseitige, lebendige Zeitschrift fürkatholische Psychoanalyse — Psyche (Paris) — zu gründen, sondern1949 bis 1956 regelmäßig Kongresse eines Internationalen Vereinskatholischer Psychoanalytiker, Psychotherapeuten und Pädagogen abzuhalten. Die ersteTagung fand in der BenediktinerabteiNotre-Dame-du-Bec, die zweite imHausder Jesuiten in Lyon, diedritte in Londonund die letzte in Madrid statt. Besondere Bedeutung kam der Römischen Tagung 1953 zu, da diesmal die Teilnehmer von Papst Pius XII.empfangen wurden. Das Oberhaupt der Kirche nahm die Gelegenheitwahr, in einer Ansprache an die Teilnehmer die offizielle Stellungnahme der Kirche kundzutun (siehe S.261 ff). Die Worte Pius' XII.gaben zu ganz verschiedenen Ausdeutungen Anlaß; sie sind als eineStellungnahme für die Psychoanalyse, wie auch als eine Art Verurteilung von ihr gedeutet worden. Die vielleicht zu aktive Bewegung derFrau Choisy schien wohl so manchem Verantwortlichen der Kircheetwas unheimlich zu werden; bereits von 1953 ab wurde ihr die offiziöse Unterstützung allmählich entzogen. Die Leitung der „Bewegung"wurde immer mehr, wenn auch nur hinter den Kulissen, Pater Seeübertragen. Der am besten besuchte und auch nach außen wirksamsteKongreß katholischer Psychotherapeuten —das Wort „Psychoanalyse"war aus dem Namen des internationalen Vereins bereits verschwunden —sollte in Madrid 1956 die Absetzung von Maryse Choisy alsLeiterin, damit aber auch den Tod des Vereins und das langsame Absterben der Zeitschrift „Psyche" bedeuten. Einige Jahre später, nach

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längerem Aussetzen, erschien noch eine Gedenknummer für Pater Teil-hard de Chardin, der der Bewegung nahegestanden und auch an derZeitschrift mitgearbeitet hatte; es war eine ausgehende Flamme, dienoch ein letztes Mal aufflackerte.

Die Einstellung der Kirche zur Psychoanalyse hat sich also, ähnlichwie jene zuden „Arbeiterpriestern", geändert, obwohl sich der Prozeßnicht so stark im Lichte der Öffentlichkeit wie dort, sondern vielmehrhinter den Kulissen abspielte. Für die Beziehungen der Kirche zurPsychoanalyse blieb sie aber schon deswegen nicht ohne Folgen, weilsie die tiefenpsychologischen Lehren in Kreise zu tragen vermochte,die bis dahin diesen noch ganz ablehnend gegenüberstanden. MaryseChoisy hatte nicht nur in Frankreich fruchtbringend gewirkt; ihr Buch„Psychanalyse et Catholicisme" wurde in Argentinien ins Spanischeübersetzt, ihr ebenso betitelter, in Gent und in Barcelona gehaltenerVortrag sowohl in Belgien wie auch in Spanien veröffentlicht, undzwar mit einem Vorwort des bekannten flämischen Pädagogen Kanonikus Fr. de Hovre, dessen zahlreiche Werke in allen katholischen Ländern wohlbekannt sind. Für die Aufnahme der Psychoanalyse sowohlin Belgien wie auch in Spanien wurde die Tätigkeit der Frau Choisygeradezu bahnbrechend. War bis Ende der vierziger Jahre die Psychoanalyse —worunter die gesamte Tiefenpsychologie zuverstehen ist —bis auf die Individualpsychologie Adlers sozusagen Tabu, konnte siedurch das Auftreten der Frau Choisy auf einmal „stubenrein" werden,da sie zurgleichen Zeit als orthodoxe Katholikin und nicht weniger orthodoxeFreudianerin auftrat. Zwar kamen ihre geplantenLehranalyseninSpanien nicht zustande, aber dem Pariser Analytiker Diatkine solltees gelingen, durch zweiwöchentliche Reisen nach Spanien eine Gruppespanischer Psychotherapeuten durch Lehranalysen auszubilden und dadurch ihre Aufnahme in den Internationalen Verein für Psychoanalysevorzubereiten. Es sollte auch kein Zufall sein, daß der Vorsitzendedeserwähnten Madrider Kongresses, Professor Lopez Ibor, der bereits1935 mit dem Buch über „Das Lebendige und das Tote in der Psychoanalyse" hervorgetreten war, 1964 vom Papst in die Studienkommission des Vaticanum II für das Schema 13 berufen wurde.

Das zweite Vatikanische Konzil konnte in der Tat nicht umhin, sichmit der Psychotherapie zu beschäftigen. Die Verhandlungen über diesesThema scheinen sich während der beiden ersten Sitzungsperioden nochganz unter Ausschluß der Öffentlichkeit abgespielt zu haben. Am selben Tag, an dem in Stuttgart ein aus dem Englischen übersetztes Stück

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von Arthur L.Kopit, eine Parodie auf die Psychoanalyse, seine deutscheUraufführung erlebte, am 3. November 1963, erschien im Pariser „LeMonde" ein aufsehenerregender Bericht aus der Feder des Sonderkorrespondenten der Zeitung beim Vatikanischen Konzil, Henri Fas-quet, unter dem Titel „Eine Herausforderung an die Kirche", aus demzumindest etwas über diese Frage zu entnehmen war. Der bekannteBerichterstatter konnte über ein Dokument berichten, das den am Konzil teilnehmenden Kirchenfürsten vorgelegt wurde und in dem nichtsweniger als eine ehrliche und endgültige Auseinandersetzung der Kirchemit der Tiefenpsychologie und Psychotherapie als einer der wichtigstenkulturellen Erscheinungenunserer Zeit gefordert wurde. Der Name desVerfassers wurde der Öffentlichkeit nicht bekanntgegeben. Man kannnur vermuten, daß es sich um eine französische Persönlichkeit handelt,die in der Psychotherapie nicht weniger bewandert zu sein scheint alsin der Theologie. Auf jeden Fall ist es nicht zu bezweifeln, daß keineandere Landeskirche die Entwicklung der Psychotherapie im allgemeinen und die der Tiefenpsychologie im besonderen so aufmerksam verfolgt wie die französische.

Der Verfasser des interessanten Textes, der den Konzilsvätern vorgelegt wurde, geht von folgender Überlegung aus: Hat die Kirche dieArbeiterklasse „verloren", so liefe sie jetzt Gefahr, auch breite Schichten der geistigen Elite zu verlieren, wenn sie ihre noch viel zu ablehnende und reservierte Haltung der Psychotherapie gegenüber nichtrevidiere.

„Die Ablehnung oder das Mißtrauen gegenüber der Psychoanalyse"— lesen wir im erwähnten Dokument, wobei mit „Psychoanalyse"immer die gesamte Tiefenpsychologie gemeint ist — würde dazu beitragen, eine steigende Anzahl von Menschen der führenden Klassenvon der unterrichtenden Kirche zu entfernen. Hat die Kirche durch

ihren Rückstand gegenüber der Entwicklung der wirtschaftlichen undsozialen Welt die Arbeiterklasse verloren, so könnte sie jetzt aucheinen Teil der führenden Klassen verlieren durch ihren Rückstand hin

sichtlich der psychologischen Welt. Die Bibelkritik der Entwicklungslehre (damit ist der Darwinismus gemeint!) bezieht sich nur auf denäußeren Menschen, die Psychoanalyse hingegen geht den ganzen Menschen in seinem intimsten Sein an: alle Menschen und nicht, wie manzu Unrecht glaubt, nur die in ihrem seelischen Gleichgewicht Gestörten(les desequilibres).

„Aus diesem Grunde stellt die Psychoanalyse für die Kirche eine transzen-

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dentale Herausforderung dar. Man muß die gesamte christliche Moral aufGrund dieser Tiefenpsychologie neu durchdenken. Was die Kirche jetzt unternimmt, hat mit dieser riesenhaften Aufgabe nicht das Geringste zu tun. DieWahrheit des modernen Menschen hat das alte Gewebe der christlichen Moral

zerrissen, so wie Christus das alte Gewebe der jüdischen Religion zerrissenhatte, und durch nur einige wenige Konzessionen in Detailfragen wird niemandem gedient." „Die Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse", fährtdann das Dokument fort, „könnte nur ein gemeinsames Werk von sowohlTheologen wie auch Psychologen sein, die durch eine regelrechte Lehranalysegegangen sind." Damit wird hier dem Standpunkt der Freudschen Psychoanalyse das Wort gesprochen, die bekanntlich einem jeden das Mitspracherechtüber Tiefenpsychologie und Psychotherapie verweigert, der nicht durch das„Fegefeuer" einer Lehranalyse lege artis gegangen ist. Der Verfasser desDokumentes bemerkt freilich dazu sogleich, daß er sich voll bewußt ist, mitdieser Forderung „den Hohn oder die Skepsis so mancher auf sich zu ziehen".Aber genauso, wie nur diejenigen ernsthaft zur Frage der Mystik Stellungnehmen können, die ein mystisches Erleben am eigenen Leibe und in dereigenen Seele tatsächlich erfahren haben, genauso steht es in Dingen derTiefenpsychologie. „Es ist notwendig (heißt es im Dokument), daß Priesterund Ordensbrüder sich einer psychoanalytischen Behandlung unterwerfen, undzwar nicht um ihrer persönlichen Probleme willen, sondern um befähigt zusein, über Psychologie mitzureden: es sollen Priester und Ordensbrüder vonhohem geistigem Niveau sein, ohne irgendwelche Zeichen einer Neurose.

Dazu müßte man allerdings ein Hindernis überwinden (so heißt es weiter),das größtenteils von den Psychoanalytikern selbst herstammt: nämlich dieangebliche Unversöhnbarkeit zwischen der Psychoanalyse und der religiösenGesinnung an sich. Man schreckt davor zurück, die religiöse Erfahrung alssolche unmittelbar einer Analyse zu unterwerfen. Diese Befürchtung ist einAusfluß des Vorurteils, daß eine Analyse des religiösen Bereichs als eine Pro-fanation desselben erscheinen könnte. Sollte es aber eines Tages zu einemwirklichen Dialog zwischen Psychoanalytikern und katholischen Gläubigenkommen, so würde dieses Gespräch sowohl für die eine wie auch für dieandere Seite außerordentlich fruchtbar werden. Bestimmte Worte Freuds

könnten die heutige Forschung über den religiösen Mythus erhellen und letzten Endes zur Lösung der Krise des Modernismus führen, die nicht zu Unrechtdie katholische Kirche bis heute beunruhigt."

Hier angelangt, stellt nun der Verfasser des Dokuments die Kirche vor eineAlternative: hie Angst, hie Glaube! „Wir müssen zwischen diesen beiden Haltungen wählen", heißt es dann am Schluß des Textes, „entweder fahren wirfort, uns in unserem Inneren von Feinden umstellt zu fühlen: das Gewissen,die Freiheit, die Sanktion, das Gesetz, die Autorität stehen in Frage ... Nurder Glaube vermag es aber, Freude in allen Dingen zu entdecken, und diessogar in der Sünde: felix culpa!"

Ist das Dokument dazu angetan, in der dritten Konzilssitzung ernstlich diskutiert zu werden? Wird das Konzil tatsächlich die heute so

brennende Frage der Psychotherapie und der Psychoanalyse noch diskutieren? Henri Fasquet beantwortet diese Frage mit einem bedingten

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Ja: Ja, in der Tat — jedoch nur auf eine oberflächliche und beinaheausschließlich negative Art und Weise, nämlich wenn die Konzilsväter an dem Schema der „geistigen Ordnung" festhalten, in dem dieGefahren und Mißbräuche der Disziplin, die den Namen „Psychoanalyse" trägt, beschworen werden. Es ist nicht unmöglich, meint Fas-quet, daß ein Text, wie der soeben zitierte, doch dazu beitragen könnte,daß dieser oder jener Bischofzur Überzeugung gelangt, man müsse eine„substantiellere Fassung" der Psychoanalyse vorschlagen. Was aberunter einer solchen zu verstehen sei, darüber schweigt sich der Kommentator leider aus.

Auch darin kann der Kundige dem Kommentator nicht Recht geben,daß das erwähnte Dokument „durch seine klare Stellungnahme beeindruckt". Im Gegenteil: es scheint aus der Feder eines Menschen zustammen, der über die bisherigen Beziehungen zwischen katholischerKirche und Psychoanalyse anscheinend gar nicht oder zumindest nurrecht lückenhaft orientiert ist. Die Stellungnahme der Kirche zur Psychoanalyse und zur Tiefenpsychologie im allgemeinen war von Anfangan immer klar, hatte sie sich auch von einer anfänglichen strikten Ablehnung zu einer immer sachlicheren, jedoch nie unkritischen Betrachtung entwickelt. Dagegen kann man den hier besprochenen Vorschlagnicht als eine klare Stellungnahme, sondern höchstens als eine viel zuvereinfachende Darstellung des Problems (die sogar nicht eines demagogischen Elementes bar ist) betrachten. Nach mehr als vierzig Jahrenfällt es heute nicht schwer, die Entwicklung der Stellungnahme derKirche zur Psychoanalyse in ihren Grundlinien zusammenzufassen.

Die Psychoanalyse wurde bekanntlich von einem jüdischen Gelehrten, Sigmund Freud, begründet, der aus seiner positivistisch-szientifi-schen Weltanschauung ebensowenig ein Hehl machte wie aus seinergrundsätzlichen Ablehnung jeglicher Religion. Zwar fühlte er sich demJudentum als einer sozial benachteiligten Minderheit verpflichtet, nichtaber der jüdischen Religion. In seinem Buch „Die Zukunft einer Illusion", das eigentlich nur eine Wiederholung des einst so berüchtigtenBuches von Emile Boutroux war: „Die Irreligion der Zukunft", versuchte er die Gedanken des französischen Autors psychoanalytisch zuuntermauern, denn auch ihm erschien die Religion als eine bloße Illusion, als ein Selbsttrost des Menschen. Zwar versuchten einige seinernicht allzu zahlreichen, religiöseingestellten Anhänger, wie der Schweizer Pastor Dr. Oskar Pfister, dem zu widersprechen und sogar ihnselbst zu überzeugen, daß es „nie einen besseren Christen gab als ihn".Diese Idealisierung galt dem genialen, mutigen Entdecker des „Liebes-

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triebes" als „Gegen-Macht" des Aggressionstriebes. Noch am Ende derfünfziger Jahre wurde in Amerika, angesichts der immer breiterenAusstrahlung der Psychoanalyse, das ursprünglich schon 1928 in Gütersloh erschienene Buch des schwedischen Bischofs Arvid Runestam

übersetzt, „Psychoanalyse und Christentum", um die Psychoanalysein den christlichen Glauben einzubauen. Runestam versucht es, derLinie Freuds zu folgen; er kommt zum Schluß, daß die Neurose, dieseverheerendste Erkrankung heutiger Menschen, dem Umstand zuzuschreiben ist, daß das ungehemmte Triebleben die religiösen Triebeverdrängt. Die Neurose sei nicht die Frucht der aus religiösen Gründenerfolgenden Verdrängung des Geschlechtstriebes; in der Neurose verteidigt sich gerade umgekehrt die ethische Gesinnung gegen den Trieb.Diese Interpretation ist zwar eine Abrechnung mit der etwas primitiven Formulierung so mancher Psychoanalytiker der „ersten Generation", für welche die Religion noch nichts anderes war als eine„Sublimierung unserer niederen Triebe", „verdrängte Sexualität" also,und im besten Fall eine Projektion in den Himmel des eigenen Vater-Imagos. Noch heute versucht Karl Menninger, ein führender amerikanischer Psychoanalytiker, seine Patienten und auch die Leser seinerBücher zu überzeugen, daß der Mensch „keinen großen Freund hinterden Wolken habe", ganz im Sinne Freuds. Die Wendung Freuds in seinem vor seinem Tode erschienenen Buche „Der Mann Moses", in demer eine verdrängte Urschuld aus vorgeschichtlichem Vatermord begründet und seine frühere antireligiöse Einstellung modifiziert, wirdvon den meisten Freud-Vertretern nicht berücksichtigt. Seit Freuds Todsind aber immerhin zweieinhalb Jahrzehnte verflossen, und die Zahljener Psychotherapeuten, die die Religion auf „Komplexe" zu reduzieren trachten, ist immer geringer geworden. Eine bei weitem nichtmehr so einseitige, sektiererische Tiefenpsychologie scheint erkannt zuhaben, daß beim Menschen nicht nur animalische, sondern auch geistigreligiöse Triebe vorhanden sind; auch sie können verdrängt werden.Man neigt heute immer mehr zur Annahme, daß es nicht Aufgabe derPsychologie und auch nicht der Tiefenpsychologie ist, Metaphysischeszu erklären. Die „reduktive Psychoanalyse" der Erstzeit, die in Kunst,Kultur, Religion usw. „nichts als" eine Sublimierung des Sexualtriebessehen wollte, ist überholt: Tiefenpsychologie und Religion schließensich nicht mehr aus, sondern ergänzen sich. Natürlich kann die Tiefenpsychologie wie auch die Religion vom Neurotiker im Dienste ichhafter Zielsetzungen mißbraucht werden. In neuesterZeit hat auf dieseschon längst erkannte Möglichkeit der führende amerikanische Psycho-

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löge Gordon W. Allport in seinem Buch „Personality and social en-counter"1 hingewiesen: dort, wo eine religiöse Haltung zur Grundlagesonst unerwünschter Verhaltensweisen dient, ist sie nicht mehr Religion, sondern nur noch Pseudoreligion, denn sie spielt nur noch eine„instrumentale Rolle". Sie wird, wie wir sagen würden, „zweckentfremdet". So unterscheidet Allport zwischen einer falschen, äußerlichen oder „extrinsic" Religion gegenüber einer echten, innerlichen,„intrinsic" Religion, deren Gebot es ist, den Mitmenschen zu lieben.

Die schnelle Verbreitung der Psychoanalyse, zumal nach dem zweiten Weltkrieg, lief nun mit einer steigenden Entfremdung breitererVolksschichten von der Kirche parallel. So war es nicht erstaunlich,daß das Schlagwort, es erfolge „ein Exodus aus dem Beichtstuhl in dasKonsultationskabinett des Psychoanalytikers" der Kirche als eineernste Gefahr erschien. Diesem Geist scheint auch das dem Vatikani

schen Konzil vorgelegte Dokument zu entstammen. Solange man diePsychoanalyse als eine bloße Art von Laienbeichte auffaßt und denPsychoanalytiker als einen säkularisierten Beichtvater, sind derartigeBedenken nicht unberechtigt. Die Entsprechungen aber zwischen derOhrenbeichte einerseits und dem Dialog zwischen dem Analytiker undseinem Patienten sind rein äußerlicher Natur. Das psychoanalytischeGespräch beruht auf gänzlich anderen Voraussetzungen als die Beichte,die ja ein Sakrament darstellt, welches zu ersetzen dem Psychotherapeuten niemals einfallen würde. Religion und Psychoanalyse wendensich also zwei grundverschiedenen Schichten der menschlichen Persönlichkeit zu, die sich nicht aufeinander reduzieren lassen und die andererseits auch kein Kontinuum darstellen. Die Tiefenpsychologie stehtimmer nur im Vorraum der Religion. Wie die Kirche Menschen mitkörperlichen Gebrechen nicht zum Weihpriestertum zuläßt, ist es ihrePflicht, diejenigen Kandidaten, die aus bloß neurotischenGründen demWeihpriestertum zustreben, ohne sich davon Rechenschaft abzulegen,davon ebenfalls fernzuhalten. War es zu allen Zeiten nicht immer

leicht, eine echte Berufung von einer falschen zu unterscheiden, so gibtdie Tiefenpsychologie den Hirten der Kirche eine erprobte wissenschaftliche Methode in die Hand, den Weizen von der Spreu zu unterscheiden und festzustellen, ob eine echte Berufung vorliegt, oder obder Kandidat eine neurotische Symptomatik zu verdecken sucht. Soist man in Frankreich gelegentlich dazu übergegangen, den Kandidaten

G. W. Allport, Personality and social encounter, Boston 1960.

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zum Priesterseminar erst nach einer psychoanalytischen Explorationoder einer Kurzanalyse zuzulassen.

Die Kirche beginnt, in der Tiefenpsychologie nicht mehr eine unliebsame Konkurrenz, sondern ein neues, wertvolles Hilfsmittel derSeelsorge zu sehen, insofern jene ihre ursprüngliche Einseitigkeitaufgibt. Fortgeschrittene Tiefenpsychologie denkt nicht mehr daran,Höheres auf Niedrigeres, etwa Seelisch-Geistiges auf Triebhaftes reduzieren zu wollen. Auch die Freudsche Psychoanalyse hat es gelernt,ihre eigenen Schranken nicht zu überschreiten. Und dies bedeutet, nichtnur die menschliche Würde des Patienten oder des Ratsuchenden zurespektieren. Der Patient oder der Ratsuchende soll dahin gelangen,sich jener Fesseln zu entledigen, die ihn bis dahin an einer autonomenErarbeitung seiner eigenen Wertvorstellungen gehindert haben. So istes zu verstehen, daß religiöse Psychotherapeuten es unternehmen,„Freud durch Freud zu korrigieren", und sogar Freud selber dazuzitieren, der bereits in seiner „Zukunft einer Illusion" den Vertreternder Religion das volle Recht zuspricht, sich auch ihrerseits der psychoanalytischen Methode zu bedienen, „um die affektive Bedeutung derreligiösen Lehre besser beurteilen zu können". Freuds abtrünniger Mitarbeiter Alfred Adler ging einen Schritt weiter, indem er kurz vorseinem Tod erklärte, die Priester aller Religionen werden die erstensein, die seine Lehre in der Welt verbreiten werden, sobald sie die darinliegenden Werte erkennen. DieTiefenpsychologie kann übrigens in derHand der Kirche nicht nur in der Seelsorge wichtig werden, sondernauch als einMittel, den kirchenfeindlichen Ideologien und ganz besonders dem Atheismus an den Leib zu rücken: „Der Atheist (so argumentiert zum Beispiel Maryse Choisy als katholische Psychoanalytikerin)befindet sich Gott gegenüber in genau derselben Lage, wie ein Waisenkind vor seinem verstorbenen Vater. Er hat Gott in sich getötet, Gottes Gebote jedoch introjiziert (sich einverleibt). Und niemand in dieserWelt könnte ihm jemals das auch nur geringste Verschulden gegen dieseGebote entschuldigen", wenn es für ihn keinen Gott mehr gibt. Wiein dem Beitrag von Dr. theol. Scharfenberg nachgewiesen worden ist,stand Freud derReligion „ambivalent" gegenüber. DerLibido-Begriffwird von Freud selbst in späteren Schriften mit Piatos Begriff desEros gleichgesetzt. Einige seiner Schüler identifizieren ihn mit demBegriff der Liebe des Apostels Paulus. „Zu wenig Psychoanalyse entfernt uns von Gott, heißt es heute, mehr Psychoanalyse führt uns jedoch zu Gott zurück" (Maryse Choisy).

Manche Vertreter der Kirchen beider Konfessionen können die

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Freudsche Tiefenpsychologie mit ihren eigenen religiösen Überzeugungen in Einklang bringen. Sie können sich dabei auf das große,zweibändige Werk eines Roland Dalbiez berufen, das bereits 1932 infranzösischer Sprache erschien und in verschiedene Sprachen übersetztwurde. Dalbiez hat die Gesamtlehre Freuds einer strengen Analyseunterzogen und kam zur Schlußfolgerung, die heute der katholischenEinstellung zur Freudschen Psychoanalyse überall zugrunde liegt: diehinter der psychoanalytischen Theorie stehende Weltanschauung undLebensphilosophie ist falsch, aber die von Freud entdeckte und ausgearbeitete Methode ist äußerst brauchbar und kann in die katholischeSeelsorge ohne Schwierigkeiten eingebaut werden. So halten es heutenamhafte Vertreter der katholischen Seelsorge, wie etwa Pater Nuttinin Belgien, Pater Noel Mailloux in Kanada, die auch als Universitätslehrer Weltruf genießen, oder der spanische Jesuitenpater PedroMese-guer, der aus einem anfänglichen Gegner der Psychoanalyse zum katholischen Tiefenpsychologen wurde und dessen Buch über Traumdeutungin zahlreiche Sprachen, so auch ins Deutsche, übersetzt wurde. Es darfan dieser Stelle allerdings nicht verschwiegen werden, daß es in katholischen Kreisen auch ganz entschiedene Gegner dieser Auffassung gegeben hat und noch immer gibt. An erster Stelle wäre hier der 1964verstorbene Rudolf Allers zu nennen. Dieser souveräne Geist, der zuAlfred AdlerserstemMitarbeiterstab gehörte, Psychiater, Privatdozentder Physiologie in Wien, Doktor der Medizin, der Rechte, der thomi-stischen Philosophie an der Universität zum hl. Herzen in Milano,1938 an den Lehrstuhl für Philosophie der Katholischen UniversitätGeorgetown berufen, hat an der Psychoanalyse Freuds nur einen„successful error" gesehen, wie eines seiner Bücher betitelt ist. Er wares auch, der sich Mitte der zwanziger Jahre den ersten Versuchen einesRhaban Liertz, aus Freuds Lehren eine „katholische Psychotherapie"abzuleiten, offenbarmit Erfolg entgegenstemmte. Nach Allers läßt sichdie Methode Psychoanalyse nicht ohne weiteres von der psychoanalytischen Weltanschauung trennen; wird diese verworfen, so könne manauch nicht die psychoanalytische Verfahrensweise beibehalten.

Seit bereits vierzig Jahren ist die Diskussion über Katholizismusund Psychoanalyse inGang gekommen. Behauptungen, wie sie die demVatikanum vorgelegte Denkschrift vertritt, sind also teilweise gegenstandslos geworden. Sie rennt Tore ein, die zumindest halb offenstehen, und ist nicht genügend untermauert. Die katholische Kirchepflegt nichts zu übereilen. Ihre zuständigen Vertreter sind heute allenRichtungen der modernen Tiefenpsychologie gegenüber aufgeschlossen.

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An theologischen Fakultäten werden Einführungskurse über Tiefenpsychologie abgehalten, manchmal sogar „gratis und für Hörer allerFakultäten" (wie durch Professor Nisters inMünster). Moraltheologenlesen über psychoanalytische Grundbegriffe, wie Projektion und Intro-jektion, katholische Ärztegesellschaften organisieren Symposia überden Freudschen Begriff der „Übertragung" usw. Sowohl die ursprüngliche, dogmatische Ablehnung wie auch die spätere, manchmal rechttemperamentvoll geführte Polemik ist einer sachlichen, abwägendenHaltung gewichen2.

2 „Vers une conception catholique de la psychanalyse." In: S. Moscovici,La psychanalyse, son image et son public, Diss. Paris, P.U.F., 1961.

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AUS DER ANSPRACHE VON PAPST PIUS XII.

am 13. April 1953vor Teilnehmern des 5. Internationalen Kongresses

für Psychotherapie und klinische Psychologie in Rom

Die Wissenschaft behauptet, daß durch Beobachtungen Tiefenschichten dermenschlichen Seele zutage gefördert worden sind, und sie ist bemüht, dieseihre Entdeckungen zu verstehen, sie auszulegen und nutzbar zu machen. Manspricht von Dynamismen, von Determinismen, von Mechanismen, die in derTiefe der Seele verborgen seien, die immanenten Gesetzen gehorchen und ausdenen gewisse Handlungen hervorgehen. Zweifelsohne sind diese tätig imUnter- und Unbewußten. Sie dringen jedoch auch in den Bereich des Bewußten durch und bestimmen dasselbe. Man behauptet, über erprobte und anerkannte Vorgehen zu verfügen, durch die man imstande sei, die Geheimnisseder Tiefen der Seele zu erforschen, sie aufzuklären und sie auf den richtigenWeg zu bringen, wenn sie einen unheilvollen Einfluß ausüben.

Das sind Fragen Ihres Forschungsgebietes, die nach den Gesetzender wissenschaftlichen Psychologie zu erforschen sind. Das gleiche gilt für die Nutzbarmachung neuer psychischer Methoden. Die theoretische und die praktischePsychologie mögen sich jedoch bewußt bleiben, die eine wie die andere, daßsie nicht die Wahrheiten, die durch Verstand und Glauben sichergestellt, wieauch nicht die bindenden Gebote der Moral außer acht lassen dürfen ... Wirhaben die Absicht, die Grundhaltung aufzuzeigen, zu der der christliche Psychologe und Psychotherapeut verpflichtet sind.

Diese Grundhaltung läßt sich auf folgende Formel bringen: Die Psychotherapie und die klinische Psychologie müssen den Menschen immer betrachten1. als psychische Einheit und Ganzheit, 2. als eine in sich selbst geschlosseneEinheit, 3. als soziale Einheit und 4. als transzendente, das heißt zu Gottstrebende Einheit.

Die Medizin lehrt, den menschlichen Körper als einen Mechanismus vonhöchster Präzision zu betrachten, einen Mechanismus, dessen einzelne Bestandteile ineinandergreifen und aneinander verkettet sind; die Stellung und Eigenheiten dieser Bestandteile hängen vom Ganzen ab; sie dienen der Existenzdes Ganzen und deren Funktionen. Diese Auffassung gilt jedoch noch vielmehr von der Seele, deren zarte Einzelelemente mit noch viel größerer Sorgfalt zusammengesetzt sind. Die verschiedenen psychischen Fähigkeiten undFunktionen ordnen sich in den Gesamtkomplex des geistigen Seins ein undordnen sich seiner Finalität unter . ..

Was den Menschen zum Menschen macht, ist vor allem die Seele, die Wesensform seiner Natur. Von ihr geht letzten Endes jedes menschliche Lebenaus. In ihr wurzeln alle seelischen Dynamismen samt ihrer Eigenstruktur und

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ihren organischen Gesetzen. Sie ist es, die von der Natur bestimmt ist, alleKräfte zu lenken, insofern nämlich, alsdiese noch nicht ihre letzteBestimmungerhalten haben. Aus dieser ontologischen und psychologischen Gegebenheitfolgt, daß man sich von der Wirklichkeit entfernen würde, wollte man inTheorie und Praxis die Zuständigkeit, über das Ganze zu bestimmen, einerFachkraft anvertrauen, zum Beispiel einem der Grunddynamismen, und damiteiner Sekundärkraft das Steuer überlassen. Diese Dynamismen können in derSeele, im Menschen sein, sie sind jedoch nicht die Seele, nicht der Mensch.Sie sind Kräfte von einer beträchtlichen Intensität vielleicht, ihre Leitunghat jedoch die Natur der Zentralstelle anvertraut, der Geistseele, begabt mitVernunft und Willen und normalerweise in der Lage, diese Kräfte zu steuern.Daß diese Dynamismen auf eine bestimmte Tätigkeit drängen, bedeutet nichtnotwendig, daß sie sie erzwingen.

Es hieße eine ontologische und psychische Realität verneinen, würde mander Seele ihre Zentralstellung streitig machen. Es ist daher nicht möglich,wenn das Verhältnis des Ich zu den Dynamismen, aus denen es zusammengesetzt ist, theoretisch rückhaltlos zugegeben und der Mensch, das heißt seineSeele als autonom zugegeben wird und gleich danach hinzugefügt wird, daßdieses Prinzip in der Wirklichkeit des Lebens meistens als ausgeschaltet erscheint oder doch auf den Mindestgrad beschränkt ist. In der Wirklichkeit desLebens, so sagt man, ist der Mensch immer frei, seinem Tun innerlich zuzustimmen, aber er ist nicht frei in seinem Tun selbst. An die Stelleder Eigengesetzlichkeit des freien Willens tritt die Fremdherrschaft der instinktivenGrundkräfte. So hat der Schöpfer den Menschen nicht gebildet. Die Erbsündenimmt ihm nicht die Möglichkeit und die Verpflichtung, sich durch seine Seeleselbst zu führen. Man wird doch wohl nicht sagen wollen, daß die psychischenStörungen und die das normale Funktionieren des Psychischen durchkreuzenden Krankheiten das gewöhnlich Gegebene sind. Der sittliche Kampf, auf demrechten Weg zu bleiben, beweist nicht die Unmöglichkeit, ihn einzuhalten,und gibt keine Berechtigung, von ihm abzuweichen.

Der Mensch ist eine in sich geordnete Einheit und Ganzheit, ein Mikrokosmos, eine „politeia" mit einer Verfassung, die vom Zweck des Ganzenbestimmt wird und das Einzeltun auf den Zweck des Ganzen hinordnet nachder wahrhaftigen Wertordnung der Teile und ihrer Funktionen. Diese Verfassung ist letztlich ontisch und metaphysisch, nicht psychisch und personalbestimmt. Man hat einen Gegensatz zwischen Metaphysik und Psychologiebetonen zu müssen geglaubt. Ganz zu Unrecht! Das Psychologische liegt selberinnerhalb des Ontologischen und Metaphysischen.

Wir haben Ihnen diese Wahrheiten ins Gedächtnis gerufen, um eine Betrachtung über den konkreten Menschen daran zu knüpfen, um dessen innereOrdnung es geht. Man hat tatsächlich einen Gegensatz zwischen der traditionellen Psychologie und Ethik und der modernen Psychotherapeutik undklinischen Therapie betonen wollen. Die traditionelle Psychologie und Ethikhätten, so behauptet man, das abstrakte Wissen des Menschen zum Gegenstand, den homo ut sie, der freilich nirgendwo existiert. Die Klarheit undlogische Geschlossenheit der genannten Disziplinen verdienten Bewunderung,nur krankten sie an dem Grundfehler, daß sie auf den wirklichen Menschen,

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wie er leibt und lebt, nicht anwendbar seien. Die klinische Psychologie dagegen gehe von dem wirklichen Menschen aus, dem homo ut hie, und mansagt zusammenfassend, daß zwischen beiden Auffassungen ein Spalt klafft,der sich nicht überbrücken läßt, solange die traditionelle Psychologie undEthik ihre Stellung nicht ändern.

Wer die Struktur des wirklichen Menschen studiert, muß tatsächlich den„existentiellen" Menschen zum Gegenstand nehmen, so wie er ist, so wie ihnseine natürlichen Anlagen, die Einflüsse der Umgebung, die Erziehung, seinepersönliche Entwicklung, seine innersten Erfahrungen und die äußeren Begebenheiten geformt haben. Nur dieser konkrete Mensch existiert. Und dochgehorcht die Struktur dieses persönlichen Ich bis ins Kleinste den ontologischen und metaphysischen Gesetzen der menschlichen Natur, von denen wirvorhin gesprochen haben. Sie sind es, die ihn geformt haben, und die ihndeshalb steuern und richten müssen. Der Grund dafür liegt darin, daß der„existentielle" Mensch in seiner innersten Struktur mit dem „essentiellen"Menschen identisch ist. Die essentielle Struktur des Menschen verschwindetnicht, wenn die individuellen Merkmale hinzukommen; sie verwandelt sichnicht in eine andere menschliche Natur. Aber gerade die Verfassung, die imMittelpunkt steht, ruht in ihrenGrundwahrheiten auf der Wesensstruktur deskonkreten wirklichen Menschen.

Es wäre deshalb abwegig, für die Wirklichkeit des Lebens Normen aufzustellen, die von der natürlichen und christlichen Sittlichkeit abweichen unddie man mit dem Wort „Personalethik" bezeichnen möchte, die zwar an derersteren eine gewisse Orientierung, aber keine strenge Bindung an sie hätte.Das Grundgesetz für die Ordnung des konkreten Menschen ist nicht zu konstruieren, sondern anzuwenden.

Das bisher Gesagte gilt für das personelle Leben des Menschen. Das Psychische begreift aber auch sein Außenverhältnis in sich, und es ist ein begrüßenswertes Bestreben, ein Feld Ihrer Forschung, auch diesen Sozialpsychis-mus in sich und seinen Wurzeln zu erforschen, es den Zwecken der klinischenPsychologie und Psychotherapie dienstbar zu machen. Nur halte man dabei dieTatsachen selbst und die Deutung der Tatsachen reinlich auseinander.

Der Sozialpsychismus berührt sich mit demSittlichen und auf weiteStreckendeckt sich die sittliche Stellungnahme mit der einer ernsten Psychologie undPsychotherapie. Nur an einigen Stellen fehlt die Wertung des Sozialpsychis-mus durch ein Zuviel und ein Zuwenig. Bei diesem Punkt möchten wir kurzverweilen.

Das Zuwenig des Sozialpsychismus: Es gibt eine psychologisch wie sittlichkrankhafte Ich-Verhaftung, über deren Ursachen Ihre Wissenschaft befindenmag. Wenn diese Ich-Verhaftung auch auf den sittlichen Bereich übergreift,wenn es sich zum Beispiel um Dynamismen wie Machttrieb, Geltungstrieb,Sexualtrieb handelt, dürfte die Psychotherapie jene Ich-Verhaftung nicht ohneweiteres als eine Art Schicksal behandeln, als eine Übergewalt des aus demUnterbewußtsein hervorbrechenden affektiven Impulses, welcher der Steuerung durch die Seele und das Gewissen einfach entzogen ist. Man degradiereden konkreten Menschen mit seinem persönlichen Charakter nicht zu schnellzum Triebwesen. Auch wenn es von Seiten des Therapeuten gut gemeint ist,

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so empfinden feinfühlende Menschen diese Herabminderung auf die Ebenedes Instinkt- und Sinnenwesens doch sehr bitter. Man übersehe nicht UnsereBemerkungen von vorhin über die Wertordnung der Funktionen und dieRolle ihrer zentralen Steuerung.

Ein Wort auch über die Methode, die mitunter vom Psychologen eingeschlagen wird zur Befreiung des Ich aus seiner Verhaftung, wenn es sichum Abirrungen auf dem Gebiet des Sexuellen handelt. Wir meinen die totalesexuelle Aufklärung, die nichts verschweigen und nichts im Dunkeln lassenwill. Liegt darin nicht eine verhängnisvolle Überschätzung des Wissens? Esgibt auch eine wirksame sexuelle Erziehung, die in sicherer, ruhiger Sachlichkeit mitteilt, was der junge Mensch wissen muß, um mit sich selbst und seinerUmgebung fertig zu werden, die im übrigen aber in der sexuellen Erziehungwie in der Erziehung überhaupt den Akzent vorzüglich auf die Selbstbeherrschung und religiöse Formung legt. . .

Was von der schrankenlosen Aufklärung zu therapeutischen Zwecken gesagt wurde, gilt auch von bestimmten Formen der Psychoanalyse. Man solltesie nicht als den einzigen Weg bezeichnen, sexuell-psychische Störungen zumildern oder zu heilen. Der immer wieder wiederholte Satz, daß die sexuellen Störungen des Unbewußten gleich ähnlichen Störungen des gleichen Ursprungs nur durch Bewußtmachen behoben werden können, gilt nicht in uneingeschränkter Allgemeinheit. Die indirekte Behandlung hat auch ihre Wirkkraft und ist oft durchaus genügend... Es kann in der Tat nicht als sittlichzulässig bezeichnet werden, den ganzen im Unterbewußtsein und in der Erinnerung schlummernden Inhalt sexueller Vorstellungen, Affekte und Erlebnisse ins Bewußtsein zu rufen, also psychisch gegenwärtig zu machen. Wennman den Einspruch der Menschen- und Christenwürde nicht überhören will,wer würde wagen zu behaupten, daß dieses Verfahren keine sittliche Gefährdung weder für den Augenblick noch für später in sich schließe, wo doch dietherapeutische Notwendigkeit eines solch hemmungslosen Aufdeckens, wennauch behauptet, so doch bis jetzt noch nicht erwiesen ist?

Sodann kommt das Zuviel des Sozialpsychismus. Es liegt darin, daß dieForderung eines unbeschränkten Aufgebens des Ich und seiner persönlichenBehauptung verlangt wird. In Hinsicht darauf möchten Wir zwei Dinge berühren: einen Grundsatz und eine psychotherapeutische Praxis.

Aus gewissen psychologischen Darlegungen ergibt sich die These, daß diebedingungslose Ich-Unterdrückung das Grundgesetz des naturgewollten Altruismus und seiner Dynamismen bildet. Das ist ein logischer Irrtum, ebensoeine psychologische und ethische Abirrung. Es gibt einen Schutz, eineAchtung,eine Liebe und einen Dienst des eigenen Ich, und sie sind von dem Psychischen und vom Sittlichen aus nicht nur gerechtfertigt, sondern auch gefordert.Das ist eine natürliche Selbstverständlichkeit und christliches Glaubensgut zugleich (vgl. S.Thomas S.Th. 2—2 p. q. 26, a. in c.)! Der Herr hat gelehrt:„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" (Mark. 12, 31). Christus nimmt alsoals Maßstab der Liebe zum Nächsten die Liebe zu sich selbst, nicht umgekehrt.Die angewandte Psychologie würde diese Wirklichkeit verachten, wollte siejede Berücksichtigung des Ich als psychische Verhaftung, als Abirrung, alsZurückgehen auf ein früheres Entwicklungsstadium abtun unter dem Vorwand, daß sie sich dem natürlichen Altruismus des Psychischen widersetze.

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Der praktische Punkt der Psychotherapeutik, den Wir anmeldeten, betrifftein wesentlich soziales Interesse: Die Wahrung des Geheimnisses, die bei Anwendung der Psychoanalyse gefährdet wird. Es ist durchaus nicht ausgeschlossen, daß ein geheimes Tun oder Wissen, ins Unterbewußtsein verdrängt,schwere psychische Störungen hervorruft. Wenn die Psychoanalyse die Ursachedieser Störung aufdeckt, wird sie ihrem Grundsatz gemäß jenes Unbewußteganz hervorziehen wollen, um es bewußt zu machen und so das Hinderniszu beheben. Aber es gibt Geheimnisse, die man unbedingt verschweigen muß,auch dem Arzt gegenüber, auch auf die Gefahr schwerer persönlicher Schädigungen hin. Das Beichtgeheimnis leidet keine Enthüllung. Es ist gleicherweiseausgeschlossen, daß das Amtsgeheimnis einem andern mitgeteilt werde, auchnicht dem Arzt. Dasselbe gilt für andere Geheimnisse. Man beruft sich aufden Grundsatz: „Ex causa proportionate gravi licet uni viro prüdenti etsecreti tenaci secretum manifestare." Der Grundsatz stimmt innerhalb begrenzter Schranken für bestimmte Arten von Geheimnissen. Man darf ihnaber nicht hemmungslos in der psychoanalytischen Praxis zur Anwendungbringen.

Mit Rücksicht auf die Sittlichkeit, in erster Linie auf das Allgemeinwohl,kann der Grundsatz der Diskretion in Anwendung der Psychoanalyse nichtstark genug unterstrichen werden. Es handelt sich dabei selbstverständlichnicht in erster Linie um die Diskretion des Psychoanalytikers, sondern umdie seines Patienten, der oft keinerlei Recht besitzt, seine Geheimnisse preiszugeben.

Diese letzte Schau des Menschen wirft drei Fragen auf, die Wir nicht unberührt lassen möchten.

Zunächst weist die Forschung auf einen Dynamismus hin, der in den Tiefenlagen des Psychismus seine Wurzel hat und auf das über dem Menschen liegende hindrängt, nicht auf Grund einer Erkenntnis desselben, sondern ineinem unmittelbaren aus den Seinsschichten stammenden Gravitieren nachoben. Es wird in diesem Dynamismus eine selbständige, ja die fundamentalsteGrundkraft der Seele erblickt, ein unmittelbares affektives Drängen der Seelezum Göttlichen hin, so wie die Blume ohne Erkenntnis sich dem Licht derSonne öffnet, oder wie das Kind unbewußt atmet, sobald es geboren ist.

Dieser Aussage gegenüber möge gleich eine erklärende Bemerkung hinzugefügt werden: Wenn erklärt wird, daß in jenem Dynamismus der Ursprungaller Religion liege und in ihm das allen Religionen gemeinsame aufscheine,so wissen wir, daß der Ursprung der Religion in natürlicher wie übernatürlicher Gotteserkenntnis und Gottesverehrung, nicht im Unter- oder Unbewußten liegt, nicht in einem affektiven Impuls, sondern in der klaren ErkenntnisGottes aus seiner Natur und positiver Offenbarung. Das ist Lehre und Glaubeder Kirche vom Wort Gottes im Buche der Weisheit und im Römerbrief bishin zur Enzyklika „Pascendi Dominici gregis" Unseres seligen VorgängersPius X.

Dieses vorausgeschickt, bleibt aber immer noch die Frage jenes geheimnisvollen Dynamismus. Zu ihr dürfte zu sagen sein: Daß sich die Tiefenpsychologie auch mit religionspsychologischen Inhalten befaßt, sie zu analysierenund sie in ein wissenschaftliches System zu bringen sucht, ist sicher nicht zu

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beanstanden, wenn auch diese Forschung neu ist und ihre Terminologie sichin der Vergangenheit nicht findet. Wir machen auf dies letztere aufmerksam,weil es leicht zu Mißverständnissen führen kann, wenn die Psychologie bereits im Gebrauch stehenden Ausdrücken einen neuen Sinn gibt. Es wird derKlugheit und Zurückhaltung auf beiden Seiten bedürfen, um Mißverständnisse zu vermeiden und ein wechselseitiges Sichverstehen zu ermöglichen.

Es bleibt alsdann den Methoden Ihrer Wissenschaft überlassen, die Existenz,Struktur und Wirkungsweise eines solchen Dynamismus zu klären. Ein positives Ergebnis brauchte nicht als mit Vernunft oder Glauben unvereinbar bezeichnet zu werden. Es würde nur zeigen, daß das „esse ab alio" bis in seinetiefsten Wurzeln „esse ad alium" ist, und das Wort des hl. Augustinus „Fecistinos ad te, et inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te" (Conf. 1. 1c. 1 n. 1) fände eine neue, in den Urgrund des psychischen Seins greifendeBestätigung. Es würde sich ja um einen allen Menschen, allen Völkern, jederKultur und Epoche zukommenden Dynamismus handeln. Eine Hilfe, undzwar eine wertvolle, für die Suche nach Gott und die Bestätigung Gottes.

In den Bereich des Transzendent-Psychischen gehört sodann das Schuldbewußtsein, gegen ein höchstes Sollen trotz der erkannten Bindung verstoßenzu haben. Ein Bewußtsein, das zur Qual, ja zur schwerenpsychischen Störungwerden kann.

Die Psychotherapie steht hier vor einem Phänomen, das nicht zu ihrer ausschließlichen Zuständigkeit gehört, denn es ist ebenso, wenn nicht vorwiegendreligiös-sittlicher Art. Niemand wird in Abrede stellen, daß es ein unbegründetes, auch krankhaftes Schuldgefühl geben kann und nicht selten gibt. Eskann aber auch das Bewußtsein einer wirklichen Schuld vorliegen, die nichtbehoben ist. Weder die Psychologie noch die Ethik haben ein unfehlbaresKriterium für den Einzelfall, denn der Gewissensvorgang des Schuldigwerdens ist von einer zu stark persönlichen und feinen seelischen Struktur.Wesentlich aber ist, daß ein wirkliches Schuldgewordensein durch keine nurpsychologische Behandlung geheilt werden kann. Ob der Psychotherapeut esvielleicht im besten Glauben in Abrede stellt, es besteht fort. Mag durch dieärztliche Autorität, durch Auto- oder Fremdsuggestion das Schuldgefühl zumAbklingen gebracht werden — die Schuld bleibt, und es wäre Selbst- undFremdtäuschung, wollte die Psychotherapie, um das Schuldbewußtsein zu beheben, die Schuld als nicht mehr bestehend behaupten.

Der Weg, die Schuld zu beheben, liegt außerhalb des Reinpsychologischen;er liegt, wie der Christ es weiß, in der Reue und in der sakramentalen Lossprechung durch den Priester. Hier wird die Quelle des Übels, die Schuldselbst, weggenommen, auch wenn das Schuldbewußtsein noch weiterwirkensollte. Es ist heutzutage nicht selten, daß bei gewissen pathologischen Fällender Priester seinen Pönitenten an den Arzt verweist; hier ist der Fall gegeben,wo umgekehrt der Arzt seinen Patienten Gott bzw. jenen zuführen sollte, diedie Macht haben, ihm an Gottes Stelle die Schuld selber abzunehmen.

Ein letztes sei bezüglich des transzendenten psychischen Gerichtetseins aufGott betont: Die Ehrfurcht vor Gott und seiner Heiligkeit, die immer in dembewußten Tun und Lassen des Menschen sich widerspiegeln sollte. Wenn solches Tun — auch ohne subjektive Schuld des Handelnden — vom göttlichenUrbild abweicht, so widerspricht es seiner letzten Bestimmung. Hier liegt der

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Grund, warum auch die sogenannte „materielle Sünde" etwas ist, was nichtsein soll, warum sie in der sittlichen Ordnung nichts Indifferentes darstellt.

Für die Psychotherapie ergibt sich daraus eine Schlußfolgerung: Sie darfder materiellen Sünde nicht mehr gleichgültig gegenüberstehen. Sie mag dulden, was für den Augenblick unvermeidlich ist. Aber sie muß wissen, daß Gottjenes Tun nicht billigen kann. Noch weniger darf die Psychotherapie demKranken den Rat erteilen, das materiell Verkehrte ruhig weiterzutun, weiler es ja ohne subjektive Schuld tun wird, und dieser Rat ist auch dann abwegig, wenn solches Tun des Kranken für seine psychische Entspannung, alsofür den Zweck des Heilverfahrens notwendig erscheinen sollte. Es kann niezu einem bewußten Tun geraten werden, das eine Entstellung, kein Bild dergöttlichen Vollkommenheit wäre.

Das ist, was Wir glaubten, Ihnen vorlegen zu sollen. Seien Sie im übrigenversichert, daß die Kirche Ihr Mühen und Forschen mit warmer Teilnahmeund mit besten Wünschen begleitet. Sie arbeiten auf einem sehr schwierigenFeld. Aber Ihr Schaffen kann für die Heilkunde, für die Kenntnis des Seelischen überhaupt und für die religiöse Anlage und Vervollkommnung desMenschen wertvolle Ergebnisse zeitigen ...]

1 Übersetzung durch die Presseabteilung des Radio Vaticana, Rom.

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