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Johann Dvořák Politik, Ökonomie, Recht und Gewerkschaften Politik und Zeitgeschehen 10

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Johann Dvorak Stand: Dezember 2014

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Johann Dvořák

Politik, Ökonomie, Recht und Gewerkschaften

Politik und Zeitgeschehen 10

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PZG 10

Politik, Ökonomie, Recht und Gewerkschaften

Politik und Zeitgeschehen 10

Johann Dvorák

Politik, Ökonomie, Recht und Gewerkschaften

Dieses Skriptum ist für die Verwendung im Rahmen der Bildungs-arbeit des Österreichischen Gewerkschaftsbundes, der Gewerk-schaften und der Kammern für Arbeiter und Angestellte bestimmt.

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Inhaltliche Koordination: Peter Autengruber

Stand: Dezember 2014

Impressum:Layout/Grafik: Walter SchauerLayoutentwurf/Umschlaggestaltung: Kurt SchmidtMedieninhaber: Verlag des ÖGB GmbH, Wien

© 2013 by Verlag des Österreichischen Gewerkschaftsbundes GmbH, WienHerstellung: Verlag des ÖGB GmbH, WienVerlags- und Herstellungsort: WienPrinted in Austria

Zeichenerklärung

Hinweise

Beispiele

Zitate

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Inhalt

Das politische System Österreichs nach 1945 6

Demokratie, Sozial- und Wirtschaftspartnerschaft und das System der sozialen Sicherheit in Österreich 12

Erinnerung an Popkultur, Jugendkultur und Vollbeschäftigung in den hochindustrialisierten Zonen Europas 16

Wirtschaftskrisen, die Wiederkehr der Massenarbeitslosigkeit und neo-konservative/neo-liberale/post-moderne Vorstellungen von Politik und Ökonomie, Recht und Gesellschaft 20

Neokonservative Politik, politische Parteien und Gewerkschaften in Europa 24

Gewerkschaften, Recht und Politik (auf nationaler und transnationaler Ebene) 28

Die Wiederkehr von Rassismus und Nationalismus, ihre gesellschaftliche Funktion und ihre Bedeutung für die organisierte Interessenvertretung der Arbeitenden 32

Gewerkschaftliche Organisation, Bildungsarbeit und die Entwicklung eines krisenunabhängigen Bewusstseins 38

Literatur 40

Zum Autor 41

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1Das politische System Österreichs nach 1945

Die politische und gesellschaftliche Lage in Österreich im Jahre 1945 war ge-kennzeichnet durch die völlige Zerstörung aller organisierten Interessenvertre-tungen der arbeitenden Klassen durch zwei aufeinander folgende Diktaturen: Austrofaschismus und Nationalsozialismus.Und: durch ein buchstäbliches Ausgeblutetsein der Arbeiterbewegung, deren maßgebliche FunktionärInnen und AktivistInnen von den Nationalsozialisten systematisch liquidiert worden waren: als Juden/Jüdinnen, als Sozialdemokra-tInnen, als KommunistInnen. Die gesellschaftliche Funktion des Faschismus ist überall in Europa zunächst und vor allem die Zerstörung der Organisationen, der Interessenvertretungen, der arbeitenden Klassen gewesen. Das bedeutete die Zerschlagung der freien Gewerkschaften und der verschiedenen ArbeiterInnenparteien (Sozialdemokraten, Kommunisten ...). Es ging um die Ver-nichtung der organisatorischen Strukturen wie auch der maßgeblichen Personen.Damit zugleich wurden aber auch die Zukunftsperspektiven, die Erwartungen und Hoffnungen, die viele Menschen in Europa mit den Organisationen der Ar-beiterbewegung (mit ihren Zielsetzungen und ihrer eigenständigen politischen Kultur) verbunden hatten, grundlegend zerstört.Die mit dem Faschismus verbundenen rassistischen Ideologien, insbesondere der Antisemitismus, hatten im 19. und 20. Jahrhundert stets die Funktion des Abbaus bzw. der Zerstörung des politischen Bewusstseins der arbeitenden Klas-sen: „Rassenkampf statt Klassenkampf“ lautete nicht von ungefähr der dazu gehörige Leitspruch von Karl Lueger bis Adolf Hitler.Wird Faschismus der gesellschaftlichen Funktion nach betrachtet, dann ist es natürlich wichtig festzustellen, wer diese Funktion (nämlich die Zerstörung der

Der Faschismus hat massenhaft politisches Bewusstsein ausgelöscht und die Erinnerung daran, dass die arbeitenden Menschen ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen und die Gesellschaft demokratisch gestalten konnten. Österreich war das einzige von zwei (miteinander konkurrierenden und aufeinander folgenden) Faschismen betroffene Land: vom Austrofaschis-mus 1933 bis 1938 und vom Nationalsozialismus 1938 bis 1945.

Insgesamt kann gesagt werden, dass der wirtschaftliche Wiederaufbau Österreichs durch einen mehr als anderthalb Jahrzehnte dauernden mas-senhaften Einkommens- und Konsumverzicht ermöglicht worden ist, den die österreichischen Arbeiter und Angestellten bzw. ihre Familien zu tragen hatten.

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organisierten Interessenvertretungen der Arbeiter und Angestellten) ausgeübt hat. Es war der Austrofaschismus gewesen, der die Demokratie und die Arbeiter-bewegung in Österreich gründlich zerstört und das Land schließlich kampflos an das nationalsozialistische Deutschland ausgeliefert hatte. Die Nationalsozialisten führten das begonnene Werk mit ihrer Politik der Mas-senmorde weiter.Der relativ geringe Industrialisierungsgrad, der Österreich bis 1938 charakteri-siert hatte, war durch die nationalsozialistische kriegswirtschaftliche Politik deutlich verbessert worden: etwa in der Schwerindustrie im Raum Linz oder auch zum Teil durch den Kraftwerksbau (z. B. Kaprun). Diese Industriezweige und auch das ehemalige deutsche Industriekapital in der Mur-Mürz-Furche wurden verstaatlicht. So entstand in Österreich ein bedeutender staatskapitalistischer Industriesektor. Privatkapitalistisches Unternehmertum war dagegen in Österreich auch nach 1945 eher schwach.Die Wirtschafts- und Sozialpartnerschaft in Österreich nach 1945 war ein System, das aus der Schwäche sowohl der geschlagenen Arbeiterbewegung als auch aus der Schwäche des so genannten bürgerlichen Lagers heraus entstand.In den diversen Lohn-Preis-Abkommen wurde festgelegt, Lohn- und Preisstei-gerungsverzichte wechselseitig zu garantieren. Die Interessenverbände der Ar-beiter und Angestellten sowie der Industrieunternehmer, Kaufleute und Gewer-betreibenden sollten sich bemühen, jeweils ihre eigenen Mitglieder auf gewisse Lohn- und Einkommensverzichte einzuschwören.Da dies nur schwer gelang, kam es bei den Arbeitern und Angestellten immer wieder zu Streiks und Protestaktionen gegen den Lohnverzicht.

Der Faschismus hat massenhaft politisches Bewusstsein ausgelöscht und die Erinnerung daran, dass die arbeitenden Menschen ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen und die Gesellschaft demokratisch gestalten konnten. Österreich war das einzige von zwei (miteinander konkurrierenden und aufeinander folgenden) Faschismen betroffene Land: vom Austrofaschis-mus 1933 bis 1938 und vom Nationalsozialismus 1938 bis 1945.

Insgesamt kann gesagt werden, dass der wirtschaftliche Wiederaufbau Österreichs durch einen mehr als anderthalb Jahrzehnte dauernden mas-senhaften Einkommens- und Konsumverzicht ermöglicht worden ist, den die österreichischen Arbeiter und Angestellten bzw. ihre Familien zu tragen hatten.

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1Das politische System Österreichs nach 1945

Es war eine wichtige Funktion der verstaatlichten Industrie im Stahl-Bereich, in Privatbesitz befindlicher Finalindustrie Roh- und Halbfertigprodukte unter den Weltmarktpreisen zu liefern und ihnen so profitable Exporte zu ermöglichen.Als nach Jahrzehnten der Entbehrungen die in der verstaatlichten Industrie Tä-tigen endlich bessere Löhne und Rahmenbedingungen errangen, kam nach eini-gen Jahren das Gerede von „Privilegien“ auf, denen durch die Krise und Reform der Verstaatlichten ein Ende bereitet werden sollte.Aus der Perspektive der späten 1960er- und der 1970er-Jahre erschien so man-chen „fortschrittlichen“ oder gar „linken“ KritikerInnen der Sozialpartnerschaft dieses „österreichische Modell“ als die Ursache vieler sozialer Übel: Alles, was an Mängeln des politischen Bewusstseins, der demokratischen Kultur, der linken Organisation beobachtet werden konnte, wurde in dämonisierender Weise der Sozialpartnerschaft als eigentlichem Verursacher zugeordnet.

Nicht beachtet wurde dabei seitens der diversen KritikerInnen, wie denn die wirklichen Zustände in den ersten zehn bis fünfzehn Jahren der Zweiten Repu-blik waren:

x wie gewerkschaftliche Organisationen und Parteiorganisationen mühselig wieder aufgebaut werden mussten;

x wie gerade in den in der Kriegszeit aufgebauten Industrien zahlreiche Be-schäftigte erst in der Nazizeit als IndustriearbeiterInnen sozialisiert worden waren und dementsprechende politische Einstellungen aufwiesen;

x wie die beiden Faschismen für die Masse der Bevölkerung in ungeheurer Weise Lebensperspektiven und Hoffnungen individueller und gesellschaft-licher Art vernichtet hatten.

Was immer jemandem an „proletarischer Militanz“ wünschenswert erscheinen mag, für die Arbeiter und Angestellten ist es nicht so wichtig, ob eine Lohnerhö-hung, eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen, durch Streiks zu Stande kommt oder durch Verhandlungen am grünen Tisch. Wesentlich ist, dass diese Verbesserungen zu Stande kommen. Das Ergebnis zählt, nicht die Methode.Nach 1945 bedeutete für Österreich das System der Sozial- und Wirtschafts-partnerschaft und das mit ihr eng verknüpfte System der Großen Koalition (unter der Führung der ÖVP) tatsächlich eine völlig neue Qualität der politi-

Die Sozial- und Wirtschaftspartnerschaft kann daher von gewerkschaft-licher Seite als ein (nicht unbedingt einziges) institutionelles Instrument zur Wahrung und Durchsetzung der eigenen Interessen betrachtet werden und nie als ein Ersatz für die eigene organisatorische Stärke.

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schen Kultur: Erstmals wurden zwischen den Interessenverbänden und den ihnen nahe stehenden großen politischen Parteien politische und zum Teil auch ökonomische Einflusssphären abgesteckt, wurden auf dem Verhandlungswege immer wieder Interessensausgleiche geschaffen. Was bei der Entstehung der Republik und der Verfassung etwa Hans Kelsen vorschwebte – die Schaffung von zivilisierenden Spielregeln und Institutionen sowie die Überwindung der Kreuzzugsmentalität der habsburgisch-katholischen Politkultur -, wurde in ge-wisser (wenn auch sicherlich unvollkommener) Weise erreicht.Die öffentliche Verwaltung im Bund und in den meisten Bundesländern, die Handelskammern, die landwirtschaftlichen Genossenschaften und so manche große Versicherungen waren ja nach 1945 wiederum die Machtbasis des (so genannten bürgerlichen) konservativen Lagers gewesen. Es wurden jedoch nun-mehr gleichsam geschützte Bereiche geschaffen, in denen auch Sozialdemokra-tInnen Anstellungen finden konnten: in den zur SPÖ zählenden Ministerien und in der verstaatlichten Industrie.Es war vor allem die politische Subkultur der Wirtschafts- und Sozialpartner-schaft, die dem politischen System Österreichs ein wenig demokratische Zivi-lisation einbrachte; zumindest eine gewisse Verhandlungskultur hinter ver-schlossenen Türen. Was gerne als politisches Proporzdenken, als ausgepackeltes Vergeben von Wohnungen, Arbeitsplätzen, „Pfründen“ verteufelt worden ist, war in Wirklich-keit auch ein ziemlich rationales und durchschaubares System der politi-schen Patronanz, des Verteilens von Macht und Einfluss. Dies führte zum Teil auch zur materiellen Verbesserung der Lebenslage der Massen. Es war die Ausformung einer doch ein wenig demokratischen politischen Kultur vor dem Hintergrund jahrhundertelanger Unterdrückung und politischer Unmündigkeit

Die Sozial- und Wirtschaftspartnerschaft kann daher von gewerkschaft-licher Seite als ein (nicht unbedingt einziges) institutionelles Instrument zur Wahrung und Durchsetzung der eigenen Interessen betrachtet werden und nie als ein Ersatz für die eigene organisatorische Stärke.

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1Das politische System Österreichs nach 1945

1945 Johann Böhm

1945-1956 Karl Maisel

1956-1966 Anton Proksch

1966-1970 Grete Rehor

1970-1976 Rudolf Häuser

1976-1980 Gerhard Weißenberg

1980-1989 Alfred Dallinger

1989-1990 Walter Geppert

1990-1995 Josef Hesoun

1995-1997 Franz Hums

1997-2000 Eleonora Hostasch

2007-2008 Erwin Buchinger

seit 2008 Rudolf Hundstorfer

SozialministerInnen der Zweiten Republik

Die meisten SozialministerInnen der Zweiten Republik kamen aus der Gewerkschaft. Ausnahmen bildeten nur die FPÖ/BZÖ-MinisterInnen Elisabeth Sickl, Herbert Haupt und Ursula Haubner.

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der Bevölkerung. Das System des politischen Proporzes war auch die Methode, mit der in Österreich das System der parlamentarischen Demokratie in der Be-völkerung verankert wurde.Es kann nun – auch im Rückblick – keineswegs um eine dauerhafte Verklärung der Sozial- und Wirtschaftspartnerschaft gehen, denn es geht bei ihr durchaus um Machtbeziehungen.Entscheidend für eine dauerhaft erfolgreiche Vertretung von ArbeitnehmerIn-nen-Interessen ist die organisatorische Fähigkeit zum Streik oder zu son-stigen Aktionen. Gibt es nämlich keine starke gewerkschaftliche Organisation, gibt es auch kein ausgeprägtes politisches und gewerkschaftliches Bewusstsein bei den Arbeitern und Angestellten. Folglich gibt es nur eine mangelnde Bereit-schaft zur kollektiven Aktion, aber gerade dann werden Verhandlungen am grünen Tisch allein wenig bewirken können.

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2Demokratie, Sozial- und Wirtschaftspartnerschaft

Das System der Sozial- und Wirtschaftspartnerschaft und der großen Koalition in Österreich zwischen 1945 und 1966 beförderte und bewirkte eigentümliche Neigungen zur „Verrechtlichung“ in vielen Bereichen. Da die österreichische Bundesverfassung für die beiden großen politischen Parteien ÖVP und SPÖ nach 1945 kein Streitgegenstand mehr war, gab es keine besondere Wachsamkeit und zunehmend keine besondere Sensibilität bezüglich des Umgangs mit rechtlichen Regelungen im Verfassungsrang.Die österreichische Bundesverfassung zeichnet sich dadurch aus, dass sie vor allem ein Katalog von politischen Spielregeln ist: der Bundesgesetzgeber (= das Parlament), die Exekutive (Bundespräsident, Bundesregierung, Verwaltung) und die Gerichte haben sich an diese Spielregeln zu halten. Bei Regelverletzungen durch die staatliche Obrigkeit können betroffene BürgerInnen dagegen Be-schwerde führen.Eine besondere „Spielregel“ in der österreichischen Bundesverfassung besagt, dass der Nationalrat jede rechtliche Norm, jedes Gesetz und auch Teile eines Gesetzes in Verfassungsrang erheben kann, wenn nur die dafür geltenden for-malen Regeln beachtet werden: also Zweidrittelmehrheit bei Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Abgeordneten.Der Verfassungsgerichtshof kann – auf Antrag – jedes mit einfacher Mehrheit im Nationalrat zu Stande gekommene Gesetz auf seine Übereinstimmung mit der Bundesverfassung überprüfen. Der Verfassungsgerichtshof kann dies aber nicht tun bei Gesetzen und Gesetzesteilen im Verfassungsrang. Daher ist der Nationalrat in der Lage, beliebige Gesetzesbereiche der Kontrolle des Verfas-sungsgerichtshofes zu entziehen, indem er sie in Verfassungsrang erhebt.

Dem Prinzip nach ist diese Möglichkeit durchaus positiv zu sehen, nämlich als konsequente Ausführung des demokratischen Prinzips:

x kein Gerichtshof steht über dem Volke;

x das Parlament als Volksvertretung ist der Souverän, ist allerdings ebenfalls den Spielregeln der demokratischen Verfassung unterworfen;

x der Verfassungsgerichtshof prüft vor allem die Einhaltung der Verfahrens-regeln.

In der österreichischen Politikwissenschaft wird die Sozialpartnerschaft gern in Zusammenhang mit der Bezeichnung „Korporatismus“ gebracht. Das deutet indirekt eine Ähnlichkeit mit dem italienischen Faschismus und der ständestaatlichen Formierung durch den Austrofaschismus an. Auch das österreichische System der Kammern wird gelegentlich in die Nähe ständestaatlicher Traditionen gerückt. All das ist höchst problema-tisch und fragwürdig.

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Wenn allerdings die Parlamentarier selber (in den späten 1940er-, den 1950er- und 1960er-Jahren aus verständlichen Gründen der wechselseitigen politischen Absicherung, seit den 1990er-Jahren und heutzutage eher mutwillig) das In-strument des Erhebens von einfachen Gesetzen und Gesetzesteilen in Verfas-sungsrang bemühen, dann ist dies demokratiepolitisch sehr bedenklich und kann durchaus eine schleichende Aushöhlung der demokratischen Verfassung bedeuten. Die großen Koalitionen 1945–1966 und (soweit sie über die Zweidrittelmehrheit verfügten) nach 1987 haben von der Möglichkeit der Erhebung einfachgesetz-licher Regelungen in den Verfassungsrang gerne Gebrauch gemacht. Dadurch wurden rechtliche Bestimmungen aller Art in den Verfassungsrang erhoben: von zeitlich begrenzten Marktordnungsregelungen bis hin zur Vergabe von Taxikon-zessionen. Auffällig ist: Bei arbeits- und sozialrechtlichen Bestimmungen herrschte weitgehend die Überzeugung, es bedürfte keiner besonderen Absicherung durch Verfassungsbestimmungen, da ja die Beschlussfassung über die Gesetze auf sozialpartnerschaftlichem Konsens beruhte.Der Zeitraum von den frühen 1950er-Jahren bis etwa Mitte der 1980er-Jahre kann als eine Periode der zunehmend gesicherten und funktionierenden Sozial- und Wirtschaftspartnerschaft angesehen werden. Selbst in Zeiten der ÖVP-Al-leinregierung (1966–1970) und der SPÖ-Alleinregierungen (1970–1983) sowie während der kleinen SPÖ-FPÖ-Koalition (1983–1986) stand die Konsenspolitik nie in Frage.

In der österreichischen Politikwissenschaft wird die Sozialpartnerschaft gern in Zusammenhang mit der Bezeichnung „Korporatismus“ gebracht. Das deutet indirekt eine Ähnlichkeit mit dem italienischen Faschismus und der ständestaatlichen Formierung durch den Austrofaschismus an. Auch das österreichische System der Kammern wird gelegentlich in die Nähe ständestaatlicher Traditionen gerückt. All das ist höchst problema-tisch und fragwürdig.

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Es zeigt sich nämlich in der historischen Betrachtung, dass Institutionen der Sozialpartnerschaft jeweils in Zeiten der ökonomischen Rückständigkeit und der relativen Stärke der ArbeiterInnenbewegung ausgeformt werden (in der späten Habsburgermonarchie, in den Anfängen der Ersten und Zweiten Republik).Erst ab etwa Mitte der 1980er-Jahre, nach der Zerschlagung und Privatisie-rung der verstaatlichten Industrie, sowie im Gefolge der zunehmenden Einsicke-rung neo-konservativen Gedankenguts und des EU-Beitritts begann eine (nicht sogleich erkennbare) Krise der Sozialpartnerschaft.Eine wesentliche Funktion des Faschismus war dagegen stets die Zerstörung der Arbeiterbewegung und „Korporatismus“ bedeutete in diesem Zusammenhang die Eingliederung ihrer Reste in das faschistische Staats- und Volksganze.In dem Ausmaß allerdings, in dem das System der sozialen Sicherheit im Gefolge offener oder verdeckter neo-konservativer Politik in Österreich stückweise abge-baut wurde und abgebaut wird, erübrigen sich zunehmend die Formen instituti-onalisierter Verhandlungs- und Konfliktregelungen. Veränderungen in den poli-tischen Machtverhältnissen in Parlament und Regierung haben dazu ebenso entscheidend beigetragen wie die zuvor schon in Gang befindlichen Verände-rungen der ökonomischen Strukturen und der strukturellen Schwächung der Kammern und Interessenverbände.Es wird dies vor allem auf eine Schwächung der Gewerkschaften im Gefolge der so genannten Globalisierung des Kapitalismus zurückgeführt. Die struktu-relle Schwächung der österreichischen Gewerkschaften erfolgte zwar sehr wohl

2Demokratie, Sozial- und Wirtschaftspartnerschaft

Das System der Sozial- und Wirtschaftspartnerschaft in Österreich, ge-stützt auf die Säulen staatliche Verwaltung, freie Interessenverbände und Kammern, ist zu einem System der sozialen Sicherheit für alle entwickelt worden. Und zwar nicht unter Ausschaltung der parlamentarischen De-mokratie bzw. Beugung und Aushöhlung des rechtsstaatlichen Prinzips, sondern im Rahmen der österreichischen Bundesverfassung und unter Nutzung der Einrichtungen demokratischer Selbstverwaltung (von den Kammern bis hin zu den Sozialversicherungen).

Verliert eine der drei Säulen der Sozial- und Wirtschaftspartnerschaft (Regierung, freie Interessenverbände, Kammern) das Interesse am Funkti-onieren des Systems und/oder an politischer Macht und an politischem Einfluss, dann kann dieses System durch bloßes Wünschen und den guten Willen der anderen „Partner“ nicht bewahrt werden.

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durch die Zerschlagung und Privatisierung der verstaatlichten Industrie und Banken sowie des weitgehenden Wegfalls des genossenschaftlichen Sektors. Doch die Aushöhlung der politischen Bedeutung der Sozialpartnerschaft in Ös-terreich ist vor allem durch den dramatischen Verlust an Einfluss seitens der organisierten Interessenvertretungen der traditionell kleinen österreichischen Unternehmungen verursacht worden. In Österreich hieß „Globalisierung“ vor allem (nicht zuletzt infolge des EU-Bei-tritts) das verstärkte und beschleunigte Eindringen deutschen Kapitals. Verbun-den mit den allgemeinen Konzentrationsprozessen bedeutete dies eine stetig gesteigerte Schwächung der gewerblichen Wirtschaft und der kleineren Unter-nehmen bzw. deren Interessenvertretungen in Kammern und Verbänden.Im Bereich der Europäischen Union gibt es weder das System der Kammern noch jenes der Sozial- und Wirtschaftspartnerschaft, wie es für Österreich bis vor wenigen Jahren charakteristisch war.

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Das System der Sozial- und Wirtschaftspartnerschaft in Österreich, ge-stützt auf die Säulen staatliche Verwaltung, freie Interessenverbände und Kammern, ist zu einem System der sozialen Sicherheit für alle entwickelt worden. Und zwar nicht unter Ausschaltung der parlamentarischen De-mokratie bzw. Beugung und Aushöhlung des rechtsstaatlichen Prinzips, sondern im Rahmen der österreichischen Bundesverfassung und unter Nutzung der Einrichtungen demokratischer Selbstverwaltung (von den Kammern bis hin zu den Sozialversicherungen).

Verliert eine der drei Säulen der Sozial- und Wirtschaftspartnerschaft (Regierung, freie Interessenverbände, Kammern) das Interesse am Funkti-onieren des Systems und/oder an politischer Macht und an politischem Einfluss, dann kann dieses System durch bloßes Wünschen und den guten Willen der anderen „Partner“ nicht bewahrt werden.

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3Erinnerung an Popkultur und Vollbeschäftigung

In den 1960er- und frühen 1970er-Jahren existierte in allen hochindustrialisier-ten Gesellschaften West-, Nord- und Zentraleuropas tatsächlich Vollbeschäfti-gung, und zwar auch für Jugendliche. Mehr noch: Es gab sogar einen Mangel an Arbeitskräften und es wurden Arbeits-immigrantInnen aus den industriell wenig entwickelten süd- und südosteuropä-ischen Ländern massenhaft in die hochentwickelten Industrieländer „einge-führt“.Zum ersten Mal in der Geschichte des Kapitalismus gab es in Friedenszeiten nicht nur Vollbeschäftigung, sondern vor allem die Perspektive einer dauer-haften, lebenslangen Beschäftigung für alle, die nach Lohnarbeit strebten. Dies zog einen ungeheuren Wandel im Bewusstsein der Menschen bzw. eine beträchtliche Steigerung der Familieneinkünfte mit sich. Viele Jugendliche hat-ten nunmehr ein (wenn auch oft zunächst nur geringes) eigenes und – vor allem – einigermaßen sicheres Einkommen. Es gab darüber hinaus die Möglichkeit, Kredite zu erhalten. Die zahlreichen Kleinkredite der Banken und Sparkassen bedeuteten enorme Erweiterungen der Konsummöglichkeiten gerade der Ju-gendlichen (von Lederjacken bis zu Mopeds).Eigenes Einkommen, eigenständige, erweiterte Konsummöglichkeiten verrin-gerten bei arbeitenden Jugendlichen die Abhängigkeit von den Eltern und er-möglichten die Ausbildung einer spezifischen Jugendkultur. Diese Kultur war wesentlich eine Subkultur der arbeitenden Klassen und war erstmals von Freude, Konsum und relativer Autonomie geprägt, und nicht von der Bewirtschaftung des Mangels und der dazugehörigen rigiden Moral. Das neue Lebensgefühl erweckte den Hass und Neid der spießerhaften Kleinbürge-rInnen und das Unverständnis jener älteren ArbeiterInnen und Angestellten, die aus ihrer eigenen lebensgeschichtlichen Erfahrung eher die Dauerhaftigkeit des Elends abzuleiten bereit waren, denn seine Überwindung.Die neue Lebensweise ist nur möglich geworden durch die massive Verbesse-rung der materiellen Lage und die damit verbundene relative Arbeitsplatzsi-cherheit der Jugendlichen. Damit wurde auch erstmals einer großen Zahl von jungen Menschen die Perspektive einer längerfristigen Lebensplanung eröffnet und die Furcht davor genommen, schon am nächsten Tag oder in der nächsten Woche wieder arbeitslos zu sein.

Die Welt erschien vielen (vor allem den Jüngeren) nicht länger notwendi-gerweise als eine des natürlichen Mangels, sondern als eine Welt der ungeheuren Reichtümer, die nur richtig verteilt zu werden brauchten. Die Gesellschaft erschien als politisch — demokratisch — gestaltbar; das individuelle und kollektive „Schicksal“ als zum Besseren hin planbar.

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Während die Bilder der Kulturindustrie eine Welt der Freiheit, der Gleichheit und des humanen Zusammenlebens der Menschen suggerierten, während die Pop-kultur (in der Mode, in den Gegenständen des alltäglichen Bedarfs, im Konsum der populären Kunst, aber auch im allgemeinen Konsum) zunehmend egalitäre Verhältnisse signalisierte, blieben die kapitalistischen Verhältnisse bestehen. In der damaligen Popkultur wurde nicht die Aufforderung zum abermaligen Konsumverzicht für die große Zahl der Bevölkerung propagiert, sondern ein schöneres, besseres Leben für alle: Die Begehrlichkeit der Massen war ja ein wesentlicher Bestandteil des wirtschaftlichen Booms. Die massenhafte Produktion von Gütern brachte zahlreiche Arbeitsplätze mit sich, die massenhafte Konsumption der erzeugten Güter half die Arbeitsplätze zu sichern – und sicherte auch die Profite der kapitalistischen Unternehmen. Die Interessen des Kapitals und die Interessen der ihm unterworfenen arbeitenden Klassen schienen weitgehend identisch zu sein.Das war auch das wesentliche Problem für die Interessen des Kapitals. Es schien sich eine Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise anzu-kündigen: Nicht – wie immer wieder befürchtet – auf der Grundlage der Politik der Arbeiterparteien, sondern – schlimmer noch – auf der Grundlage einer Viel-zahl von, durch die neue kapitalistische Lebensweise selbst erzeugten, neuen Bedürfnisse und Interessen. Es entwickelte sich ein verbreitetes Bewusstsein vom ungeheuren Reichtum an von Menschen erzeugten Gütern und an menschlichen Kenntnissen und Fertig-keiten. Es wurde keineswegs so etwas wie gleichförmiges Klassenbewusstsein ausge-formt, jedoch ein weites Bewusstsein davon, dass ein gutes Leben für alle mög-lich wäre (in der Ersten wie in der Dritten Welt).

Die Welt erschien vielen (vor allem den Jüngeren) nicht länger notwendi-gerweise als eine des natürlichen Mangels, sondern als eine Welt der ungeheuren Reichtümer, die nur richtig verteilt zu werden brauchten. Die Gesellschaft erschien als politisch — demokratisch — gestaltbar; das individuelle und kollektive „Schicksal“ als zum Besseren hin planbar.

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Dieses allgemeine Bewusstsein wäre auf Dauer eine Gefahr für das kapitalis-tische System geworden. Die neue Ahnung von einem möglichen guten Leben für alle mochte sich ver-dichten zu besseren kollektiven Organisationsformen zur politischen Durchset-zung der Bedürfnisse und Interessen der arbeitenden Klassen, welche die über-wiegende Mehrheit der Bevölkerung ausmachten. In den hochindustrialisierten Ländern bedeuteten ja Vollbeschäftigung und Ar-beitskräftemangel eine enorme Stärkung der Gewerkschaften.Es zeigte sich immer wieder eine (Re-)Konstituierung von proletarischem Be-wusstsein (d. h. dem Bewusstsein, einer eigenen sozialen Klasse der Arbeiter und Angestellten anzugehören). Diverse SozialwissenschaftlerInnen hatten freilich auch damals schon (und zwar seit den späten 1940er- und den 1950er-Jahren) von der Auflösung der alten Klassengefüge, von der „nivellierten Mittelklassengesellschaft“ und vom „Ende des Proletariats“ erzählt.Die oberen sozialen Klassen hatten und haben immer ein Bewusstsein von ihrer gesellschaftlichen Lage und ihren Interessen. Die Angehörigen der unteren sozi-alen Klassen sollten ihre Interessen nicht wahrnehmen und sich demütig in ihr angestammtes Schicksal fügen. Unter den Bedingungen kapitalistischer Produktionsweise gab es darüber hinaus stets Prozesse und Strategien der Aufspaltung und Zersplitterung der ar-beitenden Klassen: durch unterschiedliche Löhne, durch unterschiedliche Aus-bildung, durch unterschiedliche politische Berechtigungen, durch Unterschei-dungen zwischen Ansässigen und Zuwanderern, und nicht zuletzt durch die Unterscheidung Arbeitende und Arbeitslose.Es ging seitens der oberen Klassen immer darum zu vermeiden, dass ein umfas-sendes Zusammengehörigkeitsgefühl der Angehörigen der arbeitenden Klassen, sprich ein gemeinsames Klassenbewusstsein, entstehen konnte. Zusammen-gehörigkeit, Solidarität, Bewusstsein von gemeinsamen Nöten und Interessen, von der Notwendigkeit gemeinsamen, organisierten Handelns und organisierter Interessenvertretung müssen immer wieder von neuem erlernt werden.Sie sind keineswegs durch die ökonomische Situation und soziale Lage automa-tisch bei den Individuen als Bewusstsein vorhanden.

3Erinnerung an Popkultur und Vollbeschäftigung

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Auf die Zeit der 1960er- und frühen 1970er-Jahre bezogen lässt sich (vor allem was die Jungen betrifft) feststellen: Die „neue Klassenlosigkeit“ der Arbeitenden bedeutete für die Herrschenden nichts Gutes. Denn es war dies kein Sich-Abfinden mit den bestehenden Verhält-nissen, sondern eine Vorstellung von durchaus egalitären gesellschaftlichen Zuständen – davon, dass es allen in gleicher Weise gut gehen könnte. Derartige „neue Klassenlosigkeit“ im Bewusstsein junger arbeitender Men-schen war nicht die Übernahme der von oben propagierten Ideologien, sondern die ansatzweise Vorwegnahme künftiger gesellschaftlicher Verhältnisse.

Die Rolling Stones haben einiges von dem damaligen Lebensgefühl in einem ihrer Songs im Jahre 1969 so ausgedrückt:

„You can‘t always get what you want, You can‘t always get what you want, You can‘t always get what you want, But if you try sometimes, You might find you get what you need!“

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4Wirtschaftskrisen und Wieder-kehr der Massenarbeitslosigkeit

Ab etwa 1973 begannen sich die Verhältnisse in den hochindustrialisierten Ländern grundsätzlich zu wandeln: eine große, weltweite Wirtschaftskrise setzte ein oder besser: eine Abfolge von Krisen.Der Kapitalismus ist allerdings welthistorisch jenes Gesellschafts- und Wirt-schaftssystem, das – als System insgesamt – aus Krisen gestärkt, und nicht ge-schwächt, hervorgeht: Mögen einzelne Unternehmen untergehen, mögen einzelne UnternehmerInnen – wie es so schön heißt – den „bürgerlichen Tod“ erleiden, mögen zahlreiche Menschen arbeitslos werden und in Not und Elend dahinvegetieren: Der Kapita-lismus insgesamt wird dadurch nicht gefährdet, sondern vielmehr gesichert und gestärkt.Seit etwa Mitte der 1970er-Jahre wird wieder die Vorstellung von der Be-schränktheit der Ressourcen, von der Unmöglichkeit der bewussten planvollen Lebens- und Weltgestaltung propagiert: „Not lehrt beten“. Mangel und Elend zerstören jegliches Bewusstsein vom möglichen guten Le-ben für alle Menschen (und auch die Erinnerung daran, dass es einst jene Hoffnung gegeben hat). Die ständige Unsicherheit des Arbeitsplatzes ver-hindert die Entwicklung längerfristiger Lebensperspektiven und macht unter-tänig und gefügig.Für Millionen von jungen Menschen in Europa (von den USA und der Dritten Welt ganz zu schweigen) hat das künftige Leben vor allem die Aussicht auf Ar-beitslosigkeit und Not zu bieten. In der Hoffnungslosigkeit bieten Drogen und Surrogate wiederum Orientie-rung: von religiösen und säkularen Fundamentalismen über die Propagierung von rassistischen und nationalistischen Lehren, über die Feuilletons, die gegen-wärtige Popmusik ... bis hin zu den chemischen Substanzen.

Die Erinnerung an das Zerstörte und an die Ursachen und Gründe für die Zerstörung der Ansätze eines relativen Wohlstandes und erweiterter Lebensperspektiven der Massen soll keineswegs der weiteren Förderung der Resignation und dessen, was nunmehr als postmoderner Zeitgeist gilt, dienen.

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Die Erinnerung an die Popkultur der 1960er- und frühen 1970er-Jahre dient dem Hinweis darauf, was alles an ansatzweiser Entfaltung von Egalität, von bewusster Multikulturalität, von Perspektiven einer die Barbarei des Kapitalis-mus überwindenden Gesellschaftsordnung (ohne die Errungenschaften, d. h. den enormen materiellen Reichtum des Kapitalismus preiszugeben) vorhanden gewesen ist. (Erinnerung birgt stets die Möglichkeit der abermaligen Aktualisie-rung in sich, darum ist der Kampf um die richtige Auffassung von historischen Geschehnissen immer von Bedeutung.)Als wesentliche Aufgabe des modernen Staates ist herkömmlich die Siche-rung des Eigentums bzw. die Ermöglichung weiterer Anhäufungen von Reich-tum angesehen worden. Zunehmend erschien der Staat aber – darüber hinaus-gehend – auch als ein Instrument, das (mit der Ausdehnung des Wahlrechtes und der Ausbreitung demokratischer Republiken oder der Existenz stark parla-mentarisch fundierter konstitutioneller Monarchien) auch die Besitzlosen zur Durchsetzung ihrer Interessen in Anspruch zu nehmen vermochten.Nun ist das allgemeine Wahlrecht noch immer verbreitet; selbst im Gefolge der wiederkehrenden Massenarbeitslosigkeit und der schrittweisen Verelendung in Europa und den USA gibt es keine Wiedereinführung eines an Besitzqualifikation gebundenen Wahlrechts.Jedoch wurde — und wird — die große Zahl der Bevölkerung in die politische Resignation getrieben. Wenn durch die Ausübung des politischen Stimmrechts die materiellen Lebensbedingungen nicht verbessert werden, dann steigt die Neigung, auf dieses Recht überhaupt zu verzichten.

Die seit den 1980er-Jahren (von England und den USA ausgehenden) verbrei-teten neo-konservativen Vorstellungen von Politik – und vor allem die poli-tische Praxis des Neo-Konservativismus – trachteten ohnehin nach einer neuen Rolle des Staates, nach einer anderen Art von Politik:

x Es geht um eine Zurückdrängung des Staates („Mehr privat, weniger Staat!“).

x Zugleich geht es um eine „Gesundung“ der Staatsfinanzen, um einen Abbau der Staatsverschuldung.

Dabei ist immer wieder bemerkenswert, dass nie nach der Sinnhaftigkeit und nach der Struktur der Staatsschulden gefragt wird; nach den jeweiligen Ursa-

Die Erinnerung an das Zerstörte und an die Ursachen und Gründe für die Zerstörung der Ansätze eines relativen Wohlstandes und erweiterter Lebensperspektiven der Massen soll keineswegs der weiteren Förderung der Resignation und dessen, was nunmehr als postmoderner Zeitgeist gilt, dienen.

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chen konkreter Kreditaufnahmen, nach der tatsächlichen Verwendung der Kre-ditmittel; kurz: nach der jeweiligen konkreten Sinnhaftigkeit (oder eventuell auch Sinnlosigkeit) der Staatsverschuldung. Es gibt für die breite Öffentlichkeit – außer diversen globalen Horrormeldungen – keinerlei detaillierte Informationen über Kreditsummen, Kreditkonditionen, Laufzeiten etc. sowie über den Einsatz der geliehenen Geldmittel.Der öffentliche Haushalt wird einem privaten Haushalt gleichgesetzt und zugleich die „schreckliche Schuldenlast“ betont: die Staatsverschuldung er-scheint so wie die Verschuldung eines Individuums. Demgegenüber wäre an die alte ökonomische Weisheit zu erinnern, dass Private sich nach der Maßgabe ih-rer Einkünfte verhalten müssten, während der Staat seine Einnahmen an den für notwendig erachteten Ausgaben orientieren (also Steuern erhöhen) könnte.

x Der Staat soll „gesundgeschrumpft“ werden.

Das Gesundschrumpfen soll sowohl das Personal des Staatsapparates betreffen (also die BeamtInnen) als auch die Staatsausgaben, die zur Verfügung stehenden Budgetmittel bzw. die Staatstätigkeit insgesamt.

Schmackhaft gemacht wird dies oft durch „Steuerreformen“ (oder auch nur deren Ankündigung), durch angebliche steuerliche Entlastungen aller Bürge-rInnen in gleicher Weise (tatsächlich jedoch oft nicht einmal zu Gunsten der BezieherInnen mittlerer Einkommen, sondern vor allem der wirklich Reichen).Es werden vor allem jene – zivilen – Staatstätigkeiten abgebaut, die der großen Zahl der Bevölkerung zugute gekommen sind oder zugute kommen könnten: öffentliche Dienstleistungen von Kindergärten, Schulen, Universitäten, medizi-nischen Versorgungseinrichtungen bis zu Verkehr und Wohnungswesen.Einkommensschwache und auch zahlreiche BezieherInnen mittlerer und höherer Einkommen können die entfallenden oder verschlechterten staatlichen Dienst-leis tungen nicht einfach durch individuelle Vorsorge wettmachen. Doch dies ist

4Wirtschaftskrisen und Wieder-kehr der Massenarbeitslosigkeit

Auffällig ist hierbei immer wieder, welche Staatstätigkeiten eingeschränkt werden, wer von welcher steuerlichen Belastung besonders entlastet wird, wer von alldem besonders profitiert bzw. darunter besonders leidet.

Dieses freie Spiel der Kräfte kann für einige der Armen und Leidenden ergänzt werden durch Maßnahmen privater Mildtätigkeit: Für die Rei-chen war gesellige Organisierung von Wohltätigkeit stets ein recht ange-nehmer Ausgleichssport, der zugleich die beruhigende Gewissheit um das eigene Wohlergehen und ein gutes Gewissen (infolge der guten Taten) verschaffte.

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keineswegs Gegenstand der öffentlichen Debatte im Rahmen neo-konservativer Politik. Dafür werden gerne die Ausgaben für „Sicherheit“ enorm erhöht: Militär, Polizei, Strafjustiz und Zwangsverwaltung im Sozialbereich können (in etwa dieser Reihenfolge abgestuft) mit zusätzlichen Budgetmitteln rechnen.Wesentlich für neo-konservative Politik ist die Schaffung eines permanenten Krisenbewusstseins. Die Welt ist voller ungeheurer – und zugleich diffuser – Gefahren: von der Kernkraft über das Ozonloch, aussterbende Tierarten, ster-bende Wälder bis hin zu Drogenbaronen, zur Ostmafia, zur völkischen Überfrem-dung, zu Triebverbrechern ... das Böse ist immer und überall ...Und gegen dieses diffuse und nicht recht fassbare Böse soll ebenso militärisch wie moralisch aufgerüstet werden. Und damit wird dann auch die Umverteilung innerhalb der Staatsfinanzen begründet.„Krise“ ist aber für die Neokonservativen keine gesellschaftliche und keine ökonomische, sondern vor allem eine kulturelle Kategorie:Wenn nur die angestammten Werte, die einst – angeblich – vorhandene Kultur der individualistischen Leistung, wenn Sitte und Anstand etc. wiederhergestellt werden könnten, dann werden alle Probleme gelöst sein.Nach dieser Logik muss der Staat aufhören, die Schwachen und Schlechten zu fördern und die Starken und Tüchtigen zu schwächen. Er muss alle kollektivisti-schen Elemente (also die öffentliche Vorsorge vor den Auswirkungen des Kapi-talismus, welche die Individuen erleiden und gegen die sie sich nicht allein schützen können) beseitigen. Damit kann das „freie Spiel der Kräfte“ im Rahmen der „freien Marktwirtschaft“ wieder ermöglicht werden. An die Stelle von politi-schen und sozialen Rechten in der Demokratie tritt wiederum die „natürliche“ Ökonomie, der naturwüchsige Kapitalismus.

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Auffällig ist hierbei immer wieder, welche Staatstätigkeiten eingeschränkt werden, wer von welcher steuerlichen Belastung besonders entlastet wird, wer von alldem besonders profitiert bzw. darunter besonders leidet.

Dieses freie Spiel der Kräfte kann für einige der Armen und Leidenden ergänzt werden durch Maßnahmen privater Mildtätigkeit: Für die Rei-chen war gesellige Organisierung von Wohltätigkeit stets ein recht ange-nehmer Ausgleichssport, der zugleich die beruhigende Gewissheit um das eigene Wohlergehen und ein gutes Gewissen (infolge der guten Taten) verschaffte.

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5Neokonservative Politik und Gewerkschaften

Die seit den 1980er-Jahren weit verbreitete neo-konservative Vorstellung von Politik trachtete nach einer neuen Rolle des Staates, nach einer anderen Art von Politik. Es schien um eine Zurückdrängung des Staates zu gehen („Mehr privat, weniger Staat!“) und zugleich um eine „Gesundung der Staatsfinanzen“, um einen Abbau der Staatsverschuldung. Es wurden vor allem jene Staatstätigkeiten abgebaut, die der großen Zahl der Bevölkerung zugute gekommen sind oder zugute kommen könnten: öffentliche Dienstleistungen, von Kindergärten, Schulen, Universitäten, medizinischen Versorgungseinrichtungen bis zum Ver-kehr und zum Wohnungswesen.Einkommensschwache, und auch zahlreiche BezieherInnen mittlerer und hö-herer Einkommen, können die entfallenden oder verschlechterten staatlichen Dienstleistungen nicht einfach durch individuelle Vorsorge wettmachen; sie alle wären eigentlich eher an — unter Umständen besseren — öffentlichen Dienstleis-tungen, bei allfälliger Steuererhöhung interessiert. (Doch dies ist keineswegs Gegenstand der öffentlichen Debatte im Rahmen neo-konservativer Politik.)Überall dort in Europa, wo sozialdemokratische Parteien aufgehört haben, die hauptsächlichen politischen Interessenvertretungen der arbeitenden Klassen zu sein, wo sie Elemente neo-konservativen und neo-liberalen Denkens aufgenom-men haben, wo sie in zeitweilige oder dauerhafte Gegensätze zu den gewerk-schaftlichen Interessenvertretungen gerieten, haben sie alsbald Wahlen verlo-ren, haben schrittweise Wählereinbußen erlitten, sind schließlich aus der Regie-rungsführung oder Regierungsbeteiligung ausgeschieden. Wer aufhört, weiterreichende politische Zielsetzungen zu haben, wer einmal daran glaubt, dass es keinen Sinn mehr hat, sich mit anderen zusammenzutun und für die gemeinsamen Interessen einzutreten, weil es diese gemeinsamen Interessen — angeblich — überhaupt nicht mehr gibt, ist den scheinbar natur-wüchsigen Geschehnissen des Kapitalismus hilflos ausgeliefert.

Auffällig ist, dass die so genannte Entideologisierung sich ausschließlich auf die politische Linke bezogen hat und bezieht, während die Rechte sich parallel dazu in rabiater Weise re-ideologisiert und re-politisiert hat.

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Margaret Thatcher ist ein treffendes Beispiel dafür, dass die politischen Führe-rInnen des Neo-Konservativismus auch keineswegs bloß der eigenen Persönlich-keit und ihrer telegenen Wirkung vertraut haben, sondern vielmehr in eifriger Weise und oft mit großer Sorgfalt auf Ideologie, auf politische Programmatik, auf politische Organisation und Propaganda, auf die Kontrolle und den effizi-enten Einsatz von politischen Apparaten gesetzt haben, die bei der Linken durch die notwendige Anpassung an den ‚Zeitgeist‘ abgebaut und überwunden werden sollten. Konservative Parteien in Europa haben die Ziele der Schwächung der Gewerk-schaften meist in direkter Weise verfochten; sozialdemokratische Parteien ha-ben dies oft auf indirekten Wegen angestrebt oder die Schwächung der Gewerk-schaften billigend in Kauf genommen. Bei den sozialdemokratischen Parteien hing und hängt dies zusammen mit einem merkwürdigen Drang zur „Moderni-sierung“ (nicht im Sinne von wirklich neu, sondern im Sinne von modisch sein), zu einer kosmetischen Verjüngung, was das Image anbelangt. Dazu gehört die Annahme einer Gesellschaft von „modernen“, d.h. völlig verein-zelten Individuen. Diese „modernen“ Individuen wiederum wollen angeblich nichts mit so altmodischen Dingen wie Gewerkschaften zu tun haben (allenfalls mit „modernen“, schicken politischen Parteien und deren telegenen Führe-rInnen). In der schönen, neuen Welt des Kapitalismus ist ebenso wie in der schö-nen neuen Welt der dazugehörigen Politik kein Platz für so altmodische Vorgän-ge und Zustände wie: Löhne drücken, Arbeitsbedingungen verschlechtern, Ar-beitslosigkeit oder gar Armut.Das passiert zwar alles in der Wirklichkeit, aber in den Massenmedien wird der Schein einer anderen Wirklichkeit vorgegaukelt: so erfahren wir täglich mehr-mals, wie die Aktienkurse gerade beschaffen sind, und so entsteht der Eindruck, dass wir alle AktionärInnen und BörsenspekulantInnen sind und daher sorgfältig und ängstlich stets die Börsenkurse im Auge behalten müssen. Die Welt des Luxus und der Moden wird in der veröffentlichten Meinung dargestellt als die wahre Wirklichkeit, an der die Tüchtigen und Fleißigen jeden-falls Anteil haben können.Und wer nicht Anteil an dieser Welt des Luxus und der Moden hat, hat eben in-dividuell versagt, hat die Chancen nicht ausreichend genützt, gehört zu jenen

Auffällig ist, dass die so genannte Entideologisierung sich ausschließlich auf die politische Linke bezogen hat und bezieht, während die Rechte sich parallel dazu in rabiater Weise re-ideologisiert und re-politisiert hat.

SKRIPTEN ÜBERSICHT

AR-1 Kollektive RechtsgestaltungAR-2A Betriebliche InteressenvertretungAR-2B Mitbestimmungsrechte des BetriebsratesAR-2C Rechtstellung des BetriebsratesAR-3 ArbeitsvertragAR-4 ArbeitszeitAR-5 UrlaubsrechtAR-6 Entgeltfortzahlung im KrankheitsfallAR-7 Gleichbehandlung im ArbeitsrechtAR-8A ArbeitnehmerInnenschutz I:

Überbetrieblicher ArbeitnehmerInnenschutzAR-8B ArbeitnehmerInnenschutz II:

Innerbetrieblicher ArbeitnehmerInnenschutzAR-9 Beendigung des ArbeitsverhältnissesAR-10 ArbeitskräfteüberlassungAR-11 BetriebsvereinbarungAR-12 Lohn(Gehalts)exekutionAR-13 BerufsausbildungAR-14 Wichtiges aus dem AngestelltenrechtAR-15 Betriebspensionsrecht IAR-16 Betriebspensionsrecht II AR-18 Abfertigung neuAR-19 Betriebsrat – Personalvertretung

Rechte und PflichtenAR-21 Atypische BeschäftigungAR-22 Die Behindertenvertrauenspersonen

ARBEITSRECHT

SR-1 Grundbegriffe des Sozialrechts

SR-2 Sozialpolitik im internationalen Vergleich

SR-3 Sozialversicherung – Beitragsrecht

SR-4 Pensionsversicherung I: Allgemeiner Teil

SR-5 Pensionsversicherung II: Leistungsrecht

SR-6 Pensionsversicherung III: Pensionshöhe

SR-7 Krankenversicherung I: Allgemeiner Teil

SR-8 Krankenversicherung II: Leistungsrecht

SR-9 Unfallversicherung

SR-10 Arbeitslosenversicherung I: Allgemeiner Teil

SR-11 Arbeitslosenversicherung II: Leistungsrecht

SR-12 Insolvenz-Entgeltsicherung

SR-13 Finanzierung des Sozialstaates

SR-14 Pflege und Betreuung

SR-15 Bedarfsorientierte Mindestsicherung

SOZIALRECHT

GEWERKSCHAFTSKUNDE

GK-1 Was sind Gewerkschaften? Struktur und Aufbau der österreichischen Gewerkschaftsbewegung

GK-2 Geschichte der österreichischen Gewerkschaftsbewegung von den Anfängen bis 1945

GK-3 Die Geschichte der österreichischen Gewerkschaftsbewegung von 1945 bis heute

GK-4 Statuten und Geschäftsordnung des ÖGB

GK-5 Vom 1. bis zum 18. Bundeskongress

GK-7 Die Kammern für Arbeiter und Ange stellte

Die VÖGB-Skripten online lesen oder als Gewerkschaftsmitglied gratis bestellen:www.voegb.at/skripten

Die einzelnen Skripten werden laufend aktualisiert.

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VersagerInnen, mit denen eine „moderne“ politische Partei besser nichts zu tun hat, denen man allenfalls ein wenig (möglichst wenig, um ihren Leistungswillen nicht weiter zu mindern!) Sozialpolitik und Charity zukommen lässt.In dieser „modernen“ Gesellschaft der atomisierten Individuen, in dieser Risiko- und Freizeitgesellschaft, ist das Leben eine Abfolge von Chancen und Risken (die eben individuell genützt, vermieden, versäumt werden), eine Abfolge von Lotterie spielen.Die „moderne“ Politik vermag da wenig einzugreifen, allenfalls kann sie (so die Maximen der neuen sozialdemokratischen Parteien, New Labour) für ein wenig Chancengerechtigkeit (nicht mehr Chancengleichheit), für ein wenig Fairness (sprich: Beachtung der Regeln der Lebenslotterie) zu sorgen. Mehr zu tun entspricht angeblich weder dem Zeitgeist noch den „ewigen“ Ge-setzen der Ökonomie und des Marktes — und erinnerte überhaupt zu sehr an ,Old Labour‘, an die 1960er- und frühen 1970er-Jahre, an die Zeit der Vollbe-schäftigung u.s.w. All das entspricht im Grunde einer völlig unpolitischen und eigentlich auch anti-demokratischen Einstellung! Wenn Politik nichts mehr für die Masse der Bevöl-kerung zu leisten vermag, dann entbehrt sie für diese eines jeglichen Sinnes; und so wird auch das System der Demokratie in Frage gestellt.Das damit verbundene Schrumpfen der Wählerbasis, der dramatische Anstieg der Zahl der NichtwählerInnen, wurde nur im Zusammenhang mit den Stim-mengewinnen für rechtsextremistische Parteien als Problem angesehen.Insgesamt konnte so durchaus der Eindruck entstehen, Politik bestehe wesent-lich in einer allgemeinen Verschlechterung der materiellen Lebensbedingungen der Bevölkerung bei gleichzeitiger Wahrung der Ämter der politischen Mandata-rInnen.

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6Gewerkschaften, Recht und Politik

Gibt es ein „politisches Mandat“ der Gewerkschaften? Dürfen Gewerkschaften aus allgemeinen politischen Gründen Protest- und Kampfmaßnahmen setzen? Darf es in Österreich „politische“ Streiks geben?Grundsätzlich dürfen sich Gewerkschaften, so sie die Interessen ihrer Mitglieder vertreten und vertreten wollen, nicht auf den Bereich der bloßen Lohnforderung oder gar nur der einzelbetrieblichen Lohn- und Arbeitsgestaltung einschränken lassen. Gerade die Dynamik des Kapitalismus und seiner ständigen Umwälzungen erfordert es, das gewerkschaftliche Handeln in vielfältiger Weise zu ge-stalten. Dabei ist überbetriebliches, auf die Gesamtgesellschaft bezogenes, po-litisches Handeln immer wichtiger geworden.Das System der Sozialpartnerschaft in Österreich nach 1945 hat bedeutet, dass die Gewerkschaften (so wie auch die VertreterInnen der gewerblichen Wirt-schaft, der Industrie, der Landwirtschaft) über viele Fragen der allgemeinen Po-litik, der politischen Gestaltung der Gesellschaft mitbestimmten.Die österreichische Bundesverfassung kannte und kennt keine Einschränkung des politischen Handelns der StaatsbürgerInnen und daher auch keine ihrer or-ganisierten Interessenvertretungen (es sei denn, es ginge um Wiederbetäti-gung). Die österreichische Bundesverfassung schützt nicht – wie zum Beispiel die deutsche Verfassung – den Staat vor dem Volke, sondern die Staatsbürge-rInnen vor Regelverletzungen und Willkürakten seitens der staatlichen Obrigkeit. Im Übrigen gilt im österreichischen Rechtssystem das Prinzip: Was nicht aus-drücklich verboten ist, das ist erlaubt.

Mit der Verfassung der neuen demokratischen Republik wurde nach 1918 in Österreich ein Rahmen für zivilisiertes politisches Handeln ge-schaffen. Zugleich aber wurden Entwicklungsmöglichkeiten der Demo-kratie mit angelegt. Die österreichische Bundesverfassung ist im Geiste eines Vertrauens in die Demokratie und in die sie tragende Masse der Bevölkerung geschaffen worden. Sie setzt damit aber auch voraus, dass das Staatsvolk auch ein politisch bewusstes, sich politisch bildendes und politisch handelndes Volk ist.

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Jede weitere Demokratisierung der Gesellschaft, jede Politisierung des Volkes ist von dieser Verfassung nicht nur ermöglicht, sondern vielmehr stillschwei-gend vorausgesetzt. Zum gestaltenden Handeln in der Gesellschaft und zur Sicherung der bestehen-den Verfassung bedarf es demokratisch denkender und dementsprechend poli-tisch handelnder Menschen.Betrachten wir die Vorgänge in Europa seit den in den 1970er-Jahren einset-zenden Wirtschaftskrisen, dann können wir beobachten, dass die Gewerkschaf-ten schwere Niederlagen und beträchtliche Bedeutungs- und Einflussverluste hinnehmen mussten. In Ländern wie Deutschland oder Österreich hat der relativ (und absolut) hohe Mitgliederstand, die hohe Organisationsdichte, dazu beige-tragen, die Niederlagen der Gewerkschaften im übrigen Europa nicht adäquat wahrzunehmen. Die Gewerkschaften sind geschwächt worden durch gewerkschaftsfeindliche staatliche Politik, durch gewerkschaftsfeindliche Agitation in der veröffentlich-ten Meinung, durch radikale Veränderungen der Arbeitsorganisation, durch Arbeitslosigkeit. Ganze Branchen wurden vernichtet durch die Einführung neuer Technologien, wie z. B. die Druckereibranche. Die Veränderungen in den Betrieben und die allgemeinen gesellschaftlichen Veränderungen haben insgesamt einen Abbau von vorhandenen demokrati-schen Strukturen, Denkweisen und Handlungsansätzen mit sich gebracht. Es kann nicht mehr, wie noch vor ein oder zwei Generationen, davon ausgegangen werden, dass in den Betrieben, dass am Arbeitsplatz selbst die Notwendigkeit der kollektiven Organisation und Interessenvertretung gelernt wird. Gewerkschaft-liche Bildungsarbeit ist daher unverzichtbar und wesentlich für die Stärkung gewerkschaftlicher Organisation, wie auch für die Rekrutierung von Mitgliedern (siehe letzter Abschnitt).Die Notwendigkeit des Kampfes um rechtliche Regelungen auf einzelstaatlicher und supranationaler Ebene ergibt sich auf Grund der umfassenden Angriffe auf die rechtlichen Errungenschaften der arbeitenden Menschen. Derzeit ist eher davon auszugehen, dass rechtliche Regelungen die Gewerkschaften in ihrer Or-ganisationsfähigkeit schwächen sollen und die Arbeitsbedingungen der Arbeit-nehmerInnen verschlechtern helfen. Gerade die großen Umwälzungen bei Post,

Mit der Verfassung der neuen demokratischen Republik wurde nach 1918 in Österreich ein Rahmen für zivilisiertes politisches Handeln ge-schaffen. Zugleich aber wurden Entwicklungsmöglichkeiten der Demo-kratie mit angelegt. Die österreichische Bundesverfassung ist im Geiste eines Vertrauens in die Demokratie und in die sie tragende Masse der Bevölkerung geschaffen worden. Sie setzt damit aber auch voraus, dass das Staatsvolk auch ein politisch bewusstes, sich politisch bildendes und politisch handelndes Volk ist.

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Bahn, Telekommunikation treffen ja Bereiche mit traditionell hohem gewerk-schaftlichem Organisationsgrad und Bewusstseinsstand.

„Notwendig ist also nach wie vor die juristische Aktion ...Aber da das Recht immer auch Ausdruck der Machtverhältnisse ist, werden solche juristischen Abwehrkämpfe bei weitem nicht hinrei-chend sein.Die Gewerkschaften sind konfrontiert mit einer neuen geschichtlichen Herausforderung, für deren Beantwortung das Nachdenken über Er-folge und Niederlagen der Vergangenheit ebenso wichtig ist wie über Sinn und Ziel der zukünftigen Gewerkschaftsarbeit.“Oskar Negt: Wozu noch Gewerkschaften? (Göttingen: Steidl 2005) S. 16

Welchen Herausforderungen stehen die europäischen Gewerkschaften nun konkret gegenüber?

x Eine wachsende Anzahl an Mitgliedern ist nicht mehr ohne weiteres über den Betrieb zu erreichen: Teilzeitbeschäftigte, atypisch Beschäftigte; dazu kommen PensionistInnen und Arbeitslose.

x Die klassischen Normalarbeitsverhältnisse, Vollzeitbeschäftigungen, sind im stetigen Sinken begriffen.

Die traditionelle Basis der Gewerkschaften wird kleiner und es ist bis dato noch nicht ausreichend gelungen, innerhalb der neuen sozialen Schichten Fuß zu fassen.

x Es ist schwieriger geworden, allgemeine Klasseninteressen zu formulieren;

x viele lohnabhängig Beschäftigte identifizieren sich eher mit ihren Unterneh-men als mit der „Arbeiterklasse“.

Das „Proletariat“ ist nicht verschwunden, aber noch stärker differenziert als früher.

x Es gibt einen Trend in Richtung Individualisierung von Arbeitsbeziehungen.

x Gewerkschaften werden für den Abbau sozialstaatlicher Maßnahmen poli-tisch vereinnahmt.

6Gewerkschaften, Recht und Politik

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x Richtlinien der Institutionen der Europäischen Union tragen bei zum Abbau mühselig erkämpfter sozialrechtlicher Errungenschaften (das hervorragende Beispiel dafür: Nachtarbeitsverbot für Frauen).

Im Rahmen des gleichsam natürlichen Ganges der kapitalistischen Verhältnisse ist diesen vielfältigen Problemen nicht zu begegnen. Es bedarf einer kontinuier-lichen und systematischen Beschäftigung mit Theorien der Gesellschaft und der Gewerkschaftsarbeit; und es bedarf in engem Zusammenhang damit der Bildungsarbeit nach innen und nach außen hin sowie der dazu gehörigen ge-werkschaftlichen Praxis.

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Zu Ende des 20. Jahrhunderts wird – wie gegen Ende des 19. Jahrhunderts – mobil gemacht: gegen „Fremde“, gegen alles die angeblich wahren und echten Werte Zersetzende. Für die eigene Art, Nation, für die weiße Rasse. Jener Typus des Nationalismus, der den Deutschen eigen gewesen ist, nämlich der an Volks-tum und Rasse, an der Vergötzung von Staat und Obrigkeit, am Untertanentum und an der Unterwerfung anderer Völker orientierte (der stets gelten sollte, „soweit die deutsche Zunge reicht“), ersteht in Osteuropa wieder und überlagert stellenweise die demokratischen Nationalismen West- und Südeuropas.

Um die Unterschiede zwischen den revolutionären Nationalismen des Wes-tens und auch Südens und dem Typus des „Deutsch-Nationalismus“ noch einmal kurz herauszuarbeiten, sei daran erinnert:

x Der Deutsch-Nationalismus war stets gegen die Errungenschaften der west-lichen Revolutionen des späten 16., des 17. und 18. Jahrhunderts gerichtet; gegen Verfassungen, Parlamentarismus, Demokratie, Aufklärung und Frei-heit und später auch gegen die Arbeiterbewegung.

x Der Deutsch-Nationalismus diente – ökonomisch gesehen – einem Aufho-lungsprozess deutschen Kapitals gegenüber dem Westen mit Hilfe außer-ökonomischer Mittel: durch zwei Weltkriege, Massenmorde und vor allem durch die ungeheure forcierte Ausbeutung und Kapital-Akkumulation mit-tels massenhafter Zwangsarbeit während der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft.

x Der Deutsch-Nationalismus war im Sonderfall der Habsburger-Monarchie noch verbunden mit der gewaltsamen Gegenreformation und der Zerstö-rung der ökonomischen Errungenschaften der Länder der böhmischen Krone und anderer überwiegend protestantischer Territorien (Steiermark, Ober-österreich). Der Katholizismus war durchaus dem Blut-, Rasse- und Vernich-tungsdenken der spanischen Inquisition verhaftet. (In der spanischen Inqui-sition kam das Konzept von der „Reinheit des Blutes“ erstmals auf!)

x Im Westen (in den Niederlanden, England und Frankreich) entstand das Kon-zept der „Nation“ im Zusammenhang mit nationalen Befreiungskämpfen (z. B. der Niederlande gegen die Habsburger), politischen und – teilweise –

7Die Wiederkehr von Rassismus und Nationalismus

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sozialen Revolutionen. Es war eng verbunden mit Parlamentarismus, Demo-kratie, Aufklärung, dem Gedanken der prinzipiellen Gleichheit aller Men-schen, mit der Entfaltung rechtsstaatlicher Ordnungen und mit der Durch-setzung und Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaftsweise.

x In Italien erfolgte die Herstellung der nationalen Einheit in einer Verbindung demokratischer Bestrebungen von unten und eines nationalen Befreiungs-kampfes.

x Bürger der französischen Nation wurde man durch einen Akt freien Willens, durch Wohnsitz und ökonomischen Beitrag.

x Zum Angehörigen der deutschen Nation wurde man durch Volkstum, Blut, Abstammung („Rasse“).

x Ebenso ist man nunmehr Angehörige/r der kroatischen, ungarischen, slowa-kischen, lettischen, litauischen ... Nation.

Die nationalistischen Konzepte vom Typus des Deutsch-Nationalismus las-sen sich vorzüglich kombinieren mit Elementen „fundamentalistischer“ Religio-sität (sei es christlicher oder mohammedanischer Art), mit säkularem Neo-Kon-servativismus und mit diversen speziellen Rassismen.Die diversen Blut- und Boden-Nationalismen oder – Patriotismen haben immer schon dazu gedient, die organisierten Interessen der LohnarbeiterInnen zu ver-hindern, zu schwächen, zu zerstören. Sie sollten dafür sorgen, dass die Lohnar-beiterInnen in den sie ausbeutenden UnternehmerInnen die „VolksgenossInnen“, die – „im gleichen Boot“ sitzenden – Angehörigen der eigenen Nation erblickten. In den ArbeiterInnen aus anderen Ländern hingegen nicht die Angehörigen der gleichen sozialen Klasse (die von den UnternehmerInnen überall auf der Welt ausgebeuteten KlassengenossInnen), sondern „volksfremde“ feindliche Elemente.Gegen Ende des 20. Jahrhunderts grassieren zahlreiche Bestandteile jener Leh-ren, die schon gegen Ende des vergangenen und zu Beginn dieses Jahrhunderts die Grundlagen für Massenmorde und Kriege mit geschaffen haben. Zugleich wird in der Politik, ebenso wie im Rahmen der veröffentlichten Meinung und der Wissenschaft der Anschein erweckt, als ob es sich bei den diversen rassistischen und nationalistischen Ideologien um das Auftreten einer Art von „Naturge-walten“ handelte, gegen die „vernünftige“, „human gesonnene“, „aufgeklärte“

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Menschen zwar etwas tun sollten, jedoch nicht gut könnten. Denn sie sind (auch als Regierende) eher ohnmächtige Minderheiten, getrieben von der Hetze „po-pulistischer“ PolitikerInnen und vom Unmut der WählerInnen. Nicht die Rassi-stInnen werden bekämpft, sondern ihre Opfer. Dadurch – so wird behauptet – könnte Schlimmeres verhütet werden.Keine Rede davon, dass Arbeitsimmigration zu den geradezu selbstverständ-lichen Erscheinungen im Kapitalismus gehört. Dass die Spaltung in – noch – Ar-beitende und schon („sozialschmarotzerische“) Arbeitslose durchaus der in In- und AusländerInnen entspricht und die Wahrnehmung, geschweige denn wir-kungsvolle Vertretung der Interessen der Angehörigen der arbeitenden Klassen beeinträchtigen und verhindern soll.Regierungshandeln beschränkt sich im besten Fall auf Hilflosigkeit gegenüber rassistischen Denkmustern bzw. deren verständnisvolle Hinnahme. Im schlim-meren Fall aber werden rassistische Denkmuster übernommen und wird staatli-che Gewalt zum vorgeblichen Schutze der eingeborenen Bevölkerung vor den drohenden Fremden eingesetzt.Politisches Versagen wird versuchsweise „wissenschaftlich“ legitimiert und die „Fremden“ werden ersatzweise für die dramatische Wohnungssituation ver-antwortlich gemacht. Nicht, weil entgegen allem Wissen um den strukturellen Wohnungsmangel, um die zahlreichen Substandard-Wohnungen (die durch kei-nerlei Umbauten und Zusammenlegungen zu „guten“ Wohnungen umgestaltet werden können) seit Jahrzehnt und Tag die Wohnraumbeschaffung dem freien Spiel der Marktkräfte überlassen blieb, sondern weil es Fremde wieder einmal gewagt haben, in der Wiener Stadt dauerhaft Aufenthalt nehmen zu wollen, gibt es einen drastischen Wohnungsmangel und – auch für relativ Wohlhabende – unerschwingliche Wohnungen.An dieser Stelle sei auf den grundsätzlichen Unterschied zwischen den Prozes-sen der Aufklärung im Westen und den (eher bescheidenen) Ansätzen zur Auf-klärung etwa in deutschen Landen verwiesen:Im Westen hat sich Aufklärung stets an das allgemeine Publikum, an das Volk gerichtet. In Zentraleuropa, in deutschen Landen und in der Habsburgermonar-chie hingegen an die aufgeklärt sein sollenden Herrscher. Viele Angehörige der schreibenden Intelligenz haben es daher schon in ihren Hoffnungen kaum je

7Die Wiederkehr von Rassismus und Nationalismus

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weiter gebracht, denn als Einflüsterer für die Mächtigen dienen zu können. Die-se selbstgeschaffene Ohnmacht und Niedrigkeit lässt immer wieder nur wenige Angehörige dieser Intelligenz ebenso gescheit wie mutig agieren. Das Wiederaufleben rassistischer und nationalistischer Ideologien wird heutzu-tage immer wieder als Bestätigung für deren Dauerhaftigkeit angesehen, für die „Lebenskraft“ dieser Ideologien, die nunmehr geradezu als „Natur-Konstanten“ des menschlichen Daseins dargestellt werden. Kaum wird die Frage nach ihrer gesellschaftlichen Funktion und nach den tatsächlichen Ursachen für die Wie-derbelebung von Rassismen und Nationalismen gestellt. Denn sie sind nicht einfach da, sondern sie sind herbeigeredet, herbeigeschrieben, sind systematisch und über einige Zeit kontinuierlich propagiert worden.Wenn – wie in den Ländern des vormaligen so genannten realen Sozialismus – politische und soziale Umwälzungen der Masse der Bevölkerung keine Anhe-bung des Lebensstandards bringen, sondern nur weitere Verelendung, dann be-darf es sowohl der Erklärung des Ausbleibens der erhofften Verbesserungen wie auch eines Ersatzes für die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse. Zurückge-griffen wird auf traditionelle – eventuell fundamentalistisch rekreierte – Religi-on, auf nationalistische und rassistische Ideologien, insbesondere auf den Anti-semitismus. Die Wiedererweckung – oder überhaupt erst Erweckung – diverser Nationalstaaten war wohl nicht zufällig immer wieder mit der historischen Leugnung und Abschwächung der faschistischen Untaten und mit dem mas-siven Bedauern über ihre Bestrafung verbunden.Nationalismus und Antisemitismus oder andere Rassismen, der Kampf für den rechten Glauben und die „weiße Rasse“, lassen sich auch recht gut verknüpfen

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Aber auch in den Ländern des – einstigen – „freien Westens“ dienen Ras-sismus und Fremdenhass dazu, von der mangelhaften Befriedigung der materiellen Bedürfnisse der Masse der Bevölkerung abzulenken. So wie die Spaltung zwischen jenen, die noch einen Arbeitsplatz haben und den schon Arbeitslosen, unter den Aspekten der Hatz auf „Sozialparasiten“ vertieft wird, wird auch die Spaltung zwischen in- und ausländischen Arbeitskräften betrieben.

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mit dem Kampf gegen die Demokratie im eigenen Land, für die politische Ent-rechtung von beträchtlichen Teilen der Bevölkerung, für die Etablierung von Präsidialdiktaturen sowie von Militärregimes .So mag für so manche Regierende in Europa „ein bisschen“ Rassismus und Fremdenhass bzw. Rechtsextremismus nützlich sein zur Ablenkung von den wahren Problemen und deren wahren Ursachen. Dies würde auch erklären, wa-rum auf verbale und physische Gewalt gar nicht oder mit viel Verständnis und „Augenmaß“ reagiert wird.

Gegen den in Europa grassierenden Rassismus und Fremdenhass könnten wirksam werden:

x eine Politik, die orientiert ist an der Befriedigung der materiellen Bedürfnisse (Arbeit, Wohnen, Bildung, Gesundheit ...) der Masse der Bevölkerung;

x eine Bildungsarbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die über die historischen Wurzeln und Funktionen des Rassismus aufklärt und zu-gleich die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse analysiert; die Ein-schätzung sozialer Interessenlagen, der Artikulation, Organisation und poli-tischen Durchsetzung dieser Interessen;

x eine Politik der Demokratisierung aller Lebensbereiche.

Keiner der angeführten Faktoren vermag für sich allein von entscheidender Be-deutung sein. Zusammen allerdings bedeuteten sie die Wiedergewinnung einer demokratischen und (im mehrfachen Sinn des Wortes) sozialen Dimension in der europäischen Politik.Unter den gegenwärtigen politischen und ökonomischen Bedingungen gibt es wenig Aussichten auf „Erfolg“, wenn gegen RechtsextremistInnen, RassistInnen und ähnliche „unvernünftige“ Leute agitiert wird, ohne dass gleichzeitig Per-spektiven der Verbesserung der Lebenslage vermittelt würden.Gerade nach der Verabschiedung – möglichst jeglicher – staatlicher Sozialpolitik im Gefolge der neo-konservativen Trendwenden der 1980er-Jahre („Mehr privat – weniger Staat“) und der damit verbundenen Propagierung des „freien Spiels der Kräfte“ ist für viele – und gerade junge – Menschen die Gesellschaft unüber-sichtlich, ungestaltbar geworden, und das eigene Leben vor allem mit düsteren Aussichten der Arbeitslosigkeit und des Elends verbunden.

7Die Wiederkehr von Rassismus und Nationalismus

Eine Bekämpfung all dessen ist zwar unbedingt auf der „ideologischen“ Ebene notwendig und möglich, aber ein dauerhafter Erfolg nur bei der Rekonstruktion starker Interessenvertretungen der Arbeiter und Ange-stellten auf nationaler wie internationaler Ebene. Denn historisch, ebenso wie jetzt, ist es im Zusammenhang mit rassistischen und nationalistischen Ideologien stets um die Schwächung und Zerstörung der organisierten Interessen der arbeitenden Klassen gegangen.

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In dieser Situation feiern „einfache“ Welterklärungen ihre Wiederkehr: funda-mentalistische Religion und ihre säkularen Parallelerscheinungen wie neo-kon-servative Moral, Nationalismus und Rassismus.Es ist wichtig zu sehen, dass die rassistischen Ideologien des 19. und 20. Jahr-hunderts nicht Arten von volkstümlichem Aberglauben sind oder bodenständige Weltanschauungen der Massen (die dann von Gelehrten, die „dem Volk aufs Maul schauten“, aufgenommen, gesammelt, zusammengefasst und theoretisch überhöht wurden). Diese rassistischen (und nationalistischen) Ideologien sind bewusst und planvoll erzeugt und verbreitet worden von Angehörigen der schreibenden Intelligenz, von WissenschaftlerInnen innerhalb und außerhalb der Universität, von JournalistInnen.

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Eine Bekämpfung all dessen ist zwar unbedingt auf der „ideologischen“ Ebene notwendig und möglich, aber ein dauerhafter Erfolg nur bei der Rekonstruktion starker Interessenvertretungen der Arbeiter und Ange-stellten auf nationaler wie internationaler Ebene. Denn historisch, ebenso wie jetzt, ist es im Zusammenhang mit rassistischen und nationalistischen Ideologien stets um die Schwächung und Zerstörung der organisierten Interessen der arbeitenden Klassen gegangen.

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8Gewerkschaftliche Organisa-tion und Bildungsarbeit

Ideologien [= falsche Auffassungen von gesellschaftlichen Vorgängen und ihren Ursachen], die unter den lohnabhängig Arbeitenden verbreitet werden, dienen der Desorientierung der Individuen, der Verminderung ihrer Organisationsfähig-keit, dem Abbau von Solidarität sowie insgesamt der Förderung der Unfähigkeit, die je eigenen Interessen adäquat wahrzunehmen und zu vertreten.Oft geht es dabei um ein Verlernen bereits vorhanden gewesenen Wissens und bereits vorhanden gewesener Fertigkeiten.Daher ist es notwendig, dieses Wissen und diese Fertigkeiten (die Befähigung zur Organisierung der eigenen Person und zur Organisierung von gemeinsamen Interessen mit anderen Individuen) immer wieder neu zu erlernen.Dies erfordert einiges an Gesellschaftstheorie, an Theorie der gewerkschaft-lichen Organisation und der gewerkschaftlichen Interessenvertretung; und: an gewerkschaftlicher Bildungsarbeit.Gewerkschaftliche Bildungsarbeit darf sich nicht länger auf die Schulung von Funktionären und Funktionärinnen beschränken (obwohl die Funktionärsschu-lung unbedingt notwendig ist).Es geht vielmehr um Mitgliederbildung und um die Rekrutierung von Mitglie-dern über Formen offener Bildungsarbeit.Bei all dieser gewerkschaftlichen Bildungsarbeit mit Erwachsenen (nach innen und nach außen) ginge es immer wieder darum, so etwas wie „krisenunabhän-giges Bewusstsein“ zu vermitteln.Was heißt das?In allen (individual-psychischen und sozialen) Krisen wird schon bestanden ha-bendes Bewusstsein (Wissen um die Verhältnisse und Vorgänge, um ihre Ursa-chen und Zusammenhänge) gefährdet, beeinträchtigt oder zerstört; auch Nie-derlagen in Auseinandersetzungen leisten dies.Daher ist es wichtig, Denkweisen einzuüben, die Individuen dazu verhelfen, auch in Krisen Denkarbeit zu leisten, über Ursachen allfälliger Niederlagen nachzu-denken und nicht zu resignieren.

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Darüber hinaus müssen Gewerkschaften über die Interessenvertretung im engsten Sinn (was schon schwer genug ist) hinaus allgemein politisch aktiv sein:

x allgemeine politische Aufklärung

x Beeinflussung der Öffentlichkeit

x Beeinflussung der politischen Parteien

Es wäre von großer Bedeutung, wenn Wissen um Gewerkschaften in den Curri-cula von Schulen, Universitäten und (berufs- und allgemeinbildenden) Erwach-senenbildungseinrichtungen verankert und in den Lehrangeboten auch tatsäch-lich vermittelt würde.

„Gewerkschaftliches Handeln, das historisch einsetzt mit der kollek-tiven Verteidigung der Selbsterhaltung und der Würde lebendiger Ar-beit gegen die Anmaßungen der toten Arbeit des Kapitals, der Maschi-nerie, verliert ohne Erweiterung des kulturellen und politischen Man-dats langfristig jede historische Legitimation. Die Verantwortungsbe-reitschaft für das Ganze der Gesellschaft ist daher nicht eine Marotte, auf die man notfalls auch verzichten könnte, sondern ist unabdingbares Element des Kampfes um Anerkennung und würdige Lebensbedingun-gen. Will man das kulturelle und politische Mandat der Gewerkschaf-ten ausweiten, geht es einerseits um eine erweiterte Mitbestimmung im innerbetrieblichen Produktionszusammenhang und andererseits muss gleichzeitig das Organisationsfeld außerbetrieblicher Lebensver-hältnisse ... intensiviert werden.“ Oskar Negt: Wozu noch Gewerkschaften? (Göttingen: Steidl 2005) 171 f.

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Literatur

Johann Dvorák: Politik und die Kultur der Moderne in der späten Habsburger-Monarchie (Innsbruck: Studienverlag 1997).

Einige Kapitel über die gesellschaftliche Funktion von Deutsch-Nationalismus und Rassismus in Wien um 1900.

Johann Dvorák (Hrsg.): Aufklärung, Demokratie und die Veränderung der gesell-schaftlichen Verhältnisse: Texte über Literatur und Politik in Erinnerung an Walter Grab (Frankfurt/M.: Peter Lang 2011).

Aufsätze über Ansätze des demokratischen Denkens in Österreich im späten 18. Jahrhundert und um 1848; über Joseph von Sonnenfels und die Wiedereinführung der Literarität in der Habsburger-Monarchie.

Emmerich Tálos: Vom Siegeszug zum Rückzug. Sozialstaat Österreich 1945–2005 (Innsbruck: Studienverlag 2005)

Oskar Negt: Wozu noch Gewerkschaften? Eine Streitschrift (Göttingen: Steidl 2005)

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Zum Autor

Univ.-Doz. Dr. Johann Dvorák, geb. 1946, Studium der Politikwissenschaft und Geschichte an der Universität Wien, Dr. phil (1976), Mitarbeiter und Leiter der Abteilung Erwachsenenbildung im Bundesministerium für Unterricht (1977–1997), wissenschaftlicher Beamter am Institut für Politikwissen-schaft der Universität Wien (1997–2011), Habilitation an der Universität Klagenfurt (1999).

Arbeitsschwerpunkte: Entwicklung des modernen Staates; Geschichte, Ökono-mie und Soziologie von Wissenschaft und Bildung; Kultur der Moderne; politische Bildung.

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Notizen

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