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1TEMPO
Querspur Das Zukunftsmagazin des ÖAMTCAusgabe 09/2016
TEMPO
Was ist Zeit? Zeit ist eine physikalische Größe
und beschreibt eine Abfolge von
Ereignissen. Zeit wird in verschiedenen
Wissenschaft en unterschiedlich betrachtet.
So ist sie in der Physik ein messtechnisch
erfassbarer Wert, in der Psychologie steht
hingegen die Frage nach der Zeitwahr -
nehmung und dem Zeitgefühl im
Vordergrund, die Ökonomie
wiederum betrachtet
die Zeit als
Wertgegenstand.
Welches ist das schnellste Pferd
der Welt? Obwohl Forscher der britischen
University of Exeter kürzlich belegten,
dass auch Rennpferde stetig schneller
werden, gilt das 1764 geborene britische
Rennpferd Eclipse als schnellstes Pferd
der Welt. Der Hengst soll für eine
7 190 Meter lange Rennstrecke
6,4 Minuten gebraucht haben.
Das entspricht einer
Durchschnittsgeschwindigkeit
von 71,9 km/h.
Was sagen Chronos und Kairos aus?
In der Antike wies man der Zeit zwei
Gottheiten zu: Chronos und Kairos, die
Götter der messbaren und der gefühlten Zeit.
Chronos versinnbildlicht die Quantität bzw. den
Ablauf der (Lebens-)Zeit. Damit verbunden ist der
Gedanke, die Zeit, die der Mensch zur Verfügung hat,
zu nutzen, zu lernen und in ihr zu reifen.
Kairos hingegen steht für die Qualität der Zeit.
Er stellt den besten Zeitpunkt einer Entscheidung
dar: eine günstige Gelegenheit, deren ungenutztes
Verstreichen nachteilig sein kann. Kairos sagt
somit aus, dass man keine Zeit, sondern
nur Gelegenheiten
verlieren kann.
Was bedeutet das Wort Espresso?
Die Wurzeln des Espressos, einer
bestimmten Art der Kaff eezubereitung,
liegen im italienischen Mailand zu Beginn des
20. Jahrhunderts. Die Bezeichnung verleitet zur
Annahme, dass es sich dabei um einen schnell
zubereiteten und schnell zu konsumierenden Kaff ee
handelt, da er mitunter schnell an der Bar getrunken
werden kann. Sprachwissenschaft er aber sehen die
Herkunft des Wortes Espresso im italienischen
espressivo (von esprimere, dt. Gefühle
ausdrücken), mit dem einst ein explizit
für den Gast zubereitetes
Gericht bezeichnet
wurde.
Wer fährt am meisten mit der Bahn?
Keine Überraschung, die Schweizer.
Sie legten im Jahr 2014 2 429 km pro Einwohner
zurück, wie der aktuelle Marktbeobachtungs-
bericht der IRG-Rail, die europäische Plattform der
unabhängigen Eisenbahnregulierungsbehörden,
belegt. Die Österreicher fuhren 1 426 km
pro Einwohner mit dem Zug, was Platz zwei
der europaweiten Erfassung entspricht und
laut Studie mit den im EU-Vergleich
relativ günstigen Fahrpreisen sowie
einem dicht ausgebauten
Schienennetz
zusammenhängt. Ab wann wurde unser Leben
schneller?Einen exakten Zeitpunkt zu
nennen, ist nicht möglich. Großen
Einfl uss auf die Beschleunigung
unseres Lebens hatte aber wohl die
Erfi ndung der mechanischen Uhr im
14. Jahrhundert. Ab diesem Zeitpunkt
gab nicht mehr nur die Natur,
sondern mehr und mehr
der Stundenzeiger
den Takt an.
Mitarbeiter dieser Ausgabe Dipl.-Bw. Maren Baaz-Eichhorn, Ancuta Barbu,
Mag. Gabriele Gerhardter, Catherine Gottwald, Margit Hurich, Mag. (FH) Christian Huter,
Mag. Claudia Kesche, Mag. Astrid Kuffner, Dr. Daniela Müller, Dr. Ruth Reitmeier,
Teresia Tasser, Silvia Wasserbacher-Schwarzer, BA, MA
Fotos Karin Feitzinger; Umschlag: Karin Feitzinger
Grafi k Design, Illustrationen Drahtzieher Design & Kommunikation, Barbara Wais, MA
Korrektorat Mag. Christina Preiner, vice-verba
Druck Hartpress
Blattlinie Querspur ist das zweimal jährlich erscheinende Zukunftsmagazin des ÖAMTC.
Ausgabe 09/2016, erschienen im Juni 2016
Download www.querspur.at
Impressum und Offenlegung
Medieninhaber und Herausgeber
Österreichischer Automobil-, Motorrad- und Touring Club (ÖAMTC),
Schubertring 1-3, 1010 Wien, Telefon: +43 (0)1 711 99 0www.oeamtc.at
ZVR-Zahl: 730335108, UID-Nr.: ATU 36821301
Vereinszweck ist insbesondere die Förderung der Mobilität unter
Bedachtnahme auf die Wahrung der Interessen der Mitglieder.
Rechtsgeschäftliche Vertretung
DI Oliver Schmerold, Verbandsdirektor
Mag. Christoph Mondl, stellvertretender Verbandsdirektor
Konzept und Gesamtkoordination winnovation consulting gmbh
Chefredaktion DI Anna Várdai (ÖAMTC),
Dr. Gertraud Leimüller (winnovation consulting)
Chefi n vom Dienst Silvia Wasserbacher-Schwarzer, BA, MA
TEMPO
Schneller gehen, länger leben?
Australische Forscher gingen in
einer Studie der Frage nach, ob eine
schnellere Schrittgeschwindigkeit ein längeres
Leben ermöglicht. Dazu nahmen sie das Schritt-
tempo von 1 705 Männern im Alter über 70 Jahren
unter die Lupe. Das Ergebnis: Jene, die schneller
als 3,2 km/h gingen, zeigten im Vergleich zu
langsameren Männern ein geringeres Risiko,
innerhalb des Untersuchungszeitraums zu
versterben. Die optimale Schrittgeschwindigkeit,
um auch fünf Jahre nach Beginn
der Studie noch am Leben zu sein,
lag bei 4,8 km/h.
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HeuteSuche nach der verlorenen ZeitDas Leben wird immer schneller, zumin-
dest kommt es uns so vor – wann erlebt
der Mensch seine Zeit am intensivsten?
Von Ruth Reitmeier
Alles auf SchieneVom Achterbahn-Rausch und dem
Fahrvergnügen in der Bummelbahn.
Von Astrid Kuffner
Need for SpeedGeschwindigkeit war immer ihr Element –
Susie Wolff im Interview.
Von Catherine Gottwald
Am Puls der StadtLondon, New York, Beijing –
was macht eine schnelle Stadt aus?
Von Teresia Tasser
Schneller als je zuvorDer Sauseschritt des schnellsten
Mannes der Welt kann einen Gepard
noch immer nicht überholen.
Von Silvia Wasserbacher-Schwarzer
Rasend SchnellHochgeschwindigkeitszüge als Alternative
zu Auto und Flugzeug, in Zukunft mitunter
auf Luftkissen statt auf Schienen.
Von Catherine Gottwald
Die Fracht-StarterEine Idee ist schnell geboren, der Erfolg
eines Start-ups hängt aber von vielen
Faktoren ab.
Von Ruth Reitmeier
Tanzen mit allen SinnenKörper und Emotion verbinden und an
drei Wochenenden ein bühnenreifes
Tanztheaterstück entwickeln. Choreograph
und Tänzer Vinicius im Interview.
Von Daniela Müller
Fast wie echtSimulierte Realität wird in Zukunft eine
Komplexität erreichen, an der man heute
schon forscht.
Von Ruth Reitmeier
Die Ruhe vor dem BusWas tun, wenn man warten muss?
Von Astrid Kuffner
Start-upsSpannende Ideen zum Thema
Geschwindigkeit.
Von Ancuta Barbu
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Wieder einmal zu spät zum ohnehin
nur halbjährlich stattfi ndenden Tref-
fen mit den Freundinnen. Etwas auf-
gelöst, abgehetzt, im Hirn nach einer
Entschuldigung kramend. Doch zwei
kurze Worte genügen, und alle nicken
verständnisvoll: der Stress. Jeder
kennt ihn, jeder hat ihn. Das war doch
nicht immer so, oder?
Ein Schönheitsfehler der Gegenwart
ist freilich, dass sie mit der Vergan-
genheit nicht mithalten kann. Tatsache
ist, dass die meisten Menschen heute
kürzer arbeiten denn je, sie haben
viel mehr Freizeit, nennen jede Men-
ge Gerätschaften ihr Eigen, die Haus-
und andere Arbeiten enorm rationali-
siert haben und fühlen sich dennoch
gestresst, getrieben, mitunter aufge-
rieben in ihrem durchstrukturierten
Alltag. Eigentlich erstaunlich, denn
wenn wir unser Leben mit jenem der
Generation unserer Großeltern ver-
gleichen, ist es zweifellos leichter.
Und dabei soll es hier gar nicht um
die Härten der Kriegs- und Nach-
kriegszeit gehen, sondern einfach
nur um den Alltag.
Die Großmutter der Autorin etwa hatte
außer Arbeit nicht viel zu tun. Denn
sie hatte drei Kinder, einen Vollzeit-
job, einen Haushalt, einen Garten.
Ihr Leben war anstrengend, und sie
war abends rechtschaffen müde. Ge-
stresst war sie aber nicht. Was sie
nämlich nicht hatte, waren permanen-
ter Termindruck, Mails, Messages,
Handy, Internet. Sie verspürte auch
keinen Optimierungsdruck à la Mara-
thon-Training oder Spanisch-Privat-
unterricht, zumal dafür ohnehin kein
Geld übrig war. Und da sie nur wenig
Freizeit hatte, hatte sie auch keinen
Freizeitstress.
Der tatsächliche Arbeitsaufwand kann
es nicht sein, der uns stresst. Denn
unterm Strich haben unsere Großel-
tern und auch unsere Eltern viel mehr
Zeit mit Erwerbstätigkeit verbracht.
Die gesetzliche Wochenarbeitszeit
wurde in Österreich in den vergange-
nen 100 Jahren schrittweise auf die
aktuelle 38,5 Stunden-Woche ge-
kürzt. 1918 wurde der 8-Stundentag
mit einer einhergehenden 48-Stun-
den-Woche umgesetzt, gefolgt von
der 45-Stunden-Woche ab dem Jahre
1959 und einer etappenweisen Ein-
führung der 40-Stunden-Woche ab
1969.
Das Leben damals war härter und zu-
gleich übersichtlicher. Es ist wohl
eher das viele Andere, das sich seit-
her exponenziell vermehrt hat. Wir ar-
beiten kürzer, doch die Arbeit hat sich
verdichtet und das wird Vielen zu viel.
Eine Umfrage der Statistik Austria aus
dem Jahr 2014 ergab, dass rund eine
Million Österreicher über eine ge-
sundheitliche Beeinträchtigung kla-
gen, die von der Arbeit verursacht
wurde – mit Rückenproblemen an der
Spitze. Ein Vergleich mit einer Erhe-
bung aus dem Jahr 2007 zeigt einen
deutlichen Anstieg der Probleme. Vor
allem der Anteil jener, die Zeitdruck
als Faktor angeben, der ihr psychi-
sches Wohlbefi nden am stärksten be-
einträchtigt, war von 29 auf 37 Pro-
zent gestiegen.
Die Beschleunigung des modernen,
digitalisierten Lebens ist kein Mythos.
Keiner will sie, doch jeder macht mit.
Hört man Berichte von Menschen, die
sich von ihrem hektischen Alltag zwi-
schenzeitlich für ein paar Tage in ein
Kloster zurückziehen, ist es ausge-
rechnet die ersehnte Ruhe, die viele
zunächst überwältigt und emotional
fordert. In der Stille hört der Mensch
(auf) sich selbst. „Als ich vor einem
Jahr das erste Mal im Stift Heiligen-
kreuz zu Gast war, kam ich bewusst
ohne Handy, E-Mail, Internet an. Doch
das war, wie sich herausstellte, zu ra-
dikal. Ich hatte die Stille unterschätzt
und empfand sie fast als unerträglich.
Ich dachte, ich werde verrückt“, sagt
Sonja Scheibenreif. Die Gespräche
mit einem ihr vertrauten Pater und die
Teilnahme am Chorgebet der Mönche
halfen ihr, die Umstellung zu meistern.
Und nach nur einer Woche im Kloster
hatte sie die Kraft der Stille schätzen
SELBST IM MODERNEN, DIGITALISIERT-BESCHLEUNIGTEN LEBEN GILT: ZEIT ERLEBT DER MENSCH AM INTENSIVSTEN, WENN ER EINFACH STILL IST ODER ABER WENN ER NEUE ERFAHRUNGEN MACHT, ALSO ETWAS ERLEBT. DIE MONOTONE HEKTIK DES ALLTAGS HINGEGEN IST EIN ZEITKILLER. Von Ruth Reitmeier
MEHR FREIZEIT, MEHR STRESS?
DIE ERSEHNTE RUHE IST ZU BEGINN MEISTEIN ZIEMLICHER SCHOCK
WIR ARBEITEN HEUTE KÜRZER, WOLLEN ABER MEHR UNTERBRINGEN
HEUTE HABEN MENSCHEN MEHR ZEIT ALS FRÜHER, ABER SIE NEHMEN ES NICHT SO WAHR
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gelernt. Seither nimmt sie sich auch in
ihrem Tagesablauf bewusst Auszeiten,
wo zwischendurch das Handy stumm
bleibt, wo sie zur Ruhe kommen und
abschalten kann. „Es ist so wichtig,
dass man sich nicht vom Alltag auf-
fressen lässt“, sagt sie.
Wissenschaftliche Untersuchungen
zur menschlichen Wahrnehmung von
Zeit zeigen, dass diese nämlich vor al-
lem dann rast, wenn eigentlich nichts
Wesentliches passiert. Eine Reise mit
Erlebnissen und Begegnungen wird
in der Erinnerung als viel länger emp-
funden als die gleiche Zeit, die in der
Monotonie des Alltags verbracht wird.
So lässt sich auch erklären, warum
das Leben Erwachsener viel schneller
zu vergehen scheint, als etwa die
Kindheit und Jugendzeit. Das liegt da-
ran, dass man später nur noch wenige
grundlegend neue Erfahrungen macht.
Das retrospektive Erleben von Zeit ist
gut erforscht, die momentane Zeit-
wahrnehmung hingegen noch nicht
vollständig geklärt. Das Wissen-
schaftsmagazin Spektrum berichtet,
dass Hirnforscher seit einigen Jahren
die innere Uhr des Menschen suchen,
die für Zeitschätzungen im Minuten-
und Sekundenbereich zuständig ist.
Durch Experimente im Floating-Tank –
ein mit Salzwasser gefülltes, ge-
schlossenes Becken, in dem äußere
Reize weitgehend ausgeschaltet wer-
den und nur der Körpersinn präsent
ist, versucht man, die unmittelbare,
momentane Zeitwahrnehmung von
Menschen zu ergründen. Auf dem
Wasser treibend, in völliger Dunkel-
heit und Isolation zeigt sich jeden-
falls, dass dem Zeitbewusstsein die
Körperwahrnehmung zugrunde liegt.
Dabei spürt der Mensch die Zeit un-
mittelbar am eigenen Leib. Zeitbe-
wusstsein entspringt also nicht nur
äußeren Reizen, sondern aus dem
Menschen selbst. Durch sein Körper-
gefühl und durch Signale wie die
Atmung entsteht ein Gefühl für
die Zeit.
Zurück ins stressige Leben. „Nur Tote
haben keinen Stress“, sagte Hans
Selye, der erste offi zielle Stressfor-
scher. Der aus Wien stammende Arzt,
der 1934 vor den Nationalsozialisten
nach Kanada fl üchtete, entwickelte
die Lehre vom Stress und kreierte den
Begriff. Er wollte den Stress keines-
falls abschaffen, mahnte jedoch, dass
jeder sein Belastbarkeitslevel fi nden
und die eigenen Grenzen beachten
sollte. Beim Stress macht die Dosis
das Gift. Stress kann Menschen krank
machen, doch zunächst macht er sie
kreativ und produktiv. Es ist schon
EUSTRESS IST GUTER STRESS UND MACHT DIE MENSCHEN KREATIV
IN DER MONOTONIE DES ALLTAGS LÄUFT UNS DIE ZEIT DAVON
WISSENSCHAFTER SUCHEN NOCH IMMER NACH DER INNEREN UHR DES MENSCHEN
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paradox, dass gerade in der Leis-
tungsgesellschaft das Wort Stress
so negativ besetzt ist. Gestresst sein
klingt nach Überforderung, dabei kön-
nen wir gerade in Situationen, in wel-
chen wir gefordert sind, über uns hin-
auswachsen und Großes vollbringen.
Positiver Stress hat mit Leidenschaft
zu tun, mit Einsatz und Vertrauen in
die eigenen Fähigkeiten. Es ist der
Stoff, aus dem Action-Filme sind.
Am letzten Tag des Jahres 2015, un-
terwegs auf der deutschen Autobahn,
hatte der Wiener Arzt Andreas Gat-
terer kurz vor Regensburg ein berufl i-
ches Erfolgserlebnis. Und dabei war
er nicht einmal im Dienst. „Ein Stau-
beginn machte sich bemerkbar, in der
Ferne waren Warnblinkanlagen zu er-
kennen, in der Kolonne dahinter gin-
gen die Bremslichter an“, erinnert sich
Gatterer. Er sieht, dass etwa 300 bis
500 Meter entfernt, ein Pkw quer auf
der Fahrbahn sowie Menschen auf
dem Pannenstreifen stehen. Ein Un-
fall ist passiert und kein Blaulicht in
Sicht, es sind also noch keine Ein-
satzkräfte am Unfallort. In diesem Mo-
ment wird aus dem Urlaubsreisenden
der Notarzt und eine Kette zielgerich-
teter Handlungen nimmt ihren Lauf: Er
muss sofort dorthin, um Erste Hilfe zu
leisten. Gatterer ist Anästhesist- und
Intensivmediziner sowie Notarzt. Je-
de Notfallsituation ist selbst für Pro-
fi s zunächst einmal eine Herausforde-
rung, die Zeitwahrnehmung verändert
sich. Jede Sekunde wird viel intensi-
ver wahrgenommen.
Am Unfallort stellt sich heraus, dass
zwei Pkw mit mehreren Insassen, dar-
unter ein Kind, beteiligt sind. Nachdem
sich Gatterer mithilfe von Freiwilligen
einen Überblick über die Verletzungs-
grade der am Unfall beteiligten Perso-
nen gemacht hat, leistet er Erste Hilfe.
Am Tag danach liest er in den Polizei-
nachrichten, dass alle Verletzten den
Unfall überlebt haben. „Natürlich war
das Stress, aber ein durchwegs positi-
ver. Ich bin stolz, dass ich helfen konnte.
Das ist ein gutes Gefühl“, sagt er.
Wer zwischenzeitlich gestresst ist,
kurbelt die eigene Schaffenskraft
an und entwickelt sich weiter. Ein-
zig den Dauerstress gilt es, zu ver-
meiden, denn der macht krank. Was
als Stress empfunden wird, ist zudem
höchst individuell. Die Reaktionsab-
folge, die im Körper dabei ausgelöst
wird, ist jedoch stets die gleiche, wie
sie schon unsere Urahnen in der Be-
gegnung mit dem Säbelzahntiger er-
lebten, in jener Schrecksekunde, wo
die überlebenswichtige Entscheidung
Flucht oder Kampf getroffen werden
musste. In der Stresssituation ist der
Mensch hellwach, konzentriert und er
priorisiert. Im Gehirn wird eine Reak-
tionskette ausgelöst: Adrenalin wird
ausgeschüttet, Blutdruck und Puls
steigen, die Muskulatur spannt sich
an, Körper und Geist sind in Alarm-
bereitschaft. Etwa zehn Minuten nach
dem Adrenalinausstoß folgt Cortisol,
das den Körper vor zu viel Adrenalin
schützt und noch eine Zeitlang für er-
höhte Aufmerksamkeit sorgt. Wichtig
ist, dass man danach den Cortisol-
Spiegel wieder herunterfährt. Proble-
me drohen Dauergestressten, die es
verlernt haben, sich aus dem Cortisol-
Zustand wieder zu befreien.
Der renommierte österreichische
Stressforscher Sepp Porta warnt
vor der „pausenlosen Gesellschaft“.
Denn erst in der Pause entsteht die
Kraft für kommende Anforderungen.
Wer jedoch permanent arbeitet, nimmt
Körper und Geist die Möglichkeit zur
Regeneration. Überlastung, Erschöp-
fung und Burnout sind mögliche Fol-
gen. Es gibt also keinen Grund, ein
schlechtes Gewissen zu haben, wenn
man ab und zu „alle fünf gerade sein“
und die Arbeit liegen lässt. Müßig-
gang ist also in keiner Weise aller
Laster Anfang, sondern notwendiger
Ausgleich. Insbesondere Momente
der Stille sind wahre Erholungsquel-
len in unserer schnellen Welt. Work-
aholics sollten das Eintauchen in die
Stille laut Experten behutsam ange-
hen. Für den Einsteiger genügen ein
paar Minuten täglich, in denen er wie-
der ganz Herr seiner Zeit ist. �
Im Alltagstrott verfl iegt die Zeit. Viel bewusster
und intensiver erleben wir sie, wenn wir Neues
kennen lernen. Zum Beispiel im Urlaub, oder in
neuen Lebenssituationen.
PAUSE EINLEGEN, MÜSSIGGANGGENIESSEN UND DANN NEU DURCHSTARTEN
NOTFALLMEDIZINER HABEN IN UNERWARTETEN SITUATIONEN AUCH HERZKLOPFEN
HELLWACH UND HOCH KONZENTRIERT – IN DER SCHRECKSEKUNDE REAGIERT DER MENSCH SEIT URZEITEN GLEICH
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Wer schon einmal Hochschaubahn gefahren ist, kennt das:
Racketacke-racketacke-racketacke – so wird die Wagen-
kette bergauf gezogen. Auf der Kuppe ist es einen Herz-
schlag lang still, der Atem setzt kurz aus, dann wird aus-
geklinkt und der Zug saust auf Schienen bergab, legt sich
in die Kurve oder stellt im Looping alle auf den Kopf. Dann
schreit Veronika Lauss, fällt ein in den Chor der Adrenalin-
freunde und genießt das kalkulierte Risiko, einen vorgege-
benen Parcours in rasantem Tempo, gut angeschnallt, zu
absolvieren. Nach einigen Minuten bremst der Zug ab, alle
steigen beschwingt und schwindelig aus, atmen tief durch
und entscheiden: Noch einmal. Oder: Nie wieder.
Schon als Kind ließ sich die kleine Veronika beim jährlichen
Urfahraner-Markt in Linz gern von Fahrgeschäften drehen,
rütteln und schleudern. Ihre Vorliebe für Hochschaubahnen
entdeckte die heute 35-jährige Juristin in einer Rechtsab-
teilung erst vor sechs Jahren. Bei einer Geburtstagsparty
schwärmte ein Gast vom Europapark in Rust (Deutschland).
„Meine Freundin Renate und ich waren so angetan von den
lebhaften Schilderungen, dass wir beschlossen, selbst hin-
zufahren“, erzählt Veronika Lauss. Anfangs schlichen die
beiden mit Heidenrespekt um die Achterbahnen herum. Hier
fi ndet man auch die zweithöchste und viertschnellste Ach-
terbahn Europas: „Zuerst dachten wir: ‚Das trauen wir uns
nie‘! Dann haben wir es doch versucht und sind dabei ge-
blieben.“ Seither ist das Mädels-Wochenende im Freizeit-
park ein jährlicher Fixpunkt. Gemeinsam waren sie schon
in Spanien, mehrmals in Deutschland und auch in Holland.
Veronika Lauss reizt die Mischung aus Überwindung, Ad-
renalin, Geschwindigkeit, Schwerelosigkeit und Orientie-
rungslosigkeit – das gesicherte Abenteuer. Loopings mag
sie besonders. Am ersten Tag des gemeinsamen Abenteu-
erurlaubs umkreist sie mit ihrer Freundin die Objekte der
Begierde meist nur und erfasst mit Augen und Ohren die
Angstlust der anderen Fahrgäste. Dabei überzeugen sich
die Beiden gegenseitig davon, dass sie es wagen wollen.
Denn eigentlich weiß man nie, was auf einen zukommt, bis
man es selbst probiert hat.
Jedes Jahr schneller und höher. Mehr interessiert die beiden
jungen Frauen nicht. Auch physikalische Details der Anlage
oder technische Rekorde sind ihnen eher egal. Natürlich ist
ein Wing Coaster (die Fahrgäste sitzen links und rechts der
Schiene, über und unter ihnen ist Luft) anders zu fahren als
ein klassischer Roller Coaster (Zug auf Schienen). „Jedes
Jahr fangen wir mit den ruhigeren Bahnen an und steigern
uns langsam“, erklärt Veronika Lauss. Es gibt auch nicht DIE
Wunsch-Adrenalinschleuder, mit der sie unbedingt fahren
wollen. Es geht ihnen vielmehr um das gemeinsame Eintau-
chen in eine Themenpark-Welt. Der Park sollte auch eine
gewisse Größe haben, damit die beiden drei Tage gut be-
schäftigt sind.
Die ärgsten Achterbahnen fahren die robusten Naturen am
zweiten Tag, ausgeschlafen und mit einem guten Frühstück
im Bauch. Schlecht geworden ist ihnen noch nie. Abends
schwankt der Boden manchmal noch, wenn sie im Bett lie-
gen – wie nach einem Tag in einem Boot auf dem Meer.
Einsteigen
und anschnallen!
Alles auf Schiene
ABGEHEN WIE EINE RAKETE ODER MIT RUHIGER HAND BEIM FAHRSCHALTER
SITZEN: DEM ALLTAG ENTKOMMEN VERONIKA LAUSS UND GERHARD ULLRAM
IN GANZ UNTERSCHIEDLICHER GESCHWINDIGKEIT.
DIE FREIZEITPARK-BESUCHERIN GENIESST ANGESCHNALLT DIE
ACHTERBAHN, DER DAMPFLOKFÜHRER ROLLT MIT DER BUMMELBAHN
DURCH DAS WEINVIERTEL. Von Astrid Kuffner
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Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde im Weinviertel – auch
für den Export landwirtschaftlicher Produkte – ein dichtes
Netz an Lokalbahnen errichtet. Bis zur Mitte der 1970er-
Jahre pfauchten Dampfl okomotiven durch den Nordosten
Niederösterreichs. Ab den späten 1960er-Jahren gesellten
sich betagte Dieseltriebwagen dazu, die aus dem Regel-
betrieb ausgeschieden waren. Ab 1988 wurde ein Großteil
des Lokalbahnnetzes eingestellt, „ein Trend, der zumindest
in Niederösterreich leider bis heute anhält“, erklärt Gerhard
Ullram. Zumindest am Wochenende und in der Sommersai-
son wird ein Teilabschnitt der Strecke von Hobby-Bahnfah-
rern benutzbar gehalten.
Einer davon ist Gerhard Ullram, der in seiner Freizeit die Liebe
zur Bummelbahn pfl egt. Als Kind besuchte er mit seinem
Opa regelmäßig die Bahnhöfe in Mistelbach: den Staats-
und den Landesbahnhof – in Gehweite von seinem Zuhause.
Dort verfolgte er den Betrieb der alten Loks mit leuchtenden
Augen. An eine Bahnfahrt im Jahr 1975 – damals war er vier
Jahre – durch das Zayatal nach Dobermannsdorf und retour
mit einer Dampfl ok der Reihe 93 (Baujahr 1928) erinnert er
sich noch gut. „An den Enden der grünen Personenwagen
konnte man auf der Plattform stehen, die Nase in den Rauch
der Maschine halten und die Landschaft genießen“, schwelgt
der Bahn-Nostalgiker in Erinnerungen. Es ist wohl kein Zufall,
dass er heute bei der ÖBB-Infrastruktur arbeitet.
Die ferrophile Vorbelastung geht aber noch weiter: Sein Onkel
war bis zur Pensionierung Schaffner und erzählte gerne Ge-
schichten über die „gute alte Zeit“ bei den Weinviertler Lokal-
bahnen – „sicher mit einem Schuss Verklärung“, lächelt Ullram.
Seit 2003 ist Gerhard Ullram Gründungsmitglied des
„Vereins Neue Landesbahn“, der die Strecke Ernstbrunn–
Mistelbach (NÖ) durch die landschaftlich reizvollen Leiser
Berge erhält und touristisch nutzt. Die Fahrgäste können ei-
nen Nostalgie-Express vom Wiener Praterstern nach Ernst-
brunn nehmen, mit der Weinvierteldraisine nach Asparn an
der Zaya radeln und sich mit dem Zayataler Schienen taxi,
zusammengestellt aus ehemaligen ÖBB-Bautrupp-Fahr-
zeugen, mit 20 km/h zurück nach Mistelbach chauffi eren
lassen. Im Schienentaxi versieht der 45-Jährige regelmäßig
in der Freizeit Dienst als Fahrer, Betriebsverantwortlicher
oder Schaffner. Die Dampfl ok stampft auf den „Mollmanns-
dorfer Berg“, der Steigungen wie die Semmering-Strecke
aufweist, die Radreifen quietschen bei 25 km/h Reise-
geschwin digkeit, die Fahrgäste schauen zufrieden – und
Gerhard Ullram entspannt sich.
In Mistelbach wurde 2009 der Erlebnisbahnhof eröffnet, vor
dem Gerhard Ullram 2013 standesgemäß im Rahmen einer
Dampfzug-Sonderfahrt geheiratet hat. Seine Frau ist eben-
falls an der Bahn aufgewachsen, allerdings in Oberöster-
reich, und unterstützt ihn vor allem bei Sonderfahrten – kuli-
narisch und als Schaffnerin. An betriebsfreien Tagen widmet
er sich Grünschnitt- und Wartungs-Arbeiten entlang der
Strecke. „Im Alltag muss man sich den Anforderungen und
dem Tempo der heutigen Zeit stellen“, sagt Gerhard Ullram,
„aber nicht nur ich, sondern auch gehetzte Städter schalten
bei der ‚Neuen Landesbahn‘ vom Alltag ab“. �
Die Weichen auf
Entspannung stellen
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querspur: Seit Urzeiten sind
Menschen vom Phänomen
Geschwindigkeit fasziniert.
Manche erliegen dem Rausch der
Geschwindigkeit geradezu, andere
fürchten sich davor. Sie waren in
Ihrer aktiven Zeit die erste Frau in der
Formel 1 nach 22 Jahren und haben
immer wieder betont, Geschwindigkeit
regelrecht zu lieben. Ist Speed für Sie
noch immer die ganz große Liebe?
Susie Wolff : Total. Diese Liebe hat
bei mir schon ganz früh begonnen:
Mit zwei Jahren saß ich zum ersten
Mal auf einem kleinen Motorrad.
Schnell(er) sein zu wollen liegt wohl
in meiner Natur. Es hängt von der
Persönlichkeit ab, ob man Geschwin-
digkeit liebt oder nicht. Bei mir war
diese Liebe von Anfang an da. Auch
heute noch, nach meiner aktiven
Karriere als Test- und Entwicklungs-
fahrerin in der Formel 1, macht mir
alles Riesenspaß, was mit Speed zu
tun hat und mir die Möglichkeit
gibt, schnell zu fahren: Radfahren,
Schifahren …
querspur: Sie haben sich als Adrenalin-
Junkie und „Speed-Freak“ bezeichnet.
Macht der Rausch der Geschwindigkeit
im Motorsport süchtig?
Wolff : Ja, bestimmt. Speed hängt mit
Adrenalin zusammen. Wenn man
schnell fährt, spürt man das Adrena-
lin. Ich mag das Gefühl, wenn ich
irgendwo auf der Piste schnell unter-
wegs bin und das Adrenalin durch
meinen Körper strömt. Es ist unbe-
schreiblich! Nun aber, da ich seit
November 2015 meine Karriere als
aktive Rennfahrerin an den Nagel
gehängt habe, muss ich lernen mit
weniger Adrenalin auszukommen …
querspur: Lässt sich diese Euphorie,
die hohe Geschwindigkeiten bei Ihnen
auslösen, mit einem anderen Hochge-
fühl vergleichen, etwa mit dem Gefühl
zu gewinnen?
Wolff : Nein. Speed – und die damit
verbundenen Eindrücke und Emotio-
nen – ist einzigartig. Natürlich ist es
auch ein tolles Gefühl auf einem Po-
dest zu stehen und einen Pokal in der
Hand zu halten, aber es ersetzt das
Glücksgefühl nicht, das du empfi ndest,
wenn du schnell fährst. Speed ist eine
Form von Ekstase, die ich in keiner
anderen Form gefunden habe. Wer
sie erlebt, wird süchtig danach.
querspur: Die Formel 1, in der Sie
zwischen 2012 und 2015 als Test- und
Entwicklungsfahrerin tätig waren, gilt
nicht umsonst als Königsklasse. Mit den
Rennwagen werden Geschwindigkeiten
von weit über 350 km/h erreicht. Wie er-
lebten Sie ein solch unfassbares Tempo?
Wolff : Das ist sehr schwer zu beschrei-
ben. Bei einem Formel 1-Auto erlebst
du die Erdschwerebeschleunigung
(von Frau Wolff in Folge als „G-Kraft “
bezeichnet) wie einen Schock (Anm.:
Die Pilotin wird beim Start entge-
gen der Beschleunigungsrichtung
nach hinten in den Sitz gepresst*). Du
merkst es sofort. Die G-Kraft ist un-
glaublich groß, besonders beim Brem-
sen und in den schnellen Kurven.
GESCHWINDIGKEIT KANN SÜCHTIG MACHEN
SCHNELLIGKEIT WAR EINSTMALS EINE ÜBERLEBENSFRAGE. DER URZEITLICHE DRANG, GESCHWINDIGKEITSGRENZEN AUSZUTESTEN, WIRD IM MOTORSPORT BIS HEUTE KULTIVIERT UND ZELEBRIERT. EIN INTERVIEW ÜBER DIE SUCHT NACH GESCHWINDIGKEIT MIT EX-RENNFAHRERIN SUSIE WOLFF, DER SCHNELLSTEN FRAU DER WELT. Das Gespräch führte Catherine Gottwald
Need for Speed
*Zum Vergleich: Während der Beschleunigung eines PKWs wirkt auf
die Insassen eine Beschleunigung von ca. 0,3 g, der Pilot eines
Rennwagens erfährt beim Start 1–1,5 g und in Kurvenfahrten bis 5 g.
11TEMPO
Susie Wolff, Jahrgang 1982, startete ihre Motorsportkarriere 1996 im Kartsport und duel lierte sich dort u. a. mit den späteren For-mel 1-Piloten Nico Rosberg, Lewis Hamilton und Kimi Raikonnen. Nach Karrierestationen, in der britischen Formel 3 und dem Tourenwa-gensport, wurde Wolff 2012 Test- und Ent-wicklungsfahrerin das Williams-Teams in der Formel 1, der Königsklasse des Motorsports.
Susie Wolff hatte es mit ihrem Kampfgeist und Siegeswillen sogar geschafft, in der von Män-nern dominierten Formel 1 Proberunden der Grands Prix von Großbritannien und Deutsch-land im Jahr 2014 zu fahren. Diese Leistung war vor ihr erst einer Frau, Giovanna Amatti im Jahr 1992 gelungen. 2015 beendete Wolff ih-re aktive Karriere als Test- und Entwicklungs-fahrerin, wohl auch, weil die Formel 1 noch
nicht sehr bald für eine „leistungsfähige Renn-fahrerin bereit (ist), die auf höchstem Niveau mithalten kann“, wie sie in einem Blog für die Huffi ngton Post bedauert. Im Jänner 2016 rief Wolff vielleicht auch deshalb die Initiative „Dare To Be different“ ins Leben, eine Platt-form, die talentierte junge Frauen und Mäd-chen als Nachwuchs für den Motorsport be-geistern und fördern möchte.
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Das geht bis zu 4,8 g (1 g = Maß für
Erdbeschleunigung). 1 g ist das Dop-
pelte deines Körpergewichts. 4,8 g ist
also fast das Fünff ache des eigenen
Körpergewichts und damit unglaublich
viel. Das ist wie in einer Achterbahn.
Gleichzeitig musst du aber den Kopf
genau in der gleichen Position halten.
Für den Nacken und den Rücken ist es
eine Riesenbelastung. Wenn du auf ei-
ner Geraden bis zu 340 km/h fährst,
drückt dir die G-Kraft das Hirn weg.
Das ist die Hauptherausforderung.
querspur: Im Cockpit vertrauen Sie
auf Ihre durch hartes Training erwor-
benen Stärken und die Leistung Ihres
Wagens. Wie wirkt sich das Wissen um
Ihre Kapazitäten auf das Austesten von
Geschwindigkeitsgrenzen aus? Können
Sie – im Unterschied zu Amateurpilo-
ten – bei hohen Geschwindigkeiten Ri-
siken besser und kompetenter einschätzen?
Wolff : Erstens: Wer nicht fi t genug ist,
ist gar nicht in der Lage, das Auto zu
fahren. Es wäre zu anstrengend. Nach
drei bis fünf Runden wäre er/sie kör-
perlich am Ende und könnte den Kopf
nicht mehr hochhalten. Zweitens: In
der Formel 1 arbeiten wir nur mit
den besten Leuten. Das gilt natürlich
auch für die Ingenieure und Mecha-
niker. Ich habe vollstes Vertrauen in
mein Team.
querspur: Fühlen Sie sich, trotz des
Wissens um das hohe Risiko, in diesen
Autos sicher?
Wolff : Ganz sicher. Schließlich sind die
Autos ja so gebaut, dass sie den Auf-
prall bei einem Unfall abdämpfen.
Ich habe Vertrauen in mein Team, die
Leute, die das Auto gebaut haben,
und weiß, dass solche Dinge immer
passieren können. Dieser Sport ist
immer noch gefährlich, obwohl die
FIA (Fédération Internationale de
l’Automobile, Internationaler Auto-
mobil Dachverband) für die Sicher-
heit kämpfen und es viel sicherer als
früher ist, können Unfälle auch wei-
terhin passieren. Doch mir stellt sich
die Frage nicht, ob ich Angst habe.
Ich habe Vertrauen, wenn ich im
Auto sitze, und ich bin bereit, dieses
Risiko anzunehmen.
querspur: Die Angst fährt also
nicht mit?
Wolff : Nein. Angst hatte ich nie. Ich
habe immer gesagt, ich höre sofort auf,
wenn ich Angst habe. Respekt vor der
Geschwindigkeit hat man immer. Alles
kann sehr, sehr schnell passieren. Beim
kleinsten Fehler steckst du nämlich im
Kiesbett. Konzentration ist wichtig.
querspur: Apropos Konzentration:
Erreichen Sie beim Fahren wirklich
einen Flow-Zustand, also einen Zu-
stand höchster Konzentration, indem
Sie Ihre Wahrnehmung so steuern oder
verlangsamen können, dass Sie außer
Acht lassen, wie schnell Sie tatsächlich
unterwegs sind oder in welcher Gefahr
Sie sich bewegen?
Wolff : Durchaus. Auf der Rennstrecke
gibt es in deinem Kopf nichts anderes,
als das, was im Moment passiert. Du
pusht die Limits, denn du willst noch
schneller fahren. Du willst bis an
deine absoluten Grenzen gehen und an
die deines Autos. Das ist der Augen-
blick der Wahrheit. Unverfälscht. Ein-
zigartig. Rein. Ein Augenblick voller
Klarheit. Du lebst für diesen Moment.
Deswegen mögen so viele Leute Hoch-
leitungssport, weil sich alles auf einen
einzigen Moment konzentriert.
querspur: Kann man diese Art
Konzentration lernen?
Wolff : Ja. Dafür gibt es eigene
Übungen. Man kann das trainieren
und verbessern.
querspur: Wir haben schon über die
Rolle des Teams gesprochen. Lassen
Sie mich noch einmal drauf zurück-
kommen: Wie sehr ist der Rennerfolg
Leistung des gesamten Teams,
also Rennfahrer(in), Auto,
Konstrukteure, etc.?
Wolff : Es ist immer ein Teamerfolg.
Darauf weise ich auch gern hin: Die
Formel 1 sieht nach außen hin aus
wie ein Einzelsport, weil der Pilot
oder die Pilotin den ganzen Ruhm
abbekommt und der Name des Fah-
rers auf dem Auto steht. Tatsächlich
ist es ganz sicher ein Teamsport. Bei
Williams gibt es über 500 Leute, die
an zwei Rennautos bauen. Der Fah-
rer ist einfach das letzte Glied in der
Kette. Rennfahren ist ein Teamsport
und jede Abteilung muss hart arbei-
ten, damit das Auto schnell unter-
wegs ist. Auch im Rennen, wenn die
Strategie falsch ist oder ein Fehler
beim Boxen-Stopp passiert, kann
das Rennen falsch laufen. Deswegen
nimmt sich jeder Fahrer Zeit, das
Team zu motivieren und gute Stim-
mung im Team zu kriegen. Die
Besten können das sehr, sehr gut.
Michael Schuhmacher ist bekannt
dafür, Felipe Massa und Lewis
Hamilton machen das auch
sehr gut.
querspur: Niki Lauda hat einmal
gesagt: „In der Formel 1 geht alles so
rasch vorbei. Das heißt, zehn Jahre
dort sind wie 40 Jahre im normalen
Leben.“ Sehen Sie das auch so?
Wolff : Ja. Das ist eine sehr, sehr
schnelle Welt. Man muss immer
auf Zack sein, man muss schnell
entscheiden und schauen, wie sich
alles entwickelt, und die Welt sieht
dabei zu. �
SICHERHEITSGEFÜHL TROTZ ENORMEN RISIKOS – VERTRAUEN IN DIE TECHNIK
SCHNELLE WELT: AUCH FÜR NIKI LAUDAVERGING DIE ZEIT IN DER FORMEL 1 SCHNELLER ALS ANDERSWO
BIS AN DIE GRENZEN GEHEN – EIN EINZIGARTIGER AUGENBLICK, FÜR DEN MAN LEBT
13TEMPO
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RASEND SCHNELLHOCHGESCHWINDIGKEITSZÜGE GELTEN AUF DISTANZEN ZWISCHEN 300 UND 800 KM ALS KONKURRENZFÄHIGE ALTERNATIVE ZUM FLUGZEUG. WELTWEIT FÄHRT JÄHRLICH EIN DRITTEL ALLER BAHNREISENDEN MIT EINEM DER 3.605 HOCHGESCHWINDIGKEITSZÜGE, UM SICHER, PÜNKTLICH UND VOR ALLEM BLITZSCHNELL AN IHR ZIEL ZU GELANGEN. IN ZUKUNFT KÖNNTEN ZÜGE STATT AUF SCHIENEN AUF LUFTPOLSTERN IN VAKUUMTUNNELN UNTERWEGS SEIN. Von Catherine Gottwald
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////// SCHNELLE ZÜGE IM ENERGIESPARMODUS /////Schnellfahrten auf Schienen haben Tradition: Schon 1903 raste in Deutschland der erste Dreh-
stromtriebwagen der Firma AEG mit 210,2 km/h über die Gleise. Für die Anwendung im Alltag
war die Technik jedoch noch nicht ausgereift genug, die Weiterentwicklung hatte in der Kriegszeit
keine Priorität. Heute werden jene Züge des Eisenbahnverkehrs als Hochgeschwindigkeits-
züge bezeichnet, die im regulären, fahrplanmäßigen Betrieb Geschwindigkeiten von mindestens
250 km/h erreichen, wenn sie auf eigens dafür eingerichteten Neubau-Schnellfahrstrecken fah-
ren. Der französische TGV schafft sogar 320 km/h. Auf konventionellen Strecken erreichen Hoch-
geschwindigkeitszüge nur 200 km/h. Der Hochgeschwindigkeitsverkehr (HGV) versteht sich
als komplexes System, das nur dann funktioniert, wenn eine Vielzahl von Komponenten präzise
aufeinander abgestimmt sind: eine entsprechende Infrastruktur aus neuen und ausgebauten kon-
ventionellen Strecken, besonders antriebsstarken Schienenfahrzeugen, welche zusätzlich gegen
plötzliche Druckschwankungen geschützt sind („druckertüchtig“) sowie speziellen Signal- sowie
Sicherheits- und Leitsystemen. Der Großteil der High-Speed-Trains läuft im sog. „Rad-Schiene-
System“ (mit Rädern auf den Gleisen, im Gegensatz zur Magnetschwebebahn, s. u.) und reduziert
durch Faktoren wie aerodynamisches Design, ein homogenes Geschwindigkeitsprofi l, geringere
Masse durch leichtere Materialien, effi zientere Elektroniksysteme u. a. den Energieverbrauch um
bis zu 15 % gegenüber konventionellen Zügen.
////// FAST SO SCHNELL WIE FLUGZEUGE //////////////Technologisch sind im HGV aber die Magnetschnellbahnsysteme auf der Überholspur:
Magnet schwebebahnen sind spurgeführte Züge, die durch magnetische Kräfte auf eigens ange-
fertigten Strecken geräusch- und verschleißarm in Schwebe gehalten und in Spur geführt wer-
den, ohne jedoch die Schiene zu berühren. Auch der Antrieb und die Bremsung erfolgt im Sys-
tem. Ein Beispiel ist der Shanghai Transrapid Maglev. Er verbindet seit 2003 den Finanzdistrikt mit
dem Shanghai Airport und ist mit einer Höchstgeschwindigkeit von 431 km/h das fahrplanmäßig
schnellste spurgebundene Fahrzeug der Welt im regulären Betrieb. Außerhalb eines regulären
Fahrplans ist der Weltrekordhalter in Sachen Geschwindigkeit der japanische Yamanashi Mag-
lev L0 (A07), ebenfalls eine Magnetschwebebahn: Am 21. April 2015 erreichte er auf einer Test-
strecke 603 km/h. Der private Betreiber Central Japan Railway plant, den Zug ab 2027 auf der
Strecke Tokio–Nagoya einzusetzen (350 km in 40 Minuten). Bis 2045 soll via Magnetschwebe-
bahn auch Osaka von Tokio aus in 60 Minuten für etwa 400 km erreichbar sein.
////// IN ZUKUNFT AUF LUFT STATT SCHIENE /////////// Nicht mehr Schienen, sondern Luftkissen könnten in Zukunft für den Massentransport eine Rolle
spielen, wenn es nach dem Visionär Elon Musk geht. Er möchte auf der 600 km langen Strecke
von Los Angeles nach San Francisco das Hochgeschwindigkeitstransportsystem „Hyperloop“
einführen und dieses in Folge auch nach Europa und Asien exportieren. Hyperloop befördert
Passagiere in elektrisch betriebenen Transportkapseln, die ähnlich wie bei bestehenden Magnet-
schwebebahnen berührungsfrei, allerdings auf Luftpolstern bei 1 220 km/h energieeffi zient und
schadstoffarm durch evakuierte Stahlröhren gleiten. Energieeffi zient, weil der Strom zum Antrieb
der Kapsel aus alternativen Energiequellen (Solarenergie) gewonnen werden soll. Die Kapsel
fasst 28 Passagiere; geplant sind auch Hyperloop-Cargo-Kapseln. Erstmals bemannt getestet
wird der Hyperloop 2016 auf einer acht km langen Teststrecke in Quay Valley. Ab 2020 könnte
der Hyperloop beispielsweise auch die Städte Wien und Bratislava in nur acht Minuten verbin-
den. Erste Gespräche sind schon am Laufen. http://hyperlooptech.com
14
DASS ES BEI START-UPS IMMER GANZ SCHNELL ZUGEHT, TRIFFT NUR AUF EINEN KLEINEN TEIL DER GRÜNDERSZENE ZU. BEI AUFWÄNDIGEN ENTWICK-LUNGEN HINGEGEN GILT DIE DEVISE: BEHUTSAM STARTEN UND ERST SPÄTER VOLLGAS GEBEN. DAS WIENER TECHNOLOGIE-START-UP CARGOMETER HAT EIN SYSTEM ZUR EXAKTEN BESTIMMUNG VON LKW-LADUNGEN ENTWICKELT. ZWISCHEN ERSTER PRODUKTIDEE UND NULLSERIE LAGEN ZIRKA FÜNF JAHRE. NUN STEHT DAS UNTERNEHMEN AN DER STARTRAMPE ZUM MARKTEINTRITT UND JETZT SOLL ES SCHNELL GEHEN. Von Ruth Reitmeier
DIE FRACHT-STARTERA
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Start-up heißt ja nicht nur Unterneh-
mensneugründung, sondern bedeutet
auch durchstarten. Entsprechend dy-
namisch klingt der Begriff , nach mehr,
nach von null auf hundert, einfach ma-
chen, schnell sein. Man assoziiert damit
geniale Business-Ideen, die ihre Schöpfer
binnen weniger Jahre vom Garagenmie-
ter zum Milliardär machen oder auch
fulminant scheitern lassen, um irgend-
wann vielleicht dann doch noch das
ganz große Business auf die Beine zu
stellen. Viele dieser modernen Mythen
spielen im kalifornischen Silicon Valley,
der Traumfabrik angehender Unterneh-
mer. Ab und zu gibt es so eine Story
auch aus Österreich. Diese Geschichten
sind zweifellos inspirierend, jedoch in
der Realität Ausnahmen, die die Regel
bestätigen. Das Gros österreichischer
Start-ups braucht Zeit für Entwicklung,
Markteintritt, um Kunden zu gewinnen,
ein Vertriebssystem aufzubauen und
Gewinne zu schreiben. Auch technolo-
gische Innovationen, für deren Anwen-
dung es oft mehr als eine Internet-Platt-
form braucht, benötigen Zeit und Geld.
„Speed ist vor allem im E-Business ein
Th ema, denn ist die Zeit für eine Ge-
schäft sidee erst reif, muss diese mög-
lichst schnell und mit viel Marketing-
kapital auf den Markt gebracht werden“,
sagt Werner Wutscher – Business Angel
und Gründer der Investmentboutique
New Venture Scouting, die innovative
Start-ups und etablierte Unternehmen
zusammenbringt. Ist ein Geschäft smo-
dell hochgradig skalierbar, so müssen
dies in der Regel auch die Finanzmittel
fürs Marketing sein. In der öff entlichen
Wahrnehmung von Start-ups sind vor
allem E-Commerce-Modelle und Apps
präsent. Ein großer Bereich ist jedoch
jener der Hardware und anderer auf-
wändiger Technologie-Entwicklungen,
deren Teams üblicherweise einen langen
Atem brauchen. „Das ist eine ganze an-
dere Welt“, betont Wutscher.
Zwischen Am Schöpfwerk und dem
Wienerberg im zehnten Wiener
Gemeindebezirk in einem langgestreck-
ten Gewerbekomplex befi ndet sich der
High Tech Campus Vienna, wo Michael
Baumgartner seinen Arbeitsplatz hat.
Er ist Gründer und Geschäft sführer von
Cargometer. Das Wiener Messtechnik-
Unternehmen wurde 2013 gegründet
und steht nunmehr am Start zum Markt-
eintritt. Was hier entwickelt wurde, ist
ein innovatives Fracht-Messsystem, das
derzeit in Nullserie bei der Spedition
Gebrüder Weiss im Testbetrieb läuft .
Die neue Technologie löst ein kostspie-
liges Problem in der Logistikbranche.
Durch den Einsatz dieses Systems, das
mittels Sensoren das Frachtvolumen von
Lkw-Ladungen exakt bestimmt und ver-
rechnet, können Transportunternehmen
ihre Umsätze um bis zu fünf Prozent
steigern – errechnete Cargometer. Rund
90 Millionen Tonnen an so genannten
Stückguttransporten – also mit Lebens-
mitteln, pharmazeutischen Produkten,
Autozubehör oder Elektrogeräten bela-
dene Paletten – sind im Lkw in gesamt
27 Ländern Europas pro Jahr grenzüber-
schreitend unterwegs. Die tatsächliche
Entwicklung des Produkts nahm drei
Jahre in Anspruch, vor allem das Pro-
grammieren des Messsystems war zeit-
aufwändig, doch jetzt heißt es: Gas ge-
ben. Gerade im Hightech-Sektor ist
fl ottes Wachstum des Unternehmens
oft mals dem organischen vorzu ziehen,
um bloß nicht von Kopisten über holt
zu werden. Jetzt, an der Schwelle zum
Markteintritt, führt das Unternehmen
intensive Gespräche mit Investoren
zwecks Anschubfi nanzierung. Rund
800 000 Euro benötigt das Unternehmen
für den Roll-out. „Wir wollen die ersten
im Markt sein“, sagt Baumgartner.
2018, also fünf Jahre nach der Unterneh-
mensgründung, will Cargometer den
Break-even erreicht haben – ein laut
Experten seriöses Ziel. Neben Kapital-
gebern wird deshalb auch ein Vertriebs-
partner gesucht, der bereits über einen
soliden Kundenstock in der Branche
verfügt. Dies ist im Übrigen eine Variante,
die laut Start-up-Experten Wutscher viel
mehr Jungunternehmen nutzen sollten.
Denn durch eine strategische Partner-
schaft mit einem etablierten Unterneh-
men ist das Start-up viel schneller im
Markt positioniert und erspart sich den
mühsamen Aufb au eines eigenen Ver-
triebssystems. Hinzu komme der nicht
zu unterschätzende Vorteil, dass bei einer
Vertriebspartnerschaft keine Unterneh-
mensanteile abgetreten werden müssen.
„Solche Kooperationen werden üblicher-
weise über eine Umsatzbeteiligung des
Vertriebspartners geregelt“, sagt Wutscher.
Wobei Partnerschaft en mit großen Kon-
zernen für Start-ups schwieriger sein
können als etwa die Zusammenarbeit mit
einem KMU. Je größer der Konzern, des-
to langwieriger die Entscheidungspro-
zesse. Das passt oft mals mit Ausrichtung
und Geschäft sidee des Start-ups nicht zu-
sammen. Für ein KMU hingegen ist die
Zusammenarbeit mit einem innovativen
Jungunternehmen üblicherweise Chefsa-
che. Steht der Eigentümer dahinter, kann
eine Kooperation auch rasch umgesetzt
werden.
Cargometer will jedenfalls zunächst
den Heimmarkt bearbeiten sowie deut-
sche Spediteure als Kunden gewinnen.
Grundsätzlich ist für ein Produkt wie
dieses der Weltmarkt das Ziel. Das Un-
ternehmen ist derzeit ein Fünf-Mann-
Betrieb mit zwei Geschäft sführern und
beschäft igt des Weiteren ein Team aus
IM E-BUSINESS IST SCHNELLES HANDELN EIN SCHLÜSSELFAKTOR ZUM ERFOLG
AM START ZUM MARKTEINTRITT: HIGH-TECH-ENTWICKLUNG MIT POTENZIAL AM WELTMARKT
STRATEGISCHE PARTNERSCHAFTEN ZWISCHEN START-UPS UND ETABLIERTEN UNTERNEHMEN ALS ERFOLGSFAKTOR
DIE RICHTIGEN MITARBEITER ZU FINDEN, IST FÜR GRÜNDER OFT SCHWIERIG
16
drei Technikern, die allesamt erst ein-
mal gefunden werden mussten. Auch
das war ein Prozess. Neben dem Aufb au
der richtigen Mannschaft und Unter-
nehmensstruktur bremsten zwischen-
zeitlich Finanzlücken die Entwicklung,
etwa jene zwischen den Auszahlungen
einzelner Tranchen von Fördergeldern.
Der Geldfl uss ist ein Bereich, den viele
Start-ups unterschätzen. „Geld muss
dann eingesammelt werden, wenn man
es eigentlich noch gar nicht braucht“,
sagt Wutscher. Denn es vergehen übli-
cherweise viele Monate zwischen einer
Finanzierungszusage und dem Eingang
der Finanzmittel auf dem Firmenkonto.
Zurück zu Cargometer: Zirka zwei Jahre
lagen zwischen der ersten Produktidee
und dem Startschuss zur Entwicklung.
Der Weg von der Idee zum marktreifen
Produkt ist zudem eine klassische Ge-
schichte von Versuch und Irrtum. Um
sie zu verstehen, muss man in diesem
Fall zunächst runter von der Straße und
hinein in die Umschlaghalle, wo Stück-
gut am laufenden Band palettenweise
ver- und umgeladen wird.
Bis heute werden Ladungen zumeist gar
nicht oder aber mühselig von Hand
abgemessen. Die Frachtscheine selbst
liefern keine Daten über die Dimension
einer Ladung, die Logistiker wissen
folglich auch nicht, wie sie daherkommt.
Sie schätzen das Volumen anhand des
Frachtgewichts und liegen damit oft zu
ihrem fi nanziellen Nachteil daneben.
Eine noch unveröff entlichte Studie der
Technischen Universität Wien kommt zu
dem Schluss, dass rund 60 Prozent der
Lkw-Ladungen untertarifi ert abgerechnet
werden und etwa 20 Prozent übertari fi ert.
Fazit: Lkw-Ladungen werden größten-
teils falsch abgerechnet. Dieses Nicht-
wissen um die tatsächliche Dimension
von Ladungen führt zu vage kalkulierten
Rechnungen, Planungsdefi ziten, schlecht
ausgelasteten Logistik-Netzwerken und
halbleeren Lkws. All das bringt nicht
nur die ohnehin mageren Margen der
Spediteure unter Druck, es führt auch
zu CO2-Belastung, die man einsparen
könnte. Und genau aus dieser Ecke kam
die ursprüngliche Idee für dieses Pro-
dukt, denn Gründer Michael Baumgart-
ner ist Klimaforscher. Seine Dissertation
zum Th ema CO2-Reduktion im Schwer-
verkehr verfasste er am renommierten
Max-Planck-Institut für Meteorologie in
Hamburg.
Aus Hamburg hatte er zudem ein Patent
für eine „Vorrichtung und Verfahren zur
Erfassung der Ausnutzung eines beweg-
baren Laderaums“ mitgebracht. Bis sich
daraus Cargometer entwickelte, brauch-
te es allerdings mehr als einen Anlauf.
Als schließlich auch der perfekte Ort ge-
funden war, um die Lkw-Ladungen am
besten zu messen – nämlich die großen
Lkw-Tore zur Umschlaghalle, weil genau
dort der Gabelstapler mit der Ladung
durchfährt und der Arbeitsablauf in der
Halle nicht behindert wird – tauchte
ein praktisches Problem auf: Die Um-
setzung war einfach zu teuer und wurde
erst mit der rasanten Weiterentwicklung
der Sensortechnik rentabel. Seit ein paar
Jahren sind nun die benötigten Time-of-
fl ight-Sensoren in einer Preisklasse er-
hältlich, bei der sich eine Bestückung
mehrerer Tore rund um eine Umschlag-
halle rechnet. Und dies markierte quasi
den offi ziellen Start von Cargometer.
EINFACHE RECHNUNG: LADUNG + PALETTE – GABELSTAPLER = FRACHTVOLUMEN
Die Sensoren, die Cargometer heute ein-
setzt, schießen bis zu 30 Aufnahmen pro
Sekunde. Auf dem Bildschirm entsteht
daraus ein 3D-Modell, das sich nach und
nach zu einer glatten und vor allem exak-
ten Oberfl ächendarstellung der Ladung
zusammenfügt. Der Computer zieht
letztlich die Maße des Gabelstaplers ab
und zeichnet die Kanten eines Quaders
rund um die Ladung – Palette inklusi-
ve. Mit genau diesen Abmessungen steht sie
wenig später im Lkw. Mittels der gewonnen
Daten über die Dimension stimmt nicht
nur die Rechnung des Spediteurs, die Bilder
liefern nebenbei einen Beweis für etwaigen
Diebstahl oder Beschädigung der Fracht.
Auf Basis solcher Daten werden künf-
tig die Flotten und Netzwerke der Trans-
portunternehmen effi zienter genutzt wer-
den. So wird es möglich sein, Fahrpläne
nicht mehr zirka halbjährlich, sondern
sehr kurzfristig dem tatsächlichen Bedarf
anzupassen. „Ist die Strecke Wien–Berlin
etwa mittwochs schlecht ausgelastet, so
wird das Logistikunternehmen die Wa-
ren eben in einem kleineren Lkw bis zur
Umschlaghalle in München liefern und
anschließend von dort aus diese Fracht
zusammen mit weiteren Ladungen in ei-
nem größerem nach Berlin weiter trans-
portieren“, sagt Baumgartner. �
MEHRERE ANLÄUFE, UM ZUM KERN DER GESCHÄFTSIDEE VORZURÜCKEN
DIE FINANZIERUNG WIRD VON VIELEN UNTERSCHÄTZT
GENAUE MESSUNG VON FRACHTGUT WAR BIS DATO KAUM MÖGLICH
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Die scheinbar schnelle Start-up Welt braucht in bestimmten Abschnitten auch ihre Zeit. Vor allem High-Tech-Ideen lassen
sich nicht über Nacht entwickeln. Wie im Fall von Cargometer, ein österreichisches Start-up, das mit seiner Lösung für die Logistik den
Weltmarkt anstrebt und gute Chancen hat diesen zu erobern.
17TEMPO
querspur: Vinicius, wie kam
es zu Momentos?
Vinicius: Bei meiner Arbeit mit
Profi s und Laien habe ich gemerkt,
dass Kreativität einen besonderen
Raum braucht, wenn sie sich unab-
hängig von Zeit und Druck entfalten
soll. Unter solchen Voraussetzungen
entsteht etwas, das ich Kreativraum
nenne. Er ist die Vereinigung des
Räumlichen, Geistigen und Emotio-
nalen. Sobald man den Tänzerinnen
und Tänzern diese drei Ebenen zu
öff nen hilft , sind sie in der Lage, in-
nerhalb kurzer Zeit neue Bewegungs-
ideen zu kreieren.
Dann wird es auch interessanter und
reizvoller, weil es nichts mehr mit Ab-
spulen bereits trainierter Bewegungs-
abläufe zu tun hat. Es geht eher um
eine individuelle Ausdrucksform, die
zwischen dem Gesprochenen und
dem Körperlichen, also der Bewegung
und dem Ausdruck, schwebt. Eine sol-
che Ausdrucksform kann „ungreif-
bare“ Botschaft en vermitteln. Diese
werden nicht in erster Linie durch den
Verstand erfasst, sondern durch
einen anderen menschlichen Kanal:
die Intuition.
querspur: Das Ziel von Momentos
ist, innerhalb von nur drei Wochenen-
den mit Menschen ohne oder mit wenig
Tanzerfahrung etwas Qualitatives auf
die Bühne zu bringen. Wie geht das?
Vinicius: Momentos ist eher als
Workshop-Situation zu verstehen.
Hier geht es um das Experimentieren
und Improvisieren. Da liegt der Fokus
schon mal woanders als in der Per-
fektion: Wir schauen, was man in der
Zeit schafft und nicht, was man nicht
DER TÄNZER, TANZPÄDAGOGE UND CHOREOGRAF VINICIUS VERFOLGT IN SEINEM TANZTHEATER-PROJEKT MOMENTOS EINE STRATEGIE: NACH NUR DREI WOCHENENDEN IST EIN STÜCK AUFFÜHRUNGSREIF. ZUSÄTZLICHER SCHWIERIGKEITSGRAD: VIELE TÄNZER HABEN KEINE ODER WENIG TANZERFAHRUNG. Das Gespräch führte Daniela Müller
Tanzen mit allen Sinnen
IN DER UNERPROBTEN SITUATION ENTSTEHEN BEWEGUNGEN MIT BOTSCHAFTEN
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Vinicius, in Rio de Janeiro geboren, kam 1992 nach Deutschland und verwirklichte dort seinen Traum, auf großen Bühnen zu tanzen. Er absol-vierte Ausbildungen als Tanztheatertänzer, Tanzpädagoge und Choreograph in Deutsch-
land und London. Vinicius arbeitet heute freibe-rufl ich, vorwiegend in Deutschland und Öster-reich, leitet aber auch Tanzprojekte in anderen europäischen Ländern und in Brasilien. Das Projekt Momentos entstand im Sommer 2011
in Wien und wurde später nach Innsbruck und Rio de Janeiro gebracht.
www.fantastartist.dewww.facebook.com/vinicius.de
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geschafft hat. Alle Mitwirkenden
sollen dabei eine individuelle Verbin-
dung zum Th ema entwickeln und
daraus ihren Beitrag leisten, sie sollen
die Verbindung zwischen Tanz,
Musik und Raum spüren. Zudem er-
fahren die Teilnehmenden einiges
über die enorme Disziplin und Ernst-
haft igkeit, die hinter so einer Produk-
tion steckt und was es braucht, um
Kunst im quasi professionellen Be-
reich zu kreieren und zu realisieren.
querspur: Wie geht es den
Teilnehmenden mit dieser Situation?
Vinicius: In der Regel sind sie nach
dem Aufwärmen schon ganz anders
eingestimmt, weil schon beim Auf-
wärmen eine mentale Vorbereitung
auf die kommende Arbeit passiert:
Viele denken, dass es beim Aufwär-
men nur um die Muskeln geht. Doch
in meiner Arbeit ist es der Zentral-
punkt für den Eingang zur Sensibili-
sierung der emotionellen Ebene, zur
Fokussierung des Denkens im Hier
und Jetzt und zur Erfahrung der
Qualität des eigenen Körpers. Erst
auf einer zweiten Ebene geht es um
die muskulären und tänzerischen
Fähigkeiten. Mit diesem Aufwärmen
werden die Tänzerinnen und Tänzer
bestens für schnelle kreative und
ausdrucks starke Ergebnisse vorbe-
reitet.
querspur: Wie genau entsteht das,
was am Ende aufgeführt wird?
Momentos entsteht, indem ich den
Teilnehmenden Fragen stelle, auf die
sie mir in Form von Bewegung ant-
worten. In einem weiteren Moment
lasse ich sie ihre Solo-Arbeiten
gegenseitig präsentieren. Infolge-
dessen fallen viele Hemmungen und
Unsicherheiten. Zugleich versuche
ich, Verknüpfungspunkte zwischen
den Soli zu erkennen, sie in Form von
choreografi schen Gruppenarbeiten
zusammen zu bringen und daraus
feste Szenen für das Tanzstück vor-
zubereiten. Das lässt ein Tanzstück –
ein Wechselspiel zwischen den Tan-
zenden und mir – unheimlich schnell
entstehen.
querspur: Aber es wird doch einen
gewissen Erwartungsdruck geben?
Vinicius: Eigentlich habe ich viel
mehr Erwartungen als Erwartungs-
druck, d. h., ich habe immer den
Wunsch neue Bilder und bewegte
Momente mit meinen Tänzerinnen
und Tänzern zu schaff en. Momentos
entwickelt sich entlang individueller
Fähigkeiten, die die Teilnehmenden
mitbringen: wie sie sich bewegen,
ausdrücken und inspirieren. Druck
versuche ich zu vermeiden. Das ist
kontraproduktiv. Kreativität und
Produktivität entstehen eher, indem
man das Bewusstsein für sich und die
Umgebung schärft und sich darüber
im Klaren ist, mit welchen Gefühlen
man im Raum ist.
querspur: Ich würde das von Ihnen
Beschriebene als „ganzheitliche“
Lern situation beschreiben. Kann
man ein solches Lernen auch im
Alltag umsetzen?
Vinicius: Zu mir kommen beispiels-
weise immer wieder Lehrende um
Tipps, wie sie ihre Schülerinnen und
Schüler für das Lernen begeistern
können, einzuholen. Dazu muss
gesagt werden, dass Lehrende in der
Regel in einer Welt arbeiten, in der es
einen festen Arbeitsrahmen gibt mit
wenig Spiel- und Zeitraum, um den
Lehrstoff zu vermitteln. Und das, ob-
wohl wir mittlerweile wissen, dass
es vier verschiedene Lerntypen gibt.
Hier bremse ich ein und hole die Leh-
renden erst einmal aus ihrer Lehrer-
Rolle heraus, indem ich sie spüren
lasse, wie es sich anfühlt, Individuum
zu sein, sich selbst und die Welt der
Emotionen zu erfahren, damit sie in
einem weiteren Schritt im eigenen
Körper erleben, wie es ist, wenn das
Gelernte ein ausgeglichenes Erlebnis
von Erleben und Fühlen ist. Nicht nur
bei den Schülerinnen und Schülern,
sondern auch bei sich selbst.
querspur: Ein allgemeingültiger
Rat wäre zu kurz gegriff en?
Vinicius: Das Befolgen eines Rates
hat meistens mit einem kognitiven
Verstehen einer Aufgabe zu tun, ist
oft aber nicht ausreichend, um be-
stimmte Dinge in Gang zu setzen.
Manche Dinge muss man einfach er-
fahren und ausprobieren, um sie zu
verstehen. Ein Beispiel dafür ist, mit
einem Blatt Papier durch einen leich-
ten Gegendruck zu tanzen. Um es zu
erreichen, genügt es nicht aus zu sagen:
Nutze den Gegendruck, um das Blatt-
papier an deiner Handfl äche festzu-
machen. Zuerst muss ich die Sinne
des Teilnehmenden für Leichtigkeit
im Körper sowie in der Bewegung
und zugleich Gegendruck sensibilisie-
ren. Die Übung spiegelt oft wider,
wie man selber im Leben drauf ist:
Manche geben sich viel Druck im
Leben und lassen das Blatt Papier
trotzdem schnell fallen. Andere
können sich kaum Gegendruck
leisten, weil sie eher weich im Leben
sind, und auch hier fällt das Blatt
Papier zu Boden. Es geht um eine
spielerische und andere Form der Ba-
lance von Raum, Geist und Emotion,
der im Leben selten Aufmerksamkeit
geschenkt wird.
querspur: Was haben Sie
bei Momentos gelernt?
Vinicius: Bei diesem Tanzprojekt
lerne ich die Menschenseele zu ver-
stehen, meine Intuition zu schärfen,
die Fähigkeit, im Moment zu sein und
dabei die richtige Entscheidung für
das Tanzstück oder für die Gruppen-
dynamik zu fi nden. Aber auch kreativ
und eff ektiv zu sein und mit kleinen
oder großen Herausforderungen um-
gehen zu können. �
AUFWÄRMEN IST NICHT NUR FÜR DEN KÖRPER WICHTIG, SONDERN BEREITET AUCH DIE EMOTIONALE EBENE DER TÄNZER VOR
MIT DIESER ART DES TANZENS LASSEN SICH AUCH ALLTAGSSITUATIONEN BESSER MEISTERN
IN DER SITUATION DIE RICHTIGE ENTSCHEIDUNG TREFFEN
Fast wie echt
Fo
to: ©
Fra
un
ho
fer
IGD
21TEMPO
In naher Zukunft: Immer dann, wenn
sie auf der Suche nach einer Idee ist,
spaziert die Autodesignerin morgens
an einem Brunnen aus den 1960er
Jahren vorbei, dessen biomorphe
Formen (also künstliche Gebilde,
die natürlichen Lebensformen nach-
empfunden sind) sie für ihre Arbeit
immer wieder inspirieren. Und sie
fi ndet dort einmal mehr erneut eine
Antwort. Diesmal darauf wie sie das
Heck, an dem sie gerade tüftelt und
das vorerst nur auf Bildschirm in 3D
existiert, fl ießender hinbekommt.
Ein wenig später, an ihrem Arbeits-
platz, ändert sie ein paar Details.
Dann drückt sie aufs Knöpfchen
und schickt das virtuelle Auto mit ver-
ändertem Blechkleid in die simulierte
Realität eines Windkanals, um die
Aerodynamik zu testen. Im Bruchteil
einer Sekunde hat sie ein Ergebnis.
Bingo! Schönheit und technische
Anforderungen ergänzen einander
perfekt.
Ab 2020 wird dies möglich sein, wer-
den Versuch und Irrtum in der Pro-
duktentwicklung nur Zehntelsekunden
voneinander entfernt liegen. Durch die
laufende rechnergestützte Absiche-
rung von Zwischenergebnissen wird
mit wenig Risiko vieles ausprobiert
werden können. Denn mittels simulier-
ter Realität lassen sich Szenarien der
realen Welt im Computer abbilden
und Aus- sowie Vorhersagen treffen.
Das Besondere an dieser Art der
Simulation ist, dass sie virtuell und
interaktiv ist. Sie bezieht also ihre
Umgebung mit ein, genauso wie das,
was dort passiert. Diese Art der
virtuellen Realität hat nichts mit dem
zu tun, was wir schon heute etwa
aus der Architektur kennen, wo z. B.
virtuel le Wohnungspläne dem Mieter
oder Käufer das Raumempfi nden
nahe bringen sollen.
Das Konzept dieser hochentwickelten
simulierten Realität wird vor allem für
komplexe Systeme wie Verkehr und
hochmoderne Produktions prozesse
eingesetzt. Zum Beispiel im Flug-
zeugbau: Denn erst wenn absolut
sicher ist, dass der neue Flieger auch
oben bleibt, wird testgefl ogen, davor
wird simuliert.
Auch der Autobau bedient sich längst
der realitätsnahen Simulation. Den-
noch steht gerade hier ein großer
Sprung nach vorne an. Anders als
noch heute üblich wird in wenigen
Jahren simulierte Realität fi xer Be-
standteil in frühen Stadien des Pro-
duktentwicklungsprozesses sein.
Dieser Fortschritt wird durch die An-
forderungen des Weltmarktes ange-
trieben, wo, um wettbewerbsfähig zu
bleiben, neue Produkte innerhalb kür-
zester Zeit Serienreife erreichen und
folglich schneller und kostengünstiger
entwickelt und produziert werden
müssen.
Zugleich pushen die neuen Player
wie der Internetkonzern Google oder
Elektroautohersteller Tesla die
Entwicklung. Denn im Zuge der sich
vollziehenden Neuerfi ndung des
Autos zum automatisierten, autonom-
vernetzten Fahrkonzept wird der Auto-
bau um einiges komplexer. PS, das
war einmal, Automobilhersteller defi -
nieren sich heute über ihre digitalen
Stärken – wohlwissend, dass Um-
brüche, wie sie sich zurzeit in ihrer
Branche abspielen, in der Lage sind,
unsterblich geglaubte Riesen hinweg
zu fegen.
„Es gibt Aufgabenstellungen, da ist
der Zugang des Computers geeigne-
ter als die menschliche Intelligenz“,
sagt Philipp Slusallek vom Deutschen
Forschungszentrum für Künstliche
Intelligenz (DFKI). Das renommierte
Research Center in Saarbrücken ar-
beitet aktuell an einem Forschungs-
projekt mit der Daimler AG mit dem
Ziel, ergonomisch optimierte Arbeits-
abläufe von Menschen in der Werks-
halle zu entwickeln. Denn das er-
fordert eine Arbeitswelt, in der die
Jungen weniger werden, die Älteren
älter, in der Menschen mit Behin-
derungen integriert werden, und
zugleich die Produktion fl exibler,
vernetzter, komplexer wird. Reale Be-
wegungen von Arbeitskräften bilden
dabei die Datenbasis, diese werden
mit Informationen zum Körperbau des
Menschen sowie ergonomisch opti-
malen Bewegungsabläufen kombiniert
und daraus ein Bewegungs- und Ar-
beitskonzept für den Mitarbeiter er-
rechnet.
Intelligente, simulierte Realität bildet
Ausschnitte der Wirklichkeit im Com-
puter nach, wobei die Umwelt ein-
SIMULIERTE REALITÄT WIRD DIE PRODUKT- UND PROZESSENTWICKLUNG REVOLUTIONIEREN. UM 2020 WERDEN IN DER AUTOMOBILENTWICKLUNG VERSUCH UND IRRTUM NUR NOCH EINE ZEHNTELSEKUNDE VONEINANDER ENTFERNT LIEGEN. MASCHINENBAUER MÜSSEN BEI REPARATUREN NICHT MEHR ZWANGSLÄUFIG ZUM STANDORT DER JEWEILIGEN ANLAGE REISEN. ES DARF SO RICHTIG GETÜFTELT WERDEN. Von Ruth Reitmeier
MODERNE SIMULATION IST HOCHKOMPLEX UND OFT NOCH IM ENTWICKLUNGSSTADIUM
IN VIRTUELLEN WELTEN WIRD KÜNFTIG DAS RENNEN GEMACHT
DIE REALITÄT AM COMPUTER SIMULIEREN – DAS REDUZIERT DAS RISIKO
OPTIMALE ERGONOMISCHE ARBEITSABLÄUFE KANN DER COMPUTER BESSER BERECHNEN
22
ROBOTER SOLLEN IN ZUKUNFT MIT MENSCHEN INTERAGIEREN KÖNNEN
VIRTUELLE SPIEGELUNG IM MASCHINENBAU REDUZIERT REISETÄTIGKEIT DER MITARBEITER
bezogen wird. Dieser Computerwelt
wird Leben eingehaucht, etwa durch
die Arbeiter in der Produktion und ihr
Handeln. Diese Modelle sind hoch-
komplex, bleiben jedoch ein Grundge-
danke. „Eine realistische Abstrak tion
ist keine Kopie der Realität. Die ist
sehr viel komplexer“, betont Slusallek.
Im Computer könne nicht alles bis ins
letzte Detail – also bis in den atoma-
ren oder gar subatomaren Bereich –
dargestellt werden.
Doch die Abbildung im Rechner muss
genau genug abstrahiert werden, so-
dass die Ergebnisse stimmen. Im Si-
mulator wird also ein Ausschnitt der
echten Welt abgebildet. „Man kann
das anhand des Beispiels der Foto-
grafi e illustrieren. Der Fotograf stellt
jenen Ausschnitt scharf, der ihm am
wichtigsten ist. Das können die Berge
im Hintergrund oder die Menschen im
Vordergrund sein“, sagt Ilja Radusch
vom Fraunhofer-Institut FOKUS in
Berlin.
Oder am Beispiel der Sturmwarnung:
Um etwa Windgeschwindigkeit zu si-
mulieren, muss nicht jedes Luftmo-
lekül erfasst werden, aber der Luft-
druck, der bei 90 km/h entstehen
wird und seine Auswirkungen auf
bestimmte Umgebungen. Dessen un-
geachtet ist das Maß der Abstraktion
ein Qualitätskriterium für virtuelle Si-
mulation. Grundsätzlich gilt: Je de-
taillierter, desto besser. Ein weiteres
Schlüsselkriterium für den Erfolg vir-
tueller Simulation ist, dass vorab die
richtigen Fragen gestellt werden.
In der Robotik fi ndet simulierte Re-
alität ein noch weites Anwendungs-
gebiet, das heißt, es gibt viel zu be-
forschen – zumal die Industrieroboter
aktuell eine Krise durchmachen, weil
sie zu unfl exibel sind. Anfang 2016
gab das Mercedes-Werk in Sindelfi n-
gen (Baden-Württemberg) bekannt,
dass dort künftig wieder verstärkt
Menschen statt Roboter arbeiten
würden, da die Maschinen von den
detaillierten Anforderungen einer zu-
nehmend individualisierten Fertigung
schlichtweg überfordert seien. „Diese
Varianz ist für die Maschinen zu viel“,
wird Produktionschef Markus Schäfer
in der „Welt“ zitiert.
Dieses aktuelle Beispiel zeigt die De-
fi zite von Robotern, wie sie heute in
der Montagehalle werken. Sie können
ihre Umwelt nur sehr eingeschränkt
wahrnehmen und auch nicht voraus-
planen, was sich dort abspielen und
der Mensch darin machen wird. „Den-
ken wir etwa an Menschenmengen in
einer U-Bahnstation, wie sie sich an-
einander vorbeibewegen. Dies sind
hochkomplexe Abläufe und darin ist
der Mensch extrem gut. Wären indes-
sen heutige Roboter unterwegs, wür-
den sie vermutlich allesamt stehen
bleiben“, sagt Slusallek. Das DFKI
arbeitet aktuell an einem Forschungs-
projekt auf dem Gebiet der kooperati-
ven Robotik. Dabei geht es um enge
Kooperation zwischen Mensch und
Maschine, etwa in der Werkshalle.
Bei schweren Arbeiten, wie etwa der
Unterbodenmontage in der Autopro-
duktion, verspricht man sich davon
eine Entlastung der menschlichen
Arbeitskraft sowie insgesamt effi zien-
tere Produktionsprozesse.
In Zukunft sollen Roboter also nicht
wie bisher allein im Käfi g an der
Assembly Line werken, sondern mit
dem Menschen gemeinsam, Seite an
Seite und dafür müssen sie deutlich
mehr können als bisher. Für die Ent-
wicklung dieser neuen Robotergene-
ration wiederum braucht es simulierte
Realität. „Mit traditioneller Robotik
funktioniert das nicht. Denn soll der
Roboter mit dem Menschen interagie-
ren, kann er nicht bloß sein Programm
abspulen, sondern muss in der Lage
sein, sich ein genaues Bild seiner
Umgebung zu machen und voraus zu
planen, was der Mensch als nächstes
tun wird“, betont der Experte. Um etwa
folgenschwere Arbeitsunfälle zu ver-
hindern, müssen die Maschinen
behutsam sein, der Roboterarm darf
dem Menschen beispielsweise etwas
reichen, aber nicht in der Nähe seines
Kopfs hantieren.
Anwendungsgebiete simulierter Reali-
tät fi nden sich mitunter auch für recht
alltägliche Dinge wie etwa ein 3D-Si-
mulationsmodell zur optimalen Ausle-
gung und Beschilderung eines Super-
markts. Dabei werden Daten von
Einkäufern, ihren Wegen und Erfah-
rungen à la „wo Nudeln sind, da ist
auch Reis“ gesammelt, gespeichert
und daraus in Kombination mit Um-
satzzielen des Retailers eine optimierte
Raumplanung der Verkaufsfl äche ent-
wickelt.
Vom Supermarkt in den Anlagenbau:
In Zukunft werden Maschinenbau-
techniker nur noch bei sehr schwer-
wiegenden Störungen einer Anlage
zum Kunden reisen müssen. Trouble-
shooting, Wartungsarbeiten und so-
gar Schulungen können künftig über
eine virtuelle Spiegelung der Anlage –
also einer Simulation – durchgeführt
werden. Der Techniker beim Anlagen-
bauer in Österreich kann dem Kunden
in Übersee an der virtuellen Anlage
zeigen was zu tun ist, an welchen
Schrauben gedreht werden muss,
um das Problem zu beheben. In der
Automobilindustrie wird schon heute
eine große Anzahl von Tests realitäts-
nah simuliert. Das Problem dabei ist:
Simulationen sind zeitintensiv und wer-
den folglich erst in einem relativ späten
Stadium des Entwicklungsprozesses
VORAUS ZU PLANENIST FÜR MASCHINEN NOCH IMMER SCHWIERIG
SIMULATION IST WIE FOTOGRAFIE: EIN BESTIMMTER BILDAUSSCHNITT IST SCHARF GESTELLT
IM SUPERMARKT SCHNELL ZU DEN GEWÜNSCHTEN PRODUKTEN FINDEN
23TEMPO
eingesetzt. Zeigt sich dann, dass
das neue Modell in ein paar Punkten
schlechter abschneidet als geplant,
heißt es zurück in die Entwicklung.
Solche Korrekturen sorgen für
Verzögerungen und das kommt teuer.
André Stork vom Fraunhofer-Institut
für Graphische Datenverarbeitung
IGD in Darmstadt beschäftigt sich mit
der interaktiven Simulation direkt im
Entwicklungsprozess. „Wir haben die
Vision, die interaktive Simulation zu
beschleunigen“, sagt Stork.
Getüftelt wird intensiv, denn ab 2020
soll das Ergebnis der interaktiven 3D-
Simulation einer Strömungssimulation
nicht nach etlichen Stunden, sondern
binnen Zehntelsekunden vorliegen.
Daraus ergibt sich eine grundlegen-
de Veränderung in der Produktent-
wicklung. Es kann mehr ausprobiert
werden, zumal mittels virtueller Simu-
lation Feedback unmittelbar vorliegt
und etwaige Fehler frühzeitig erkannt
werden. Die virtuelle Simulation wird
künftig also nicht primär der Endkon-
trolle dienen, sondern entwicklungs-
begleitend eingesetzt werden. Ent-
wickler und Designer können ihren
Ideen freien Lauf lassen und zugleich
durch virtuelle Simulationen jeden
Zwischenschritt rechnergestützt ab-
segnen lassen.
Die Erwartungen sind hoch: Es sollen
dadurch bessere, innovativere und
auch ganz neue Produkte entstehen.
Ab 2020 sollen zudem vernetzte
Autos so richtig in Fahrt kommen.
Ilja Radusch erforscht am Fraunhofer-
Institut für Offene Kommunikations-
systeme FOKUS in Berlin in Simulati-
onsprozessen das vernetzte Fahren,
wo Fahrzeuge miteinander oder auch
mit Infrastruktur wie Ampelanlagen
kommunizieren. Das hat den Vorteil,
dass das Auto nicht nur ringsum
wahrnimmt was passiert, sondern
quasi auch um die Ecke sehen kann.
Diese Entwicklung wäre ohne Simula-
tion nicht möglich. „Man müsste eine
Teststrecke von 40 Millionen Kilometern
zurücklegen“, sagt Radusch. Mittels si-
mulierter Realität wird das vernetzte
Auto in Verkehrssituationen jenseits der
Schönwetterfahrt getestet, also etwa
beim Einfädeln auf der Autobahn. Ziele
des vernetzten Auto verkehrs sind weni-
ger Unfälle und mehr Effi zienz.
In Zukunft werden im Sicherheitsbe-
reich und in der Produktentwicklung
die neuen Möglichkeiten, die simulierte
Realität bietet, eine größere Rolle
spielen, um im Wettbewerb bestehen
und mit zunehmend komplexeren
Fragestellungen umgehen zu können.
So etwa nicht nur im Eingangs er-
wähnten Flugzeugbau, wo es darum
geht, Parameter wie Sicherheit und
Funktionsweise des Flugzeugs in sehr
frühen Phasen der Entwicklung zu
testen, in denen manchmal noch nicht
einmal reale Flugzeugmodelle zur Ver-
fügung stehen. Am Horizont zeigt sich
bereits eine Integration mehrerer mit-
einander interagierender Modelle, die
für komplexe Simulationsvorhaben
höchste Genauigkeit und überein-
stimmende Gültigkeitsbereiche bieten.
Auch im Schiffsbau wird die Rolle von
Verfahren der simulierten Realität zu-
nehmen. Denn in einer Notfallsituation
auf hoher See sind vorab getestete
und sehr präzise simulierte Evakuie-
rungsszenarien lebensrettend.
Die Fahrt in eine neue Welt hat
also begonnen. �
SIMULATIONEN IM GESAMTEN ENTWICKLUNGSZYKLUS
SICHERHEIT IST DAS MASS ALLER DINGE UND BLEIBT EIN STARKES ARGUMENT
DAS WETTER WIRD KEINEN EINFLUSS MEHR IN DER PRODUKTENTWICKLUNG HABEN
Simulierte Realität unterstützt nicht nur Innovationskraft großer Unternehmen, sondern wird zunehmend auch von kleinen und
mittleren Unternehmen (KMU) genutzt. Etwa haben KMU aus dem Fertigungsbereich über das EU-Projekt CloudFlow die Möglichkeit,
Spezialsoftware für virtuelle Simulationen über eine Cloud-Lösung zu nutzen um so die Entwicklung zu beschleunigen.
Fo
to: ©
Fra
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fer
IGD
24
Ich stehe an der Haltestelle ohne
Handy-Akku. Was tun? Hätte ich
meine beiden Kinder dabei, müsste
ich darüber nicht nachdenken. Ich
hätte Kekse, Wasser und Pixi bücher
in meinem Känguruh-Beutel. Falls
nicht, bräuchte es zumindest ein Poin-
tenfeuerwerk in Form von Kinder-
liedern, Reimen und Fingerspielen
im Kopf. Ins Narrenkastl schauen
kommt nicht mehr in Frage seit mir je-
mand gesagt hat, dass man schneller
dement wird, wenn man oft ins Lee-
re schaut. Wenn auch andere Leute
warten, könnte man sich unterhalten.
Aber die Jungen haben sicher ein ge-
ladenes Mobiltelefon mit. Und für die
anderen ist meine eigene Stimmung
zu schlecht. Wer will schon die Start-
rampe für das übliche Lamento über
unpünktliche Verkehrsmittel, schlech-
tes Wetter oder Politik legen? Der auf-
gehängte Fahrplan ist oft genug aus-
gebleicht, in Kondenswasser gelöst,
winzig gedruckt, mit undurchschauba-
ren Ausnahmen versehen, zugepickt,
zerkratzt oder fehlt überhaupt.
Selbst wenn es eine Minutenanzeige
der Verkehrsbetriebe gibt, stimmt sie
offensichtlich auf der ganzen Welt
weder mit der eigenen biologischen
Uhr noch der atomzerfall genau aufs
Handy übertragenen Weltzeit über-
ein. Und: Wenn es eine Anzeigetafel
gibt, ist kaum etwas gefürchteter als
ihre Aktualisierung. Es könnte sich zu-
sätzlich zur Wartezeit eine Verspätung
manifestieren.
Ich könnte das Fitnessprogramm der
Frauenzeitschrift, die ich zum Zeitver-
treib im Wartezimmer zur Hand nehme,
umsetzen. Total unauffällig, total straf-
fend für alle Problemzonen oder effek-
tiv gegen Krampfadern. Im Stehen
auf die Zehenspitzen gehen, zehn
Sekun den halten, absenken. Oder Po
anspan nen, zehn Sekunden halten,
entspannen. Je nach Warte zeit sind
da viele Wiederholungen möglich.
Und wenn ich die Selbst optimierung
schon angeleiert habe, denke ich
auch an Gehirnjogging im Stehen mit
Sudoku, Tetris oder Wissensquiz.
Allein: Es fehlt dafür der Touchscreen
im Wartehäuschen.
Die Ruhe vor dem Bus
NEIN, DIE ZEITANZEIGE AN DER HALTESTELLE FOLGT KEINER LOGIK
WARTEN IST EINE INAKZEPTABLE TÄTIGKEIT IN UNSERER ÄRA DER PRODUKTIVITÄT. BLÖD, WER AN DER HALTESTELLE MIT FAST LEEREM SMARTPHONE-AKKU ANKOMMT UND DAS TASCHENBUCH VERGESSEN HAT. GEDANKEN UND IDEEN, SICH DIE ZEIT ZU VERTREIBEN. Von Astrid Kuffner
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25TEMPO
In den Augen von Life Coach Anthea
Newburn habe ich alles falsch ge-
macht, was man falsch machen kann:
Während man auf ein Meeting oder
den Aufzug wartet, rät sie zu Backup-
Tätigkeiten, in die man jederzeit rein-
kippen und wieder unterbrochen wer-
den kann. Ich will es Ihnen aber nicht
vorenthalten: Lesestoff sollte immer
dabei sein. Oder das (elektronische)
Notizbuch, um die To-Do-Liste zu ak-
tualisieren, die eigene Zielerreichung
zu prüfen oder den Terminkalender
zu optimieren. Ebenfalls dabei: Die
Mama anrufen. Das tun wirklich viele.
Vielleicht, weil die Exit-Option mit ein-
gebaut ist: „Du Mama, ich muss auf-
hören, die Bahn kommt. Ich meld’
mich, Bussi! Baba!“ Aber ohne Akku
kein gutes Gewissen. Als ich neulich
eine Zeitung dabei hatte, las ich Fol-
gendes: Wir werden heute sowohl in
der Freizeit als auch in der Arbeit un-
ter Druck gesetzt, unsere Zeit sinnvoll
zu verbringen. Dieser Druck kann –
so die Studienautoren – zu Sucht (als
Flucht), Burnout oder Depression
führen.
Nicht alle zünden sich eine Zigarette
an oder werden lethargisch. Bei man-
chen führt Langeweile auch zu Ag-
gression oder macht Lust, sich lang-
fristig zu verewigen (Stichwort
Graffi ti-Sprayer). Die dänische Stadt
Alleroed nördlich von Kopenhagen
setzt gegen diese ganz langweilig auf
Videoüberwachung, das Los Angeles
Police Department auf erzieherisches
Blabla. Auch Schutzanstriche werden
verkauft. Wer Wände bepfl anzt oder
gleich bunt gestaltet, verdirbt Spray-
ern den Spaß einer einfärbigen Fläche.
Ablenkung hilft vielleicht. Wer an ei-
ner Kärntner Bushaltestelle mit knall-
gelbem Sticker strandet, hat es gut:
Via NFC oder QR-Code wird „Projekt
Ingeborg“ aktiviert. Weil Klagenfurt
keine eigene Stadtbibliothek hat, wur-
de die Stadt zur Bibliothek gemacht.
Begonnen wurde im Juli 2012 mit 70
freien E-Books, passend zu 70 Orten.
An jedem Download-Point kann ein
bestimmtes E-Book heruntergeladen
werden, für das die Rechte bereits
ausgelaufen sind.
Wenn der Handy-Akku fast leer ist,
muss ich wohl selbst Energie auf-
bringen. Wäre ich in London, könnte
ich schaukeln, weil der Künstler Bru-
no Taylor einige Londoner bus stops
mit Schaukeln ausgestattet hat. Klingt
super! Außer es geht jemand hinter
der Haltestelle vorbei, der in sein
Smartphone stiert (weil er genug Saft
hat) und wird von mir umgestoßen.
Das Abbremsen wird ebenfalls span-
nend. Auf dem Spielplatz sehe ich
wilde Kids einfach abspringen. Ich
stelle mir mich vor, wie ich elegant
vor dem Bus-Einstieg zum Stehen
komme oder alert hockend, wie
Spiderman. Wahrscheinlich würde
ich die Scheibe einschlagen, wie ein
wild gewordener Nothammer.
Noch schwieriger wäre es in Mont-
réal, wo ein Team von Designern in-
teraktive Musik-Schaukeln in der Nähe
einer Bushaltestelle aufgebaut hat.
Nur wenn die Nutzer im Gleichklang
schwingen, spielen die Schaukeln
Töne und ermöglichen gemeinsam ein
Orchester. Eine Nutzerin im Werbe-
video verrät, dass sie bereits seit ein-
einhalb Stunden schaukelt. Hoffent-
lich hat sie den Bus nicht verpasst.
Apropos Promotion: Wo sind eigent-
lich die Produkt-Pröbchen-Verteiler,
wenn man sie braucht? Ach ja: Hier
ist ja kein Verkehrsknotenpunkt. Mit
einer Variante von Haltestellen-Wer-
bung möchte ich übrigens keines-
falls in Berührung kommen: Augmen-
ted Reality. Sie schickt dort, wo bei
uns harmlos hinterleuchtete Plakate
hängen, realitätsnah animierte Inhalte
in das Wartehäuschen. Tigerattacke,
Meteoriteneinschlag, UFO-Landung
oder das vielarmige Saugnapfmons-
ter aus der Kanalisation kann simu-
liert werden. Unbelievable Moments
brought to you by Pepsi Max. Thanks,
but no thanks.
Natürlich wurde auch schon unter-
sucht, warum das Warten auf Bus
oder Bahn einem so lange vorkommt.
Es gibt ja nicht überall elektronische
Minuten-Anzeigen. Es ist nicht ver-
gleichbar dem Warten in der Kassen-
schlange, wo ein Ende in Sicht ist.
Beim Arzt gibt es den Lesezirkel oder
beruhigende klassische Musik. Das
Warten auf einen freien Tisch im Lo-
kal vertreibt man sich an der Bar mit
ein paar Nüsschen und es gibt genug
zu sehen. Der Bus bleibt unsichtbar,
bis er einfach dasteht. Er könnte in ei-
ner Minute kommen, oder in zwanzig.
Er könnte gerade gefahren sein. Und
Ablenkung ist… Mangelware. Hätte
das Smartphone mehr Saft, könnte
ich „Nine things to do while you wait
for the bus“ auf Youtube anschauen:
Einen Bart wachsen lassen, ein Kind
großziehen, Ihre Lieblingsszene
aus Ihrem Lieblingsfi lm nachspielen,
Luftgitarre oder für den jährlichen Silly
Walk Contest üben, pantomimisch
nach einer weggelaufenen Ente fra-
gen. Ebenfalls großartig: Das Poster
der Academy of Art University, wie
man 15 Minuten Zeit totschlägt (sic!).
Das meiste ist analog: Reimwörter
fi nden, über den ersten Kuss nach-
denken, die Luft anhalten, den Schuh
mit einer Hand zubinden. Ich hab
schon etwas gefunden. Schade, dass
der Bus gerade kommt. �
Projekt Ingeborg:
http://pingeb.org/wie-pingeb-org-
entstand-und-wie-es-funktioniert
NEUDEUTSCH: BACKUP-TÄTIGKEIT ZUM ZEITVERTREIB PARAT HABEN
IN LONDON KANN MAN AN DER HALTESTELLE SCHAUKELN
LANGEWEILE IM KOPF BIRGT DAS POTENZIAL NACHHALTIGER „KUNST“
IN MONTREAL WIRD SCHWINGEN IM GLEICHKLANG BELOHNT
LESEZIRKEL, NÜSSE ODER SICH EINEN BART WACHSEN LASSEN: WARTEN BIRGT VIELE MÖGLICHKEITEN
26
////// INTERNET AUS DER GLÜHBIRNE //////////////////Wi-Fi macht die Internetnutzung ortsunabhängig. Für sehr schnelles Internet
braucht es aber manchmal noch immer eine Kabelverbindung. Ändern könnte
sich das, wenn es nach einer Vision von Harald Haas, Professor an der Univer-
sity of Edinburgh (Schottland), geht. Er prägte den Begriff Li-Fi (Light-Fidelity)
schon 2001. Dabei handelt es sich um eine kabellose, optische Datenübertra-
gungstechnologie, die nicht wie Wi-Fi Radiofrequenzwellen – also Funk – zur
Übertragung von Daten nutzt, sondern Licht (LED-Technologie): LEDs senden
durch schnelles, für das menschliche Auge nicht wahrnehmbares An- und Aus-
schalten Lichtsignale an Fotodioden, welche die Lichtsignale in elektrische Im-
pulse umwandelt. Der Vorteil: Li-Fi ist 100 mal schneller als WLAN. Der Nach-
teil: Licht kann Wände nicht überwinden, was zu einer kürzeren Reichweite als
WLAN führt. Durchaus vorstellbar sei allerdings, dass Li-Fi-Technik zur effi zi-
enteren Nutzung von WLAN unterstützend eingesetzt wird. Marktreif soll die
Technologie in einigen wenigen Jahren sein – zumindest wenn es nach dem est-
nischen Start-up Velmenni geht. Dazu hat das Unternehmen LED-Lampen ent-
worfen, die sich derzeit in Optimierungstest befi nden.
http://velmenni.com
////// MEHR UND SCHNELLER LESEN ////////////////////Viele Menschen nutzen die Zeit, die sie in Öffi s verbringen, zum Lesen. Meistens
zieht man der Fachliteratur aber einen leicht verträglichen Roman vor. Um sich
den Kerninhalt von Büchern mit hunderten von Seiten dennoch in kurzer Zeit zu
Gemüte führen zu können, haben die Erfi nder von Blinklist eine App entwickelt,
welche die Hauptaussagen von ausgewählten Sachbüchern in 15 Minuten Lese-
zeit wiedergibt. Das Service ist in unterschiedlichen Ausprägungsgraden er-
hältlich; von der Gratisversion, bei der die Zusammenfassung eines Buches pro
Tag gelesen werden kann, bis hin zur Premium Funktion für 80 Euro, bei der ge-
schmökert werden kann und bei der auch Audioversionen zur Verfügung stehen.
www.blinkist.com/de
////// AKKULADEZEIT: EINE MINUTE ////////////////////Handyakku oder Elektroautobatterie: in wenigen Minuten vollständig aufl aden?
Das israelische Start-up Store Dot macht das möglich. Es entwickelte eine
Smartphonebatterie, die sich innerhalb einer Minute laden lässt – dabei aller-
dings auch nur die halbe Leistung eines herkömmlichen Gerätes liefert. Die ge-
wohnte Leistung erhält man bei einer Ladezeit von fünf Minuten. Store Dot nutzt
dieselbe Technologie auch für Akkus von Elektroautos. Nach fünf Minuten Lade-
zeit ist laut Doron Myersdorf, dem Gründer und CEO des Start-ups, eine 480 km
lange Fahrt möglich. Die Erfolgsaussichten des Unternehmens scheinen gut:
Die Massenproduktion der Batterien ist ab 2017 geplant. Unterstützung kommt
von namhaften Investoren, wie etwa Samsung Ventures, ein internationales In-
vestment-Unternehmen, wie auch Roman Abramovich, einer der vermögend sten
Menschen der Welt oder auch Singulariteam, ein weltweit agierendes Venture
Capital-Unternehmen.
www.store-dot.com
START-UPSIN
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SPANNENDE IDEEN ZUM THEMA GESCHWINDIGKEITVon Ancuta Barbu
27TEMPO
////// LEICHTES RAD MIT MOTORANTRIEB /////////////E-Bikes sind meist teuer und vor allem schwer. Der gebürtige Slowene Niko
Klansek entwickelte deshalb eine Lösung der anderen Art: das Smart-Wheel.
Das „schlaue Rad“ ist ein mit einem Elektromotor ausgestattetes Hinterrad, das
auf praktisch jedem Fahrradgestell – egal welchen Alters oder Modells – mon-
tiert werden kann und nur 2,5 kg wiegt. Der Akku des E-Motors kann an jeder
Steckdose aufgeladen werden. Das Smart Wheel von FlyKly kostet 999 Euro
und wird mit einer App geliefert, die über Geschwindigkeit und Batteriestand
Auskunft gibt, aber auch das Fahrtempo regulieren kann. Ebenso trägt die App
dem Umweltgedanken Rechnung, indem sie anzeigt, wieviel Kohlenstoffausstoß
durch die Fahrradfahrt im Vergleich zu einer Autofahrt eingespart wurde. Mithilfe
der App kann das Fahrrad abgesperrt werden und ist bei Diebstahl lokalisierbar:
Durch die zum Losfahren zwingende Verbindung mit dem Smartphone wird eine
Nachricht an FlyKly gesendet, die das Fahrrad schnell wieder auffi ndbar macht.
http://fl ykly.com
////// ESSEN IM SAUSESCHRITT //////////////////////////Die meisten Menschen warten nicht gerne auf ihr Essen. Dashed, ein US-ame-
rikanisches Start-up, macht sich zur Aufgabe, das schnellste Lieferservice im
Nordosten des Landes zu bieten. Um dieses Ziel zu erreichen, werden ausschließ-
lich Sportler eingestellt, welche die Lebensmittel von mehr als 700 Restaurants
zu den Kunden bringen. Zur Motivation werden die schnellsten Mitarbeiter jedes
Monat mit Dashed Olympia Gold-, Silber- oder Bronze-Medaillen und einem
Geldbonus prämiert. Die Lieferung erfolgt aber freilich nicht per pedes. Das
Unternehmen legt Wert auf die Nutzung umweltfreundlicher Fahrzeuge, wes-
halb Elektroautos und vor allem Fahrräder und Scooter verwendet werden, mit
denen Verkehrsstaus leicht umgangen und die überall Parkplätze gefunden wer-
den können.
www.dashed.com
Eine andere Geschäftsidee im Restaurantbereich hat das US-Unternehmen All-
set. Dabei handelt es sich um eine App, über die Speisen von einer einheitlichen
Speisekarte in ein Partnerrestaurant der Wahl vorbestellt und zum ausgewählten
Zeitpunkt gegessen werden können. Auch die Bezahlung erfolgt über die App.
Die Idee dahinter ist, nicht mehr die halbe Mittagspause mit dem Warten auf das
Essen verbringen zu müssen. Das bringt nicht nur den Konsumenten einen Vor-
teil, sondern auch den Restaurants: Durch die schnellere Bedienung der Kunden
ist eine größere Anzahl an Bewirtungen in einer bestimmten Zeit möglich. Der-
zeit gibt es das Service in San Francisco und Manhattan.
https://allsetnow.com
////// LICHTGESCHWINDIGKEIT FOTOGRAFIEREN /////Selbst bei bekannten Technologien wie der Fotografi e gibt es interessante Inno-
vationssprünge: Professor Ramesh Raskar vom MIT Media Lab in Massachusetts,
USA, entwickelte zusammen mit seinem Team eine Kamera, die „fotografi ert“,
wie sich Licht ausbreitet. Das ist möglich, indem eine Billion Einzelbilder pro Se-
kunde aufgenommen werden. Dazu braucht es allerdings seine Zeit: Rund eine
Stunde dauert eine Aufnahme, die zeigt, wie Licht innerhalb einer Nanosekunde
durch eine Flasche wandert. Für die Fotografi emethode, die als Femto-Photo-
graphy bezeichnet wird (Femto steht für Billiardstel), sieht Raskar Anwendungs-
möglichkeiten nicht nur im High-Tech-Bereich und in der Forschung, sondern
auch für Hobbyfotografen. Die Technik könnte künftig etwa die Grundlagen für
Aufsteckblitze für Fotoapparate liefern, die es mit einem Studioblitz mit all sei-
nem Zubehör aufnehmen können.
http://web.media.mit.edu/~raskar/trillionfps
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Am Puls der Stadt
29TEMPO
Stoßzeit in einer europäischen
Metropole: Büromenschen hasten
zu den Abgängen der U-Bahnen.
Autos arbeiten sich im Stop-and-
go-Modus voran. Gedränge in den
Einkaufsstraßen kurz vor Laden-
schluss. Blinken, Hupen, Signale,
der Lärmpegel steigt. Die Grund-
stimmung ist hektisch und durch
den Verkehrsstau zugleich ge-
bremst.
An Orten, an denen viele Menschen
unterwegs sind, wird das Grund-
tempo einer Stadt besonders fühl-
bar. „Die Schnelligkeit in einer Stadt
ist auch an die soziale Dichte ge-
koppelt“, meint die Wiener Stadt-
psychologin Cornelia Ehmayer.
Unter der sozialen Dichte versteht
man die Nutzerdichte bestimmter
Bereiche. Fazit: Sind Bus oder
U-Bahn gesteckt voll, wird eine
Stadt schneller erlebt, als wenn
die Wägen quasi leer sind.
Immer wieder gibt es den Versuch,
das Tempo einer Stadt an konkreten
Parametern zu messen, zum Beispiel
am Gehtempo von Stadtbewohnern:
Im Schnitt gehen Menschen fünf
Kilo meter pro Stunde oder 1,4 Meter
pro Sekunde. In manchen Städten
schneller, in manchen langsamer: In
Hannover ist man schneller unter-
wegs als etwa in Bremen, in Wien
schneller als in Mexico City, in der
Schweiz schneller als in den USA.
31 Länder weltweit untersuchte der
amerikanische Sozialpsychologe
IN CHINA ZIEHEN MENSCHEN AUS DEN MEGA-METROPOLENIN KLEINSTÄDTE
DICHTEVERMITTELT EIN GEFÜHL DER SCHNELLIGKEIT
DAS TEMPO DER STADT WIRKT SICH AUF DIE GESUNDHEIT AUS
Robert Levine Ende der 1990er
Jahre für sein bekanntes Werk
„Eine Landkarte der Zeit. Wie
Kulturen mit Zeit umgehen“.
Levine untersuchte neben der Geh-
geschwindigkeit auch die Genauig-
keit der Uhren, die Termintreue
oder die Schnelligkeit an einem
Postschalter und kam zum Schluss,
dass Tempo und Ökonomie zusam-
menhängen: „Menschen in Regionen
mit einer blühenden Wirtschaft,
einem hohen Industrialisierungs-
grad, einem kühleren Klima und
einer auf den Individualismus aus-
gerichteten kulturellen Orientierung
bewegen sich tendenziell schneller.“
Psychologen zufolge führen Städte
mit hohem Lebenstempo, wo –
wie Studien belegen – die gefühlte
Hektik größer ist, auch zu mehr
koronaren Herzerkrankungen ihrer
Bewohner. Die sogenannte Eil-
krankheit, das Gefühl des Zuspät-
kommens, des Gehetzt-Seins,
prägt das kollektive Befinden
solcher Städte. Die Menschen
stehen permanent unter Zeitdruck,
sind von Terminen getaktet und
verhalten sich ungeduldig bis unge-
halten, wenn sie warten müssen.
Zu diesem Städtetypus zählen auch
chinesische Megastädte, die, auch
ohne eine solche Kategorisierung
zu kennen, bei vielen Menschen so-
fort ein Bild der Menschenmassen,
von Autos verstopften Straßen,
Hochhauswüsten und viel Lärm
hervorrufen – das Klischee der
schnellen Stadt.
Interessant ist, dass sich gerade
dort, wo der soziale Aufstieg mit
dem Zuzug in die Stadt untrenn-
bar verbunden ist, bei jenen, die
genug angehäuft haben, ein kleiner
Gegentrend zu entwickeln scheint:
Wohlhabenden Menschen wird es
zu viel, sie kündigen gute Jobs und
ziehen in kleinere Städte, die für
Chinesen als „ländlich“ gelten.
Etwa nach Lijiang im Südwesten
der Provinz Yunnan. Dort manifes-
tiert sich eine wahre Stadtflucht.
Bei Yi ist einer der neu Hinzugezo-
genen. Seine Entscheidung dort
hin zu ziehen, begründet er mit
dem Arbeitsstress, den er in Beijing
hatte. Geld verdienen die meisten
Neo-Lijianger im Tourismus, denn
die Provinz Yunnan ist wegen ihrer
schönen Landschaftszüge ein
beliebtes Reiseziel. „Man kann
gesellschaftliche Tendenzen in ei-
ner Stadt meist schneller erkennen.
Und große Städte haben es an sich,
dass sie Trends vorgeben“, sagt die
Stadtpsychologin Ehmayer ganz
allgemein. Vielleicht ist der Weg-
zug aus den Megastädten Chinas
also nur der Beginn einer in Zukunft
wachsenden Bewegung, die auch
auf andere Länder und Kontinente
überschwappen wird. Die Flucht vor
dem Stress, sozusagen.
Die Geschwindigkeit des Stadt-
lebens wird aus verschiedensten
WIE SCHNELL ODER LANGSAM, HEKTISCH ODER GEMÜTLICH WIR EINE STADT ERLEBEN, HÄNGT VON SEHR VIELEM AB: VERKEHR UND LÄRM, BÜRO- UND ÖFFNUNGSZEITEN, BAULICHEN GEGEBENHEITEN UND STÄDTISCHER INFRASTRUKTUR. UND VON UNSEREM PERSÖNLICHEN LEBENSSTIL. MANCHEM STADTBEWOHNER WIRD ES ZU SCHNELL: ER ZIEHT AUFS LAND. Von Teresia Tasser
30
VERKEHRSLÄRM IST AUCH EIN INDIKATOR DAS EIGENE BEFINDEN
ALS TEMPOMAT
URBAN GARDENING UND ERHOLUNGSZONEN ALS ORTE DER ENTSCHLEUNIGUNG
Richtungen getaktet, mitunter vom
Verkehr: Ampelphasen geben einen
Rhythmus vor – je kürzer die Tak-
tung, desto schneller das indivi-
duelle Gefühl, voran zu kommen.
Oder Fahrpläne öffentlicher Ver-
kehrsmittel: Displays mit Echt-
zeitangaben auf den U-Bahn-
Plattformen und bei Haltestellen
strukturieren die Zeit für den
Wartenden.
Im Autoverkehr größerer Städte
wird, um den Verkehrsfluss zu
erhöhen und damit ein schnelleres
Vorankommen zu ermöglichen, ein
vermeintliches Paradoxon ange-
wendet: Erlaubte Höchstgeschwin-
digkeiten werden gesenkt – und
das weltweit. In über 150 Städten,
darunter selbst in Metropolen wie
London, setzt sich zunehmend
Tempo 30 beziehungsweise
20 Meilen/h durch. Niedrigere
Geschwindigkeiten reduzieren zu-
dem den Lärm. Gerade die Akustik
einer Stadt wird von vielen als Tem-
pobeschleuniger empfunden. Ver-
kehrslärm suggeriert Hektik und
Stress. Fahrzeuge mit Tempo 30
sind um drei bis vier Dezibel leiser
als solche mit Tempo 50. Das ent-
spricht einer Halbierung der wahr-
genommenen Lautstärke.
Man könnte also meinen, dass
„die schnelle Stadt“ ein Phänomen
ist, das vor allem von Fußgängern
erkannt wird. Denn abgesehen da-
von, dass Verkehrslärm als Para-
meter der schnellen Stadt bei ge-
schlossenen Fenstern meist nicht
zu den Insassen durchdringt, wird
der motorisierte Straßenverkehr
in Metropolen eher mit Stau in Ver-
bindung gebracht. Das subjektive
Gefühl, schnell voran zu kommen, ist
daher eher abseits der Straße, etwa
zu Fuß möglich. Eine Übersichtskarte
zum Durchschnittstempo in US-
amerikanischen Städten zeigt einen
Zusammenhang zwischen der Ge-
schwindigkeit, die Autos im Durch-
schnitt fahren können, und der
Wege, die zu Fuß zurückgelegt
werden. Etwa in Mega-Metropolen
wie New York – die Stadt, die
niemals schläft: Hier legen die
Menschen auf einen Kilometer
mehr Schritte zurück, sind also
häufiger zu Fuß unterwegs, als
zum Beispiel in Tulsa, im Bundes-
staat Oklahoma. Autofahrer hinge-
gen fahren in Tulsa mit 70 km/h im
Durchschnitt viel schneller als in
New York (28 km/h).
Die Wahrnehmung der Geschwin-
digkeit einer Stadt hängt aber im-
mer auch vom eigenen Befinden ab.
Wer beruflich im Stress ist, auf den
wird eine entschleunigte Stadt ei-
nen wenig entlastenden Einfluss
haben. Vieles ist auch eine Frage
der Relation: Ein Fußgänger er-
scheint aus der Perspektive der
vorbeifahrenden Straßenbahn lang-
sam. Oder das Landleben aus der
Sicht des Städters gemächlich und
entstresst.
Einen Beitrag zur lokalen Be- oder
Entschleunigung einer Stadt liefern
auch bauliche Maßnahmen. Man
denke beispielsweise an den Vor-
marsch des Urban Gardening, bei
dem sich Menschen in der Stadt
kleine Gemeinschaftsgärten anle-
gen, die sie neben der Selbstver-
sorgung mit Obst, Gemüse, Kräu-
tern oder Blumen zur Regeneration
nutzen. Auch Rückbau- und Re-
naturierungsprojekte mitten in der
Stadt sind Beispiele, Tempo aus
der Stadt zu nehmen und Orte der
Erholung im unmittelbaren Umfeld
schaffen. In Seoul wurde vor eini-
gen Jahren eine sechs Kilometer
lange und sanierungsbedürftige
Stadtautobahn abgerissen, um die
darunterliegende Flusslandschaft
wieder zu beleben und daraus eine
Stadtoase zu schaffen. In New
York City ist die zu einem großen
Park umfunktionierte, aufgelassene
Highline zu einem innerstädtischen
Anziehungspunkt geworden. Von
dort aus kann man die Rush-Hour
an sich vorbeiziehen lassen. �
In der südkoreanischen Hauptstadt Seoul wurde eine Autobahn abgerissen und
eine Oase der Entschleunigung für die Stadtbewohner geschaffen. Denn schnelle Städte
verlangen ihren Bewohnern oftmals viel ab – deshalb sind Orte der Erholung als Ausgleich
besonders wichtig.
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SCHNELLER ALS JE ZUVORDer schnellste Mann der Welt ist weniger als halb so schnell wie ein Gepard. Die Evolution hat daran nichts
geändert. Allerdings hat unser Kommunikationsverhalten im Lauf der Zeit an Geschwindigkeit zugenommen:
Wir sprechen schneller und versenden mehr Post. Von Silvia Wasserbacher-Schwarzer DA
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Gepard schlägt MenschDie schnellsten am Land lebenden Säugetiere sind Geparden. Beim
Jagen erreichen sie eine Geschwindigkeit von bis zu 110km/h. Der
schnellste Mensch der Welt, der Jamaikaner Usain Bolt, erreicht
Höchstgeschwindigkeiten von 44,7 km/h bei einem 100-Meter-Lauf.
Den bis heute gültigen Weltrekord über diese Distanz stellte er 2009
auf. Er legte die Strecke in 9,58 Sekunden zurück. Ein Gepardenweib-
chen in einem Zoo (USA) brauchte dafür 5,95 Sekunden.
Die Post bringt mehrEs handelt sich zwar nicht nur um Post in
Papierform, aber wir versenden immer mehr
Information. 2014 wurden weltweit alleine
166 Milliarden E-Mails pro Tag
verschickt, davon 115 Milliarden im
Geschäftsverkehr.1 Dazu kommen noch
Briefe und Pakete. Das ist Rekord. Niemals
wurden Briefe in diesem Ausmaß verschickt.
Wir können multitasken98 % der Jugendlichen in Deutschland besitzen ein Handy oder Smartphone4,
mit dem die News – welcher Art auch immer – schnell gescreent werden können.
Ein Abo einer Tageszeitung haben hingegen nur 39 % (2000 noch 66 %) –
einen Zeitungsartikel zu lesen erfordert auch mehr ungeteilte Aufmerksamkeit.
Was tun wir noch, wenn wir vor einem Bildschirm sitzen?
57 % der Zeit, die wir uns primär mit dem Smartphone beschäftigen, sehen
wir nebenbei fern (in 29 % der Fälle) oder nutzen einen PC oder Laptop (28 %
der Fälle). 5
2011 2014
SchnellsprecherEine Notiz zur Evolution des Sprechens: Im norwegischen Parlament
hat sich die Sprechgeschwindigkeit in 50 Jahren um nicht weniger als
50 Prozent erhöht.3
In 77 % der Zeit, die wir vor dem TV
sitzen, nutzen wir entweder das Smart-
phone (49 % der Fälle) oder einen
PC oder Laptop (34 % der Fälle).
In 75 % der Zeit, die wir ein Tablet
verwenden, sehen wir fern (44 %) oder
nutzen ein Smartphone (35%).6
Mehr „Kinder“ im Hotel Mama Nicht alles schreitet voran, manches geht
auch den umgekehrten Weg. Zum Beispiel
die Nestfl ucht . Zwischen 1971 und 2011
stieg die Anzahl an Töchtern und Söhnen,
die noch bei den Eltern wohnen, merklich an.
Zum Beispiel lebten 2011 noch 44,2% der
25-jährigen jungen Männer zuhause, 1971
waren es nur 29,4% gewesen. 7
1971
44,2 %
19
81
19
91
20
01
2011
29,4 %
11 E-Mails pro Tag2 18 E-Mails pro Tag2
32
Querspur Das Zukunftsmagazin des ÖAMTC
Der Dirigent als Tempogeber
Mohammadreza Azin, 1980 in Teheran
geboren und begann schon mit 14 Jahren am
Teheraner Musikkonservatorium Sooreh
Komposition und Musik zu studieren.
Seit Oktober 2015 besucht er den
Studiengang Komposition an der
Universität für Musik und
Darstellende Kunst in Wien.
https://about.me/
Mohammadrezaazin.com
Schlagfi gurenDer Dirigent bietet Orientierungs-,
Koordinierungs- und Gestaltungshilfe
für die ausführenden Musiker eines
Orchesters oder eines anderen
musizierenden Ensembles. Mittels
rhythmisch gleicher Dirigiergesten –
sogenannten Schlagfi guren – wird
unter anderem mit der rechten Hand
auch das Tempo angegeben. Die linke
Hand steht hingegen für freie,
spontane Gesten während des
Dirigierens zur Verfügung.
Ein- bis fünft eiliger Takt
Die gebräuchlichsten
Schlagfi guren aus der Perspektive
des Dirigenten für die rechte Hand
sind zwar nicht verbindlich, gelten
aber als normierte Ausgangsbasis.
Wird mit zwei Händen taktiert,
bewegt der Dirigent die Hände
spiegelsymmetrisch.
1
11 1 13 3
4
4
5
2 2 2
23