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R e c h t s g u t a c h t e n Zur Frage, ob § 6 des Niedersächsischen Ausführungsgesetzes zum Bundesnatur- schutzgesetz (NAGBNatSchG) vom 19. Februar 2010 (Nds. GVBl. 2010, 104) grundgesetzlichen Anforderungen genügt. vorgelegt von Prof. Dr. iur. utr. Dr. phil. Jörg Berkemann Richter am Bundesverwaltungsgericht a.D. Honorarprofessor der Universität Hamburg Lehrbeauftragter der Bucerius Law School Hamburg

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R e c h t s g u t a c h t e n

Zur Frage, ob § 6 des Niedersächsischen Ausführungsgesetzes zum Bundesnatur-

schutzgesetz (NAGBNatSchG) vom 19. Februar 2010 (Nds. GVBl. 2010, 104)

grundgesetzlichen Anforderungen genügt.

vorgelegt von

Prof. Dr. iur. utr. Dr. phil. Jörg Berkemann

Richter am Bundesverwaltungsgericht a.D.

Honorarprofessor der Universität Hamburg

Lehrbeauftragter der Bucerius Law School Hamburg

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A. Gutachterliche Fragestellungen 3

B. Derzeitige bundes- und landesgesetzliche Rechtslage zur naturschutzrechtlichen Ersatzzahlung 4

I. Kompetenzrechtliche Ausgangslage 4

II. Bundesgesetzliche Regelung (§ 15 Abs. 6 und 7 BNatSchG 2009) 5

III. Landesgesetzliche Regelung (§ 6 NAGBNatSchG 2010) 6

C. Ist § 6 NAGBNatSchG 2010 kompetenzwidrig und damit nichtig? 6

I. Bundesgesetzliche Ausgangslage 6

II. Reichweite der „Abwahlbefugnis“ des nds. Gesetzgebers nach Art. 72 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 GG 8

1. Befund: Ausübung der Bundeskompetenz im Naturschutzrecht 8

1.1 Bundesgesetzliche Grundregelung zur naturschutzrechtlichen Ersatzgeldzahlung 8

1.2 Zusammenspiel von Bundesgesetzgeber und „komplettierender“ Rechtsverordnung 8

2. Befund: Unterschiede zwischen bundes- und landesrechtlicher Regelung 10

III. § 6 Abs. 1 Satz 1 NAGBNatSchG 2010 als zulässiger Gegenstand einer „Abweichung“? 11

1. Begriff der „Abweichung“ im Sinne des Art. 72 Abs. 3 Satz 1 GG 12

2. Der spezifische (naturschutzrechtliche) Vorbehalt des Art. 72 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GG 13

2.1 Begriff der „allgemeinen Grundsätze des Naturschutzes“ 13

2.2 Ersatzzahlung als Ausdruck naturschutzrechtlicher Ordnungsprinzipien? 15

2.3 Regelungen in § 6 Abs. 1 Satz 1 NAGBNatSchG 2010 20

IV. § 6 Abs. 2 NAGBNatSchG 2010 als Gegenstand einer „Abweichung“? 21

D. Auslegung und Anwendungsfähigkeit des § 6 Abs. 1 Satz 1 NAGBNatSchG 2010 22

I. Entstehungsgeschichte der Neuregelung in § 6 NAGBNatSchG 2010 23

II. Entstehungsgeschichte des Vorläufers (§ 12b NNatSchG 2004) 26

1. Wortlaut des § 12b NNatSchG 2004 26

2. Entstehungsgeschichte des § 12b NNatG 2004 27

2.1 Die frühere bundesnaturschutzrechtliche Ausgangslage 27

2.2 Neuregelung durch § 12b NNatG 2004 – Entstehungsgeschichte 27

3. Die rechtstatsächliche Umsetzung des § 12b NNatG 2004 und des § 6 NAGBNatSchG 2010 30

3.1 Der Prüfauftrag der Landesregierung (2009) 30

3.1.1 Entschließungsantrag 2004 30

3.1.2 Prüfungsergebnis der Landesregierung 2009 30

3.1.3 Exkurs: Kleine Anfrage des Abg. David McAllister u.a. 2009 33

3.2 Zur Frage einer verwaltungsmäßigen Umsetzung des § 12b NNatG 2004 oder

des § 6 NAGBNatSchG 2010 35

3.2.1 Keine amtlichen Ausführungsregelungen 35

3.2.2 Das „Ersatzmodell“: Die NLT-Papiere 35

3.2.3 Interne Stellungnahme des Referates 10 des Nds. Ministeriums für Umwelt vom 10. Mai 2011 36

III. Spruchpraxis der niedersächsischen Verwaltungsgerichte zu § 12b NNatG 2004 38

1. Problemsicht der niedersächsischen Verwaltungsgerichte –Überblick 38

2. Zielsetzung der Analyse der bisherigen Spruchtätigkeit zu § 12b NNatG 2004 39

3. VG Lüneburg – Urteil vom 20.9.2007 39

4. VG Stade – Urteil vom 18.6.2009 42

5. OVG Lüneburg – Urteil vom 16.12.2009 43

5.1 Lösungsansatz des OVG Lüneburg 43

5.2 Analyse der Interpretationsarbeit des OVG Lüneburg 44

5.2.1 Zwei Deutungsmuster des § 12b Abs. 1 Satz 3 Halbs. 1 NNatG 2004 44

5.2.2 Entstehungsgeschichtliche und grammatikalische Vorgaben 45

5.2.3 Das Modell der „gleitenden“ Berechnung des OVG Lüneburg 47

5.2.3.1 Ausgangsthese: Von der Kappungsgrenze zum „Höchstwert“ 47

5.2.3.2 Logische Friktionen in der hermeneutischen Ableitung 48

5.2.3.3 Inhaltliche Bedenken gegen den Interpretationsansatz des OVG Lüneburg 49

5.3 Fehlende Anwendungssicherheit des „Linearkonzeptes“ des OVG Lüneburg 53

6. Ergebnis der Analyse der Spruchtätigkeit der Nds. Verwaltungsgerichte 54

E. Rechtsstaatswidrige Unbestimmtheit des § 12b Abs. 1 Satz 2 NNatG 2004

des § 6 NAGBNatSchG 2010 55

I. Fragestellung 55

II. Bestimmtheit von Gesetzesnormen – Rechtsanwendungsgleichheit 56

1. Bundesverfassungsrechtliche Problemebene und generelle inhaltliche Ausformung 56

2. Besonderheiten des Abgabenrechts im weiteren Sinne 60

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III. Anwendung zu § 12b Abs. 1 Satz 3 NNatG 2004 und § 6 Abs. 1 NAGBNatSchG 2010 62

1. Erste Testfrage: Kann der betroffene Bürger erkennen, was „auf ihn zukommt“? 63

2. Zweite Testfrage: Gab es für den Landesgesetzgeber Regelungsalternativen? 63

3. Dritte Testfrage: Könnte der Landesgesetzgeber eine Präzisierung an den nachgeordneten

Verordnungsgeber delegieren? 66

4. Vierte Testfrage: Lässt sich mit Hilfe üblicher Auslegungsmethoden der Regelungsgehalt

des § 12b Abs. 1 Satz 3 NNatG 2004 und § 6 Abs. 1 NAGBNatSchG 2010 präzisieren? 69

5. Fünfte Testfrage: Lässt sich die landesgesetzliche Regelung durch Rückgriff auf die bundes-

gesetzliche Ermächtigungsgrundlage präzisieren? 70

6. Sechste Testfrage: Hat der Landesgesetzgeber der Exekutive einen Beurteilungsspielraum

eingeräumt? 71

7. Siebente Testfrage: Wäre der Landesgesetzgeber befugt gewesen, der Exekutive einen

Beurteilungsspielraum einzuräumen? 71

F. Zusammenfassung 72

A. Gutachterliche Fragestellungen

Die Rechtsanwaltskanzlei Sellmann, Blume, Wiemann (Lüneburg) hat mich gebeten

rechtsgutachterlich zu prüfen, ob die Verpflichtung zu Ersatzgeldzahlungen nach § 6

NAGBNatSchG 2010 den rechtsstaatlichen Anforderungen der Bestimmtheit genügt. Die

gutachterlich zu klärenden Fragen betreffen naturschutzrechtliche Ersatzzahlungen (Aus-

gleichszahlungen) bei naturschutzrechtlich erheblichen Eingriffen. Das gilt insbesondere

für die Errichtung von Windenergieanlagen.

Die Fragestellung wird durch Probleme der neueren bundesverfassungsrechtlichen Kompe-

tenzordnung und durch neueres vorhandenes Bundesrecht überlagert (nachfolgend zu B.).

Zu klären ist insoweit, ob es bundesrechtlich zulässig ist, die in § 15 Abs. 7 Satz 1

BNatSchG normierte Regelung einer Ersatzzahlung einer landesgesetzlichen Abwei-

chungsregelung in der Weise zu unterwerfen, dass eine verordnungsrechtliche Präzisierung

der Berechnung der Ersatzzahlung nicht (mehr) möglich ist. Das berührt die administrative

Vollzugsfähigkeit der bundes- und landesgesetzlichen Gesamtlösung und das Ineinander-

greifen der Befugnisse der legislatorischen Kompetenzträger. Das zielt nicht zuletzt auf die

Reichweite und die Abwendungsgebundenheit des Art. 72 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GG. Zu-

gleich sind damit Fragen eines bundesfreundlichen Verhaltens involviert. Des Weiteren ist

zentral zu untersuchen, ob § 6 Abs. 1 NAGBNatSchG 2010 rechtsstaatlichen Anforderun-

gen der Bestimmtheit genügt, wie sie bei jeder Geldleistungspflicht grundsätzlich geboten

ist. Hier ist Prüfungsmaßstab im Wesentlichen das materielle Bundesverfassungsrecht.

Beide Problembereiche sind aufeinander bezogen, gleichwohl nach dem jeweiligen Prü-

fungsmaßstab zu trennen. Die Frage der Bestimmtheit ist eine des materiellen Verfassungs-

rechts. Sie darf mit der Frage der Gesetzgebungskompetenz nicht vermengt werden.1 Kann

die isolierte Vollzugsfähigkeit des § 6 Abs. 1 NAGBNatSchG 2010 bejaht werden, kann

dies im Ergebnis die „Abwahl“ jeglicher verordnungsrechtlichen Berechnungsregelung

rechtfertigen. Insoweit wäre § 6 Abs. 1 NAGBNatSchG 2010 für die administrative Um-

setzung hinreichend „self-executing“, also auf eine konkretisierende Umsetzung durch eine

Rechtsverordnung nicht angewiesen. Diese Rechtsauffassung vertritt für die vorangegan-

gene landesgesetzliche Regelung des § 12b NNatG 2004 das OVG Lüneburg.2 Anderer-

1 Christoph Degenhart, in: Michael Sachs (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2011, Art. 70 Rn. 70 ff.

2 OVG Lüneburg vom 16.12.2009 – 4 LC 730/07 - OVGE MüLü 52, 492 = NdsVBl 2010, 158 = NuR 2010,

133 = ZUR 2010, 262 = BauR 2010, 758 = BRS 74 Nr. 229 (2009).

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seits ist die inhaltlich fehlerhafte Ausgestaltung des § 6 NAGBNatSchG 2010 nicht hinrei-

chend, um einen Kompetenzverstoß annehmen zu können.

B. Derzeitige bundes- und landesgesetzliche Rechtslage zur naturschutz-

rechtlichen Ersatzzahlung

I. Kompetenzrechtliche Ausgangslage

1. Im Rahmen der Föderalismusreform I sind die Gesetzgebungskompetenzen im Natur-

schutzrecht durch das verfassungsändernde Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom

28. August 2006 (BGBl. I 2006, 2034) neu geordnet. Die bisherige Rahmenkompetenz des

Bundes für den Bereich des Naturschutzes wurde aufgegeben. Der Bund erhielt in Art. 74

Abs. 1 Nr. 29 GG die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz im Sinne des Art. 72 Abs.

1 GG. Dagegen wurde den Ländern mit Art. 72 Abs. 3 GG eine sog. Abweichungskompe-

tenz zugewiesen. Dieses neue Kompetenzinstitut bezieht sich auch auf das Naturschutz-

recht. Art. 72 Abs. 3 GG lautet in dem hier interessierenden Teil wie folgt:

(3) Hat der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit Gebrauch gemacht, können die Länder

durch Gesetz hiervon abweichende Regelungen treffen über:

1. das Jagdwesen (ohne das Recht der Jagdscheine);

2. den Naturschutz und die Landschaftspflege (ohne die allgemeinen Grundsätze des Natur-

schutzes, das Recht des Artenschutzes oder des Meeresnaturschutzes);

3. … 6.

Bundesgesetze auf diesen Gebieten treten frühestens sechs Monate nach ihrer Verkündung in

Kraft, soweit nicht mit Zustimmung des Bundesrates anderes bestimmt ist. Auf den Gebieten des

Satzes 1 geht im Verhältnis von Bundes- und Landesrecht das jeweils spätere Gesetz vor.

Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG hebt die Regel des Art. 31 GG auf. Das jeweils spätere Gesetz hat

Anwendungsvorrang (lex posterior), nicht indes Geltungsvorrang.3 Ob die zugelassene

Abweichung in erster Linie oder auch nur die Berücksichtigung regionaler Unterschiede

ermöglichen soll und ob der abweichungsfeste Kern weit oder eher eng zu verstehen ist, ist

derzeit umstritten.4 Die gutachterliche Fragestellung verlangt dazu – wie zu zeigen ist –

keine Stellungnahme.

2. Sowohl der Bundesgesetzgeber als auch der niedersächsische Landesgesetzgeber regeln

Fragen des naturschutzrechtlichen Eingriffs und Ersatzgeldzahlungen im Regelungsbereich

der Verursacherpflichten und der Kompensation.

3 Sabine Schlacke, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), GK-BNatSchG, 2012, Rn. 42; vgl. auch Wolfgang

Köck/Rainer Wolf, Grenzen der Abweichungsgesetzgebung im Naturschutz, in: NVwZ 2008, 353-360 [354]. 4 Vgl. dazu etwa Sabine Schlacke, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), GK-BNatSchG, 2012, Rn. 44; Christoph

Degenhart, Die Neuordnung der Gesetzgebungskompetenzen durch die Föderalismusreform, in: NVwZ

2006, 1209-1216 [1212]; Helmuth Schulze-Fielitz, Umweltschutz im Föderalismus – Europa, Bund und Län-

der, in: NVwZ 2007, 249-259 [256]; Michael Kloepfer, Umwelt-, Naturschutz- und Jagdrecht – Eine kompe-

tenzrechtliche Betrachtung im Lichte der Föderalismusdebatte, in: NuR 2006, 1-7; ders., Föderalismusreform

und Umweltgesetzgebungskompetenzen, in: ZG 2006, 250-271 [264]; Claudio Franzius, Die Zukunft der na-

turschutzrechtlichen Eingriffsregelung – Eine Bewährungsprobe für die Abweichungsgesetzgebung nach

dem Inkrafttreten des neuen Bundesnaturschutzgesetzes, in: ZUR 2010, 346-353; vgl. auch Matthias Knauff,

Der Regelungsverbund: Recht und Soft Law im Mehrebenensystem, Tübingen 2010, S. 120 ff.

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II. Bundesgesetzliche Regelung (§ 15 Abs. 6 und 7 BNatSchG 2009)

1. Der Bundesgesetzgeber hat mit dem Gesetz über Naturschutz und Landschaftspflege

(Bundesnaturschutzgesetz [BNatSchG 2009]) vom 29. Juli 2009 (BGBl. I 2009, 2542) das

Naturschutzrecht novelliert.5 Er hat dies unter Ausnutzung der ihm in Art. 74 Abs. 1 Nr. 29

GG nunmehr eröffneten konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz getan.

2. Nach § 13 BNatSchG 2009 sind erhebliche Beeinträchtigungen von Natur und Land-

schaft vom Verursacher vorrangig zu vermeiden. Nicht vermeidbare erhebliche Beein-

trächtigungen sind durch Ausgleichs- oder Ersatzmaßnahmen oder, soweit dies nicht mög-

lich ist, durch einen Ersatz in Geld zu kompensieren. Was als Eingriff in Natur und Land-

schaft zu verstehen ist, wird in §14 BNatSchG näher bestimmt. Der Verursacher eines Ein-

griffs ist verpflichtet, vermeidbare Beeinträchtigungen von Natur und Landschaft zu unter-

lassen (vgl. § 15 Abs. 1 Satz 1 BNatSchG 2009). Er ist gemäß § 15 Abs. 2 BNatSchG 2009

verpflichtet, unvermeidbare Beeinträchtigungen durch Maßnahmen des Naturschutzes und

der Landschaftspflege auszugleichen (Ausgleichsmaßnahmen) oder zu ersetzen (Ersatz-

maßnahmen). Dazu bestimmt der Bundesgesetzgeber in § 15 Abs. 5 bis 7 BNatSchG 2009:

(5) Ein Eingriff darf nicht zugelassen oder durchgeführt werden, wenn die Beeinträchtigungen

nicht zu vermeiden oder nicht in angemessener Frist auszugleichen oder zu ersetzen sind und die

Belange des Naturschutzes und der Landschaftspflege bei der Abwägung aller Anforderungen an

Natur und Landschaft anderen Belangen im Range vorgehen.

(6) Wird ein Eingriff nach Absatz 5 zugelassen oder durchgeführt, obwohl die Beeinträchtigungen

nicht zu vermeiden oder nicht in angemessener Frist auszugleichen oder zu ersetzen sind, hat der

Verursacher Ersatz in Geld zu leisten. Die Ersatzzahlung bemisst sich nach den durchschnittlichen

Kosten der nicht durchführbaren Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen einschließlich der erforderli-

chen durchschnittlichen Kosten für deren Planung und Unterhaltung sowie die Flächenbereitstel-

lung unter Einbeziehung der Personal- und sonstigen Verwaltungskosten. Sind diese nicht fest-

stellbar, bemisst sich die Ersatzzahlung nach Dauer und Schwere des Eingriffs unter Berücksichti-

gung der dem Verursacher daraus erwachsenden Vorteile. Die Ersatzzahlung ist von der zuständi-

gen Behörde im Zulassungsbescheid oder, wenn der Eingriff von einer Behörde durchgeführt wird,

vor der Durchführung des Eingriffs festzusetzen. Die Zahlung ist vor der Durchführung des Ein-

griffs zu leisten. Es kann ein anderer Zeitpunkt für die Zahlung festgelegt werden; in diesem Fall

soll eine Sicherheitsleistung verlangt werden. Die Ersatzzahlung ist zweckgebunden für Maßnah-

men des Naturschutzes und der Landschaftspflege möglichst in dem betroffenen Naturraum zu

verwenden, für die nicht bereits nach anderen Vorschriften eine rechtliche Verpflichtung besteht.

(7) Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit wird ermächtigt, im

Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz

und dem Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung durch Rechtsverordnung mit

Zustimmung des Bundesrates das Nähere zur Kompensation von Eingriffen zu regeln, insbesonde-

re

1. zu Inhalt, Art und Umfang von Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen einschließlich von Maß-

nahmen zur Entsiegelung, zur Wiedervernetzung von Lebensräumen und zur Bewirtschaftung

und Pflege sowie zur Festlegung diesbezüglicher Standards, insbesondere für vergleichbare

Eingriffsarten,

2. die Höhe der Ersatzzahlung und das Verfahren zu ihrer Erhebung.

5 Vgl. Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD vom 17.3.2009 zur Neuregelung des Rechts

des Naturschutzes und der Landschaftspflege (BTags-Drucks. 16/12274 = BRat-Drucks. 278/09).

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Solange und soweit das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit von

seiner Ermächtigung keinen Gebrauch macht, richtet sich das Nähere zur Kompensation von Ein-

griffen nach Landesrecht, soweit dieses den vorstehenden Absätzen nicht widerspricht.

Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit hat von der Er-

mächtigung des § 15 Abs. 7 Satz 1 BNatSchG keinen Gebrauch gemacht. Das gilt insbe-

sondere für die Bestimmung der Höhe der Ersatzzahlung und das Verfahren zu ihrer Erhe-

bung. Es bestehen – dem Vernehmen nach – im rechtspolitischen Raum Erwägungen, die

Ermächtigung im Zusammenhang mit der anstehenden Errichtung überregionaler Hoch-

und Höchstspannungsfreileitungen zu nutzen.6

3. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit hat am 5. Novem-

ber 2012 den Entwurf einer „Verordnung über die Kompensation von Eingriffen in Natur

und Landschaft (Bundeskompensationsverordnung – BkompV“ veröffentlicht. Die Ver-

ordnung soll auf die Ermächtigung des § 15 Abs. 7 BNatSchG gestützt werden. Ziel der

Verordnung über die Kompensation von Eingriffen in Natur und Landschaft soll es sein,

den Vollzug der Eingriffsregelung effektiver zu gestalten. Der Entwurf der BKompV be-

findet sich gegenwärtig in der Phase der Anhörung der Bundesländer und Verbände. Er ist

in der vorliegenden Fassung innerhalb der Bundesregierung noch nicht abschließend abge-

stimmt.

III. Landesgesetzliche Regelung (§ 6 NAGBNatSchG 2010)

Der niedersächsische Gesetzgeber hat von der Möglichkeit einer abweichenden Landesge-

setzgebung für die naturschutzrechtlichen Ersatzzahlungen Gebrauch gemacht. In § 6

NAGBNatSchG 2010 bestimmt er:

(1) Sind die Kosten nach § 15 Abs. 6 Satz 2 BNatSchG nicht feststellbar, so bemisst sich die Ersatz-

zahlung abweichend von § 15 Abs. 6 Satz 3 BNatSchG allein nach Dauer und Schwere des Eingriffs

und beträgt höchstens sieben vom Hundert der Kosten für die Planung und Ausführung des Vorhabens

einschließlich der Beschaffungskosten für Grundstücke. Abweichend von § 15 Abs. 6 Satz 7

BNatSchG kann die Ersatzzahlung auch für Festlegungen und Maßnahmen nach § 15 Abs. 2 Satz 4

BNatSchG verwendet werden.

(2) § 15 Abs. 7 Satz 1 BNatSchG findet keine Anwendung.

C. Ist § 6 NAGBNatSchG 2010 kompetenzwidrig und damit nichtig?

I. Bundesgesetzliche Ausgangslage

1. Der Bundesgesetzgeber hat mit §§ 13, 15 Abs. 6 ff. BNatSchG entschieden, dass un-

vermeidbare Eingriffe in Natur und Landschaft zu kompensieren sind. Ist dies in tatsächli-

cher Hinsicht nicht möglich, ist in Geld auszugleichen. Diese legislatorische Entscheidung

6 Vgl. Bund/Länder-Arbeitsgemeinschaft Naturschutz, Landschaftspflege und Erholung (LANA), Empfeh-

lungen für die Eingriffsbewältigung beim Netzausbau vom 7. März 2012, außerdem NLT, Hinweise zur An-

wendung der Eingriffsregelung beim Bau von Hoch- und Höchstspannungsfreileitungen und Erdkabeln

(Stand: Januar 2011), hrsg. vom Niedersächsischen Landkreistag e.V., 2. Aufl., vgl. ferner Aktuell. Natur-

schutz und Landschaftsplanung 44 (9), 2012, 282-288.

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ist bundesrechtlich zwingend, mithin kodifikatorisch. Eine Ausnahme ist nicht vorgesehen.

Der Bundesgesetzgeber bündelt damit drei zentrale naturschutzrechtliche Ordnungsprinzi-

pien, nämlich den Grundsatz des naturschutzrechtlichen Bestandsschutzes (status quo), das

grundsätzliche Kompensationsprinzip7 und das umweltrechtliche Verursacherprinzip.

8

Der Bundesgesetzgeber hat damit im Vergleich zu dem früheren § 19 Abs. 4 des Gesetzes

über Naturschutz und Landschaftspflege (Bundesnaturschutzgesetz – BNatSchG 2002)

vom 25. März 2002 (BGBl. I S. 1193) einen Systemwechsel vorgenommen. Nach der

früheren rahmenrechtlichen Regelung konnten die Länder insbesondere Vorgaben zur An-

rechnung von Kompensationsmaßnahmen treffen. Sie konnten vorsehen, „dass bei zuzu-

lassenden Eingriffen für nicht ausgleichbare oder nicht in sonstiger Weise kompensierbare

Beeinträchtigungen Ersatz in Geld zu leisten ist (Ersatzzahlung)“. Die Länder waren indes

zu einer derartigen Regelung bundesrechtlich nicht verpflichtet. Diese rahmenrechtlich

motivierte facultas alternativa wollte der Bundesgesetzgeber 2009 beenden. Kraft Bundes-

rechts sollen die Länder – allenfalls vorbehaltlich über eine Abweichungsgesetzgebung

nach Art. 72 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 GG – gehalten sein, Ersatzzahlung bei unvermeidbaren und

nicht ausgleichsfähigen Eingriffen zu verlangen.

Der Bundesgesetzgeber hat es bei einer allgemeinen Pflicht, Ersatzzahlungen zu leisten,

nicht bewenden lassen.9 Er hat für Grund und Höhe der Ersatzzahlung in § 15 Abs. 5 bis 7

BNatSchG ein abgeschlossenes System vorgesehen. Danach bemisst sich die Höhe der Er-

satzzahlung nach den durchschnittlichen Kosten der nicht durchführbaren Ausgleichs- und

Ersatzmaßnahmen einschließlich der erforderlichen durchschnittlichen Kosten für deren

Planung und Unterhaltung sowie die Flächenbereitstellung unter Einbeziehung der Perso-

nal- und sonstigen Verwaltungskosten (vgl. § 15 Abs. 5 Satz 2 BNatSchG).10

Sind diese

Kosten nicht feststellbar, bemisst sich die Ersatzzahlung nach Dauer und Schwere des Ein-

griffs unter Berücksichtigung der dem Verursacher daraus erwachsenden Vorteile (vgl. §

15 Abs. 5 Satz 3 BNatSchG). Außerdem wird das Bundesministerium für Umwelt, Natur-

schutz und Reaktorsicherheit ermächtigt, im Einvernehmen mit dem Bundesministerium

für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz und dem Bundesministerium für

Verkehr, Bau und Stadtentwicklung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundes-

rates das Nähere zur Kompensation von Eingriffen zu regeln, insbesondere die Höhe der

Ersatzzahlung und das Verfahren zu ihrer Erhebung (vgl. § 15 Abs. 7 Satz 1 Nr. 2

BNatSchG). Das ist – wie zu wiederholen ist – ein in sich geschlossenes System.

2. Der Bundesgesetzgeber geht mit der Regelung des § 15 Abs. 7 Satz 1 Nr. 2 BNatSchG

erkennbar davon aus, dass es einer ausführenden Rechtsverordnung bedarf. Das wird sys-

tematisch dadurch bestätigt, dass er bereits kraft Bundesrechts mit § 15 Abs. 7 Satz 2

BNatSchG eine subsidiäre Regelung für den Fall vorsieht, dass das Bundesministerium für

7 Vgl. Andreas Vosskuhle, Das Kompensationsprinzip: : Grundlagen einer prospektiven Ausgleichsordnung

für die Folgen privater Freiheitsbetätigung – zur Flexibilisierung des Verwaltungsrechts am Beispiel des

Umwelt- und Planungsrechts, Tübingen 1999, S. 219 f., S. 389 ff. 8 Vgl. Erich Gassner, Zur Verfassungswidrigkeit naturschutzrechtlicher Ersatzzahlungen, in: DVBl 2011,

1268-1274 (1269); Ulrich Kuschnerus, Die naturschutzrechtliche Eingriffsregelung, in: NVwZ 1996, 235-

241. 9 Vgl. Hans-Joachim Koch, in: Sabine Schlacke (Hrsg.), GK-NatSchG, 2012, § 15 Rn. 41 ff.

10 In der Praxis umstritten ist, ob etwaige Kostensteigerungen zwischen dem Zeitpunkt der Genehmigung

und dem Baubeginn zu berücksichtigen sind und – bejahendenfalls – wie dies rechtstechnisch durchzuführen

ist. Nach § 15 Abs. 6 S. 4 BNatSchG 2009 hat die zuständige Behörde die Ersatzzahlung im Zulassungsbe-

scheid vor der Durchführung des Eingriffs festzusetzen. Einige nds. Genehmigungsbehörden sind neuerdings

dazu übergegangen, die Ersatzgeldfestsetzung mit einem Änderungsvorbehalt zu versehen. Dem Vorhaben-

träger wird darin aufgegeben, nach Bauausführung Kostennachweise vorzulegen. Das soll der Behörde eine

Erhöhung des Ersatzgeldes ermöglichen.

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Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit von seiner Ermächtigung keinen Gebrauch

macht. Dann habe sich das „Nähere zur Kompensation von Eingriffen“ nach Landesrecht

zu richten. Der Bundesgesetzgeber will also eine „Lücke“ in der von ihm konzipierten Ge-

samtregelung vermeiden. Das trifft ersichtlich auch auf die Berechnungsweise der Ersatz-

zahlung zu. Denn die Ersatzzahlung ist nach dem System der §§ 13 ff. BNatSchG eine Art

der als verpflichtend angesehenen Kompensation. Der Bundesgesetzgeber will durch die

Lösung erreichen, dass ein hinreichendes „Rechtsmaterial“ vorhanden ist, um die Ersatz-

zahlung nach Grund und Höhe bestimmen zu können. Denn mit dem BNatSchG 2009 soll

eine vollzugsfähige bundesrechtliche Regelung des gesamten Naturschutzes geschaffen

werden.11

II. Reichweite der „Abwahlbefugnis“ des nds. Gesetzgebers nach Art. 72

Abs. 3 S. 1 Nr. 2 GG

1. Befund: Ausübung der Bundeskompetenz im Naturschutzrecht

1.1 Bundesgesetzliche Grundregelung zur naturschutzrechtlichen Ersatzgeldzahlung

Hat der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit Gebrauch gemacht, können die Län-

der durch Gesetz hiervon abweichende Regelungen über den Naturschutz und die Land-

schaftspflege treffen. Davon ausgenommen sind die allgemeinen Grundsätze des Natur-

schutzes, das Recht des Artenschutzes oder des Meeresnaturschutzes (vgl. Art. 72 Abs. 3

Satz 1 Nr. 2 GG). Der Bund hat durch das Gesetz über Naturschutz und Landschaftspflege

(Bundesnaturschutzgesetz [BNatSchG 2009]) vom 29. Juli 2009 (BGBl. I 2009, 2542) sei-

ne Gesetzgebungskompetenz wahrgenommen. Dies ist – wie erwähnt - umfassend gesche-

hen. Damit ist die „allgemeine“ Sperrfunktion des Art. 72 Abs. 1 GG eingetreten. Ob diese

Sperrfunktion auch allein durch eine Rechtsverordnung eintreten kann, ist im Schrifttum

umstritten.12

Diese Frage stellt sich hier nicht. Denn der Bund hat in diesem hier interessie-

renden Regelungsbereich der naturschutzrechtlichen Eingriffslage bislang keine Rechts-

verordnungen erlassen. Dass er dieses – etwa nach § 15 Abs. 7 Satz 1 BNatSchG – könnte,

löst noch keine „zusätzliche“ Sperrfunktion aus.

1.2 Zusammenspiel von Bundesgesetzgeber und „komplettierender“ Rechtsverordnung

(1) Die Rechtslage weist im Regelungsbereich der naturschutzrechtlichen Ersatzzahlung

allerdings eine Besonderheit aus. Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers ist im Verhält-

nis zum Verordnungsgeber zwar ermessensbezogen, gleichwohl nicht beliebig. Der Ge-

setzgeber wahrt im Hinblick auf den Vorrang des Gesetzes seine Gestaltungsfreiheit näm-

lich dann nicht mehr, wenn die erteilte Verordnungsermächtigung es dem Adressaten über-

lässt, nach Belieben von ihr Gebrauch zu machen, und erst dadurch das Gesetz überhaupt

anwendbar wird.13

Dem Gesetzgeber steht es gewiss grundsätzlich frei, ob er den Verord-

nungsgeber zu einem Tätigwerden verpflichten will.14

In zahlreichen Fällen wird der vom

11

Sabine Schlacke, Einl., in: dies. (Hrsg.), GK-BNatSchG, Rn. 37. 12

Vgl. auch Tilmann Mohr, Wasserwirtschaft und novelliertes Wasserrecht in Schleswig-Holstein, in: Nor-

dÖR 2011, 474-480 (S. 475). 13

Vgl. BVerfG, Beschluss vom 8.6.1988 - 2 BvL 9/85 - BVerfGE 78, 249 = DVBl 1988, 952 = NJW 1988,

2529 (Fehlbelegungsabgabe). 14

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 13.12.1961 - 1 BvR 1137/59 - BVerfGE 13, 248 [254] = DVBl 1962, 60 =

NJW 1962, 147; BVerfG, Urteil vom 6.12.1972 - 1 BvR 230/70 - BVerfGE 34, 165 [194] = NJW 1973, 133;

- 9 -

Gesetzgeber „vor-normierte“ Regelungskomplex indes erst dann zu einem vollzugsfähigen

Ganzen, wenn der Verordnungsgeber die Rechtsverordnung auch erlässt.15

Dazu wird er

vom Gesetzgeber dann angehalten, wenn noch offene Detailfragen zum Zwecke der Voll-

zugsfähigkeit zu regeln sind. Bringt der Gesetzgeber ausdrücklich oder doch konkludent

zum Ausdruck, dass der „nachgeordnete“ Verordnungsgeber zum Erlass der Rechtsverord-

nung verpflichtet sein soll, bedeutet dies, dass er seine „eigene“ Lösung für komplettie-

rungsbedürftig angesehen hat. Die erwartete Rechtsverordnung dient nicht nur der immer

möglichen Präzisierung, sondern eröffnet überhaupt erst einen ordnungsgemäßen Vollzug

des Gesetzes selbst.16

Dabei ist nicht entscheidend, ob das Gesetz ohne Erlass einer

Rechtsverordnung – isoliert betrachtet – bereits vollzugsfähig ist. Maßgebend ist vielmehr

die Sicht des zum Erlass der Verordnung ermächtigenden Gesetzgebers selbst. Es ist auch

nicht ausgeschlossen, dass der Bundesgesetzgeber gegenüber dem Landesrecht eine Pflicht

zur Verordnungsgebung begründen will und auch begründen darf.17

Dies darf er, wenn

nach seiner (politisch nicht zu hinterfragenden) Auffassung eine umsetzende Rechtsver-

ordnung zur Erfüllung seines Normprogramms unerlässlich ist.18

(2) Das Regelungssystem des § 15 Abs. 6 BNatSchG im Verhältnis zur Ermächtigungsre-

gelung des § 15 Abs. 7 Satz 1 Nr. 2 BNatSchG ist im Sinne eines vollzugsbedürftigen und

auch vollzugsfähigen Ganzen zu verstehen.

Der Bundesgesetzgeber nimmt mit § 15 Abs. 7 Satz 1 Nr. 2 BNatSchG an, dass § 15 Abs.

6 BNatSchG der Komplettierung bedarf. Allerdings hat der Bundesgesetzgeber das Bun-

desministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit von dem erörtertem

Zwang, eine Rechtsverordnung zur Komplettierung zu erlassen, zugleich teilweise befreien

wollen. Er hat dies indes nur unter dem Vorbehalt gemacht, dass sich das Nähere zur

Kompensation von Eingriffen alsdann nach Landesrecht richtet. Das erfasst auch die Frage

der Ersatzzahlung. Das folgt aus der Verweisung in § 15 Abs. 7 Satz 2 BNatSchG auf alle

„vorstehenden Absätze“, mithin auch auf die gesetzliche Ersatzgeldregelung des § 15 Abs.

6 BNatSchG. Das bedeutet zweierlei:

Die subsidiäre Bezugnahme auf das Landesrecht bestätigt in systematischer Hinsicht zum

einen, dass der Bundesgesetzgeber von der Notwendigkeit der Komplettierung ausging.

Zum anderen unterstellte der Bundesgesetzgeber, dass das Landesrecht subsidiäre Rege-

lungen enthält, die für eine Vollzugsfähigkeit des bundesgesetzlichen Konzepts hinrei-

chend sind. Es unterliegt keinem Zweifel, dass der Bundesgesetzgeber auch insoweit mit

dem BNatSchG in Abänderung der früheren rahmenrechtlichen Regelung eine „Vollrege-

lung“ legeferieren wollte. Diese Auffassung wird durch die Begründung des von der Bun-

Ulrich Ramsauer, in: AK-GG, 3. Aufl. 2001, 80 Rn. 52; Arnd Uhle, Parlament und Rechtsverordnung, Mün-

chen1999, S. 464 ff. 15

Vgl. BVerfG, Beschluss vom 9.10.1968 - 2 BvE 2/66 - BVerfGE 24, 184 [198] = DVBl 1969, 110 =

NJW 1969, 33; Michael Nierhaus, BK (1998), Art. 80 Rn. 345 unter Bezugnahme auf . BVerwG, Beschluss

vom 13.12.1961 - 1 BvR 1137/59 - BVerfGE 13, 248 [254] = DVBl 1962, 60 = NJW 1962, 147; BVerfG,

Beschluss vom 23.7.1963 - 1 BvR 265/62 - BVerfGE 16, 332 (338); BVerfG, Beschluss vom 8.6.1988 - 2

BvL 9/85 - BVerfGE 78, 249 [272] = DVBl 1988, 952 = NJW 1988, 2529; wohl auch BVerwG, Beschluss

vom 30.11.1988 - 1 BvR 1301/84 - BVerfGE 79, 174 [194] = DVBl 1989, 352 = NJW 1989, 1271; Thomas

von Danwitz, Gestaltungsfreiheit des Verordnungsgebers, S. 181; Franz-Joseph Peine, Gesetz und Verord-

nung – Bemerkungen zu aktuellen Fragen eines problematischen Verhältnisses, in: ZG 3 (1988), S. 121-140

[128]. 16

Ähnlich Ulrich Ramsauer, in: AK-GG, 3. Aufl. 2001, 80 Rn. 52. 17

Michael Nierhaus, BK (1998), Art. 80 Rn. 344. Vgl. auch BVerwG, Urteil vom 4.7.2002 - 2 C 13.01 -

NVwZ 2002, 1505 = DÖV 2003, 123 18

Dieter Wilke, in: v. Mangoldt/Klein, 5. Aufl., Art. 80 Anm. XII 1; Michael Brenner, daselbst, 6. Aufl.

2010 Rn. 71; Hartmut Bauer, in: Horst Dreier (Hrsg.), GG, 2. Aufl. 2006, Art. 80 Rn. 53.

- 10 -

desregierung (CDU/CSU und SPD) eingebrachten Gesetzesentwurfs bestätigt. Dort heißt

es zu § 15 Abs. 6 und 7 BNatSchG-E, der textidentisch mit der späteren gesetzlichen Rege-

lung ist:

Mit der Vorschrift des Absatzes 6 wird die Ersatzzahlung nach entsprechenden Vorbildern in lan-

desrechtlichen Vorschriften nunmehr auch bundesrechtlich geregelt. Sie ist vom Verursacher zu

leisten, wenn eine erhebliche Beeinträchtigung der Leistungs- und Funktionsfähigkeit des Natur-

haushalts nicht zu vermeiden ist, in angemessener Frist nicht ausgeglichen oder nicht ersetzt wer-

den kann und die für die Durchführung des Vorhabens sprechenden Belange schwerer wiegen als

die von Naturschutz und Landschaftspflege. Zur Bemessung der Höhe der Ersatzzahlung finden

sich in den landesrechtlichen Regelungen zwei Wege: über eine Orientierung an den Kosten für

die unterbliebenen Maßnahmen oder über die Bewertung von Dauer und Schwere des Eingriffs

unter Berücksichtigung der dem Verursacher daraus erwachsenden Vorteile. Das Bundesrecht geht

grundsätzlich den ersten Weg. Sollten allerdings die durchschnittlichen Kosten im Einzelfall nicht

feststellbar sein, ist auf den zweiten Weg auszuweichen. In Satz 7 wird die Zweckbindung der Er-

satzzahlung für Maßnahmen des Naturschutzes und der Landschaftspflege geregelt. Dabei muss es

sich um praktische, reale und unmittelbar wirkende Maßnahmen in Natur und Landschaft handeln.

Es besteht ein praktisches Bedürfnis, die Einzelheiten zur Kompensation von Eingriffen (Aus-

gleichs- und Ersatzmaßnahmen, Ersatzzahlung bei nicht möglicher Realkompensation) Dritten ge-

genüber verbindlich zu regeln, also nicht nur durch Verwaltungsvorschrift. In den Naturschutzge-

setzen der meisten Länder sind diesbezügliche Verordnungsermächtigungen vorgesehen und be-

reits realisiert. Entsprechendes Landesrecht gilt fort, soweit es den bundesgesetzlichen Anforde-

rungen nicht widerspricht. Sofern aber die Standardisierung von Ausgleichs- und Ersatzmaßnah-

men eine Angelegenheit ist, die den Vollzug der Eingriffsregelung im gesamten Bundesgebiet be-

trifft, ist es erforderlich, dass auch der Bund die Möglichkeit erhält, solche Regelungen vorsehen

zu können, ohne dass den Ländern die Möglichkeit genommen ist, bis zum Gebrauchmachen des

Bundes von seiner Ermächtigung selbst Regelungen erlassen zu können. Diesem Anliegen dient

die Vorschrift des Absatzes 7.19

Die Vorstellungen des Gesetzesentwurfes der Bundesregierung sind in zweifacher Hinsicht

eindeutig. Der Entwurf hält eine Berechnung der Ersatzgeldzahlung aufgrund einer bloßen

Verwaltungsvorschrift aus rechtsstaatlichen Gründen für unzureichend. Gerade dies bestä-

tigt erneut auch den Bezug der Ermächtigungsregelung zu der in § 15 Abs. 6 BNatSchG

gefällten, bundesweiten Grundentscheidung im Sinne eines problemlösenden Junktims.

Des Weiteren will sich der Bund im Falle der Notwendigkeit einer bundesweiten Standar-

disierung von Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen eine verordnungsrechtliche Regelungs-

kompetenz erhalten. Das mag zwar im Hinblick auf Art. 72 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GG ein Irr-

tum sein, ändert aber nichts an seinem historisch belegbaren Motiv. Dass dem Bundesge-

setzgeber die Vollzugsfähigkeit seines Konzeptes keineswegs gleichgültig war, zeigt

schließlich die von ihm gegebene Antwort auf die Frage, was zu geschehen habe, wenn die

Kosten für eine „reale“ Kompensation nicht feststellbar sind. Für diesen Fall erklärt er mit

drei materiellen Kriterien zugleich die Randbedingungen einer verordnungsrechtlichen Re-

gelung, in der Sprache des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG also das „Ausmaß“.

2. Befund: Unterschiede zwischen bundes- und landesrechtlicher Regelung

Hat der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit Gebrauch gemacht, können die Län-

der durch Gesetz hiervon grundsätzlich abweichende Regelungen über den Naturschutz

19

Vgl. Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD vom 17.3.2009 zur Neuregelung des Rechts

des Naturschutzes und der Landschaftspflege (BTags-Drucks. 16/12274), S. 58; Beschlussempfehlung und

Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit – BTags-Drs. 16/13430 vom (vgl.

auch BRats-Drs. 278/09 vom 3.4.2009); zum Gesetzesbeschluss vgl. auch BRats-Drs. 594/09.

- 11 -

und die Landschaftspflege treffen. Der Landesgesetzgeber weicht vom Bundesrecht im

Hinblick auf die naturschutzrechtliche Ersatzzahlung in zweierlei Hinsicht ab:

[1] Berechnung der Höhe. Mit § 6 Abs. 1 NAGBNatSchG 2010 weicht der nds. Gesetz-

geber für die Berechnung der Höhe der Ersatzzahlung ab, wenn die Kosten nach § 15 Abs.

6 Satz 2 BNatSchG nicht feststellbar sind. Der nachfolgende Textvergleich zeigt die Ab-

weichung:

Bundesfassung (§ 15 Abs. 6 Satz 2 BNatSchG 2009):

Die Ersatzzahlung bemisst sich in der bundesgesetzlichen Regelung nach den durch-

schnittlichen Kosten der nicht durchführbaren Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen ein-

schließlich der erforderlichen durchschnittlichen Kosten für deren Planung und Unter-

haltung sowie die Flächenbereitstellung unter Einbeziehung der Personal- und sonsti-

gen Verwaltungskosten. Sind diese nicht feststellbar, bemisst sich die Ersatzzahlung

nach Dauer und Schwere des Eingriffs unter Berücksichtigung der dem Verursacher

daraus erwachsenden Vorteile.

Landesfassung Niedersachsen (§ 6 Abs. 1 NAGBNatSchG 2010):

Die nds. Fassung streicht das Kriterium des „Vorteils“ in § 15 Abs. 6 Satz 2 BNatSchG

und bestimmt (ergänzend) eine Begrenzung der Höhe der Ersatzgeldzahlung, und zwar wie

folgt:

… so bemisst sich die Ersatzzahlung [i.e. durchschnittlichen Kosten der nicht

durchführbaren Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen] ... allein nach Dauer und

Schwere des Eingriffs und beträgt höchstens sieben vom Hundert der Kosten für

die Planung und Ausführung des Vorhabens einschließlich der Beschaffungskos-

ten für Grundstücke.

[2] Verordnungsermächtigung. Ferner schließt § 6 Abs. 2 NAGBNatSchG 2010 die ge-

samte Ermächtigungsregelung des § 15 Abs. 7 Satz 1 BNatSchG aus, also nicht nur § 15

Abs. 7 Satz 1 Nr. 2 BNatSchG. Bemerkenswert ist allerdings, dass § 6 Abs. 2 NAGB-

NatSchG 2010 zwar die Anwendung des § 15 Abs. 7 Satz 1 BNatSchG ausschließt, nicht

aber § 15 Abs. 7 Satz 2 BNatSchG. Das gibt Rätsel auf.

Zu erörtern bleibt, ob und auch inwieweit der niedersächsische Gesetzgeber zu diesen Ab-

weichungen befugt war. Wird diese Frage verneint, verletzt § 6 NAGBNatSchG 2010 –

mutmaßlich in seiner Gesamtheit – Bundesverfassungsrecht.

III. § 6 Abs. 1 Satz 1 NAGBNatSchG 2010 als zulässiger Gegenstand einer

„Abweichung“?

Sind die bundesrechtlich nach § 15 Abs. 6 Satz 2 BNatSchG zu ermittelnden Kosten einer

Realkompensation nicht feststellbar, bleibt es auch landesrechtlich gleichwohl bei einer

Pflicht zu Zahlung eines Ersatzgeldes. Deren Höhe bemisst sich – insoweit abweichend

von § 15 Abs. 6 Satz 3 BNatSchG – landesgesetzlich allein (sic!) nach Dauer und Schwere

des Eingriffs und beträgt höchstens 7 vom Hundert der Kosten für die Planung und Aus-

- 12 -

führung des Vorhabens einschließlich der Beschaffungskosten für Grundstücke. Damit er-

setzt § 6 Abs. 1 Satz 1 NAGBNatSchG 2010 komplett § 15 Abs. 6 Satz 3 BNatSchG 2009.

Nachfolgend wird erörtert, ob diese landesgesetzliche Regelung aus kompetenzrechtlicher

Sicht bundesverfassungsrechtlich zulässig ist.20

1. Begriff der „Abweichung“ im Sinne des Art. 72 Abs. 3 Satz 1 GG

(1) Art. 72 Abs. 3 Satz 1 GG befugt ein Land, durch Gesetz „abweichende Regelungen“

zu treffen.21

Es muss sich thematisch um eine substantiierende Regelung in dem Sinne

handeln, dass das Land zum selben Konfliktbereich eine andere als die bundesgesetzliche

Lösung vorsehen will. Ob damit eine reine Negativgesetzgebung der bloßen Abwahl ver-

einbar ist, ist derzeit im Schrifttum umstritten.22

Der Anwendungsbereich der landesgesetz-

lichen Regelung muss in jedem Falle sprachlich klar umrissen sein.23

Den Ländern ist nicht die Befugnis zu einer generellen Suspendierung des Bundesrechts

gegeben, sondern grundsätzlich nur die Möglichkeit einer anderweitigen Regelung. Ge-

genüber der bundesrechtlichen Vollregelung darf das Land einen anderen Inhalt setzen,

soweit dieser im Hinblick auf die vorgegebene bundesrechtliche Lösung thematisch bleibt.

Die Länder sind also befugt, die zunächst bestehenden unitarisierenden Wirkungen des

Bundesrechtes zu beseitigen, indes nur um den Preis einer eigenen inhaltlichen Regelung.

Die in Art. 72 Abs. 3 Satz 1 GG enthaltene Regelungsoption ist also mit dem Junktim ei-

gener inhaltlicher Entscheidungen verbunden. Das kann dann im Einzelfall auch ein parti-

20

Vgl. Pascale Cancik, Das neue Naturschutzrecht Niedersachsens – ein Testfall für die Abweichungsge-

setzgebung, in: NdsVBl 2011, 177-182; Erich Gassner, Zur Verfassungswidrigkeit naturschutzrechtlicher Er-

satzzahlungen, in: DVBl 2011, 1268-1274; Marcus Lau, Die naturschutzrechtliche Eingriffsregelung (Teil 2),

in: NuR 2011, 762-771; Peter Berghoff/Katharina Steg, Das neue Bundesnaturschutzgesetz und seine Aus-

wirkungen auf die Naturschutzgesetze der Länder, in: NuR 2010, 17-26; Susanne Funke, Die Auswirkungen

des neuen Bundesnaturschutzgesetzes auf die Eingriffsregelungen des Landesrechts, in: SächsVBl 2010, 153-

159; Alfred Scheidler, Die naturschutzrechtliche Eingriffsregelung im BNatSchG 2010, in: UPR 2010, 134-

141; Peter Schütte/Sandra Kattau, Die Neuordnung des Naturschutzrechts in den Bundesländern, in: ZUR

2010, 353-358; Petra Krings, Neues Naturschutzrecht in Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Mecklen-

burg-Vorpommern, in: NordÖR 2010, 181-191; Bernd Becker, Das Recht der Länder zur Abweichungsge-

setzgebung (Art. 72 Abs. 3 GG) und das neue WHG und BNatSchG, in: DVBl 2010, 754-758; Rainer Wolf,

Das neue Sächsische Naturschutzrecht, in: SächsVBl 2010, 160-164. 21

Rajiv Chandna, Das Abweichungsrecht der Länder gemäß Art. 72 Abs. 3 GG im bundesstaatlichen Kom-

petenzgefüge – Eine Untersuchung seines Einflusses auf das deutsche Umweltrecht, Berlin 2011, S. 131 ff.;

Volker Grünewald, Die Abweichungsgesetzgebung der Bundesländer – Ein Fortschritt im föderalen Kompe-

tenzgefüge des Grundgesetzes?, 2010; Christoph Degenhart, Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen der

Abweichungsgesetzgebung, in: DÖV 2010, 422-430. 22

Für die Zulässigkeit einer förmlichen Außerkraftsetzung etwa Philip Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 72

Rn. 39; Bodo Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, 12. Aufl., Art. 72 Rn. 30; Rüdiger Sannwald, in: Schmidt-

Bleibtreu, GG, 12. Aufl. 2011, Art. 72 Rn. 80; Christian Seiler, in: Volker Epping/Christian Hillgruber

(Hrsg.), GG, 2009, Art. 72 24.1; anders wohl Claudio Franzius, Die Abweichungsgesetzgebung, in: NVwZ

2008, 492-499 [494], ebenso Christoph Degenhart, in: Michael Sachs (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2011, Art. 72 Rn.

43; Arnd Uhle, in: Winfried Kluth (Hrsg.), Föderalismusreformgesetz – Einführung und Kommentierung,

2007, Rn. 51; Peter Fischer-Hüftle, in: Schumacher/Fischer-Hüftle, BNatSchG, 2. Aufl. 2011, Vor. § 1 Rn.

34; undeutlich Jörn Ipsen, Die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern nach der Föderalismusno-

velle, in: NJW 2006, 2801-2806 [2804]; großzügig wohl Sabine Schlacke, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), GK-

BNatSchG, 2012, Rn. 56. 23

Ähnlich Christoph Degenhart, Die Neuordnung der Gesetzgebungskompetenzen durch die Föderalismus-

reform, in: NVwZ 2006, 1209-1216 [1213]; Wolfgang Köck/Rainer Wolf, Grenzen der Abweichungsgesetz-

gebung im Naturschutz, in: NVwZ 2008, 353-360 [357]; Volker Haug, Die Abweichungsgesetzgebung – ein

Kuckucksei der Föderalismusreform?, in: DÖV 2008, 851-857 [854]; Claudio Franzius, Die Abweichungs-

gesetzgebung, in: NVwZ 2008, 492-499 [495], verweist insoweit auf das "Gebot rechtsstaatlicher Normklar-

heit".

- 13 -

elles Außerkraftsetzen sein. Dennoch: „abweichen“ können die Länder nur von positiven

Regelungen, denen eine andere Konzeption gegenübergestellt wird. Weiteres braucht hier

nicht abschließend geklärt zu werden.

(2) Der Bundgesetzgeber hat mit § 15 Abs. 6 BNatSchG 2009 – wie zuvor erörtert – eine

Vollregelung geschaffen. Damit erübrigt sich die Frage, ob für die Abweichungsgesetzge-

bung im Sinne des Art. 72 Abs. 2 Satz 1 GG stets eine Vollregelung des Bundes verlangt

werden muss. Von der Vollregelung des § 15 Abs. 6 BNatSchG 2009 weicht § 6 Abs. 1

Satz 1 NAGBNatSchG 2010 jedenfalls substantiell ab. Die landesgesetzliche Regelung er-

füllt die Voraussetzungen einer eigenen, eben anderen Konzeption, ohne dabei den thema-

tischen Bezug der naturschutzrechtlichen Ersatzzahlung zu verlassen.

Die abweichenden Besonderheiten sind bereits skizziert worden. § 6 Abs. 1 Satz 1 NAG-

BNatSchG 2010 trifft punktuelle Abweichungen. Ob diese – aus anderen Gründen – rech-

tens sind, berührt allerdings die dem Landesgesetzgeber eröffnete Regelungskompetenz

nicht. Eine landesrechtliche Negativgesetzgebung liegt jedenfalls nicht vor. Der nds. Lan-

desgesetzgeber sieht in § 6 Abs. 1 Satz 1 NAGBNatSchG 2010 eine in sich geschlossene

Regelung über die naturschutzrechtliche Ersatzzahlung. Zwar ist die Regelung – wie noch

darzulegen ist – unbestimmt und verletzt damit rechtsstaatliche Anforderungen. Das ist in-

des „nur“ eine inhaltliche Frage. Von dieser ist die konzeptionelle Lösung des Landesge-

setzgebers zu trennen. Ein Abweichungswille des Landesgesetzgebers besteht. Das ist

zweifelsfrei. Da der Bundesgesetzgeber durch § 15 Abs. 6 und 7 BNatSchG eine „voll-

ständige“ Regelung getroffen hat, stellt sich auch nicht die Frage, ob ein „Wille zur Nicht-

regelung“ eine Sperrwirkung nach Art. 72 Abs. 1 GG erzeugen würde. Bereits hier ist da-

rauf aufmerksam zu machen, dass das bundesrechtliche Modell sich nicht als eine Frage

der Ressourcenabschöpfung versteht.24

Es bleibt vielmehr dem Eingriffsausgleichs-System

strukturell verhaftet.

2. Der spezifische (naturschutzrechtliche) Vorbehalt des Art. 72 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GG

2.1 Begriff der „allgemeinen Grundsätze des Naturschutzes“

(1) Eine landesgesetzliche Abweichung ist unzulässig, soweit ein „abweichungsfester

Kern“ gegeben ist. Art. 72 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GG umschreibt diesen Kern mit den Worten

„allgemeine Grundsätze des Naturschutzes, das Recht des Artenschutzes oder des Mee-

resnaturschutzes“. Zu erörtern ist, ob der nds. Landesgesetzgeber diesen Vorbehalt verletzt

hat.

(2) Was als „allgemeine Grundsätze“ des Naturschutzes inhaltlich zu gelten hat, ist um-

stritten.25

Der verfassungsändernde Gesetzgeber setzt ihren Inhalt voraus. Was als „abwei-

chungsfester Kern“ gegeben sein soll, hat der verfassungsändernde Gesetzgeber – bei aller

24

Vgl. zu dem Unterschied Erich Gassner, Zur Verfassungswidrigkeit naturschutzrechtlicher Ersatzzahlun-

gen, in: DVBl 2011, 1268-1274 [1271]; Dietrich Murswiek, Die Ressourcennutzungsgebühr. Zur rechtlichen

Problematik des Umweltschutzes durch Abgaben, in: NuR 1994, 170-176. Vgl. auch BVerfG, Beschluss vom

7.11.1995 - 2 BvR 413/88 - BVerfGE 93, 319 [345] = DVBl 1996, 357 = NVwZ 1996, 469 (Wasserpfennig). 25

Vgl. Markus Appel, Die Befugnis zur einfach-gesetzlichen Ausgestaltung der allgemeinen Grundsätze

des Naturschutzes i. S. d. Art. 72 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 GG – zugleich ein Beitrag über Inhalt und Reichweite des

abweichungsfesten Kerns der Landschaftsplanung gemäß § 8 BNatSchG 2009, in: NuR 2010, 171-179; Oli-

ver Hendrischke, "Allgemeine Grundsätze" als abweichungsfester Kern der Naturschutzgesetzgebung des

Bundes, in: NuR 2007, 454-458 [456].

- 14 -

Unbestimmtheit – selbst abschließend entschieden.26

Es gibt keinen Anhalt für die Ansicht,

der verfassungsändernde Gesetzgeber habe zugleich den „einfachen“ Bundesgesetzgeber

ermächtigen wollen näher zu bestimmen, was als „allgemeine Grundsätze“ des Natur-

schutzes im Sinne des Art. 72 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GG zu gelten habe. Das würde bedeuten,

dass der einfache Gesetzgeber die Reichweite der Abweichungskompetenz bestimmen

könnte. Einen derartigen Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers darf man schwer-

lich annehmen. Sein Inhalt wäre geradezu dysfunktional gegenüber dem Anliegen der Ver-

fassungsänderung, die Gesetzgebungskompetenz der Länder zu stärken. Das bedeutet: Der

„einfache“ Bundesgesetzgeber kann zwar „allgemeine Grundsätze“ des Naturschutzes für

seinen eigenen Anwendungsbereich zusammenstellen, wie er es in §§ 1, 2 BNatSchG 2009

und früher in § 2 BNatSchG 2002 getan hat. Er hat indes keine Art. 72 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2

GG bestimmende Definitionsmacht.27

Demgemäß muss der verfassungsrechtlich benutzte Begriff der „allgemeine Grundsätze“

des Naturschutzes aus sich heraus ausgelegt werden. Einer abschließenden Erörterung be-

darf es hier indes nicht. Es ist nur zu fragen, ob die naturschutzrechtliche Ersatzgeldzah-

lung zu den „allgemeinen Grundsätzen“ des Naturschutzes zu zählen ist.

(2) Der Ausdruck „Grundsätze des Naturschutzes“ entstammt der „einfachen“ Gesetzes-

sprache (vgl. § 2 BNatSchG 1998, 2002).28

Man kann darüber räsonieren, ob und welche

steigernde Bedeutung der Zusatz der „allgemeinen“ Grundsätze haben soll.29

Für die hier

vorliegende gutachterliche Frage spielt dies keine Rolle. Vieles spricht dafür, dass nur eine

semantische Verstärkung beabsichtigt ist.30

Nimmt man an, der verfassungsändernde Gesetzgeber habe den Bestand „Grundsätze des

Naturschutzes“ (vgl. § 2 BNatSchG 1998, 2002) gleichsam als abweichungsfesten Kern

zugunsten einer bislang ausgeübten Bundeskompetenz verfassungsrechtlich festschreiben

wollen, dann erfasst dieser Kanon jedenfalls nicht die konkrete naturschutzrechtliche Er-

satzgeldzahlung. Diese Ausgleichsmaßnahme wird in § 2 BNatSchG 1998 nicht genannt.

Die gesamte Eingriffsregelung ist in dem seinerzeitigen §§ 18 ff. BNatSchG 2002 nur dem

26

Vgl. Michael Kotulla, Umweltschutzgesetzgebungskompetenzen und Föderalismusreform, in: NVwZ

2007, 489-495 [491 f.]; Gerd Hager, Konkurrierende Gesetzgebung mit Abweichungsmöglichkeiten (Art. 72

Abs. 3 GG) – Rechtsstaatliche Anforderungen an die Normklarheit am Beispiel des ROG und des LplG BW,

in: BauR 2012, 31-39; Stefan Muckel, Dichtheitsprüfung nach § 61 a LWG NRW trotz fehlender Landes-

kompetenz für Regelungen zu Abwasseranlagen?, in: NWVBl 2012, 1-5; Niklas Langguth, Die Grenzen der

Raumordnungsplanung – Zur Abgrenzung der Gesetzgebungskompetenzen für Raumordnung und Bauleit-

planung, in: ZfBR 2011, 436-441; Johannes Krause, Abweichungskompetenzen der Bundesländer am Bei-

spiel des Umweltrechts, in: JA 2011, 768-770; Erich Gassner, Zur Verfassungswidrigkeit naturschutzrechtli-

cher Ersatzzahlungen, in: DVBl 2011, 1268-1274. 27

Vgl. Stefan Oeter, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. Aufl. 2010, Art. 74 Rn.186; Sabine Schlacke,

Einleitung, in: dies. (Hrsg.), GK-BNatSchG, 2012, Rn. 48; Martin Gellermann, Naturschutzrecht nach der

Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes, in: NVwZ 2010, 73-79 [75]; Markus Appel, Die Befugnis zur ein-

fach-gesetzlichen Ausgestaltung der allgemeinen Grundsätze des Naturschutzes i. S. d. Art. 72 Abs. 3 S. 1

Nr. 2 GG – zugleich ein Beitrag über Inhalt und Reichweite des abweichungsfesten Kerns der Landschafts-

planung gemäß § 8 BNatSchG 2009, in: NuR 2010, 171-179 [173]; Claudio Franzius, Die Zukunft der natur-

schutzrechtlichen Eingriffsregelung – Eine Bewährungsprobe für die Abweichungsgesetzgebung nach dem

Inkrafttreten des neuen Bundesnaturschutzgesetzes, in: ZUR 2010, 346-353 [349 f.]. 28

Ähnlich Wolfgang Köck/Rainer Wolf, Grenzen der Abweichungsgesetzgebung im Naturschutz, in:

NVwZ 2008, 353-360. 29

Vgl. z.B. Michael Kotulla, Umweltschutzgesetzgebungskompetenzen und Föderalismusreform, in:

NVwZ 2007, 489-495 [493]. 30

Vgl. weiterführend Oliver Hendrischke, Regelungsspielräume der Länder nach der Föderalismusreform

2006, in: Bundesverband Beruflicher Naturschutz (Hrsg.), Jahrbuch für Naturschutz und Landschaftspflege,

Bd. 58, S 74-81.

- 15 -

bundesrechtlichen Rahmenrecht zugeordnet (vgl. arg. e § 10 BNatSchG 2002). Das gilt

insbesondere für die naturschutzrechtliche Ausgleichszahlung. Nach § 19 Abs. 4

BNatSchG 2002 konnten die Länder weitergehende Regelungen erlassen. Sie konnten ins-

besondere Vorgaben zur Anrechnung von Kompensationsmaßnahmen treffen und vorse-

hen, dass bei zuzulassenden Eingriffen für nicht ausgleichbare oder nicht in sonstiger Wei-

se kompensierbare Beeinträchtigungen Ersatz in Geld zu leisten sei (Ersatzzahlung). Ein

bundesgesetzlicher Zwang bestand hingegen insoweit nicht. Das ist ein hinreichender Be-

leg dafür, dass es im Zeitpunkt des verfassungsändernden Gesetzes, mit dem Art. 72 Abs. 3

Satz 1 Nr. 2 GG geschaffen wurde, nicht allgemeiner Ansicht entsprach, dass die natur-

schutzrechtliche Ersatzzahlung in ihrer jetzigen konkreten Ausgestaltung zu den allgemei-

nen Grundsätzen des Naturschutzes zu zählen war, wie sie vor 2006 zu fixieren waren.31

(3) Ergänzend sei bemerkt: Ob ein Vorrang der Realkompensation gegenüber direkten

Ausgleichszahlungen zu den „allgemeinen Grundsätzen“ des Naturschutzes zu zählen ist,

ist derzeit zwischen Bund und Ländern strittig.32

Die hier zu behandelnde gutachterliche

Frage bezieht sich hierauf nicht.

2.2 Ersatzzahlung als Ausdruck naturschutzrechtlicher Ordnungsprinzipien?

(1) Als Zwischenergebnis lässt sich festhalten, dass die Regelung des § 15 Abs. 6 und 7

BNatSchG 2009 nicht per se als ein „allgemeiner Grundsatz“ des Naturschutzes anzusehen

ist. Damit ist die Prüfung der Kompetenzfrage noch nicht beendet. Ein einfacher Vergleich

zwischen bundesrechtlicher und landesrechtlicher Regelung erfasst nicht die Frage, ob in §

15 Abs. 6 und 7 BNatSchG ein „allgemeiner Grundsatz“ des Naturschutzes enthalten ist,

gleichsam mitgedacht wird. Es ist vielmehr erweiternd auch zu prüfen, ob die Regelung

des § 15 Abs. 6 und 7 BNatSchG 2009 nur notwendiger Ausdruck eines allgemeinen Prin-

zips des Naturschutzes ist. Es ist mit anderen Worten zu erörtern, ob der Bundesgesetzge-

ber mit den §§ 13 ff. BNatSchG etwas rechtstechnisch und gestaltend umgesetzt und damit

subsumtionsfähig festgeschrieben hat, was man als naturschutzrechtliches Ordnungs- oder

Strukturprinzip zu bewerten hat. Damit muss gewissermaßen hinter die konkrete gesetzli-

che Ausgestaltung gesehen werden, um zu fragen, ob die Regelung der §§ 13 ff.

BNatSchG bestimmte naturschutzrechtliche Strukturen abbildet, die dem Naturschutz die-

nen sollen und insoweit „allgemeine“ Grundsätze widerspiegeln. Anlass zu einer derarti-

gen Problematisierung besteht, weil es das erklärte Ziel des BNatSchG 2009 ist, kraft Bun-

desrechts vollzugsfähige bundesrechtliche Regelungen zu Naturschutz und Landschafts-

pflege zu schaffen.33

(2) Derartige Strukturen und damit ggf. auch Strukturprinzipen des Naturschutzes lassen

sich den §§ 13 ff. BNatSchG unschwer entnehmen.34

Sie wurden bereits erwähnt. Die Ein-

31

So auch im Ergebnis Sabine Schlacke, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), GK-BNatSchG, 2012, Rn. 48. 32

Vgl. Claudio Franzius, Die Abweichungsgesetzgebung, in: NVwZ 2008, 492-499 [496]. 33

Vgl. Sabine Schlacke, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), GK-BNatSchG, 2012, Rn. 37. 34

Dirk Berchter, Die Eingriffsregelung im Naturschutzrecht, 2007, S. 21; Erich Gassner, Zur Verwirkli-

chung des Integritätsinteresses in der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung, in: NuR 1988, 67-71 [68];

vgl. Hans-Joachim Koch, Die naturschutzrechtliche Eingriffsregelung, in: Jochen Kerkmann (Hrsg.), Natur-

schutzrecht in der Praxis, 2010, § 4 Rn. 2; Peter Fischer-Hüftle, Zur Gesetzgebungskompetenz auf dem Ge-

biet "Naturschutz und Landschaftspflege" nach der Föderalismusreform, in: NuR 2007, 78-85 [82]; Bernd

Becker, Das Recht der Länder zur Abweichungsgesetzgebung (Art. 72 Abs. 3 GG) und das neue WHG und

BNatSchG, in: DVBl 2010, 755-759 [757]; das Umweltgutachten 2008 des Sachverständigenrats für Um-

weltfragen, www.umweltrat.de, S. 366, zählt die Grundsätze des flächendeckenden Mindestschutzes, der

Vermeidung und Kompensation und der Verantwortlichkeit des Verursachers, und damit auch die Grundla-

- 16 -

griffsregelung des BNatSchG will Beeinträchtigungen der Funktionsfähigkeit des Natur-

haushalts und des Landschaftsbildes ausgleichen. Das damit mitgedachte Schutzgebot ist

als Verschlechterungsverbot zu verstehen. Es handelt sich

[1] um den Grundsatz des naturschutzrechtlichen Bestandsschutzes (status quo), al-

so die Zielsetzung, den Zustand von Natur und Landschaft zu bewahren,

[2] um die grundsätzliche Verpflichtung, den nicht zu vermeidenden Eingriff aus-

zugleichen (Grundsatz der Kompensation) und

[3] um das damit verbundene umweltrechtliche Verursacherprinzip.35

Der Verursacher von Umweltbelastungen hat grundsätzlich die sachliche und finanzielle

Verantwortung für den Naturschutz zu tragen.36

Die vorgenannten Strukturen sind den Na-

turschutz konstituierende Ordnungsprinzipien.37

Sie sind auch in dem Sinne „allgemein“,

als jede naturschutzrechtliche Eingriffsregelung – welche diesen Namen verdient – sich

mit ihnen befassen muss.38

Ersatzzahlungen sind damit nachrangig. Der Gesetzgeber des

BNatSchG hat es beim Primat der Naturalrestitution belassen.39

(3) Greift der Verursacher in den Bestand ein und ist dies unter näheren Voraussetzungen

zulässig, muss er für den Ausgleich sorgen, um den status quo aufrechterhalten zu kön-

nen.40

Das meint grundsätzlich die Realkompensation.41

Der Bundesgesetzgeber hat die

ehemalige Strenge der Realkompensation allerdings zunehmend aufgelockert. Die Sicht-

weise noch des § 8 Abs. 3 BNatSchG 1976 war die des effektiven Ausgleichs, nicht die des

Ersatzes.42

Ein solcher Ausgleich musste zwar nicht notwendig genau an der Stelle des

Eingriffs, wohl aber lokal unter Wahrung des funktionellen Zusammenhanges zwischen

Eingriff und Ausgleich erfolgen, um auch insoweit die erforderliche Abgrenzung zur Er-

satzmaßnahme zu wahren.43

Das BNatSchG 2002 lockerte die Anforderungen an die ver-

gen der Eingriffsregelung, vgl. zu den allgemeinen Grundsätzen; auch nach Martin Gellermann, Naturschutz-

recht nach der Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes, in: NVwZ 2010, 73-79 [74] gibt § 13 BNatSchG den

verfassungsrechtlichen Gehalt des Art. 72 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 „noch“ zutreffend wieder. 35

Vgl. Reinhard Hendler/Sven Brockhoff, Die Eingriffsregelung des neuen Bundesnaturschutzgesetzes, in:

NVwZ 2010, 733-738 [738]; Alfred Scheidler, Die naturschutzrechtliche Eingriffsregelung im BNatSchG

2010, in: UPR 2010, 134-141 [135]; so auch Ulrich Ramsauer, Allgemeines Umweltverwaltungsrecht, in:

Hans-Joachim Koch, Umweltrecht, 3. Aufl. 2010, § 3 Rn. 23. 36

Klaus Meßerschmidt, Europäisches Umweltrecht, 2011, S. 307 f. zu §§ 13 ff. BNatSchG. 37

Wie hier Erich Gassner, Zur Verfassungswidrigkeit naturschutzrechtlicher Ersatzzahlungen, in: DVBl

2011, 1268-1274 [1269]. 38

Vgl. auch Dietrich Murswiek, in: Sachs, GG, 5. Aufl. 2009, Art. 20a Rn. 44; auch Sabine Schlacke, Ein-

leitung, in: dies. (Hrsg.), GK-BNatSchG, 2012, Rn. 48. 39

Martin Gellermann, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht, Bd. IV, 2010, § 15 BNatSchG Rn. 2. 40

Vgl. Peter Fischer-Hüftle, Zur Zweckbindung der Ersatzzahlung im Fall ihrer Gleichstellung mit der Re-

alkompensation, in: NuR 2011, 461-464; Wolfgang Durner, Kompensation für Eingriffe in Natur und Land-

schaft nach deutschem und europäischem Recht, in: NuR 2001, 601-610. 41

Vgl. Peter Fischer-Hüftle, Zur Zweckbindung der Ersatzzahlung im Fall ihrer Gleichstellung mit der Re-

alkompensation, in: NuR 2011, 461-464; Wolfgang Durner, Kompensation für Eingriffe in Natur und Land-

schaft nach deutschem und europäischem Recht, in: NuR 2001, 601-610. 42

So deutlich auch BVerwG, Urteil vom 27.10.2000 - 4 A 18.99 - BVerwGE 112, 140 Rn. 61 ff. = DVBl

2001, 386 = NVwZ 2001, 673. Vgl. auch Hans-Joachim Koch, Die naturschutzrechtliche Eingriffsregelung,

in: Jochen Kerkmann (Hrsg.), Naturschutzrecht in der Praxis, 2010, § 4 Rn. 6 ff. 43

BVerwG, Urteil vom 27.9.1990 - 4 C 44.87 - BVerwGE 85, 348 Rn. 36 = DVBl 1991, 209 = NVwZ

1991, 364; vgl. zu alledem seinerzeit Rüdiger Breuer, Die Bedeutung des § 8 BNatSchG für Planfeststellun-

gen und qualifizierte Genehmigungen nach anderen, in: NuR 1980, 89-101 [94 f.]; Erich Gassner, Eingriffe

in Natur und Landschaft – ihre Regelung und ihr Ausgleich nach § 8 BNatSchG, in: NuR 1984, 81-86 (84);

Erich Gassner, Zur Verwirklichung des Integritätsinteresses in der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung,

- 17 -

langte Kompensation weiter. Der Ausgleich einer Naturalkompensation wurde einem Er-

satz gleichgestellt (vgl. § 19 Abs. 3 BNatSchG 2002). Immerhin blieb es bei dem Grund-

satz der Realkompensation in der „Eingriffsnähe“. Das NAGBNatSchG 2010 geht noch ei-

nen Schritt weiter. Ersetzt bzw. „ausgeglichen“ ist eine Beeinträchtigung auch, wenn und

sobald die beeinträchtigten Funktionen des Naturhaushalts „in dem betroffenen Natur-

raum“ in gleichwertiger Weise hergestellt sind und das Landschaftsbild landschaftsgerecht

neu gestaltet ist (vgl. § 15 Abs. 2 Satz 3 BNatSchG 2009).

Die Gesamtentwicklung zeigt also, dass das naturschutzrechtliche Kompensationsmodell

mit der Eingriffslage einerseits und einer sich hierauf beziehenden Kompensation anderer-

seits seit jeher, also über einen Zeitraum von nunmehr etwa 35 Jahren, strukturell verbun-

den ist. Der historischen Auslegung kommt hier für Kompetenznormen insofern besondere

Bedeutung zu, als neben der Entstehungsgeschichte des jeweiligen Kompetenztitels inner-

halb des Grundgesetzes auch auf die historische Entwicklung der Materie zurückzugreifen

ist.44

Das rechtfertigt es, die Forderung nach naturschutzrechtlicher Kompensation als ei-

nen „allgemeinen“ Grundsatz des Naturschutzes anzuerkennen.45

Diese steht mithin dem

Landesgesetzgeber nicht zur Disposition. Das ist im Grundsatz unumstritten.

(4) Offen bleibt die weitere Frage, ob und ggf. in welcher Hinsicht auch die in § 15 Abs. 6

Satz 1 BNatSchG 2009 statuierte Ersatzzahlung einen strukturellen Kern besitzt, dem der

Charakter eines (allgemeinen) Grundsatzes des Naturschutzes zugewiesen werden kann.

Hans-Joachim Koch (2012) bejaht dies im Hinblick auf § 13 BNatSchG.46

Das bedarf in-

des genauerer Prüfung. Der Bundesgesetzgeber will mit § 15 Abs. 6 Satz 1 BNatSchG

2009 die weiterführende Frage beantworten, ob und was ggf. zu geschehen habe, wenn ein

Eingriff zugelassen oder durchgeführt wird und die Beeinträchtigungen nicht in angemes-

sener Frist auszugleichen oder zu ersetzen sind und/oder eine Realkompensation im Sinne

eines bilanzierenden status quo nicht möglich ist. Das vorerörterte naturschutzrechtliche

Kompensationsmodell würde darauf eigentlich nur zwei unterschiedliche Antworten eröff-

nen: Entweder ist der Eingriff wegen fehlender Kompensationsmöglichkeit nicht zuzulas-

sen oder der gleichwohl zugelassene Eingriff bleibt in diesem Sinne sanktionslos.

Der Bundesgesetzgeber weicht dieser Alternative aus und wählt in § 15 Abs. 6 BNatSchG

2009 mit dem Modell der finanziellen Ausgleichsleistung einen „dritten Weg“. In § 15

Abs. 6 Satz 2 und 3 BNatSchG 2009 gibt er dazu differenziert an, wie die Höhe des Er-

satzgeldes zu bestimmen ist. Danach bemisst sich die Ersatzzahlung nach den durchschnitt-

lichen Kosten der nicht durchführbaren Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen einschließlich

der erforderlichen durchschnittlichen Kosten für deren Planung und Unterhaltung sowie

die Flächenbereitstellung unter Einbeziehung der Personal- und sonstigen Verwaltungskos-

ten. Ist auch dieses nicht feststellbar, bemisst sich die Ersatzzahlung nach Dauer und

Schwere des Eingriffs unter Berücksichtigung der dem Verursacher daraus erwachsenden

in: NuR 1988, 67-71 [68 f.]; Michael Ronellenfitsch, Eingriffe in Natur und Landschaft bei der wasserwirt-

schaftlichen Planfeststellung , in: VerwArch 77, 177-192 (1986); Eberhard Sander, Rechtsfragen im Verhält-

nis von Wasserrecht und Naturschutzrecht, in: NuR 1986, 317-324 [321]. 44

Christoph Degenhart, Regelungsmöglichkeiten des Bundes zur Gleichstellung von Ersatzgeld und Natu-

ralkompensation im Rahmen der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung – verfassungsrechtliche Rahmen-

bedingungen, Expertise Januar 2011, S. 17. 45

Vgl. zur Bestimmung des Inhalts von Kompetenznorm maßgeblich nach der Tradition der jeweiligen ein-

fachgesetzlichen Materie BVerfG, Beschluss vom 10.3.1976 - 1 BvR 355/67 - BVerfGE 42, 20 [29];

BVerfG, Urteil vom 19.10.1982 - 2 BvF 1/81 - BVerfGE 61, 149 [175] = DVBl 1982, 1135 = NJW 1983, 25;

BVerfG, Beschluss vom 9.10.1984 - 2 BvL 10/82 - BVerfGE 67, 299 [314ff., 319ff.] = DVBl 1985, 49 =

NJW 1985, 371; BVerfG, Beschluss vom 8.4.1987 - 2 BvR 909/82 - BVerfGE 75, 108 [146] = DVBl 1987,

941 = NJW 1987, 3115; BVerfG, Urteil vom 10.2.2004 - 2 BvR 834/02 - BVerfGE 109, 190 [218 f.] = DVBl

2004, 501; Christoph Degenhart, in: Michael Sachs, GG, 5. Aufl. 2009, Art. 70 Rn. 73 f. 46

Hans-Joachim Koch, in: Sabine Schlacke (Hrsg.), GK-BNatSchG, 2012, § 15 Rn. 41.

- 18 -

Vorteile. Betrachtet man beide zitierten Sätze in ihrer Gesamtheit, so darf man feststellen,

dass ein Zusammenhang mit dem naturschutzrechtlichen Kompensationsmodell nur mittel-

bar besteht. Eine irgendwie gegebene Realkompensation – nämlich eine Veränderung des

Naturzustandes oder des Landschaftsbildes an anderer Stelle oder gar eine Sicherung der

Funktionalität des bisherigen Zustandes – gibt es nicht. Insoweit ist der Grundsatz der rea-

len Kompensation aufgegeben. Im Ordnungssystem der Eingriffsregelung fehlt hier die in-

tegrale Naturalkompensation.

Das vom Bundesgesetzgeber statuierte Modell der Ersatzzahlung weist bei systemischer

Betrachtung Elemente einer Abschöpfungs- und Kompensationsabgabe auf.47

Sie bedarf

dazu einer rechtfertigenden Grundlage. Diese dürfte eine doppelte sein. Ein solcher sachli-

cher, die Abgabenerhebung verfassungsrechtlich im Grundsatz rechtfertigender Belas-

tungsgrund liegt zum einen im Ausgleich des wirtschaftlichen Wertes eines – einer Erlaub-

nis bedürftigen – Zugriffs auf eine natürliche Ressource als eines Gutes der Allgemeinheit,

also in einer zumindest teilweisen Abschöpfung des Sondervorteils des Ressourcenzu-

griffs, zum anderen im Grundsatz der Gleichbehandlung.48

Das heißt: Zum einen wird der-

jenige Vorhabenträger, der von einer Realkompensation freigestellt ist, dadurch begünstigt,

dass er keine Aufwendungen für die anderenfalls gebotene Realkompensation erbringen

muss. Diese „Besserstellung“ soll vermieden werden.49

Das begründet zum anderen ge-

genüber „Mitbewerbern“ einen denkbaren Wettbewerbsvorteil. Der Bundesgesetzgeber hat

beide Gesichtspunkte miteinander verbunden. In § 15 Abs. 6 Satz 2 BNatSchG 2009 be-

stimmt er, dass die Höhe der Ersatzzahlung sich nach den durchschnittlichen Kosten der

nicht durchführbaren Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen auszurichten habe. Der Gesetz-

geber nimmt damit in dieser Variante unterstellend an, dass man durchschnittliche Kosten

errechnen kann. Der Zusammenhang mit der konkret-situativen Eingriffslage bleibt nicht

nur unklar; er wird vielmehr in concreto aufgelöst. Ebenso unbestimmt bleibt, in welchem

Verfahren mit welcher Maßgeblichkeit der Durchschnittswert zu bestimmen ist. Ist auch

die Berechnung nach § 15 Abs. 6 Satz 2 BNatSchG 2009 nicht möglich, sollen gemäß § 15

Abs. 6 Satz 3 BNatSchG 2009 bundesrechtlich andere Kriterien, indes hypothetisch, maß-

gebend sein, um die Höhe des Ersatzgeldes festzulegen, nämlich „Dauer und Schwere des

Eingriffs unter Berücksichtigung der dem Verursacher daraus erwachsenden Vorteile“.

Damit wird in gewisser Weise ein Zusammenhang mit der naturschutzrechtlichen Kom-

pensation hergestellt, aber nur begrenzt. Im Kompensationsmodell ist die Frage eines Vor-

teils – in Bezug worauf eigentlich? – geradezu systemfremd. Die zu erwartende Höhe der

Kosten einer Realkompensation könnte durchaus repressiv wirken, den Eingriff an diesem

Standort zu unterlassen. Sein Bewertungsverfahren hat der Bundesgesetzgeber einigen be-

reits vorhandenen landesrechtlichen Regelungen entnommen.50

47

Vgl. BVerwG, Urteil vom 4.7.1986 - 4 C 50.83 - BVerwGE 74, 308 = DVBl 1986, 1009 = NVwZ 1986,

832 zur naturschutzrechtlichen Ausgleichsabgabe nach § 8 Abs. 9 BNatSchG 1976 in Verb. mit § 11

NatSchG BW 1975/1985; BVerwG, Urteil vom 20.1.1989 - 4 C 15.87 - BVerwGE 81, 220 = DVBl 1989,

658 = NVwZ 1989, 867 zur naturschutzrechtliche Ausgleichsabgabe nach § 11 NatSchG BW 1975/1985;

ähnlich auch BVerfG [K], Beschluss vom 5.3.2009 – 2 BvR 1824/05 - BVerfGK 15, 168 Rd. 19 ff., 26 =

NVwZ 2009, 837 zur Stellplatzablösung. 48

Vgl. auch Hans-Joachim Koch, Umweltabgaben in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts,

in: Lerke Osterloh u.a. (Hrsg.), Staat, Wirtschaft, Finanzverfassung. Festschrift für Peter Selmer, Berlin

2004, S. 769-789. 49

BVerwG, Urteil vom 20.1.1989 - 4 C 15.87 - BVerwGE 81, 220 [225 f.] = DVBl 1989, 658 = NVwZ

1989, 867; so auch Peter Fischer-Hüftle, in: ders./Jochen Schumacher (Hrsg.), BNatSchG, 2. Aufl. 2011, §

15 Rn. 136. 50

Nachweise bei Hans-Joachim Koch, in: Sabine Schlacke (Hrsg.), GK-BNatSchG, 2012, § 15 Rn. 44 mit

Fußn. 56.

- 19 -

(5) Die vom Gesetzgeber annoncierte Absicht, entstandene Vorteile angemessen „abzu-

schöpfen“, löst sich vollkommen von einer Kompensationsvorstellung und ist im Kern ein

Betrag für eine sanktionslose Ressourcennutzung. Daher ist es gut vertretbar, die Ersatz-

zahlung verfassungsrechtlich als Sonderabgabe zu beurteilen, und zwar in der Variante ei-

ner Verursacherabgabe.51

Die naturschutzrechtliche Ausgleichsabgabe ist daher hinsicht-

lich ihres Belastungsgrundes vorrangig unter den Abgabentypus der Ressourcennutzungs-

gebühren52

oder Vorteilsabschöpfungsabgaben53

zu fassen. Dafür spricht auch, dass sie im

Kern keine unmittelbaren Lenkungszwecke verfolgt. Das BVerwG hat 1986 die Aus-

gleichsabgabe nach § 11 des Baden-Württembergischen Naturschutzgesetzes (1975/1985)

als eine verfassungsrechtlich zulässige Sonderabgabe angesehen.54

Bei der naturschutz-

rechtlichen Ausgleichsabgabe liege die gruppennützige Verwendung darin, dass das Abga-

beaufkommen insgesamt für Zwecke des Naturschutzes und der Landschaftspflege zu ver-

wenden ist und dass damit nicht ausgleichbare Eingriffe angesichts des Ziels, Natur und

Landschaft zu schützen, zu pflegen und zu entwickeln sowie Eingriffe zu vermeiden und

unvermeidbare auszugleichen oder dafür Ersatz zu schaffen zugunsten der Gruppe der

Eingreifenden eher hingenommen werden können. Das BVerwG hat 1989 an seiner Auf-

fassung festgehalten.55

Als Verursacherabgabe löst sich die Ersatzzahlung vom Grundsatz

der Realkompensation, verfolgt aber unverändert den Grundsatz der naturschutzrechtlichen

Verursacherhaftung. Die Höhe der Ersatzzahlung knüpft hieran an, ohne indes dazu ein

subsumtionsfähiges Berechnungsmodell angeben zu können. Der Hauptmaßstab (§ 15 Abs.

6 Satz 2 BNatSchG 2009) verweist auf die durchschnittlichen Kosten der gerade nicht

durchgeführten Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen. Mit dem Hilfsmaßstab (§ 15 Abs. 6

Satz 3 BNatSchG 2009) wird eine Kombination von Eingriffsintensität und Vorteil nor-

miert. Natur und Landschaft ist ein Gut der Allgemeinheit. Wird Einzelnen die „Nutzung“

durch einen nicht ausgleichsfähigen Eingriff eröffnet, erhalten sie einen Sondervorteil ge-

genüber all denen, welche dieses Gut der Allgemeinheit nutzen, aber – obwohl Verursa-

cher des Eingriffs - nicht oder nicht in gleichem Umfang ausgleichspflichtig sind. Es ist

gewiss sachlich gerechtfertigt, diesen Vorteil ganz oder teilweise abzuschöpfen. Ähnlich

51

So auch Peter Fischer-Hüftle, in: ders./Jochen Schumacher (Hrsg.), BNatSchG, 2. Aufl. 2011, § 15 Rn.

136; Erich Gassner, Zur Verfassungswidrigkeit naturschutzrechtlicher Ersatzzahlungen, in: DVBl 2011,

1268-1274 (1271); Stefan Lütkes, in: ders./Wolfgang Ewer, BNatSchG, 2011, § 15 Rn. 76. Zur Verursacher-

abgabe vgl. Paul Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl. 2007, § 119 Rn. 99 ff.; Andreas Vosskuhle,

Das Kompensationsprinzip – Grundlagen einer prospektiven Ausgleichsordnung für die Folgen privater Frei-

heitsbetätigung, zur Flexibilisierung des Verwaltungsrechts am Beispiel des Umwelt, und Planungsrechts,

Tübingen 1999, S. 219 f.; ähnlich Michael Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, § 11 Rn. 107. 52

So in der Sache BVerfG, Beschluss vom 7.11.1995 - 2 BvR 413/88 - BVerfGE 93, 319 [345] = DVBl

1996, 357 = NVwZ 1996, 469 (Wasserpfennig); Christoph Degenhart, Staatsrecht I., 26. Aufl. 2010, Rn. 547. 53

BVerfG, Beschluss vom 7.11.1995 - 2 BvR 413/88 - BVerfGE 93, 319 [345] = DVBl 1996, 357 = NVwZ

1996, 469 zu Verfassungsmäßigkeit der Erhebung von Wasserentnahmeabgaben; Hans-Joachim Koch, Um-

weltabgaben in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Lerke Osterloh u.a. (Hrsg.), Staat,

Wirtschaft, Finanzverfassung. Festschrift für Peter Selmer, 2004, S. 769-789 [785]. 54

BVerwG, Urteil vom 4.7.1986 - 4 C 50.83 - BVerwGE 74, 308 Rn. 12 ff. = DVBl 1986, 1009 = NVwZ

1986, 832. Vgl. dazu Klaus Meßerschmidt, Sonderabgaben und Bundesverwaltungsgericht. Zur Rechtsnatur

des Ausgleichsbetrages zur Ablösung der Stellplatzpflicht nach der Hamburgischen Bauordnung sowie der

Ausgleichsabgabe nach dem Baden-Württembergischen Naturschutzgesetz, in: DVBl 1987, 925-933; Bernd

Wegmann, Naturschutzlasten und Transferverfassung, in: NuR 1988, 361-369. Vgl. ferner Wolfgang Köck,

Die Sonderabgabe als Instrument des Umweltschutzes, Düsseldorf 1991; Susanne Meyer, Gebühren für die

Nutzung von Umweltressourcen - unzulässiger Preis für Freiheitsausübung oder zulässiges Bewirtschaf-

tungsinstrument?, Berlin 1995; Dietrich Murswiek, Die Ressourcennutzungsgebühr - Zur rechtlichen Prob-

lematik des Umweltschutzes durch Abgaben?, in: NuR 1994, 170-176; bereits Felix Weyreuther, Das Abga-

benrecht als Mittel des Umweltschutzes, in: UPR 1988, 161-170; Klaus Meßerschmidt, Umweltabgaben als

Rechtsproblem, 1986; Reinhard Sparwasser/Rüdiger Engel/Andreas Voßkuhle, Umweltrecht. Grundzüge

des öffentlichen Umweltschutzrechts, Heidelberg, 5. Aufl. 2003, Rn. 134 f. mit Fußn. 270. 55

BVerwG, Urteil vom 20.1.1989 - 4 C 15.87 - BVerwGE 81, 220 = DVBl 1989, 658 = NVwZ 1989, 867.

- 20 -

hat das BVerfG für die Entnahme von Wasser entschieden.56

Andreas Voßkuhle initiiert

den Begriff der (pflichtablösenden) Kompensationsabgabe.57

Er wirft zugleich die Frage

auf, ob und welche finanziellen Vorteile des Pflichtadressaten eigentlich bestehen und ob

eine hinreichende Konnexität gegeben ist.58

Das BVerwG sieht die Ersatzzahlungen als systemgerechten Bestandteil des naturschutz-

rechtlichen Instrumentariums.59

Man wird indes zögern, aus der Möglichkeit, die natur-

schutzrechtliche Ausgleichszahlung verfassungsrechtlich rechtfertigen zu können, bereits

zu folgern, dass sie zum Kernbestand der Grundsätze des Naturschutzrechtes im Sinne des

Art. 72 Abs. 3 Nr. 2 GG gehört. Das gilt jedenfalls für den derzeitigen Stand der gesetzge-

berischen Entwicklung. Ausgeschlossen ist hingegen nicht, dass sich das Naturschutzrecht

entsprechend entwickelt. Das setzt eine dynamische, also „offene“ Begrifflichkeit der „all-

gemeinen Grundsätze des Naturschutzrechtes“ voraus. Die Frage kann hier unbeantwortet

bleiben. Denn der nsd. Landesgesetzgeber folgt dem bundeseinheitlichen Konsens, dass

eine finanzielle Ausgleichsleistung bei nicht kompensierbaren Eingriffen zulässig und ge-

boten ist.

2.3 Regelungen in § 6 Abs. 1 Satz 1 NAGBNatSchG 2010

(1) Das Gebot der Vermeidung von Umweltbeeinträchtigungen wie auch der Vorrang der

Naturalrestitution (Realkompensation) sind als „allgemeine Grundsätze“ einer abweichen-

den Gesetzgebung der Länder nicht zugänglich. Der nds. Landesgesetzgeber hat dies in § 6

Abs. 1 NAGBNatSchG 2010 mittelbar beachtet. Er lässt den bundesrechtlichen Rege-

lungsbereich des § 15 Abs. 1 bis 5 BNatSchG 2009 unberührt. Insoweit weicht er von der

bundesrechtlichen Regelung nicht ab. Der nds. Landesgesetzgeber hat demgemäß bislang

auch keine Gleichstellung von Naturalrestitution und Ersatzgeld angeordnet. Auch inso-

weit weicht er von der bundesrechtlichen Regelung nicht ab. Ob das Landesgesetz insoweit

eine Änderung vornehmen und damit den Begriff der „allgemeinen Grundsätze“ des Na-

turschutzes relativieren könnte, ist eine offene, hier nicht näher zu behandelnde Frage.60

(2) Der niedersächsische Landesgesetzgeber inhibiert derzeit auch nicht eine naturschutz-

rechtliche Ersatzgeldzahlung im Sinne einer (umfassenden) Abwahl des bundesgesetzli-

chen Lösungsmusters. Vielmehr substituiert er das bundesgesetzliche Regelungsmodell nur

im Detail durch ein anderes. Kern dieses landesgesetzlichen Modells ist § 6 Abs. 1 Satz 1

NAGBNatSchG 2010. Der nds. Landesgesetzgeber bestimmt in § 6 Abs. 1 Satz 1 NAGB-

NatSchG 2010 gegenüber dem bundesgesetzlichen System – dieses zusammengesetzt aus §

15 Abs. 6 BNatSchG 2009 und § 15 Abs. 7 BNatSchG 2009 – eine autonome Regelung. Er

56

BVerfG, Beschluss vom 7.11.1995 - 2 BvR 413/88 - BVerfGE 93, 319 [345] = DVBl 1996, 357 = NVwZ

1996, 469 (Wasserpfennig). 57

Andreas Voßkuhle, Das Kompensationsprinzip: Grundlagen einer prospektiven Ausgleichsordnung für

die Folgen privater Freiheitsbetätigung – zur Flexibilisierung des Verwaltungsrechts am Beispiel des Um-

welt- und Planungsrechts, Tübingen 1999, S. 220 ff. 58

Andreas Voßkuhle, Das Kompensationsprinzip: : Grundlagen einer prospektiven Ausgleichsordnung für

die Folgen privater Freiheitsbetätigung – zur Flexibilisierung des Verwaltungsrechts am Beispiel des Um-

welt- und Planungsrechts, Tübingen 1999, S. 230 f. 59

Vgl. BVerwG, Urteil vom 4.7.1986 - 4 C 50.83 - BVerwGE 74, 308 [309] = DVBl 1986, 1009 = NVwZ

1986, 832; BVerwG, Urteil vom 20.1.1989 - 4 C 15.87 - BVerwGE 81, 220 [225] = DVBl 1989, 658 =

NVwZ 1989, 867. 60

Vgl. dazu Christoph Degenhart, Regelungsmöglichkeiten des Bundes zur Gleichstellung von Ersatzgeld

und Naturalkompensation im Rahmen der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung – verfassungsrechtliche

Rahmenbedingungen, Expertise Januar 2011, ferner vgl. auch Helmuth Schulze-Fielitz, Umweltschutz im

Föderalismus – Europa, Bund und Länder, in: NVwZ 2007, 250-260 [256].

- 21 -

legt ein anderes Berechnungsmodell zugrunde. Dieses sieht der nds. Landesgesetzgeber als

eine eigene Vollregelung für ausreichend an, um den Grundgedanken der bundesgesetzli-

chen Vorgabe einer naturschutzrechtlichen Ersatzgeldzahlung in Niedersachsen landes-

rechtlich umsetzen zu können. Darin mag er inhaltlich irren. Das ist noch gesondert abzu-

klären. Indes ist es nicht zulässig, die Frage der inhaltlichen Fehlerhaftigkeit der landesge-

setzlichen Lösung mit der an dieser Stelle behandelten Kompetenzfrage vermengen. Für

die Geschlossenheit der eigenen landesgesetzlichen Regelung der Abweichung ist es

durchaus folgerichtig, den verordnungsrechtlichen Regelungsbereich des § 15 Abs. 7 Satz

1 BNatSchG 2009 alsdann auszuschließen. Auch damit hat der niedersächsische Landesge-

setzgeber den bundesrechtlichen Rahmen des § 15 Abs. 6 und 7 BNatSchG 2009 noch

nicht verlassen.61

(3) Der nds. Landesgesetzgeber „verzichtet“ gegenüber der bundesrechtlichen Vorgabe

des § 15 Abs. 6 Satz 3 BNatSchG 2009 auf die „Berücksichtigung der dem Verursacher

daraus erwachsenden Vorteile“. Wenn der Bundesgesetzgeber selbst nur eine Pflicht zur

Berücksichtigung ausspricht, wird man dieses Berechnungselement schwerlich als Struktu-

relement im Sinne des Art. 72 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 GG ansehen können. Der Bundesgesetzge-

ber hat selbst in § 15 Abs. 7 Satz 1 Nr. 2 BNatSchG 2009 vorgesehen, dass durch Rechts-

verordnung „die Höhe der Ersatzzahlung“ geregelt werden kann. Er ist außerdem in § 15

Abs. 7 Satz 2 BNatSchG 2009 damit einverstanden, dass Landesrecht subsidiär eingreift.

Dann nimmt er hin, dass das Landesrecht auch eigenständige Regelungen zur Höhe der Er-

satzzahlung schafft.

Dieses bundesgesetzliche Regelungskonzept schließt es insgesamt aus, in der landesrecht-

liche Begrenzung der Ersatzzahlung bereits a priori ein verfassungswidriges Abweichen

von bundesgesetzlichen Vorgaben zu sehen. Denn ein ausformuliertes Berechnungsmodell

ist offensichtlich kein Bestandteil der (allgemeinen) Grundsätze des Naturschutzes. Die

statuierte „Deckelung“ würde dann – und nur dann – Grundzüge des Naturschutzes berüh-

ren, wenn sie angesichts ihrer geringen Höhe „strategisch“ zur Umgehung einer Naturalre-

stitution einladen würde. Davon kann indes keine Rede sein.

IV. § 6 Abs. 2 NAGBNatSchG 2010 als Gegenstand einer „Abweichung“?

(1) Die bloße Festlegung, dass das betreffende Bundesgesetz im Land keine Geltung ha-

ben soll, kann die Anforderungen an eine "Regelung" im Sinne einer Rechtsgestaltung er-

füllen, wie sie Art. 72 Abs. 3 Satz 1 GG voraussetzt. Einzelheiten sind allerdings umstrit-

ten.62

Problematisch ist vor allem die Abgrenzung zur bereits erörterten Negativgesetzge-

61

Vgl. zu diesem Hilfskriterium u.a. OVG Greifswald, Urteil vom 21.10.2009 - 4 K 11/09 - AUR 2010, 95

Rn. 29; ferner Christian Seiler, in: Volker Epping/Christian Hillgruber, GG, 2009, Art. 125b Rn. 2.1. 62

Vgl. großzügig Volker Haug, Die Abweichungsgesetzgebung - ein Kuckucksei der Föderalismusreform?,

in: DÖV 2008, 851-857 [854]; ebenso – bezogen auf Ersetzung – Arnd Uhle, Verfassungsnorm im Aufwind:

Art. 125 a GG. Zugleich eine Anmerkung zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Juni 2004 (1

BvR 636/02, BVerfGE 111, 10), in: DÖV 2006, 370-379 [373 f.]; Ulrich Häde, Zur Föderalismusreform in

Deutschland, in: JZ 2006, 930-940 [933]; deutlich enger die wohl h. M., vgl. Christoph Degenhart, Die Neu-

ordnung der Gesetzgebungskompetenzen durch die Föderalismusreform, in: NVwZ 2006, 1209-1216 [1213];

Wolfgang Köck/Rainer Wolf, Grenzen der Abweichungsgesetzgebung im Naturschutz. Sind Eingriffsrege-

lung und Landschaftsplanung allgemeine Grundsätze des Naturschutzes?, in: NVwZ 2008, 353-360 [356];

Claudio Franzius, Die Abweichungsgesetzgebung, in: NVwZ 2008, 492-499 [494, 495], spricht in diesem

Zusammenhang von einer "Konkretisierungs- oder Änderungsgesetzgebung". Vgl. kritisch insgesamt Lars

Mammen, Der neue Typus der konkurrierenden Gesetzgebung mit Abweichungsrecht, in: DÖV 2007, 376-

380.

- 22 -

bung. Zu prüfen ist also, ob § 6 Abs. 2 NAGBNatSchG 2010 als eine „abweichende“ Re-

gelung im Sinne des Art. 72 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GG oder als ein Fall einer unzulässigen

Negativgesetzgebung aufzufassen ist.

(2) § 6 Abs. 2 NAGBNatSchG 2010 schließt die Anwendung des § 15 Abs. 7 Satz 1

BNatSchG 2009 vollständig aus. Damit ist es ausgeschlossen, dass der Bund über die in §

15 Abs. 7 Satz 1 BNatSchG 2009 enthaltene Ermächtigungsgrundlage durch den Erlass ei-

ner Bundesverordnung in Niedersachsen hinein regiert. Das betrifft nicht nur die hier be-

handelte Frage der naturschutzrechtlichen Ersatzgeldzahlung. Diese Regelungsweise könn-

te als eine Negativgesetzgebung verstanden werden und damit die erörterte verfassungs-

rechtliche Problemstellung aufrufen. Indes wäre diese Sichtweise nur eine äußerliche. Ob

der niedersächsische Landesgesetzgeber eine Abweichung oder ein umfassende und daher

unzulässige „Abwahl“ vorgenommen hat, ist jedoch nicht isoliert anhand der für unan-

wendbar erklärten Bundesnorm zu beurteilen. Maßgebendes Kriterium ist das innere Sys-

tem sowohl der Bundes- als auch der Landesebene.

(3) Welchen Sinn der Gesetzgeber § 6 Abs. 2 NAGBNatSchG 2010 zugewiesen hat und

ob ihm eine derartige Regelung verfassungsrechtlich – aus der Sicht des Bundesrechts –

überhaupt möglich war, soll im Zusammenhang mit der Entstehungsgeschichte dieser Vor-

schrift erörtert werden. Bemerkenswert ist es, dass bereits der Bundesrat im Novellie-

rungsverfahren 2009 vorgeschlagen hatte, die von der Bundesregierung vorgesehene Er-

mächtigungsgrundlage des § 15 Abs. 7 BNatSchG zu streichen.63

Dem hatte die Bundesre-

gierung in ihrer Gegenäußerung nachdrücklich widersprochen. Nach ihrer Ansicht sollten

mit der an die Zustimmung des Bundesrates gebundenen Rechtsverordnung zur Regelung

des Näheren zur Kompensation von Eingriffen notwendige bundeseinheitliche Standards

gesetzt werden. Dies diente u. a. der Erleichterung der Planung und Durchführung öffentli-

cher und privater Vorhaben. Etwaige darüber hinausgehende länderspezifische Regelungen

sollten damit nicht von vornherein ausgeschlossen werden.

D. Auslegung und Anwendungsfähigkeit des § 6 Abs. 1 Satz 1 NAGB-

NatSchG 2010

In welcher Höhe ein Vorhabenträger zu einer naturschutzrechtlichen Ersatzgeldzahlung in

Niedersachsen verpflichtet sein kann, lässt sich anhand des Gesetzestextes offenkundig

nicht ohne weiteres ermitteln. Es entspricht herkömmlicher Auslegung, eine Präzisierung

durch Rückgriff auf die Entstehungsgeschichte einer Rechtsvorschrift zu erreichen. Das

soll auch hier geschehen. Gleichsam als gegenläufiger Test wird die bisherige Spruchpra-

xis der niedersächsischen Verwaltungsgerichte analysiert. Gefragt wird insoweit, wie sich

diese Spruchpraxis gegenüber der offenkundigen semantischen Unschärfe des § 6 Abs. 1

NAGBNatSchG 2010 verhält. Aus dem Befund lassen sich Erkenntnisse dazu ableiten, ob

die zu untersuchende Rechtsvorschrift verfassungsrechtlichen Anforderungen der Be-

stimmtheit zu genügen konzeptionell und interpretatorisch in der Lage ist.

63

Vgl. Stellungnahme des Bundesrates vom 15.5.2009 (vgl. BTags-Drucks. 16/13298) zur BTags-Drucks.

16/12785, BRats-Drucks. 8/09. Danach sollten Ausgleich und Ersatz als Formen der Realkompensation al-

ternativ nebeneinander gestellt werden (S. 3), mit derselben Zielsetzung der nds. Entschließungsantrag der

Fraktionen CDU und FDP vom 14.2.2010 (LTags-Drucks. 16/2412), dazu Beschlussempfehlung des LTags-

Ausschusses für Umwelt und Klimaschutz vom 21.2.2011 (LTags-Drucks. 16/3360), dazu Beschluss des

Landtages vom 15.3.2011 (LTags-Drucks. 16/3465).

- 23 -

I. Entstehungsgeschichte der Neuregelung in § 6 NAGBNatSchG 2010

(1) § 6 Abs. 1 NAGBNatSchG 2010 löst die frühere Regelung des § 12b NNatG2004 ab.

Bereits diese hatte für den Fall der fehlenden Feststellbarkeit der tatsächlichen Kosten be-

stimmt, dass sich die Ersatzzahlung allein nach Dauer und Schwere des Eingriffs bestimme

und höchstens sieben vom Hundert der Kosten für die Planung und Ausführung des Vor-

habens einschließlich der Beschaffungskosten für Grundstücke betragen dürfe. Auf die

Entstehungsgeschichte des § 12b NNatG 2004 wird noch gesondert einzugehen sein. Die

Fraktionen der CDU und der FDP brachten am 23. November 2009 den Entwurf eines § 6

NAGBNatSchG ein (LTags-Drucks. 16/1902). Die Vorschrift hatte folgenden Inhalt:

§ 6

Verursacherpflichten; Ermächtigung zum Erlass von Rechtsverordnungen

(1) Sind die Kosten nach von § 15 Abs. 6 Satz 2 BNatSchG nicht feststellbar, so bemisst sich die Er-

satzzahlung abweichend von § 15 Abs. 6 Satz 3 BNatSchG allein nach Dauer und Schwere des Ein-

griffs und beträgt höchstens sieben vom Hundert der Kosten für die Planung und Ausführung des

Vorhabens einschließlich der Beschaffungskosten für Grundstücke. Für Maßnahmen im Sinne von §

15 Abs. 6 Satz 7 BNatSchG gilt § 15 Abs. 2 Satz 4 BNatSchG entsprechend.

(2) Die oberste Naturschutzbehörde wird ermächtigt, durch Verordnung das Nähere zur Kompensati-

on von Eingriffen abweichend von einer Rechtsverordnung nach § 15 Abs. 7 Satz 1 BNatSchG zu re-

geln.

Die Regelung ist weitgehend wortlautidentisch mit § 12a (Kompensationszahlung) des sei-

nerzeitigen Gesetzesentwurfes der Fraktionen CDU und FDP zu einem „Gesetz zur Ände-

rung des Niedersächsischen Naturschutzgesetzes“ vom 3.9.2003 (LTags-Drucks. 15/395).

In der Begründung des Entwurfs heißt es:

Als Maßstab für deren Höhe dient die Dauer und Schwere des Eingriffs. Da diese Merkmale im

Einzelfall nicht immer ohne weiteres festgestellt und in einen Geldbetrag umgewandelt werden

können, ist als Obergrenze ein Wert von 7 % der Investitionssumme festgelegt. Dies entspricht ei-

nem ungefähren Erfahrungswert der Kosten von Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen. Durch Her-

ausnahme von Beschaffungskosten für Grundstücke soll verhindert werden, dass die Kompensati-

onszahlung je nach Zeitpunkt des Grundstückserwerbs höher oder geringer ausfällt. Zudem wer-

den die Beeinträchtigungen von Natur und Landschaft nicht durch das Grundstück selbst, sondern

durch das auf dem Grundstück zu verwirklichende Vorhaben bewirkt. Insofern ist es auch ange-

messen, die Kosten für das Grundstück nicht zu berücksichtigen.64

In der späteren Entwurfsbegründung der Fraktionen CDU und FDP vom 23. November

2009 zu § 6 NAGBNatSchG-E heißt es in Anknüpfung an die frühere Regelung des § 12b

NNatG 2004:

„Absatz 1

Die abweichende Vorschrift von Satz 1 entspricht, vom Wegfall der Anwendungsbeschränkung

auf den Fall der objektiven Unmöglichkeit abgesehen, § 12 b Abs. 1 Satz 3 NNatG g. F. Die Ober-

grenze von 7 vom Hundert hat sich bewährt (s. Unterrichtung des Niedersächsischen Landtags

vom 8.7.2009, LT-Drs. 16/1416). Die Vorschrift gilt damit in Fällen, in denen der Verursacher die

Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen nicht vornehmen kann, z. B. weil zu ihrer Durchführung

Grundstücke benötigt werden, die er sich nicht oder nur mit unverhältnismäßigen Aufwendungen

verschaffen kann (subjektive Unmöglichkeit) und in Fällen, in denen es keine denkbare Maßnah-

64

LTags-Drucks. 15/395 S. 4 zu § 12a Abs. 2 NNatG 2003-E (Gesetzesentwurf der Fraktionen von CDU

und FPD vom 3.9.2003).

- 24 -

me gibt, mit der der Eingriff kompensiert werden kann (objektive Unmöglichkeit). Diese Fall-

gruppe kommt u. a. in bestimmten Fällen beim Schutzgut „Landschaftsbild“ zum tragen, nämlich

bei Errichtung und Betrieb von Windenergieanlagen ab 50 m Nabenhöhe oder im Küstengewässer,

von Sendemasten ab 50 m Gesamthöhe, von Hoch- und Höchstspannungsleitungen sowie von bau-

lichen Anlagen und Brückenbauwerken jedenfalls hinsichtlich der über 30 m Höhe hinausgehen-

den Teile (s. Unterrichtung des Niedersächsischen Landtags vom 8.7.2009, LT-Drs. 16/1416).

Durch die nähere landesrechtliche Vorschrift im Sinne von § 15 Abs. 7 Satz 2 BNatSchG wird mit

Satz 2 klargestellt, dass entsprechend der Anwendungspraxis zu der Vorschrift des § 12b Abs. 3

Satz 2 NNatG g. F., die nahezu wortgleich § 15 Abs. 6 Satz 7 BNatSchG entspricht, auch künftig

verfahren werden kann.

Absatz 2

Eine nähere Regelung zur Kompensation von Eingriffen ist nicht erforderlich. Um das Abwei-

chungsrecht des Landes des Art. 72 Abs. 3 Satz 2 GG wahrnehmen zu können, bedarf es der vor-

gesehenen Verordnungsermächtigung.

§ 6 NAGBNatSchG in der Entwurfsfassung versteht sich als Abweichungsregelung im

Sinne des Art. 72 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 GG. Die bundesrechtliche Ermächtigung zum Erlass

von Rechtsverordnungen nach § 15 Abs. 7 Satz 1 BNatSchG 2009 wird im Gesetzentwurf

der Regierungskoalition nicht ausgeschlossen. Eine substantielle Änderung gegenüber der

Regelung des § 12b Abs. 1 Satz 3 NNatG 2004 ist nicht beabsichtigt. Im Gegenteil. Der

Entwurf hebt ausdrücklich durch Bezugnahme auf die Erklärung der Landesregierung vom

8. Juli 2009 (LT-Drucks. 16/1416) hervor, dass sich diese Regelung „bewährt“ habe. Man

sieht mithin keinen Anlass, irgendetwas zu ändern. Auch im folgenden Gesetzgebungsver-

fahren verändert sich dieser Standpunkt nicht. Das Lösungskonzept des § 12b Abs. 1 Satz

3 NNatG 2004 soll in § 6 Abs. 1 NAGBNatSchG 2010 fortgeschrieben werden. Eine ande-

re Deutung ist in historischer Sicht ausgeschlossen.

(2) Der Ausschuss für Umwelt und Klimaschutz ändert dies in seiner Sitzung vom 8. Feb-

ruar 2010.65

Eine landesgesetzliche Ermächtigungsgrundlage zum Erlass von Rechtsver-

ordnungen zur näheren Regelung zur Kompensation solle es in Niedersachsen nicht geben.

Daher wird § 15 Abs. 7 Satz 1 BNatSchG 2009 durch den neugefassten § 6 Abs. 2 NAG-

65

Im ersten Durchgang am behandelte der Ausschuss am 1. Februar 2012 den Gesetzentwurf auf der

Grundlage der Vorlage 28 des Gesetzgebungs- und Beratungsdienstes (GBD) abschließend und empfahl den

mitberatenden Ausschüssen mehrheitlich, ihn in der Fassung der Vorlagen 27 und 28 einschließlich der noch

besprochenen Änderungen anzunehmen. Dem waren vorausgegangen Anhörungen, und zwar von folgenden

Organisationen: Arbeitsgemeinschaft der kommunalen Spitzenverbände Niedersachsens, Bundesverband Be-

ruflicher Naturschutz e. V., Bund deutscher Landschaftsarchitekten, Landvolk Niedersachsen, Landesbau-

ernverband e. V., Schutzgemeinschaft Deutscher Wald, Landesverband Niedersachsen, Naturschutzverband

Niedersachsen e. V., BUND Landesverband Niedersachsen, Naturschutzbund Deutschland e. V., Landesver-

band Bürgerinitiativen Umweltschutz Niedersachsen e. V., Unternehmerverbände Niedersachsen, Wirt-

schaftsverband Baustoffe-Naturstein e. V., Landesjägerschaft Niedersachsen, Zentralverband der Jagdgenos-

senschaften und Eigenjagden in Niedersachsen e. V., Deutscher Falkenorden, Bund für Falknerei, Greifvo-

gelschutz und Greifvogelkunde e. V., Landesverband Niedersachsen/Bremen, Heimatbund Niedersachsen e.

V., Prof. Dr. Christian Schrader, Hochschule Fulda. Der Ausschuss behandelte den Gesetzentwurf alsdann

am 8. Februar 2010 in einem zweiten Durchgang. Er empfahl dem Landtag mit den Stimmen der Fraktionen

der CDU und der FDP gegen die Stimmen der Fraktion der SPD, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und

der Fraktion DIE LINKE, den Gesetzentwurf in der Fassung der Vorlage 30 unter Berücksichtigung der an

diesem Tage abgehaltenen Sitzung besprochenen Änderungen sowie der von der Staatskanzlei angeregten re-

daktionellen Änderungen anzunehmen. Außerdem empfahl er dem Landtag mit den Stimmen der Fraktionen

der CDU und der FDP, gegen die Stimmen der Fraktion der SPD und der Fraktion DIE LINKE sowie bei

Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, die in die Gesetzesberatungen einbezogene Eingabe

1413 für erledigt zu erklären.

- 25 -

BNatSchG-E „suspendiert“. Dagegen verbleibt die in § 15 Abs. 7 Satz 2 BNatSchG 2009

vorgesehene landesrechtliche Subsidiarität. Dazu heißt es erläuternd im Schriftlichen Be-

richt des Ausschusses für Umwelt und Klimaschutz zum Entwurf eines Gesetzes zur Neu-

ordnung des Naturschutzrechts (LTags-Drucks. 16/2216):

„Das Regelungsziel des Absatzes 2 ist von den Regierungsfraktionen dahin gehend präzisiert wor-

den, dass eine mögliche Rechtsverordnung des Bundes in Niedersachsen von vornherein nicht zur

Anwendung kommen solle, da die Eingriffsregelung in Niedersachsen auch ohne weitere Rege-

lungen vollziehbar sei. Auch eine (zusätzliche) Verordnungsermächtigung für die oberste Natur-

schutzbehörde werde somit nicht benötigt. Der Ausschuss empfiehlt daher, die in § 15 Abs. 7 Satz

1 BNatSchG enthaltene Verordnungsermächtigung für Niedersachsen für nicht anwendbar zu er-

klären und insoweit vom Bundesrecht abzuweichen. Diese Empfehlung berücksichtigt, dass die

Frage, ob und wie die Länder von einer bundesrechtlichen Verordnung abweichen können, durch

die Föderalismusreform und die grundgesetzlichen Regelungen zum Abweichungsrecht der Län-

der nicht beantwortet worden ist. Eine rechtliche Argumentation, nach der den Ländern ein Ab-

weichungsrecht im Hinblick auf bundesrechtliche Verordnungen bzw. die entsprechenden Verord-

nungsermächtigungen überhaupt nicht zustünde, weil die Artikel 70 ff. GG - wie bislang - nur für

Parlamentsgesetze, nicht aber für Verordnungen gelten (BK-Heinzen, Stand: Dez. 2003, Art. 70,

Rn. 46; Maunz/Dürig-Uhle, GG, Stand: Oktober 2008, Art. 70, Rn. 42; Dreier-Stettner, GG, Supp-

lementum 2007, 2. Auflage 2007, Art. 70, Rn. 53), hat der Ausschuss für zu eng gehalten, da dann

seitens des Bundes die Möglichkeit bestünde, die Abweichungskompetenz der Länder durch eine

Vielzahl von Verordnungsermächtigungen auszuhöhlen. Aber auch die Regelung der Entwurfsfas-

sung, die davon ausgeht, dass das den Ländern zustehende Abweichungsrecht auch für Verord-

nungen entsprechende Anwendung findet und die daher eine Art „vorsorgliche Abweichungsbe-

fugnis“ im Hinblick auf eine mögliche Bundesverordnung enthält, hat der Ausschuss für rechtlich

zu risikoreich gehalten, weil sie im Hinblick auf Artikel 72 Abs. 3 Satz 1 GG, wonach das jeweils

spätere Gesetz vorgeht, auch „ins Leere gehen“ könnte. Die Empfehlung setzt daher bei der bereits

vorhandenen gesetzlichen Regelung des Bundes, nämlich der Verordnungsermächtigung selbst an,

und erklärt diese für nicht anwendbar.

Dem Vorschlag der Fraktion der Grünen, § 6 im Hinblick auf die rechtlichen Probleme ersatzlos

zu streichen, vermochte sich die Ausschussmehrheit nicht anzuschließen.“

Die Ausschussbegründung, soweit sie Auffassung der Regierungsfraktionen vermittelt,

gibt einige Rätsel auf. Die Regierungsfraktionen sind offenbar von ihrer früheren Auffas-

sung der Notwendigkeit einer landesgesetzlichen Ermächtigungsgrundlage zum Erlass ei-

ner Rechtsverordnung abgerückt. Die wirklichen Motive bleiben unklar. Es hat sich er-

sichtlich die Auffassung durchgesetzt, dass – wie auch nach bisheriger Rechtslage – § 6

Abs. 1 NAGBNatSchG-E ausreichend sei, um Festsetzungen über die Ersatzgeldzahlung

vornehmen zu können. § 6 Abs. 1 NAGBNatSchG-E ist dann nach einem derartigen Ver-

ständnis eine landesrechtliche Regelung im Sinne des § 15 Abs. 7 Satz 2 BNatSchG 2009.

Insoweit schien es dem Ausschuss ersichtlich folgerichtig, für Niedersachsen nur die An-

wendung des § 15 Abs. 7 Satz 1 BNatSchG 2009 auszuschließen.

Sprachlich und in der Sache ist dies allerdings missglückt. Der Landesgesetzgeber kann

keine bundesrechtliche Ermächtigungsgrundlage gänzlich „abwählen“. Der Bund bleibt

unverändert befugt, mit Rechtsgültigkeit auch für Niedersachsen, eine Rechtsverordnung

nach § 15 Abs. 7 Satz 1 Nr. 2 BNatSchG 2009 zu erlassen. Der Landesgesetzgeber kann –

allenfalls – vorsehen, dass eine Rechtsverordnung des Bundes, welche die Ermächtigungs-

grundlage ausnutzt, in Niedersachsen nicht anzuwenden ist. Dann muss man allerdings die

verfassungsrechtliche Frage entscheiden, welchen Regelungsgehalt Art. 72 Abs. 3 Satz 1

GG im Hinblick auf eine bundesrechtliche Rechtsverordnung besitzt. Der politische Wille

des Ausschusses ist allerdings klar. Der Ausschuss – ihm folgend der Landesgesetzgeber –

wollt ein jeder Hinsicht verhindern, dass eine bundesrechtliche Regelung einen Einfluss

auf die Höhe der Ersatzgeldzahlung nehmen kann, wenn Ausgleichs- und Ersatzmaßnah-

men nicht durchführbar sind. Die bundesrechtliche Ermächtigungsgrundlage als solche ist

- 26 -

dagegen kein geeigneter Gegenstand einer „Regelung“ im Sinne des Art. 72 Abs. 3 Satz 1

GG. Kurzum, der Ausschuss hat sich verfassungsrechtlich vertan. Im Ergebnis der gut-

achterlichen Fragestellung ist dies jedoch belanglos. Sie wäre mutmaßlich relevant, wenn

die Rechtsverordnung erlassen würde und der Bund deren Geltung in Niedersachsen bean-

spruchte. Die Annahme des Berichtes, dass „die Eingriffsregelung in Niedersachsen auch

ohne weitere Regelungen vollziehbar sei“, ist erkennbar unzutreffend. Die These des Be-

richtes wird anhand der zu dem textgleichen § 12b Abs. 1 NNatG 2004 entstandenen Ver-

waltungspraxis deutlich widerlegt. Darauf wird noch gesondert eingegangen.

(3) Im Zeitpunkt der Sitzungen des Ausschuss für Umwelt und Klimaschutz zur Novellie-

rung der Naturschutzgesetzes am 11. Januar 2012, am 29. Januar 2012, am 1. Februar 2012

und am 8. Februar 2012 war das noch ausführlich zu behandelnde Urteil des OVG Lüne-

burg vom 16. Dezember 2009 – soweit ersichtlich – nicht Gegenstand der Erörterung. Die

7 %- Regelung erwähnte der Abg. Christian Meyer (GRÜNE) nur beiläufig.66

Es ist daher

ausgeschlossen, in § 6 Abs. 1 NAGBNatSchG 2010 eine irgendwie geartete „Bestätigung“

der Interpretation des OVG Lüneburg zu sehen.

II. Entstehungsgeschichte des Vorläufers (§ 12b NNatG 2004)

Der Gesetzgeber des NAGBNatSchG 2010 übernahm zu § 6 Abs. 1 NAGBNatSchG 2010

die frühere naturschutzrechtliche Ersatzgeldlösung des § 12b NNatG 2004. Demgemäß ist

dessen Entstehungsgeschichte bedeutsam.

1. Wortlaut des § 12b NNatG2004

§ 12b NNatG 2004 lautet im vollen Umfang:

(1) Der Verursacher hat eine Ersatzzahlung zu leisten, wenn Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen ganz

oder teilweise

1. nicht möglich sind,

2. nicht vorgenommen werden können, weil zu ihrer Durchführung Grundstücke benötigt

werden, die sich der Verursacher oder ein nach §10 Abs. 3 Sätze 1 bis 3 oder §12 Abs. 2 Ver-

pflichteter nicht oder nur mit unverhältnismäßigen Aufwendungen verschaffen kann,

3. mit einem bestehenden Landschaftsplan nicht vereinbar sind.

Die Ersatzzahlung ist mit der Gestattung des Eingriffs zumindest dem Grunde nach festzusetzen. Im

Fall des Satzes 1 Nr. 1 bemisst sich ihre Höhe nach der Dauer und Schwere des Eingriffs; sie beträgt

höchstens 7 vom Hundert der Kosten für die Planung und Ausführung des Vorhabens einschließlich

der Beschaffungskosten für Grundstücke. Die Höhe der Ersatzzahlung entspricht in den Fällen des

Satzes 1 Nrn. 2 und 3 den Kosten der Planung und Durchführung der unterbliebenen Ausgleichs- und

Ersatzmaßnahmen.

(2) Die Ersatzzahlung steht der Naturschutzbehörde zu, in deren Zuständigkeitsbereich der Eingriff

verwirklicht wird. Wird der Eingriff im Zuständigkeitsbereich mehrerer Naturschutzbehörden ver-

wirklicht, so steht ihnen die Ersatzzahlung im Verhältnis der von dem Eingriff betroffenen Grundflä-

66

Sten. Ber. 61. Plenarsitzung vom 16.1.2010, S. 7638: „An vielen Stellen sind Sie dabei über das verfas-

sungsrechtlich Vertretbare hinausgegangen. Der GBD hat das oft kritisiert, etwa bei Ihrer Wegdefinition von

Eingriffen in die Bodennutzung in § 5 oder bei der Festlegung, dass Naturzerstörungen nur noch bis zur Hö-

he von 7 % der Kosten des Eingriffs und nicht mehr vollständig ausgeglichen werden sollen.“

- 27 -

chen zu. Die oberste Naturschutzbehörde kann im Einzelfall einen abweichenden Verteilungsmaßstab

für verbindlich erklären. Wird der Eingriff außerhalb des Zuständigkeitsbereichs unterer Naturschutz-

behörden verwirklicht, so fließt das Geld an eine von der obersten Naturschutzbehörde zu bestimmen-

de Stelle.

(3) Das Aufkommen aus Ersatzzahlungen darf nicht mit anderen Einnahmen vermischt werden. Es ist

zweckgebunden für die Verbesserung des Zustandes von Natur und Landschaft zu verwenden und

darf nicht für Maßnahmen verwendet werden, zu deren Durchführung eine rechtliche Verpflichtung

besteht.

(4) Die Naturschutzbehörde ist berechtigt, Einnahmen aus Ersatzzahlungen zur Verwendung nach ih-

ren Vorgaben auf Dritte zu übertragen. Die Naturschutzbehörden können zu diesem Zweck gemein-

same Organisationen bilden.

2. Entstehungsgeschichte des § 12b NNatG 2004

2.1 Die frühere bundesnaturschutzrechtliche Ausgangslage

Nach § 19 Abs. 4 des Gesetzes über Naturschutz und Landschaftspflege (Bundesnatur-

schutzgesetz – BNatSchG 2002) vom 25. März 2002 (BGBl. I S. 1193) konnten die Länder

insbesondere Vorgaben zur Anrechnung von Kompensationsmaßnahmen treffen. Sie konn-

ten vorsehen, „dass bei zuzulassenden Eingriffen für nicht ausgleichbare oder nicht in

sonstiger Weise kompensierbare Beeinträchtigungen Ersatz in Geld zu leisten ist (Ersatz-

zahlung)“.

Niedersachsen machte von dieser Regelungskompetenz zunächst keinen Gebrauch. Das

zeitnah nach Erlass des BNatSchG 2002 ergangene Landesgesetz vom 27. Januar 2003

(Nds. GVBl S. 39) sah eine Regelung über Ersatzzahlungen nicht vor. Auch das Nieder-

sächsische Naturschutzgesetz (NNatG 1993) vom 11. April 1994 (Nds. GVBl S. 155) sah

in seiner Eingriffsregelung zwar Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen vor (§§ 10, 12

NNatG1994), nicht jedoch eine Pflicht zur Ersatzzahlung. Der Landesgesetzgeber wollte

dies ändern.

2.2 Neuregelung durch § 12b NNatG 2004 – Entstehungsgeschichte

(1) Mit der Einfügung des § 12b NNatG 2004 in das Niedersächsische Naturschutzgesetz

mit Wirkung vom 1. Januar 2004 durch das Gesetz zur Änderung naturschutzrechtlicher

Vorschriften vom 19. Februar 2004 (Nds. GVBl S. 75) schuf der Gesetzgeber eine Er-

mächtigungsgrundlage, Ersatzzahlungen zu fordern. Er machte damit von der rahmenrecht-

lichen Regelung des § 19 Abs. 4 BNatSchG 2002 Gebrauch. Im Fall des § 12b Satz 1 Nr. 1

NNatG 2004 bemisst sich die Höhe der Ersatzzahlung „nach der Dauer und Schwere des

Eingriffs“. Sie beträgt höchstens 7 vom Hundert der Kosten für die Planung und Ausfüh-

rung des Vorhabens einschließlich der Beschaffungskosten für Grundstücke (§ 12 b Abs. 1

Satz 2 und 3 NNatG).

(2) Gesetzesentwurf. Die gesetzliche Regelung des § 12b NNatG 2004 beruht auf dem

Entwurf der Fraktionen der CDU und der FDP zu einem „Gesetz zur Änderung des Nie-

dersächsischen Naturschutzgesetzes“ vom 3. September 2003 (LTags-Drs. 15/395). Da-

nach sollte das NNatG um eine Regelung der Kompensationszahlung in § 12a Abs. 1 (dem

späteren § 12b Abs. 1) ergänzt werden. § 12a Abs. 1 dieser Entwurfsfassung hatte folgen-

den Inhalt:

- 28 -

„(1) Der Verursacher hat eine Kompensationszahlung zu leisten, wenn Ausgleichs- und Ersatzmaß-

nahmen ganz oder teilweise

1. nicht von ihm selbst vorgenommen werden können,

2. nach Auffassung der Naturschutzbehörde mit den Belangen von Naturschutz und Land-

schaftspflege nicht vereinbar sind oder

3. nicht möglich sind.

Die Kompensationszahlung ist mit der Gestattung des Eingriffs zumindest dem Grunde nach festzu-

setzen. Ihre Höhe entspricht in den Fällen des Satzes 1 Nrn. 1 und 2 den Kosten der Planung und der

Durchführung der unterbliebenen Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen. Im Fall des Satzes 1 Nr. 3 be-

misst sie sich nach der Dauer und Schwere des Eingriffs; sie beträgt maximal 7 von Hundert der In-

vestitionskosten. Investitionskosten sind die Kosten für die Planung und Errichtung des Vorhabens

ausschließlich der Beschaffungskosten für Grundstücke.“

In der Einzelbegründung des Entwurfs heißt es dazu u.a.( LTags-Drucks. 15/395, S. 4) er-

läuternd: “Auf diese Weise wird zugleich sichergestellt, dass derjenige, der eine Kompen-

sationszahlung leistet, im Ergebnis nicht besser steht, als derjenige, der Ausgleichs- und

Ersatzmaßnahmen durchzuführen hat. Nummer 3 betrifft den Fall, dass keine Ausgleichs-

und Ersatzmaßnahmen möglich sind. Hier soll eine Kompensationszahlung gefordert wer-

den, um den Vorhabenträger nicht besser als andere zu stellen. Als Maßstab für deren Hö-

he dient die Dauer und Schwere des Eingriffs. Da diese Merkmale im Einzelfall nicht im-

mer ohne weiteres festgestellt und in einen Geldbetrag umgewandelt werden können, ist

als Obergrenze ein Wert von 7% der Investitionssumme festgelegt. Das entspricht einem

ungefähren Erfahrungswert der Kosten von Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen. Durch

Herausnahme von Beschaffungskosten für Grundstücke soll verhindert werden, dass die

Kompensationszahlung je nach Zeitpunkt des Grundstückserwerbs höher oder geringer

ausfällt. Zudem werden die Beeinträchtigungen von Natur und Landschaft nicht durch das

Grundstück selbst, sondern durch das auf dem Grundstück zu verwirklichende Vorhaben

bewirkt. Insoweit ist es auch angemessen, die Kosten für das Grundstück nicht zu berück-

sichtigen“.

(3) Ausschussberichte. Der federführende Umweltausschuss des Landtages erstattete

über den angegebenen Gesetzesentwurf unter dem 11. Februar 2004 Bericht (LTags-

Drucks. 15/804). Danach sollte der maßgebende Gesetzestext wie folgt gefasst werden:

㤠12b Ersatzzahlung

(1) Der Verursacher hat eine Ersatzzahlung zu leisten, wenn Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen ganz

oder teilweise

1. nicht möglich sind,

2. nicht vorgenommen werden können, weil zu ihrer Durchführung Grundstücke benötigt wer-

den, die sich der Verursacher oder ein nach § 10 Abs. 3 Sätze 1 bis 3 oder § 12 Abs. 2 Ver-

pflichteter nicht oder nur mit unverhältnismäßigen Aufwendungen verschaffen kann,

3. mit einem bestehenden Landschaftsplan nicht vereinbar sind.

Die Ersatzzahlung ist mit der Gestattung des Eingriffs zumindest dem Grunde nach festzusetzen. Im

Fall des Satzes 1 Nr. 1 bemisst sich ihre Höhe nach der Dauer und Schwere des Eingriffs; sie beträgt

höchstens 7 vom Hundert der Kosten für die Planung und Ausführung des Vorhabens einschließlich

der Beschaffungskosten für Grundstücke. Die Höhe der Ersatzzahlung entspricht in den Fällen des

- 29 -

Satzes 1 Nrn. 1 und 2 den Kosten der Planung und Durchführung der unterbliebenen Ausgleichs- und

Ersatzmaßnahmen.“

Der Bericht des Umweltausschusses (Beschlussempfehlung) enthielt zunächst keine weite-

re Begründung. Die textliche Empfehlung des Ausschusses entspricht den Voten der mit-

beratenden Ausschüsse für Rechts- und Verfassungsfragen, für den ländlichen Raum, Er-

nährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz und für Haushalt und Finanzen. Der Be-

richt des Umweltausschusses erging später (LTags-Drucks. 15/2164 – ausgegeben

7.9.2005). Dieser Bericht enthält neben dem Inhalt des in der Sitzung des Niedersächsi-

schen Landtags am 18. Februar 2004 gehaltenen mündlichen Berichts (s. Stenografischer

Bericht, 26. Sitzung, S. 718 f.) weitere Erläuterungen zur Beschlussempfehlung, auf die im

mündlichen Bericht Bezug genommen wurde. In der Begründung des Berichtes heißt es

dann zu dem neugefassten § 12b NNatG u.a. (LTags-Drucks. 15/2164, S. 3 f., a.D. [ausge-

geben erst am 7.9.2005]):

„In der Anhörung waren Bedenken gegen die Präzision und die rahmenrechtliche Zu-

lässigkeit der tatbestandlichen Voraussetzungen erhoben worden, die die Entwurfs-

fassung für die Erhebung eines Ersatzgeldes vorsah. Die Beschlussempfehlung kon-

kretisiert nun die drei Fallgruppen, in denen eine Ersatzzahlung geschuldet wird, weil

Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen ganz oder teilweise tatsächlich, rechtlich oder

wirtschaftlich nicht möglich sind. Der Umweltausschuss war mit den Vertretern des

Umweltministeriums und des GBD der Auffassung, dass der nun vorgeschlagene

Wortlaut den im Ausschuss diskutierten praktischen Bedürfnissen entspricht und

rahmenrechtskonform ist. Der Absatz wurde zudem neu geordnet.

Die Vorschrift beschreibt den Maßstab, nach dem sich die Höhe des Ersatzgeldes im

Falle der Unmöglichkeit einer Ausgleichs- und Ersatzmaßnahme bemisst. Sie ent-

spricht ihrem Regelungsinhalt nach den Sätzen 4 und 5 der Entwurfsfassung. In der

Anhörung hatten die Umweltverbände insbesondere die Deckelung der Ersatzgeld-

zahlungen auf 7 % der Investitionskosten abzüglich der Kosten für die Grundstücks-

beschaffung als Einführung eines sachfremden Kriteriums kritisiert. Die Vertreterin

der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen schloss sich dieser Kritik an; systematisch kor-

rekt sei nur eine generelle Anknüpfung an Dauer, Schwere und Fernwirkungen eines

Eingriffs in Natur und Landschaft. Ein entsprechender Antrag wurde im federführen-

den Ausschuss abgelehnt. Die Ausschüsse waren in ihrer großen Mehrheit vielmehr

der Meinung, dass an der 7 %-Deckelung zunächst festgehalten werden sollte: Die

Deckelung gilt für Fälle, in denen Ausgleichs- oder Ersatzmaßnahmen unmöglich

sind. In diesen Fällen kann die Höhe des Ersatzgeldes nicht anhand der ersparten

Aufwendungen für konkrete Maßnahmen ermittelt werden, sondern nur im Wege ei-

ner Bewertung von Dauer und Schwere des zuzulassenden Eingriffs. Eine Deckelung

dieses Betrages durch den Anteil der Investitionskosten, der bei einem Vorhaben er-

fahrungsgemäß auf Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen verwandt werden muss, ist

sachgerecht. Die 7 %-Grenze erscheint zunächst einmal als ein für die praktische Ar-

beit tauglicher Wert. Dieser Wert soll aber – wie sich aus dem von CDU, SPD und

FDP getragenen Entschließungsantrag in der Drucksache 15/793 ergibt – nach Ab-

lauf von fünf Jahren noch einmal überprüft werden.

Soweit in der Anhörung auch beanstandet worden war, dass die Grundstückskosten

aus den Vorhabenkosten herausgerechnet wurden, wurde dem Rechnung getragen:

Sie werden nun in die Vorhabenkosten einbezogen.“

- 30 -

Vergleicht man die Entwurfsfassung der genannten Fraktionen und die Beschlussempfeh-

lung, so unterscheiden sich beide nur in der Frage, wie die Investitionskosten zu berechnen

sei. Am weiteren Berechnungsmodus wurde nichts geändert.

(4) § 12b NNatG 2004 trat aufgrund des Gesetzes zur Änderung naturschutzrechtlicher

Vorschriften vom 19. Februar 2004 (Nds. GVBl. S. 75) rückwirkend mit Wirkung vom 1.

Januar 2004 in Kraft.

3. Die rechtstatsächliche Umsetzung des § 12b NNatG 2004

Der Landesgesetzgeber und die nds. Landesregierung betonen, dass sich das 2004 einge-

führte niedersächsische Regelungssystem der Ersatzzahlung „bewährt“ habe. Zweck des

nachfolgenden Abschnittes ist es, diesen Befund anhand der Verwaltungspraxis und der

entstandenen Spruchpraxis im Hinblick auf Rechtsklarheit und Rechtssicherheit näher zu

untersuchen.

3.1 Der Prüfauftrag der Landesregierung (2009)

3.1.1 Entschließungsantrag

Von Interesse für die Beurteilung der Entstehungsgeschichte des § 12b NNatG 2004 ist ei-

ne parlamentarische Erörterung. Begleitet wurde die skizzierte gesetzgeberische Regelung

durch einen Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU und FDP vom 10. Februar 2004

(LTags-Drucks. 15/793). Der Antrag hatte folgenden Wortlaut:

Die Landesregierung wird gebeten, die mit der Einführung der Ersatzzahlung vorge-

sehene Begrenzung auf maximal 7 % der Investitionssumme in § 12 b Abs. 1 NNatG

nach fünf Jahren im Hinblick auf die Erfahrungen der Praxis zu überprüfen.

Zur Begründung heißt es:

Der Wert von 7 % basiert auf Erkenntnissen im Fernstraßenbau infolge der Ver-

kehrsprojekte „Deutsche Einheit“. Bei anderen Bauprojekten kann er im Einzelfall

anders liegen, ohne dass hierüber derzeit Erkenntnisse vorliegen. Diese sollen auf der

Grundlage der Neuregelung in § 12b Abs. 1 NNatG gesammelt werden. Die dabei

gewonnenen Erfahrungen können dann ggf. nach fünf Jahren in die Gesetzesregelung

einfließen, sofern eine abweichende Festlegung geboten erscheint.

Der Antrag fand im Landtag am 18. Februar 2004 eine Mehrheit (vgl. LTags-Drucks.

15/823).

3.1.2 Prüfungsergebnis der Landesregierung 2009

(1) Die Landesregierung kam der Entschließung des Landtages vom 18. Februar 2004 im

Sommer 2009 nach. In ihrer Antwort vom 8. Juli 2009 führt die Landesregierung aus, dass

sich im Ergebnis die für die Fälle des § 12b Abs. 1 Nr. 1 NNatG [2004] festgelegte Ober-

grenze von 7 vom Hundert „bewährt“ habe (LTags-Drucks. 16/1416). Die Antwort hat fol-

genden Wortlaut:

- 31 -

„… Bei der Ersatzzahlung in Niedersachsen sind somit drei Fallgruppen zu unterscheiden:

1. § 12 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 NNatG stellt die Fallgruppe der „objektiven Unmöglichkeit“ dar.

Dies bedeutet, dass es keine denkbare Maßnahme gibt, mit der der Eingriff kompensiert wer-

den kann. Unerheblich ist hierbei das Leistungsvermögen des Antragstellers. Es betrifft also

die Fälle, in denen es niemandem möglich wäre, eine Kompensation zu erbringen. Diese Fall-

gruppe kommt in bestimmten Fällen beim Schutzgut „Landschaftsbild“ zum Tragen. Im Hin-

blick auf Eingriffe im Sinne von § 7 Abs. 1 NNatG, die das Landschaftsbild erheblich beein-

trächtigen können, kann festgestellt werden, dass Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen im Sinne

von § 12 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 NNatG nicht möglich sind bei der Errichtung und dem Betrieb

von

a) Windenergieanlagen ab 50 m Nabenhöhe oder im Küstengewässer,

b) Sendemasten ab 50 m Gesamthöhe,

c) Hoch- und Höchstspannungsleitungen,

d) baulichen Anlagen und Brückenbauwerken, jedenfalls hinsichtlich der über 30 m Höhe

hinausgehenden Teile.

Dabei bleibt die Geltung des Vermeidungsgebotes im Sinne von § 8 NNatG von der An-

wendung des § 12 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 NNatG unberührt.

2. § 12 b Abs.1 Satz 1 Nr. 2 NNatG stellt die Fallgruppe der „subjektiven Unmöglichkeit“ dar,

auch Unvermögen genannt. Diese Fallgruppe liegt vor, wenn eine Kompensation des Eingriffs

grundsätzlich möglich oder denkbar ist, es dem Antragsteller aber selbst nicht möglich ist, die

Kompensationsmaßnahme zu erbringen. In der Regel kann dies nur dann der Fall sein, wenn

die für die Kompensation erforderlichen Grundstücke nicht zur Verfügung stehen. Daher hat

der Gesetzgeber diesen Grund ausdrücklich benannt.

3. Fälle nach § 12 b Abs. 1 Nr. 3 NNatG sind in der Praxis weitgehend unerheblich.

Die Höhe der Ersatzzahlung bemisst sich im Fall des § 12 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 NNatG nach der

Dauer und Schwere des Eingriffs; sie beträgt höchstens 7 vom Hundert der Kosten für die Planung

und Ausführung des Vorhabens einschließlich der Beschaffungskosten für Grundstücke.

Nach der Landtagsentschließung hat das MU die Praxis der Ersatzzahlung beobachtet. Die Be-

obachtung umfasste einen jährlichen Bericht der 56 unteren Naturschutzbehörden. In diesem Be-

richt wurde u. a. die Anzahl der Fälle nach § 12 b Abs. 1 Nrn. 1 und 2 NNatG, die Art der Fälle,

der prozentuale Anteil der Ersatzzahlung an der Investitionssumme sowie die Höhe der insgesamt

festgesetzten und eingenommenen Zahlungen erfasst und ausgewertet.

Im Zeitraum 2004 bis 2008 sind insgesamt ca. 19,9 Mio. Euro als Ersatzzahlung festgesetzt wor-

den. Davon wurden 9,8 Mio. Euro bereits eingenommen. Aus der Höhe der festgesetzten Ersatz-

zahlungen kann bei Zugrundelegen der nachstehend genannten prozentualen Anteile der Ersatz-

zahlung an den Investitionskosten auf Eingriffe mit einem Investitionsvolumen von insgesamt ca.

790 Mio. Euro geschlossen werden.

Im Durchschnitt der erfassten Fälle bewegte sich die Höhe der Ersatzzahlung im Berichtszeitraum

zwischen 2,2 und 2,8 vom Hundert bezogen auf die Investitionssumme des Eingriffs. Fälle zwi-

schen 5 und 7 vom Hundert sind eher die Ausnahme. Diese beschränken sich bestimmungsgemäß

auf Eingriffe mit besonders schwerwiegenden Folgen. Ein großer Anteil der Ersatzzahlungen ent-

fällt auf Windenergieanlagen und Windfarmen, die der Fallgruppe des § 12 b Abs. 1 Nr. 1 NNatG

zuzurechnen sind.

In den Fällen des § 12 b Abs. 1 Nr. 2 NNatG bemisst sich die Höhe der Ersatzzahlung nach der

Höhe der unterbliebenen Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen. Die Ergebnisse zeigen, dass es in der

Höhe der Ersatzzahlung zwischen den beiden Fallgruppen keine signifikanten Unterschiede gibt.

Nur in Ausnahmefällen überschreitet die Ersatzzahlung in den Fällen des § 12 b Abs. 1 Nr. 2

NNatG die Höhe von 7 vom Hundert. Diese (wenigen) Fälle begründen aber keine Anpassung der

für die Fälle des § 12 b Abs. 1 Nr. 1 NNatG festgelegten Obergrenze von 7 vom Hundert. Es zeigt

sich vielmehr, dass die 2004 festgelegte Obergrenze weitgehend den Kosten entspricht, die übli-

cherweise bei einer Naturalkompensation entstehen. Der Wert entspricht den im Bundesfernstra-

- 32 -

ßenbau ermittelten Kosten für Kompensation und wurde vom Gesetzgeber aus diesem Grunde als

Obergrenze gewählt.

Die Ergebnisse bestätigen auch, dass die Ersatzzahlung den Verursachern von Eingriffen nicht

leichtfertig auferlegt wird, sondern auf die Fälle beschränkt bleibt, für die sie das Gesetz ermög-

licht oder verlangt. Die Zahlen widerlegen damit die von verschiedener Seite geäußerten Befürch-

tungen, die Möglichkeit der Ersatzzahlung führe zu einer missbräuchlichen Praxis, zum Ende der

eigentlich geschuldeten Eingriffsfolgenbewältigung und bloß noch zu Geldleistungen. Zugleich

zeigt die Höhe der in den vergangenen fünf Jahren festgesetzten und eingenommenen Mittel, dass

die 2004 eingeführte Ersatzgeldregelung den finanziellen Spielraum für die Durchführung von

Maßnahmen des Naturschutzes und der Landschaftspflege beträchtlich erweitert hat.

Diese Ergebnisse werden auch von den Erkenntnissen und Eindrücken aus dem Erfahrungsaus-

tausch bestätigt, den das MU im Berichtszeitraum in einer Reihe von Dienstbesprechungen mit al-

len unteren Naturschutzbehörden über die Ausgestaltung und Praxis der Ersatzgeldregelung konti-

nuierlich geführt hat.

Im Ergebnis hat sich die für die Fälle des § 12 b Abs. 1 Nr. 1 NNatG festgelegte Obergrenze von 7

vom Hundert bewährt. Für die Landesregierung sind keine Anhaltspunkte erkennbar, die Anlass

für eine Absenkung oder Erhöhung der Grenze geben könnten.“

(2) Bereits an dieser Stelle ist kritisch anzumerken, dass der Bericht der Landesregierung

nicht näher angibt, nach welchem inhaltlichen Kriterium beurteilt wurde, ob sich die Rege-

lung des § 12b NNatG 2004 „bewährt“ habe. Das mitgeteilte Zahlenmaterial erlaubt dazu

jedenfalls keine nachprüfbare Beurteilung. Das beruht unter anderem darauf, dass die Fall-

gruppen von § 12b Abs. 1 Nr. 1 NNatG 2004 und § 12b Abs. 1 Nr. 2 NNatG 2004 nicht

getrennt ausgewiesen sind, sondern zusammengefasst wurden. Da zudem die Grenze des §

12b Abs. 1 Nr. 1 NNatG 2004 limitierend wirkt, führt dieses zu einer Verfälschung der

Vergleichbarkeit. Die Landesregierung gibt dazu an, „im Durchschnitt der erfassten Fälle“

habe sich die Höhe der Ersatzzahlung im Berichtszeitraum zwischen 2,2 und 2,8 vom

Hundert bewegt, bezogen auf die Investitionssumme des Eingriffs. Die Normalverteilung

der erhobenen Daten wird damit nicht angegeben, so dass der zentrale Grenzwertsatz nicht

dargestellt und auch eine Standardabweichung überhaupt nicht beschrieben werden kann.

Man darf berechtigt mutmaßen, dass mit der Antwort nur ein „einfaches“ arithmetisches

Mittel zugrunde gelegt wurde. Varianz und Standardabweichung werden nicht angegeben.

Das muss in der Aussage, die offenbar empirisch gemeint ist, notwendig zu statistischen

Verfälschungen führen. Bereits ein gewichtetes harmonisches Mittel wäre ausdrucksstär-

ker. Derartige Mängel in der Mitteilung der Landesregierung lassen mutmaßen, dass es

dem zuständigen Ministerium entweder an statistischen Grundkenntnissen ermangelt oder

eine politische Aussage getroffen werden sollte. Die Rechtsfrage ist auch eine andere: Sie

geht dahin, ob die gesetzgeberischen Kriterien – nämlich Dauer und Schwere des Eingriffs

– sich signifikant in der Praxis abbilden lassen.

Die Angaben der Landesregierung sind auch aus anderen Gründen recht zweifelhaft. Die in

den Jahren 2001/2002 ermittelten und in Niedersachsen ersichtlich übernommen Daten be-

treffen jedenfalls keine Windenergieanlagen bzw. Hochspannungsmasten. Es fehlt an einer

Vergleichbarkeit der Konfliktlage und der Berechnungsgrundlagen. Die vom Landesge-

setzgeber gewählte Vergleichsebene betrifft Daten, die ausschließlich im Straßenverkehr

entstanden sind. Das sagt die Landesregierung selbst. Zu diesen Daten vgl. etwa die Unter-

suchungen von DEGES DEUTSCHE EINHEIT FERNSTRASSEN-PLANUNGS- UND -

BAU GMBH 2002A: Schriftliche Mitteilungen über Preisspannen und Mittelpreise zu tras-

senfernen Kompensations- und trassennahen Gestaltungsmaßnahmen im Zuge mehrerer

Autobahnneubau- und Autobahnausbauvorhaben; DEUTSCHE BAHN VERKEHRSBAU

GMBH 2002: Schriftliche Mitteilungen über Kosten für Kompensationsmaßnahmen im

Zuge mehrerer Infrastrukturvorhaben; FREIE UND HANSESTADT HAMBURG, UM-

- 33 -

WELTBEHÖRDE 2001B: Preisspiegel/Kostenübersicht für Ausgleichsmaßnahmen in der

verbindlichen Bauleit- und Landschaftsplanung in Anlehnung an das Kostenerstattungsge-

setz. Stand November 2001. Für den Straßenverkehr lässt sich hinreichend genau feststel-

len, welche Kosten die gebotene und durchgeführte Realkompensation ausgelöst haben. Es

liegt also die Fallgestaltung des § 15 Abs. 6 Satz 2 BNatSchG 2009 vor. Der Landesge-

setzgeber hatte mit § 15 Abs. 6 Satz 3 BNatSchG 2009 aber gerade eine andere Fallgestal-

tung zu beurteilen und kostenmäßig zu bewerten, in der es an einer Vergleichbarkeit kon-

kreter Kosten a priori fehlt. In diesem Sinne ist der Landesgesetzgeber einem Trugschluss

erlegen. Das Prüfungsergebnis der Landesregierung vermag diesen Strukturmangel nicht

auszugleichen. Sie setzt diesen nur fort. Nimmt man die noch darzustellenden Judikatur

des niedersächsischen Gerichte zu § 12b Abs. 1 Nr. 1 NNatG 2004 hinzu, dann bleibt die

Aussage, die festgelegte Obergrenze von 7 vom Hundert habe sich „bewährt“, nicht nach-

vollziehbar.

3.1.3 Exkurs: Kleine Anfrage des Abg. David McAllister u.a. 2009

(1) Die Kleine Anfrage der Abg. David McAllister, Karl-Heinrich Langspecht, Mar-

tin Bäumer und Ingrid Klopp (CDU) hatte folgenden Wortlaut:67

Ersatzzahlungen statt Ausgleichsfläche gemäß § 12b NNatG

In der Vergangenheit konnten Eingriffe in die Natur nicht immer optimal kompensiert werden.

Mangels Alternativen gingen außerdem der Landwirtschaft wertvolle Flächen verloren, die für

Kompensationsmaßnahmen herangezogen wurden, obwohl sie naturschutzfachlich nur wenig ge-

eignet waren.

Um diese Situation zu verbessern, hat der Niedersächsische Landtag im Jahr 2004 durch den neu-

en § 12b NNatG die Möglichkeit einer Ersatzzahlung geschaffen. Neben Ausgleichs- und Ersatz-

maßnahmen ist damit in bestimmten Fällen ein Ausgleich in Geld möglich. Die Einnahmen stehen

der unteren Naturschutzbehörde zu, in deren Zuständigkeitsbereich der Eingriff verwirklicht wird.

Die Neuregelung fördert zudem die Gewerbeansiedlung in den einzelnen Kommunen, da sie es

einzelnen Vorhabenträgern erleichtert, ihre gesetzlichen Kompensationspflichten zu erfüllen.

Wir fragen die Landesregierung:

1. Wie viele untere Naturschutzbehörden Niedersachsens wenden das Mittel der Ersatzzahlung

mittlerweile regelmäßig und mit welcher Akzeptanz an?

2. Welche Auswirkungen sind bis heute spürbar für den Natur- und Landschaftsschutz, die re-

gionale Wirtschaft und die Kommunen?

3. Welche Möglichkeiten werden gesehen, die gesetzlichen Vorschriften für die Ersatzzahlun-

gen noch zu verbessern?

Antwort des Ministeriums für Umwelt und Klimaschutz

Neben Überlegungen zu einer großräumigen Kompensation dient die Möglichkeit, Eingriffsfolgen

durch Ersatzgeld zu kompensieren, der Flexibilisierung der Eingriffsregelung und begünstigt so

eine weitere Entbürokratisierung und Deregulierung. Zulassungsverfahren können beschleunigt

werden, weil Vorhabenträger nicht mehr wertvolle Zeit in die Suche nach geeigneten Kompensati-

onsflächen investieren müssen. Die von der Landesregierung angestrebte Gleichstellung von Real-

kompensation und Ersatzgeld ist insbesondere auch deshalb geboten, weil Grund und Boden end-

lich sind und eine zunehmende Flächenverknappung zu beobachten ist. Es müssen auch in Zukunft

ausreichende landwirtschaftliche Flächen für die Ernährung der Bevölkerung und für die Energie-

gewinnung im Sinne des Klimaschutzes zur Verfügung stehen. Gleichzeitig verbessern die Ein-

67

Nds. Landtag, Sten. Ber. 16 WP – 38. Plenarsitzung vom 14.5.2009 – S. 4767, Anlage 23.

- 34 -

nahmen aus den Ersatzzahlungen die Möglichkeiten, Naturschutzprojekte umzusetzen, die einen

wirksamen Beitrag zur Erhaltung der biologischen Vielfalt leisten können.

Dies vorausgeschickt, beantworte ich die Kleine Anfrage namens der Landesregierung wie folgt:

Zu 1: Circa 90 % der unteren Naturschutzbehörden waren bisher mehrfach oder mindestens ein-

mal mit Eingriffen befasst, die zur Festsetzung einer Ersatzzahlung nach § 12b NNatG führten. Ei-

ne aktuelle Abfrage des Niedersächsischen Ministeriums für Umwelt und Klimaschutz hat erge-

ben, dass die unteren Naturschutzbehörden seit 2004 insgesamt rund 11,8 Millionen Euro einnah-

men. Während es im Jahr 2005 noch 1,2 Millionen Euro waren, stieg die Summe auf 5,3 Millionen

Euro im Jahr 2008. Daher ist die Akzeptanz positiv einzuschätzen.

Zu 2: Mit dem aus Ersatzzahlungen eingenommenen Geld konnten im vergangenen Jahr zahlrei-

che Vorhaben im Naturschutz und der Landschaftspflege in ganz Niedersachsen realisiert werden.

So wurden Gewässer und Moore renaturiert, Wallhecken und Kleingewässer angelegt oder Maß-

nahmen zum Gelege- und Weißstorchschutz realisiert. Beispiele solcher Projekte sind

- im Landkreis Hameln-Pyrmont das Pilotprojekt „Kontrollierte eigendynamische Gewässerent-

wicklung der Saale“,

- im Landkreis Nienburg das Projekt „Renaturierungsmaßnahmen im Krähenmoor“,

- im Landkreis Goslar die Entwicklung von Acker-flächen zu Kalkhalbtrockenrasen,

- im Landkreis Harburg die Anlage von Kleingewässern sowie die Entwicklung und dauerhafte

Erhaltung von Offenland- und Magerrasenbiotopen,

- im Landkreis Oldenburg die Renaturierung des Schwarzen Moors.

Mit derartigen Projekten kann für die Verbesserung des Zustandes von Natur und Landschaft in

der Regel mehr erreicht werden als durch einzelne Kompensationsmaßnahmen.

Zu Auswirkungen für die regionale Wirtschaft und die Kommunen liegen keine konkreten Unter-

suchungen vor. Es ist davon auszugehen, dass die Einführung des Ersatzgeldes zu erheblichen Er-

leichterungen für die Investitionsvorhaben der Wirtschaft und zu einem erheblichen Bürokratieab-

bau in der Verwaltung geführt hat.

Zu 3: Die Landesregierung setzt sich im Rahmen des Gesetzentwurfes zur Neuregelung des

Rechts des Naturschutzes und der Landschaftspflege im Bundesrat und auf parlamentarischer

Ebene dafür ein, dass künftig eine Gleichstellung von Realkompensation (Ausgleichs- und Er-

satzmaßnahmen in der Natur) und monetärer Kompensation (Ersatzzahlung) landesrechtlich mög-

lich wird. Ziel ist, dass die Vorhabenträger künftig ein Wahlrecht zwischen beiden Alternativen

haben. Das würde im Vergleich zur derzeitigen Rechtslage zu einer weiteren Flexibilisierung und

Beschleunigung von Verfahren sowie einer noch größeren Entlastung der Verwaltung führen

(2) Die danach von der Landesregierung angestrebte Gleichstellung von Realkompensati-

on und Ersatzgeld entsprach und entspricht weder der bundes- noch der landesrechtlichen

Gesetzeslage. Diese bereits in der Novellierung des BNatSchG vom Bundesrat 2009 ver-

folgte Zielsetzung hatte sich gegenüber der Bundesregierung und im Bundestag nicht

durchzusetzen vermocht.68

Dass die Einführung des Ersatzgeldes zu erheblichen Erleichte-

rungen für die Investitionsvorhaben der Wirtschaft und zu einem erheblichen Bürokratie-

abbau in der Verwaltung geführt hat, ist empirisch durch nichts belegt. Es wurden zudem

nur die Naturschutzbehörden befragt, nicht indes die Baugenehmigungsbehörden, die

Ortsgemeinden, die Wirtschaftsverbände oder die Industrie- und Handelskammern. Die

gegebene Antwort setzt zudem voraus, dass die Höhe des Ersatzgeldes für Investitionsvor-

68

Vgl. Stellungnahme des Bundesrates vom 15.5.2009 (vgl. BTags-Drucks. 16/13298) zur BTags-Drucks.

16/12785. Danach sollten Ausgleich und Ersatz als Formen der Realkompensation alternativ nebeneinander

gestellt werden (S. 3): „An Stelle von vorrangig durchzuführenden Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen kann

vom Verursacher ausnahmsweise eine Ersatzzahlung auch dann verlangt werden, wenn mittels der Ersatzzah-

lung die Ziele des Naturschutzes und der Landschaftspflege besser verwirklicht werden können.“ In ihrer

Gegenäußerung lehnte die BReg. diesen Vorschlag ab.

- 35 -

haben der Wirtschaft gedanklich voraus berechenbar ist. Das ist – wie noch zu zeigen sein

wird – gerade nicht der Fall.

3.2 Zur Frage einer verwaltungsmäßigen Umsetzung des § 12b NNatG 2004 oder des §

6 NAGBNatSchG 2010

3.2.1 Keine amtlichen Ausführungsregelungen

(1) § 6 NAGBNatSchG 2010, aber auch sein Vorläufer § 12b NNatG 2004 schreiben kei-

ne (lineare) Berechnungsmethode für die Höhe des Ersatzgeldes vor. Die Gesetze bestim-

men nur, dass das Ersatzgeld höchstens 7 vom Hundert der Kosten für die Planung und

Ausführung des Vorhabens einschließlich der Beschaffungskosten für Grundstücke betra-

ge. Eine konkretisierende Rechtsverordnung fehlt. Die kann und konnte mangels landesge-

setzlicher Ermächtigungsgrundlage nicht erlassen werden. Die Landesregierung ging zu §

12b Satz 1 Nr. 1 NNatG 2004 ersichtlich davon aus, dass die Vorschrift hinreichend be-

stimmt und eine ausführende Rechtsverordnung nicht geboten sei. Der Landesgesetzgeber

hat die Auffassung mit der Novellierung des NAGBNatSchG 2010 wiederholt. Ganz sicher

war er sich darin nicht. Noch der von den Fraktionen der CDU und der FDP einbrachte

Gesetzesentwurf vom 23. November 2009 (LTags-Drucks. 16/1902) sah in einem § 6 Abs.

2 NAGBNatSchG-E vor, die oberste Naturschutzbehörde zu ermächtigen, durch Verord-

nung das Nähere zur Kompensation von Eingriffen abweichend von einer Rechtsverord-

nung nach § 15 Abs. 7 Satz 1 BNatSchG 2009 zu regeln. Erst in der parlamentarischen Er-

örterung sah man von einer eigenen landesrechtlichen Ermächtigungsgrundlage ab.

(2) Auch (ministerielle) Verwaltungsvorschriften zur Umsetzung der gesetzlichen Vorga-

ben des § 12b Satz 1 Nr.1 NNatG 2004 sind nicht ergangen. Sie sind – dem Vernehmen

nach – auch zu § 6 NAGBNatSchG 2010 nicht zu erwarten. Im Schriftlichen Bericht des

Ausschusses für Umwelt und Klimaschutz zum Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung

des Naturschutzrechts (LTags-Drucks. 16/2216 neu vom 4. März 2010) war – wie bereits

erörtert – angegeben worden, dass „die Eingriffsregelung in Niedersachsen auch ohne wei-

tere Regelungen vollziehbar sei“. Das trifft nach der Beurteilung der befassten Referate des

nds. Ministeriums für Umwelt offenkundig nicht zu: Aus einer Stellungnahme des Refera-

tes 10 dieses Ministeriums vom 10. Mai 2011 (Referatsleiter Bobzien) ergibt sich als reale

Zustandsbeschreibung der entstandenen Verwaltungspraxis, dass “die tatsächliche Höhe in

einem langwierigen und bürokratischen Prozess unter Beteiligung von Gutachten basarar-

tig festgelegt“ wird (vgl. Textauszug unten S. ??).

3.2.2 Das „Ersatzmodell“: Die NLT-Papiere

(1) Eine Arbeitsgruppe „Naturschutz und Windenergie“ beim Niedersächsischen Land-

kreistag (NLT) hatte zur früheren Rechtslage 2005 Empfehlungen zur Berechnung der Er-

satzzahlung erarbeitet. Diese „Hinweise zur Berücksichtigung des Naturschutzes und der

Landschaftspflege … bei Standortplanung und Zulassung von Windenergieanlagen, Stand:

Mai 2005“ – im folgenden „NLT-Papier 2005 – sollten einer praxisgerechten Umsetzung

des früheren § 12b NNatG 2004 dienen. Der Niedersächsische Landkreistag e. V. ist die

Vereinigung ("Kommunaler Spitzenverband") der 37 niedersächsischen Landkreise und

der Region Hannover. Hoheitliche Aufgaben sind ihm nicht übertragen. Ferner entstanden

NLT-Hinweise zur Anwendung der Eingriffsregelung beim Bau von Hoch- und Höchst-

spannungsfreileitungen und Erdkabeln (Stand: Januar 2009). Ferner hat die Bund/Länder-

- 36 -

Arbeitsgemeinschaft Naturschutz, Landschaftspflege und Erholung (LANA) Empfehlun-

gen für die Eingriffsbewältigung beim Netzausbau vom 7. März 2012 herausgegeben. Die

Empfehlungen richten sich an die Vollzugsbehörden. Der rechtliche Status dieser Empfeh-

lungen ist unsicher.

Das ursprüngliche NLT-Papier 2005 wurde inzwischen durch die „Arbeitshilfe Ersatzzah-

lung nach dem Bundesnaturschutzgesetz (nunmehr Stand: 4. Fassung Oktober 2011)“ ab-

gelöst.69

Die in ihr enthaltenen Hinweise verstehen sich wiederum als „Anwendungshilfe“.

Aufgrund der Novellen der niedersächsischen Naturschutzgesetze wurde zwar eine umfas-

sende Neubearbeitung der Arbeitshilfe vorgenommen. Die Maßstäbe für die Bemessung

der Ersatzzahlung wurden jedoch im Wesentlichen beibehalten. In Ermangelung eines

staatlichen Durchführungserlasses verfahren die für die Festsetzung zuständigen Landkrei-

se mehr oder weniger nach den „NLT-Papieren“ in deren jeweils aktueller Fassung.70

Es ist

nicht ersichtlich, dass die Anwendung der NLT-Papiere ggf. durch ministerielle oder an-

derweitige behördliche Anordnung als Verwaltungsvorschrift „eingeführt“ wurde.

Es handelt sich also um einen „unverbindlichen“ Erörterungstext. Hier gilt das, was das

BVerwG (1987) sehr skeptisch hinsichtlich der DIN-Normen geäußert hatte.71

Das

BVerwG hat dies 2008 wiederholt.72

Den Kriterien der Repräsentanz und der Publizität

kommt umso eher und umso mehr Bedeutung zu, je stärker die einschlägigen Fachkreise

zugleich Interessengruppen sind und je stärker sich in den Regelwerken fachliche Ein-

schätzungen und Wertungen verbinden. Betrachtet man die Zusammensetzung der Ar-

beitsgruppe „Naturschutz und Windenergie“, lässt sich von einer ausgewogenen Pluralität

nicht sprechen. Die „Empfehlungen“ NTL 2005 bis 2011 stellen danach keine durch Fach-

konsens oder Konvention festgelegten Maßstäbe für die Höhe einer naturschutzrechtlichen

Ausgleichsabgabe dar, sondern wollen diese Maßstäbe erst schaffen.

(2) NLT-Papier (Fassung 2005) ist vom VG Lüneburg nicht in vollem Umfang „bestä-

tigt“ worden.73

Dies spricht dem äußeren Anschein nach dagegen, dass die „Empfehlun-

gen“ des NLT 2005 von subsumtionsfähiger Klarheit sind. Das NLT-Papier 2005 ist abge-

löst worden durch Neufassungen von 2007 sowie vom Januar und vom Oktober 2011. Da-

neben gibt es die „Hinweise zur Festlegung und Verwendung der Ersatzzahlung nach dem

Bundesnaturschutzgesetz sowie dem Niedersächsischen Ausführungsgesetz zum Bun-

desnaturschutzgesetz“ (Stand: Januar 2011). Die Hinweise verstehen sich wiederum als

„Anwendungshilfe“. Sie lösen die 2006 aufgrund der früheren Rechtslage herausgegebe-

nen Hinweise zur Ersatzzahlung ab. Die Novellen der Naturschutzgesetze gaben Anlass zu

einer umfassenden Neubearbeitung der Arbeitshilfen. Die Maßstäbe für die Bemessung

wurden im Wesentlichen beibehalten.

69

Es gibt folgende Veröffentlichungen des NLT: 1. Naturschutz und Windenergie, Hinweise …, Fassungen

2005, 2007, Jan. 2011 und Okt. 2011; 2. Arbeitshilfe Ersatzzahlung nach dem Bundesnaturschutzgesetz (Jan.

2011), löst ab die Arbeitshilfe Hinweise zur Anwendung der §§ 12a und 12b NNatG; 3. Hinweise Mobil-

funkmasten und Naturschutz (2. Aufl. Jan. 2011) und 4. Hinweise Hochspannungsleitungen und Naturschutz

(2. Aufl. Jan. 2011). 70

Vgl. Niedersächsische Landkreistag (2006), Hinweise zur Anwendung der §§ 12 a und 12 b des Nieder-

sächsischen Naturschutzgesetzes. Informationsdienst Naturschutz Niedersachsen. 26. Jg. Nr. 1: 59-64. 71

BVerwG, Urteil vom 22.5.1987 - 4 C 33 bis 35.83 - BVerwGE 77, 285 [291] = DVBl 1987, 907 = NJW

1987, 2886. 72

BVerwG, Beschluss vom 15.1.2008 - 9 B 7.07 - NVwZ 2008, 675. 73

VG Lüneburg, Urteil vom 20.9.2007 - 2 A 569/06 – juris.

- 37 -

3.2.3 Interne Stellungnahme des Referates 10 des Nds. Ministeriums für Umwelt vom

10. Mai 2011

(1) Das Referat 10 des Nds. Ministeriums für Umwelt hat unter dem 10. Mai 2011 folgen-

den Vermerk zu den Akten74

gebracht (Aktz. 10 – 27.40.1.3. zu Stellungnahme zum Ver-

merk der RGL N vom 8. April 2011 zur Ersatzgeldbemessung bei Windenergieanlagen auf

Grund der Handlungsempfehlung des Niedersächsischen Landkreistages75

):

„Die Handlungsempfehlung des Niedersächsischen Landkreistages (NLZ) zum Ausbau der Wind-

energie haben massiven Einfluss auf ein Kernelement niedersächsischer Energiepolitik.

Die niedersächsische Landesregierung hat auf die Entwicklung der Handlungsempfehlung durch

den NLT keinen Einfluss. Die vom NLT eingesetzte Arbeitsgruppe besteht ausschließlich aus Per-

sonen die naturschutzfachliche Ziele verfolgen. Andere Ziele der Landesregierung (z. B. Klima-

schutz, Energiepolitik, Raumplanung, etc.) finden keine Berücksichtigung. Die Handlungsempfeh-

lungen werden regelmäßig von den zuständigen Planungsbehörden ohne kritische Betrachtung an-

gewendet. Die Handlungsempfehlungen werden wiederkehrend von der Arbeitsgruppe überarbei-

tet (Mai 2005, Juli 2007, Januar 2011) und dabei in der Regel verschärft.

Bei der letzten Überarbeitung (Januar 2011) wurden beispielsweise die artspezifischen Abstände

deutlich vergrößert, die Bemessungsregelung für das Ersatzgeld verschärft und nachteilige Rege-

lungen zum Repowering aufgenommen.

Nach Kenntnis von Referat 10 bestehen in keinem anderen Bundesland ähnlich Windkraft verhin-

dernde Rahmenbedingungen, wie in Niedersachsen durch das NLT-Papier.

Aus Sicht von Referat 10 sind dabei insbesondere die großen art- und gebietsspezifischen Ab-

standsempfehlungen sowie die vorgeschlagene Bemessensregelung für das Ersatzgeld für die Ent-

wicklung der Windenergie in Niedersachsen problematisch.

Bemessensregelung für das Ersatzgeld

Gemäß dem Niedersächsischen Ausführungsgesetz zum Bundesnaturschutzgesetz (NAGB-

NatSchG) soll die Ersatzzahlung für alle nicht ausgleichbaren Eingriffe (Natur und Landschaft)

höchsten 7% der Kosten der Planung und Ausführung einer Windkraftanlage betragen. Ausfüh-

rungsbestimmungen des Landes wurden dazu nicht erlassen.

Das NLT-Papier will zu dieser Regelung Ausführungsempfehlungen geben. Da die Regelung bei

einer vollumfänglichen Anwendung in der Regel zu erheblichen Ersatzgeldzahlungen führen wür-

de und die Projekte damit regelmäßig unwirtschaftlich machen würde, wird die tatsächliche Höhe

in einem langwierigen und bürokratischen Prozess unter Beteiligung von Gutachten basarartig

festgelegt.

Dieses Verfahren führt regelmäßig dazu, dass die Genehmigungsverfahren verzögert werden und

neue Gutachter zu den möglichen Eingriffen vorgelegt werden müssen. Auch kann dieses nicht

transparente Verfahren von den Landkreisen dazu genutzt werden Winkraftanlagen trotz einer vo-

rangegangenen Abwägung im Planungsprozess zu verhindern.

Darüber hinausführt der Bezug des NLT auf die Investitionshöhe zu einer Benachteiligung teurerer

Ablagen, wie sie z. B. die niedersächsische Firma Enercon anbietet. Auch steht die Investitionshö-

he in keinem Bezug zum Einfluss der Anlagen auf das Landschaftsbild. Dieser Bezug besteht ein-

zig in der Gesamthöhe der Anlage und ihrer Bauart.

Die Festsetzung von Ersatzgeld für die Beeinträchtigung des Landschaftsbildes wird nach Kennt-

nis von Referat 10 in den Bundesländern sehr unterschiedlich gehandhabt. Ob weitere Bundeslän-

74

Akten des nds. Umweltministeriums lfd. Nr. 27.42.5.1 Bd. 1, ohne Paginierung. 75

Gemeint sind die Hinweise zur Berücksichtigung des Naturschutzes und der Landschaftspflege sowie zur

Durchführung der Umweltprüfung und Umweltverträglichkeitsprüfung bei Standortplanung und Zulassung

von Windenergieanlagen, Januar 2011.

- 38 -

der die Höhe des Ersatzgeldes von der Investitionssumme abhängig machen ist Referat 10 nicht

bekannt. Alternative Regelungen in Niedersachsen würden die Festlegung im NAGBNatSchG (7

%) aus Sicht von Referat 10 nicht entgegenstehen. Einige Bundesländer berechnen beispielsweise

die Höhe des Ersatzgeldes in Abhängigkeit von der Gesamthöhe der Anlage.

Da das NLT-Papier bereits Landschaftsbildeinheiten mit sehr hoher, hoher und mittlerer Bedeu-

tung als potenzielle Ausschlussgebiete für die Windkraftnutzung nennt und vorrangig stark vorbe-

lastete Bereiche in Anspruch genommen werden sollen, könnte nach Auffassung von Referat 10

auf die Festsetzung von Ersatzgeld für mögliche Beeinträchtigungen des Landschaftsbildes im Re-

gelfall ganz verzichtet werden.

Darüber hinaus müssen gemäß dem NLT-Papier Windkraftanlagen ohnehin zu Landschaftsbild-

einheiten mit sehr hoher, hoher und mittlerer Bedeutung deren Landschaftsbild geschützt werden

soll bzw. Gebiete mit besonderer Bedeutung für die Erholung großen Abstand halten, um eine Zer-

störung oder erhebliche Beeinträchtigung der zu schützenden Gebiete bzw. ihrer Bestandteile aus-

zuschließen oder die Beeinträchtigung zumindest zu beschränken. Vor diesem Hintergrund er-

scheint ein Verzicht auf Ersatzgeld für mögliche Beeinträchtigungen des Landschaftsbildes ge-

rechtfertigt.“

(2) Dieser Blick in die Verwaltungsinterna ist verräterisch. Selbst die NLT-Papiere 2005,

2007 und 2011 (Fassung Januar 2011) haben danach die von der eingesetzten Arbeitsgrup-

pe erhoffte (rationale)Anwendungsfähigkeit des § 6 Abs. 1 NAGBNatSchG 2010 nicht er-

bracht. Das ist um so bemerkenswerter, als der Arbeitsgruppe bei der Überarbeitung des

NLT-Papiers 2005 bereits die noch zu referierende Judikatur der nds. Verwaltungsgerichte

bekannt sein konnte. Bestehen innerhalb der öffentlichen Hand Interessengegensätze, wäre

es gerade Aufgabe einer klaren Normsetzung diese Gegensätze entscheidungsfähig auszu-

gleichen.

III. Spruchpraxis der niedersächsischen Verwaltungsgerichte

1. Problemsicht der Verwaltungsgerichte –Überblick

Bislang liegen keine Entscheidungen der Niedersächsischen Verwaltungsgerichte zur Fra-

ge der Ersatzzahlung nach § 6 NAGBNatSchG 2010 vor, und nur wenige zur textidenti-

schen Vorläuferregelung des § 12b NNatG2004.

Das VG Lüneburg hat in seinem Urteil vom 20.9.2007 – 2 A 569/06 – die Frage der Ver-

fassungsgemäßheit des § 12b NNatG 2004 nicht problematisiert.76

Das Gericht bestätigt im

Grundsatz die Anwendung des „NLT-Papieres“, allerdings mit Abweichungen „nach un-

ten“, die bereits der zuständige Landkreis und die Widerspruchsbehörde vorgenommen

hatten. Das hierauf bezogene Berufungsurteil des OVG Lüneburg vom 16.12.2009 – 4 LC

730/07 verneint Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des § 12b Abs. 1 Satz 3 NNatG

2004.77

Das Gericht erachtet die landesgesetzliche Regelung nach Maßgabe des Bundes-

verfassungsrechts für hinreichend bestimmt. Die in § 12b Abs. 1 Satz 3 Hs. 2 NNatG 2004

normierte 7 %-Grenze begrenze nicht nur die Höhe der Ersatzzahlung, sondern stelle zu-

gleich auch die Obergrenze eines Rahmens dar, innerhalb dessen die Ersatzzahlung nach

Maßgabe von Dauer und Schwere des Eingriffs linear abgestuft zu bemessen ist.

76

Abgedruckt NuR 2007, 839 77

Abgedruckt OVGE MüLü 52, 492 = NdsVBl 2010, 158 = NuR 2010, 133 = ZUR 2010, 262 = BauR

2010, 758 = BRS 74 Nr. 229 (2009).

- 39 -

Das VG Stade hat in seinem Urteil vom 18.6.2009 – 2 A 1277/08 – juris – den verfas-

sungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz als gewahrt angesehen.78

Das Gericht billigt im

Grundsatz eine am „NTL-Papier“ ausgerichtete Berechnung, auch wenn die beklagte Be-

hörde „eigene Überlegungen“ angestellt habe. Die verwaltungsgerichtlichen Entscheidun-

gen betreffen Windenergieanlagen. Andere Eingriffslagen werden offensichtlich als un-

problematisch angesehen. Der Gesetzgeber sei unter Berücksichtigung des Normzweckes

ohnedies nicht in der Lage, eine klar umrissene Zahlungsregelung vorzugeben. Der Nach-

weis für diese Auffassung wird allerdings nicht geführt.

2. Zielsetzung der Analyse der bisherigen Spruchtätigkeit zu § 12b NNatSchG 2004

(1) Nach § 12b Abs. 1 Satz 3 NNatG 2004, ebenso § 6 Abs. 1 NAGBNatSchG 2010, be-

misst sich die Höhe der Ersatzzahlung im Falle des § 12b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 NNatG 2004

nach der Dauer und Schwere des Eingriffs. Sie beträgt höchstens 7 vom Hundert der Kos-

ten für die Planung und Ausführung des Vorhabens einschließlich der Beschaffungskosten

für Grundstücke. Für das konkrete Berechnungsverfahren gibt der Gesetzgeber damit drei

Merkmale an, nämlich zwei positive, die Schwere des Eingriffs und seine Dauer, und ein

negatives, nämlich die Höchstgrenze mit 7% der näher definierten Investitionskosten. Da-

bei ist bereits hier anzumerken, dass § 12b Abs. 1 NNatG 2004 sich auf jede naturschutz-

rechtliche Eingriffslage bezieht. Eine sachgerechte Auslegung hat also zu beachten, dass

der Eingriff durch die Errichtung von Windenergieanlagen nur eine gewiss typische Fall-

gruppe, aber nicht selbst Regelungsgegenstand der gesetzlichen Vorschrift ist.

(2) Die genannten Merkmale sind rechtsstaatlich dann bestimmt, wenn mit ihrer Hilfe eine

hinreichend konkrete Bestimmung der Höhe der Ersatzzahlung bei einer Eingriffslage ab-

geleitet werden kann. Nach dem bloßen Wortlaut des § 12b Abs. 1 Satz 3 Halbs. 1 NNatG

2004 bestehen keine Anhaltspunkte dafür, wie ein nach Dauer und Schwere bewerteter

Eingriff in eine Ersatzzahlung "umzurechnen" ist.79

Das ist auch rechtsstaatlich nicht ge-

fordert (vgl. dazu unten näher). Gerade deshalb ist es von interpretatorischem Interesse und

als Befund aufzunehmen, in welcher Weise Behörden und Verwaltungsgerichte bislang

tatsächlich eine Präzisierung versucht haben. Gelingt es Behörden und Verwaltungsgerich-

ten nicht, zwischen Normtext und Zahlenwerk einen nachvollziehbaren, d.h. auch rechneri-

schen Ableitungszusammenhang herzustellen, dann darf man dies als Indiz dafür werten,

dass die gesetzlichen Kriterien nicht hinreichend geeignet sind, dem rechtsstaatlichen

Grundsatz der Bestimmtheit zu genügen. Als Prüfmaterial dienen drei Gerichtsentschei-

dungen, die sich ihrerseits auf behördliche Entscheidungen beziehen. Angefochten wurden

zwei Festsetzungsentscheidungen und hierauf bezogene Widerspruchsbescheide. Als Be-

fundmaterial stehen mithin vier Behördenentscheidungen und drei Judikate zur Verfügung.

3. VG Lüneburg – Urteil vom 20.9.2007

(1) Im Ausgangssachverhalt setzte der beklagte Landkreis mit Bescheid vom 27. Juli 2005

ein Ersatzgeld in Höhe von 199.058 € fest.80

Bei der Berechnung war der Landkreis von

einer Investitionssumme (Kosten für Planung und Ausführung einschließlich der Beschaf-

fungskosten für die Grundstücke) von rd. 1.860.000 € pro Windkraftanlage ausgegangen.

Die Genehmigung betraf die Errichtung von 8 Windkraftanlagen mit einer Nabenhöhe von

78

Veröffentlicht in der Rechtsdatenbank juris. 79

OVG Lüneburg vom 16.12.2009 - 4 LC 730/07 – NdsVBl 2010, 158 Rn. 58. 80

VG Lüneburg, Urteil vom 20.9.2007 - 2 A 569/06 – juris.

- 40 -

105 m und einem Rotordurchmesser von 90 m. Überstiegen die Kosten für die festgelegten

Ausgleichsmaßnahmen gemeinsam mit der Ersatzzahlung (199.058 €) 7 % der Investiti-

onskosten der Windkraftanlagen (= 1.041.880,- EUR), so sollten die über 7 % liegenden

Kostenanteile von der Ersatzzahlung „absetzbar“ sein. Zur näheren Berechnung heißt es im

Tatbestand des Urteils referierend:

„.. eine landschaftsgerechte Neugestaltung und die Festlegung von Ersatzmaßnah-

men für die Beeinträchtigung des Landschaftsbildes seien nicht möglich. Daher seien

Ersatzzahlungen nach § 12 b Abs. 1 Ziffer 1 NNatG festzusetzen, die unter Bewer-

tung von Dauer und Schwere des Eingriffs nach einem ungefähren Erfahrungswert

der Kosten für Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen höchstens 7 % der Investitions-

summe betrügen. Vorliegend sei unter Berücksichtigung einer mittleren Wertigkeit

der Beeinträchtigung (Herabstufung auf 5 % der Investitionssumme), der Vorbelas-

tung des Landschaftsraums mit 11 bereits vorhandenen Windkraftanlagen (weitere

Herabstufung auf 4 % und Abschlag von 0,1 % pro Anlage = 3 %) und unter Heraus-

rechnung sichtverstellter und sichtverschatteter Bereiche die Ersatzzahlung zu be-

rechnen. Bei einer Gesamtinvestitionssumme von 14.884.000,- EUR und einer tat-

sächlich beeinträchtigten Fläche von 1.628 ha (44,58 % der potentiell beeinträchtig-

ten Fläche von 3.652 ha) errechne sich daraus die festgesetzte Ersatzzahlung

(14.884.000,- EUR x 3 % x 44,58 % = rd. 199.058 EUR).“ Der hierauf bezogene

Widerspruchsbescheid bestätigte im Wesentlichen diese Berechnung, und zwar unter

Bezugnahme auf das „NLT-Papier“ 2005. Dieses bezeichnet der Bescheid als „pra-

xisgerechte und nachvollziehbare Empfehlung“. Allerdings berücksichtige das NLT-

Papier nicht, dass eine Beeinträchtigung des Landschaftsbildes für einen objektiven

Betrachter nicht stattfinde, wenn die Windkraftanlagen durch Bewuchs oder Bebau-

ung nicht sichtbar seien. Da mit Bescheid vom 10. Mai 2006 eine weitere Windkraft-

anlage genehmigt worden sei, sei die Investitionssumme entsprechend zu erhöhen

und ein Eingriff in das Landschaftsbild mit 9 Windkraftanlagen zu berücksichtigen.

Im Einzelnen ergebe sich nunmehr folgende - vom Ausgangsbescheid abweichende -

Berechnung (in €):

Investitionskosten insgesamt 16.361.362,00

max. zulässige Ersatzzahlung (7 %) 1.145.295,34

abzügl. Ausgleichsmaßnahmen - 339.994,43

nicht ausgleichbar verbleiben 805.300,91

abzügl. mittlere Wertigkeit (5 %) = 575.214.94

abzügl. Vorbelastung Landschaftsraum durch WKA (4 %) = 460.171,95

abzügl. 11 vorhandene WKA (3 %) = 345.128,96

abzügl. sichtverschatteter Bereich (44,58 %) = 153.858,49

abzügl. Ersatzzahlung pro WKA bei 9 WKA - 17.095,39

Ersatzzahlung für 8 WKA rd. = 136.763,00

(2) Obwohl der Ausgangs- wie auch der Widerspruchsbescheid darauf hinweisen, es solle

von NLT 2005 ausgegangen werden, kommen die Behörden zu sehr abweichenden Ergeb-

nissen. Der Zahlungsbetrag ist im Widerspruchsverfahren gegenüber dem Bescheidbetrag

von 199.058 € auf 136.763 € gemindert. Wenn selbst die befassten Behörden zu derartigen

Unterschieden gelangen, spricht dies bereits dem äußeren Anschein nach dagegen, dass die

„Empfehlungen“ des NLT 2005 von subsumtionsfähiger Klarheit sind. Das VG Lüneburg

meint in seinem klageabweisenden Urteil, bei seiner Berechnung habe der Beklagte nicht

nur die im NLT-Papier vorgesehenen Kriterien bei der angemessenen Bewertung der

Landschaftsbildbeeinträchtigung durch Windkraftanlagen angewandt, sondern weitere Kri-

- 41 -

terien zu Gunsten der damaligen Klägerin entwickelt und herangezogen. Das trifft für

Ausgangs- und Widerspruchsbescheid in unterschiedlichem Umfang zu.

(3) Tatsächlich hat das VG Lüneburg keine Rechtsprüfung im Sinne einer subsumtiven

Berechnung vorgenommen. Es hat vielmehr narrativ über die Berechnung des Wider-

spruchsbescheides berichtet. Dabei hat es in Anlehnung an das NLT-Papier 2005 die ein-

zelnen Berechnungsschritte des Widerspruchsbescheides als „nachvollziehbar und plausi-

bel“ (Rn. 22 des Urteils) bezeichnet. Im Ergebnis sei festzustellen, dass der im Wider-

spruchsbescheid festgesetzte Betrag, der lediglich 0,84 % der gesamten Herstellungskosten

beträgt, jedenfalls nicht in einem unangemessenen Verhältnis zu der Beeinträchtigung des

durch die Windkraftanlagen nachhaltig gestörten Landschaftsbildes stehe.

Die tatsächliche Vorgehensweise des VG Lüneburg zeigt auf, dass sich das Gericht auf ei-

ne Kontrolle der Nachvollziehbarkeit der behördlichen Berechnung beschränkt hat. Eine

eigene Berechnung hat das Gericht nicht vorgenommen. Ein Ableitungszusammenhang

zwischen Normtext und Betragshöhe ist nicht erkennbar. Das Gericht hat seine Kontroll-

funktion faktisch so praktiziert, als hätte es eine behördliche Entscheidung in der Weise zu

prüfen, wie es die Rechtsprechung für Entscheidungen mit behördlicher Einschätzungs-

prärogative entwickelt hat. Dies ist bereits hier als Befund festzuhalten. Die Einräumung

eines begrenzten behördlichen Entscheidungsspielraums bei der Auslegung und Anwen-

dung eines unbestimmten Rechtsbegriffes bedarf indes einer (besonderen) gesetzlichen

Ermächtigung.81

Der Umstand, dass für eine uneingeschränkte gerichtliche Kontrolle ggf.

fachspezifischer Sachverstand erforderlich ist und dies ggf. die Einholung von Sachver-

ständigengutachten erfordert, rechtfertigt noch nicht die Annahme eines administrativen

Beurteilungsspielraums und die Zurücknahme der gerichtlichen Kontrolldichte.

(4) Das VG Lüneburg versucht nicht einmal im Ansatz den Nachweis zu erbringen, dass §

12b Abs. 1 Satz 3 NNatG 2004 den niedersächsischen Behörden einen Beurteilungsspiel-

raum eröffnet habe. Dafür ist auch nichts erkennbar. Dass das Gericht in Verkennung der

sich aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG ergebenden gerichtlichen Kontrollaufgabe gleichwohl so

vorgeht wie es vorgeht, ist erklärungsbedürftig. Die Erklärung ist leicht zu finden. Sie liegt

in der für das VG Lüneburg fehlenden tatbestandlichen Subsumtionsfähigkeit des § 12b

Abs. 1 Satz 3 NNatG 2004. Aus diesem Grunde weicht es in die ihm geläufige Prüfungs-

ebene der Nachvollziehbarkeit aus. Das Gericht lässt es dabei bei einer Plausibilitätskon-

trolle der behördlichen Vorgaben bewenden. Gleichsam als „Zeuge“ in eigener Sache be-

stätigt das VG Lüneburg die fehlende Bestimmtheit der von ihm anzuwendenden Norm

eindrucksvoll. In seiner abschließenden Bemerkung kommt seine Entscheidungsintention

dabei gut zum Ausdruck: Es sei im Ergebnis festzustellen, dass der zu zahlende Betrag, der

lediglich 0,84 % der gesamten Herstellungskosten beträgt, jedenfalls nicht in einem unan-

gemessenen Verhältnis zu der Beeinträchtigung des durch die Windkraftanlagen nachhaltig

gestörten Landschaftsbildes stehe. Das mag sein. Das Gericht hatte aber dies nicht zu prü-

fen. Dass das VG Lüneburg hinsichtlich der Frage der rechtsstaatlich gebotenen Bestimmt-

heit arglos war, wurde bereits bemerkt.

81

Vgl. etwa u.a. BVerwG, Urteil vom 25.11.1993 - 3 C 38.91 - BVerwGE 94, 307 [309] = NVwZ 1995,

707; BVerwG, Urteil vom 21.12.1995 - 3 C 24.94 - BVerwGE 100, 221 [225] = DVBl 1996, 811 = NVwZ

1997, 179; BVerwG, Urteil vom 6.10.1998 - 6 C 11.98 - BVerwGE 107, 245 [253] = NVwZ-RR 1999, 254;

BVerwG, Beschluss vom 22.9.2005 - 1 WB 4.05 - DVBl 2006, 574; vgl. Nachweise auch bei Eberhard

Schmidt-Aßmann in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 197 ff.

- 42 -

4. VG Stade – Urteil vom 18.6.2009

(1) Im Ausgangssachverhalt setzte der beklagte Landkreis mit Bescheid vom 20. August

2007 ein Ersatzgeld in Höhe von 734.851 € fest.82

Die nähere Berechnung hatte das Natur-

schutzamt des Beklagten anhand des NTL-Papiers vorgenommen. Das Widerspruchsver-

fahren blieb ohne Erfolg. Die Widerspruchsbehörde bestätigt die Höhe der vom beklagten

Landkreis festgesetzten Ersatzzahlung. Im Ergebnis folgte der Widerspruchsbescheid der

Berechnung des Naturschutzamtes des Beklagten.

(2) Das VG Stade hält § 12b Abs. 1 NNatG 2004 für verfassungsgemäß. Dem beklagten

Landkreis sei es auch „im Wege einer rechtlich nicht zu beanstandenden Auslegung des §

12b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 NNatG 2004 gelungen, die Berechnung der Ersatzzahlung anhand

von objektiven Kriterien vorzunehmen und damit eine noch hinreichend voraussehbare und

damit willkürfreie Handhabung zu gewährleisten.“83

Bereits diese Sprachführung ist aus

dem Verständnis des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG jedenfalls irritierend. Auch das VG Stade

nimmt indes ähnlich wie das VG Lüneburg keine eigene Rechtsprüfung im Sinne einer

subsumtiven Berechnung vor. Vielmehr prüft das Gericht, ob die vom Beklagten zugrunde

gelegten Ansätze und Bewertungen nachvollziehbar sind. Diese Prüfung erfolgt zwar um-

fangreich, legt aber im Kern ausschließlich die vom Naturschutzamt des Beklagten aufge-

machte Berechnung zugrunde. Diese wird schrittweise auf ihre „Willkürfreiheit“ überprüft.

Wörtlich heißt es dazu in den Entscheidungsgründen:

„Vielmehr wird die Berechnung der Höhe der Ersatzzahlung ausgehend von 7 % der

Gesamtinvestitionskosten, insbesondere abzüglich der auf der Grundlage fachlicher

Bewertung ermittelten Bedeutung des Landschaftsbildes und der Auswirkungen des

Windparks, d.h. nach einzelnen vom NLT erarbeiteten Kriterien, der (praxisgerech-

ten) Umsetzung der Norm gerecht. Diese auf dem NLT-Papier fußende Berech-

nungsmethode ermöglicht eine im Mindestmaß voraussehbare Festsetzung der Höhe

der Ersatzzahlung und schließt auf der Grundlage fachlicher Beurteilungen eine will-

kürliche Handhabung durch den Beklagten aus.“84

Das VG Stade stellt dann fest, dass diese Berechnungsmethode auch im Einklang mit der

Begründung zur Gesetzesvorlage (LTags-Drucks. 15/395) stehe. Das kann indes schwer-

lich der Fall sein, denn die oben wiedergegebene Gesetzesvorlage enthält gerade keine Be-

rechnungsweise. Zudem muss sich das VG Stade vorhalten lassen, dass nicht die LTags-

Drucks. 15/395 (Gesetzesentwurf der Fraktionen der CDU und FDP) Grundlage des Geset-

zes war, sondern die Berichtsfassung des federführenden Umweltausschusses (LTags-

Drucks. 15/804 vom 11.2.2004 [ohne nähere Begründung85

], 15/2164 [Bericht] o.D.). Bei-

de Fassungen unterscheiden sich gerade in der Frage, ob die Beschaffungskosten für

Grundstücke zu berücksichtigen seien. Die Annahme, die in NLT 2005 erarbeiteten Krite-

rien stellten eine „praxisgerechte“ Umsetzung der Norm dar, verbietet sich bereits chrono-

logisch. Als die Arbeitsgruppe „Naturschutz und Windenergie“ beim Niedersächsischen

Landkreistag ihre Arbeit aufnahm, gab es keine Praxis in der Festsetzung der Höhe der Er-

satzzahlung. Sie konnte es auch nicht geben, weil die Pflicht zur Zahlung einer derartigen

Zahlung erstmals mit § 12b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 NNatG 2004 geschaffen wurde. Das Ge-

82

VG Stade, Urteil vom 18.6.2009 - 2 A 1277/08 – juris. 83

VG Stade, Urteil vom 18.6.2009 - 2 A 1277/08 – juris Rn. 65. 84

VG Stade, Urteil vom 18.6.2009 - 2 A 1277/08 – juris Rn. 67. 85

Vgl. dazu mündlicher Bericht in der Sitzung des Niedersächsischen Landtags am 18.2.2004 (s. Stenogra-

fischer Bericht, 26. Sitzung, S. 2718 f.).

- 43 -

richt suggeriert mit seiner Begründung eine Situation, die es nicht gab. Das NLT 2005-

Papier ist kein „geronnener Sachverstand“.

Die maßgebliche Rechtsfrage ist indes nicht, ob die Berechnungsmethode des NTL-Papiers

2005 mit § 12b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 NNatG 2004 kompatibel ist, sondern allenfalls, ob die

Berechnungsmethode des NTL-Papiers die einzig mögliche Interpretation des § 12b Abs. 1

Satz 1 Nr. 1 NNatG 2004 ist. Das nimmt das VG Stade selbst nicht an. Sonst wäre es kaum

verständlich, dass es sich in der Anwendungsprüfung auf eine Erörterung beschränkt, ob

der Beklagte zutreffend und „nachvollziehbar“ und „willkürfrei“ seiner Berechnung des

Ersatzgeldes einen Kompensationsansatz zugrunde gelegt hat.

(3) Gewiss ist der argumentatorische Aufwand, den das VG Stade in seinen Entschei-

dungsgründen niederlegt, deutlich höher als die seinerzeitige des VG Lüneburg. Im Kern

hat auch dieses Verwaltungsgericht vor einer eigenen subsumtiven Anwendung des § 12b

Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 NNatG 2004 kapituliert. Es hat sich auf eine Plausibilitätskontrolle des

behördlichen Entscheidungsergebnisses beschränkt. Auch das VG Stade bestätigt daher als

„Zeuge“ in eigener Sache die fehlende Bestimmtheit der von ihm anzuwendenden Norm

eindrucksvoll. Da das Gericht ein Mindestmaß an gerichtlicher Kontrolle gleichwohl ge-

währleisten will, weicht es auf die Prüfungsebene der Nachvollziehbarkeit aus, ohne hier-

für hinreichende Gründe anzugeben. Die von ihm zudem angegebenen Hinweise auf eine

„willkürfreie“ Entscheidung sind mehr als irreführend. Dass sich das Gericht in derartige

kritische Bereiche geradezu verirrt, zeigt fast mehr als eine dogmatische Analyse, in wel-

chem Dilemma sich das VG Stade eigentlich sah. Es versucht der Frage der Bestimmtheit

des § 12b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 NNatG 2004 dadurch zu begegnen, dass es das Prüfungspro-

fil faktisch auf eine Willkürkontrolle absenkte.86

5. OVG Lüneburg – Urteil vom 16.12.2009

5.1 Lösungsansatz des OVG Lüneburg – Urteil vom 16.12.2009

(1) Die bislang einzige Entscheidung des OVG Lüneburg zu § 12b Abs. 1 Satz 3 Halbs. 1

NNatG 2004 ist das Berufungsurteil vom 16.12.2009 zum vorerwähnten Verfahren des VG

Lüneburg (2007).87

Soweit ersichtlich wurden im seinerzeitigen Berufungsverfahren Be-

weisanträge nicht gestellt. Nach Ansicht des OVG Lüneburg verletzt die Festsetzung der

Ersatzzahlung auf 136.763 € die Klägerin nicht in ihren Rechten. Das Berufungsurteil

wurde rechtskräftig. Die nachfolgenden Bemerkungen beziehen sich nicht auf die Frage

der Verfassungsgemäßheit des § 12b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 NNatG 2004, sondern im vorlie-

genden Zusammenhang allein darauf, ob und wie das OVG Lüneburg die Höhe der festge-

setzten Ersatzzahlung für nicht kompensierbare Eingriffe in das Landschaftsbild gleichsam

einfachrechtlich geprüft und als rechtens angesehen hat.

(2) Das OVG Lüneburg führt aus: Nach dem bloßen Wortlaut des § 12b Abs. 1 Satz 3

Halbs. 1 NNatG 2004 bestünden keine Anhaltspunkte dafür, wie ein nach Dauer und

Schwere bewerteter Eingriff in eine Ersatzzahlung "umzurechnen" sei.88

Das Gericht meint

86

Das Berufungsverfahren 4 LC 244/09 wurde durch Vergleich beendet. Die Vergleichssumme betrug

352.073,68 €. Das entsprach dem gerichtlichen Vergleichsvorschlag. Die Forderung des beklagten Landkrei-

ses hatte 734.851 € betragen. 87

OVG Lüneburg vom 16.12.2009 - 4 LC 730/07 – NdsVBl 2010, 158 = NuR 2010, 133 = BauR 2010, 758

= BRS 74 Nr. 229 (2009). 88

Dort Rn. 58.

- 44 -

dazu interpretatorisch, dass mit zunehmender Perpetuierung und Erheblichkeit des Ein-

griffs auch die Höhe der Ersatzzahlung steigen müsse. Damit beschreibt das Gericht zu-

nächst einmal abstrakt eine Abhängigkeit verschiedener Merkmale, die § 12b Abs. 1 Satz 3

Halbs. 1 NNatG 2004 für relevant erklärt. Der Gesetzgeber habe die Naturschutzbehörde

zur Orientierung auf eine Obergrenze in Höhe von 7 % der Investitionskosten verwiesen.

Das OVG Lüneburg erläutert diese Obergrenze dahin, dass diese „einem ungefähren Erfah-

rungswert der Kosten von Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen“ entspreche. Diese Ober-

grenze setzt das Gericht alsdann interpretatorisch mit der höchsten Eingriffsintensität

gleich. Damit ist nach Auffassung des Gerichtes ein Bemessungsrahmen von 0 % bis 7 %

der Investitionskosten nach Maßgabe von Dauer und Schwere des Eingriffs eröffnet (Rn.

60, 62). Die nachfolgenden Bemerkungen beziehen sich zunächst nicht auf die naheliegen-

de Frage, mit welcher Methodik dieser so durch Auslegung geschaffene Bemessungsrah-

men in einer Weise konkretisiert werden kann, dass daraus nunmehr eine Betragszahl ab-

leitbar wird. Vielmehr soll an dieser Stelle zunächst nur gefragt werden, ob die vom OVG

Lüneburg vorgeschlagene Auslegung in ihren Prämissen zutrifft und damit interpretato-

risch belastbar ist. Die nachfolgenden Bemerkungen sollen aufzeigen, dass dies zu vernei-

nen ist. Auch das OVG Lüneburg kann dem § 12b Abs. 1 Satz 3 Halbs. 1 NNatG 2004

kein „solides“ Berechnungsverfahren entnehmen. Mehr soll an dieser Stelle nicht aufge-

wiesen werden.

5.2 Analyse der Interpretationsarbeit des OVG Lüneburg – Urteil vom 16.12.2009

Für die funktionale Deutung der normierten 7%-Prozentgrenze stehen grundsätzlich zwei

Sichtweisen zur Verfügung. Dieser unterschiedliche Zugriff wird durch die Wortwahl

„Obergrenze“ verschleiert.

5.2.1 Zwei Deutungsmuster des § 12b Abs. 1 Satz 3 Halbs. 1 NNatG 2004

Eine textnahe Sichtweise versteht die Anordnung des § 12b Abs. 1 Satz 3 Halbs. 1 NNatG

2004 als limitierende „Deckelung“ (Kappung), berechnet auf der Grundlage der konkreten

Investitionskosten. Gedanklich bedeutet dies, dass der Gesetzgeber es als möglich ansieht,

dass die Kriterien „Schwere“ und „Dauer“ des Eingriffs auch zu einer die Kappungsgrenze

übersteigenden Betragshöhe führen könnten. Das müssten dann etwa „Eingriffe mit beson-

ders schwerwiegenden Folgen“ sein, wie es in den Antwort der Landesregierung vom

8.7.2009 (LTags-Drucks. 16/1416) heißt. Ein anderes Verständnis vertritt das OVG Lüne-

burg. Das Gericht versteht die Obergrenze des § 12b Abs. 1 Satz 3 Halbs. 1 NNatG 2004

als inhaltlichen Rahmen (Rn. 59) der zu betrachtenden Eingriffsintensität. Diese Auffas-

sung liegt auch den „Arbeitspapieren“ NLT 2005, 2007 und 2011 zugrunde. Die unter-

schiedlichen Sichtweisen haben prinzipielle Bedeutung. Sie nehmen interpretatorischen

Einfluss auf die Frage, wie die Berechnung des Ersatzgeldes nach Maßgabe des vorgege-

ben Gesetzestextes strukturell zu erfolgen hat. Daher soll dies hier behandelt werden.

Die Zielsetzung des OVG Lüneburg ist verständlich. Das Gericht versucht, das gesetzliche

Kriterium der Schwere und Dauer des Eingriffs in einem Berechnungsmodell abzubilden.

Das Ziel zu erreichen misslingt, wie nunmehr aufzuweisen ist. Das Gericht scheitert letzt-

lich an einem konstruktiven Mangel des Gesetzes. Das ist kein Vorhalt gegenüber dem Ge-

richt. Hier soll nur aufgewiesen werden, dass auch das interpretatorische Bemühen des

OVG Lüneburg an der legislatorischen Fehlkonstruktion nichts ändern kann.

- 45 -

5.2.2 Entstehungsgeschichtliche und grammatikalische Vorgaben

(1) Entgegen der dezidierten Bekräftigung des OVG Lüneburg entspricht sein Interpretati-

onsansatz jedenfalls nicht dem historischen Willen des Landesgesetzgebers. Dieser hat die

7%-Prozentgrenze als „Deckelungsgrenze“ (Kappungsgrenze) angesehen und normiert.

Das zeigt zunächst die seinerzeitige Begründung des Gesetzesentwurfes der Fraktionen der

CDU und der FDP (LTags-Drucks. 15/395 vom 3.9.2003). Die gewählte Obergrenze von

7% der Investitionssumme entspreche „einem ungefähren Erfahrungswert der Kosten von

Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen“, heißt es dort.89

Da bis zum Inkrafttreten des § 12b

Abs. 1 Satz 3 Halbs. 1 NNatG 2004 keine eigenen Erfahrungswerte in Niedersachsen ge-

sammelt sein konnten, kann es sich nur um andere, mithin „fremde“ handeln. Die Begrün-

dung der nahezu zeitgleich verabschiedeten Entschließung des Landtages gesteht dies auch

zu.90

Der Entschließungsantrag wurde von Fraktionen der CDU und der FDP eingebracht

(LTags-Drucks. 15/793). In ihm wird darauf verwiesen, dass der Wert von 7 % auf Er-

kenntnissen im Fernstraßenbau infolge der Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ basiere.91

Das trifft zu. Anhand der Akten des nds. Ministeriums für Umweltwelt lässt sich dazu fol-

gendes festhalten: In einem Vermerk des Referates 28 vom 9. Juli 2003 (Aktz. 28-

22450/1/1) wird die Frage der Ersatzgeldzahlung bei naturschutzrechtlichen Eingriffen er-

örtert. Der Vermerk bezieht sich auf eine Ministervorlage, die der Novellierungsarbeit

2003 dienen soll. In ihm heißt es u.a.:

„Das Landesamt teilt auf Anfrage mit, dass es keine belastbaren Zahlen über die Gesamtaufwen-

dungen für Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen gibt. Dies wird erst zum Teil möglich sein, wenn

das im Aufbau befindlichen Flächenkataster für Kompensationsmaßnahmen vollständig eingeführt

und entsprechend mit Daten gefüllt ist. Eine frühere Kostenerhebung des BMVBW hat bei Bun-

desfernstraßen einen durchschnittlichen Kostenanteil der Maßnahmen im Verhältnis zu den ge-

samten Baukosten von 3,5 % ergeben. Eine Nachfrage bei den Bezirksregierungen Lüneburg und

Weser-Ems als Planfeststellungsbehörden ergibt, dass diese Behörden über keine Statistiken hin-

sichtlich der Kompensationsmaßnahmen beim Gewässerschutz (insbes. Küstenschutz / Deich-

schutz) verfügen.“

In einem weiteren Vermerk vom 10. Juli 2003 heißt es dazu ergänzend:

Die Kosten für Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen machen bei den Verkehrsprojekten Deutsche

Einheit bezogen auf Gesamtinvestitionssumme 5 bis 7 Prozent aus (Angaben von H. Hassmann,

Nieders. Straßenamt für Straßenbau, bei Seminar der Vereinigung der Straßenbau- und Verkehrs-

89

Die Textstelle lautet vollständig: „Hier soll eine Kompensationszahlung gefordert werden, um den Vor-

habenträger nicht besser als andere zu stellen. Als Maßstab für deren Höhe dient die Dauer und Schwere des

Eingriffs. Da diese Merkmale im Einzelfall nicht immer ohne weiteres festgestellt und in einen Geldbetrag

umgewandelt werden können, ist als Obergrenze ein Wert von 7 % der Investitionssumme festgelegt. Dies

entspricht einem ungefähren Erfahrungswert der Kosten von Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen. Durch Her-

ausnahme von Beschaffungskosten für Grundstücke soll verhindert werden, dass die Kompensationszahlung

je nach Zeitpunkt des Grundstückserwerbs höher oder geringer ausfällt. Zudem werden die Beeinträchtigun-

gen von Natur und Landschaft nicht durch das Grundstück selbst, sondern durch das auf dem Grundstück zu

verwirklichende Vorhaben bewirkt. Insofern ist es auch angemessen, die Kosten für das Grundstück nicht zu

berücksichtigen.“ 90

Der Vergleich zum Straßenbau der Projekte der „Deutschen Einheit“ ist bereits für sich genommen dubi-

os. Er lässt in keiner Hinsicht erkennen, auf welcher Investitionsgrundlage überhaupt gerechnet wurde. 91

Mutmaßlich bezieht sich die Entschließungsbegründung auf folgende Dokumentation: DEGES, Schriftli-

che Mitteilungen über Preisspannen und Mittelpreise zu trassenfernen Kompensations- und trassennahen Ge-

staltungsmaßnahmen im Zuge mehrerer Autobahnneubau- und Autobahnausbauvorhaben, 2002; DEGES,

Schriftliche Mitteilungen über Kosten für Kompensationsmaßnahmen im Zuge mehrerer Infrastrukturvorha-

ben, 2002. Dem Gutachter stehen diese Berichte nicht zur Verfügung.

- 46 -

ingenieure e. V. „Umweltverträglichkeitsprüfung im Straßenbau“ am 18.02.1998, unveröffent-

licht).

Auf diesem gewiss schwankenden und unsicheren empirischen Boden beruht letztlich die

Gesetz gewordene Regelung. Niemand hat sich im exekutivischen und parlamentarischen

Verfahren erkennbar die Mühe gemacht, die Frage der Vergleichbarkeit der Datenmenge

ernsthaft aufzuwerfen.

(2) Noch viel deutlicher ist der (schriftliche) Bericht des federführenden Umweltausschus-

ses des Nds. Landtages, der zugleich über die Diskussionslage aus der durchgeführten An-

hörung berichtet (Text wiedergegeben oben S. ??).92

Die Problemebene wird von Anfang an in einer „Deckelung der Ersatzgeldzahlungen auf 7

% der Investitionskosten“ gesehen. Dann heißt es ferner recht deutlich: „Die Ausschüsse

waren in ihrer großen Mehrheit vielmehr der Meinung, dass an der 7 %-Deckelung zu-

nächst festgehalten werden sollte“. Man will also den Erfahrungssätzen der Verkehrspro-

jekte „Deutsche Einheit“ folgen. Dann fügt der Bericht noch hinzu: „Eine Deckelung die-

ses Betrages durch den Anteil der Investitionskosten, der bei einem Vorhaben erfahrungs-

gemäß auf Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen verwandt werden muss, ist sachgerecht. Die

7 %-Grenze erscheint zunächst einmal als ein für die praktische Arbeit tauglicher Wert.“

Nimmt man die Äußerungen der Entwurfsbegründung und des Ausschussberichtes zu-

sammen, so ist die historische Sichtweise hinsichtlich der Ableitung des 7%-Satzes und der

Funktion eindeutig und insoweit in sich stimmig. Man kann auch die entwicklungsge-

schichtliche Gegenprobe machen: Es gibt keinerlei Hinweise dafür gibt, dass irgendeiner

der am Gesetzgebungsprozess des Beteiligten zu § 12b NNatG 2004 von einer Rahmenre-

gelung ausgegangen ist. In der Aussprache im Plenum des Landtages betont der Abg. Axel

Miesner (CDU) für die Regierungskoalition nochmals: „Wir sind davon überzeugt, dass

die 7 %-Regelung, die auf Erkenntnissen im Fernstraßenbau „Deutsche Einheit“ basiert,

auch auf diesem Gebiet zu pragmatischen Ergebnissen führen wird. Wir möchten jedoch

auch Erfahrungen mit anderen Bauprojekten sammeln und plädieren daher für die Über-

prüfung nach fünf Jahren.“ Auch die Berichterstatterin des Umweltausschusses, die Abg.

Sigrid Rakow (SPD), spricht in der Landtagssitzung vom 18. Februar 2004 ausdrücklich

von einer „Deckelung auf 7 %“ und äußert dazu verfassungsrechtliche Bedenken.93

Auch

zu § 6 Abs. 1 NAGBNatSchG 2010 sind insoweit neue Erwägungen nicht angestellt wor-

den.

(3) Der Prozentsatz selbst wird als „Erfahrungswert der Kosten von Ausgleichs- und Er-

satzmaßnahmen“ verstanden. Diese historische Sicht findet im Gesetzeswortlaut auch ihren

Niederschlag, in dem die Ersatzzahlung „höchstens“ 7% der Bemessungsgrundlage betra-

gen darf. Beiläufig sei bemerkt: Es war und ist ein kühnes Unterfangen, die gegenständlich

allein aus straßenrechtlichen Eingriffslagen rechnerisch abgeleitete Obergrenze verallge-

meinernd auf alle Fälle des naturschutzrechtlichen Eingriffs zu übertragen. Allen Beteilig-

ten dürfte bewusst gewesen sein, dass es bei der Umsetzung in § 12b NNatG 2004 vorran-

92

Die Verfahrensweise des nds. Landesgesetzgebers darf als ungewöhnlich bezeichnet werden. Die Be-

schlussempfehlung des zuständigen Umweltausschusses datiert vom 11.2.2004 Bericht (LTags-Drucks.

15/804). Die Berichterstatterin, die Abg. Sigrid Rakow (SPD), erstattet in der Sitzung des Niedersächsischen

Landtags am 18.2.2004 einen „mündlichen“ Bericht (26. Sitzung, Sten. Ber. S. 2718 f.). In derselben Sitzung

ergeht der Gesetzesbeschluss. Der schriftlichen Bericht wird erst am 7.9.2005 „nachgereicht“ (LTags-

Drucks. 15/2164). Die Berichterstatterin gibt ihre „Erklärung“ indes nur „zu Protokoll“. Man hatte sich im

Ausschuss zuvor beim Gesetzgebungs- und Beratungsdienst (GBD) ohnedies um Formulierungshilfe für die

Gesetzesänderung versichert und diese auch erhalten. 93

26. Sitzung vom 18.2.2004, Sten. Ber. S. 2721.

- 47 -

gig oder fast ausschließlich um die Eingriffslage bei Windenergieanlagen gehen würde.94

Die vom Landesgesetzgeber in seiner Begründung vorgenommene Gleichsetzung der Ein-

griffs- und Kompensationslage von Straßenbau und Windenergieanlagen scheitert an ei-

nem Mindestmaß an tatsächlicher und rechtlicher Vergleichbarkeit der zu beurteilenden

Eingriffslagen. Autobahnneubauvorhaben und Autobahnausbauvorhaben erforderten und

erfordern in unterschiedlicher Weise trassenferne Kompensations- und trassennahe Gestal-

tungsmaßnahmen. Die dadurch ausgelösten Kosten lassen sich in der Tat zwar jeweils als

Teil der Gesamtkosten des Vorhabens verstehen und errechnen. Die Rechtsgrundlagen für

derartige Ersatzmaßnahmen bestimmen sich nach dem jeweiligen Landesnaturschutz-

recht.95

Das gilt auch für Enteignungsmaßnahmen.96

Diese Berechnungsweise spiegelt aber

in keiner Weise die Dauer und die Intensität des jeweiligen Eingriffs „vor Ort“ wieder. Ein

innerer Zusammenhang der Kosten der Ersatzmaßnahmen im Autobahnbau mit den jewei-

ligen Investitionskosten des Vorhabens (etwa je Bau-km) ist ohnedies nicht gegeben. Der-

artige Berechnungen dienen nur dazu, kennzahlengestützte Kostenschätzungen zu ermögli-

chen. Das bedingt eine gewisse Typik. Das alles fehlt bei Windenergieanlagen oder Hoch-

spannungsleitungen. Es gibt dort keinen flächenbezogenen „Landschaftsverbrauch“. Es

spricht auch für sich, dass der Gesetzgeber am 18. Februar 2004 zugleich mit dem Geset-

zesbeschluss eine „Überprüfungsentschließung“ fasste. Man war sich also seiner empiri-

schen Fundierung nicht einmal prognostisch sicher.

(4) Die 7-%-Regelung ist ohnedies nicht einmal hinsichtlich der Verkehrsprojekte Deut-

scher Einheit (DEGS) hinreichend rational ableitbar. Es lagen außer zum Fernstraßenbau

keine belastbaren Erkenntnisse vor. Es handelt sich ausschließlich um eine rechnerisch ab-

geleitete Zahl. Beim Straßenbau gehen Bund und Land davon aus, dass alle Eingriffe in

den Naturhaushalt und in das Landschaftsbild durch Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen

voll kompensierbar sind. Es gibt mithin bei Straßenbauvorhaben grundsätzlich überhaupt

keine Ersatzzahlungen. Die Kompensationsmaßnahmen für das Landschaftsbild sind im

Straßenbau von völlig untergeordneter Bedeutung im Vergleich zur Beeinträchtigung des

Naturhaushalts. Beeinträchtigung des Naturhaushalts bedeutet Störung der Leistungs- und

Funktionsfähigkeit des Naturhaushaltes (vgl. § 14 Abs. 1 BNatSchG 2009). Bei Windener-

gieanlagen ist dies in der Tendenz gerade umgekehrt. Auch insoweit fehlt es strukturell an

einer Verallgemeinerungsfähigkeit.

5.2.3 Das Modell der „gleitenden“ Berechnung des OVG Lüneburg – 16.12.2009

5.2.3.1 Ausgangsthese: Von der Kappungsgrenze zum „Höchstwert“

Es ist von weiterführendem Interesse, wie das OVG Lüneburg auf der Grundlage seiner

Vorstellung der Parallelität von Eingriffsintensität und Kostenberechnung eine gerichtliche

Kontrolle des angegriffenen Festsetzungsbescheides ermöglichen will. Die gegebene Be-

gründung erweist sich als zwiespältig.

94

Das macht es auch verständlich, dass der NLT als erstes (2005) die Arbeitsgruppe „Naturschutz und

Windenergie“ einsetzte. 95

Vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 23.2.2005 - 4 A 4.04 - BVerwGE 123, 37 Rn. 51 = DVBl 2005, 914 =

NVwZ 2005, 803 (§ 9 Abs. 3 SächsNatSchG); BVerwG, Urteil vom 1.9.1997 - 4 A 36.96 - BVerwGE 105,

178 = DVBl 1998, 44 = NVwZ 1998, 504 (zu § 7 Abs. 2 NatSchVorlG TH). 96

Vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 23.2.2005 - 4 A 1.04 DVBl 2005, 913 = NVwZ 2005, 810 Rn. 58 (§ 9

Abs. 3 SächsNatSchG); BVerwG, Urteil vom 23.8.1996 - 4 A 29.95 - DVBl 1997, 68 = NVwZ 1997, 486 (zu

(§ 14 BbgNatSchG); BVerwG, Urteil vom 28.1.1999 - 4 A 18.98 - NVwZ-RR 1999, 629 (zu § 1 Abs. 3

NatSchG MV 1); BVerwG, Urteil vom 1.9.1997 - 4 A 36.96 - BVerwGE 105, 178 = DVBl 1998, 44 =

NVwZ 1998, 504 (zu § 7 Abs. 2 NatSchVorlG TH).

- 48 -

In einer Kernaussage führt das Gericht aus (Rn. 63), dass „die vom Beklagten unter An-

wendung der NLT Hinweise 2005 gewählte Methode der Gewichtung von der gesetzlich

bestimmten Obergrenze von 7 % der Investitionskosten ausgeht und im konkreten Anwen-

dungsfall abhängig von der Wertigkeit des beeinträchtigten Landschaftsbildes, der vorhan-

denen Vorbelastungen und der Fernwirkungen der Beeinträchtigung eine Reduzierung die-

ses Wertes vornimmt“, keinen Bedenken begegne. Dem liegt der Gedanke zugrunde, den

in § 12b Abs. 1 Satz 3 Halbs. 1 NNatG 2004 enthaltenen „Höchstwert“ nicht als Kap-

pungsgrenze, sondern als den Fall intensivster naturschutzrechtlicher Beeinträchtigung zu

verstehen. Auf dieser interpretatorischen Grundlage ist dann nach seiner Ansicht eine line-

are Betrachtung im Sinne einer Intensitätskurve des Eingriffs nachzuzeichnen. Das OVG

Lüneburg lässt dann gleichwohl offen, ob der vom Gesetzgeber vorgegebene Bewertungs-

rahmen durch die NLT Hinweise 2005 bzw. 2007 zutreffend ausgefüllt wird.

Das Gericht begründet dies mit der Erwägung, die beklagte Behörde habe den vom Ge-

setzgeber festgelegten Bewertungsrahmen anhand der im hier zu beurteilenden konkreten

Einzelfall nachgewiesenen Wertigkeit des beeinträchtigten Landschaftsbildes und der In-

tensität der Beeinträchtigungen durch die genehmigten Windkraftanlagen in einer Weise

„ausgefüllt“, die den Vorhabenträger zumindest nicht in seinen Rechten verletze.

5.2.3.2 Logische Friktionen in der hermeneutischen Ableitung

(1) Dem statuierten Höchstsatz von 7% der Investitionskosten liegen – wie dargelegt – so

genannte „Erfahrungswerte“ zugrunde. Gemeint ist damit eine Durchschnittsbetrachtung,

also ein Mittelwert. Als Bezugsgröße werden in den Ausschussberatungen die Investiti-

onskosten angegeben.97

Der Gesetzgeber übernimmt diese Sicht. Der Umfang der Investi-

tionskosten wird alsdann gesetzgeberisch fixiert. Inhaltlich variiert die Bezugsgröße zwi-

schen der Fassung des Gesetzesentwurfes und der Ausschusslösung. Das macht es nicht

überzeugender, dass man von einem „Erfahrungswert“ ausgegangen sei. Auch die Antwort

der Landesregierung vom 8.7.2009 (LTags-Drucks. 16/1416) klärt dies nicht näher auf.

Danach entspreche die 2004 festgelegte Obergrenze „den im Bundesfernstraßenbau ermit-

telten Kosten für Kompensation und wurde vom Gesetzgeber aus diesem Grunde als Ober-

grenze gewählt.“ Auch das OVG Lüneburg selbst spricht an anderer Stelle zutreffend von

„durchschnittlichen Kosten von Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen“. Dies darf man so

verstehen, dass es einen Erfahrungssatz gibt, welche Kosten eine Mehrzahl von Vorhaben-

trägern aufwenden muss, wenn sie Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen durchführen müs-

sen. Nur dann gibt es Sinn, von einem „Erfahrungswert“ zu sprechen. Über diesen Erfah-

rungswert hinaus soll eine Belastung nicht eintreten. Der Ausschussbericht bezeichnet die-

se Funktion zutreffend als „Deckelung“.

Damit wird bestätigt, dass der Erfahrungswert als „Mittelwert“ verstanden werden soll. Es

handelt sich also um einen variablen Wert, der aus den tatsächlich aufgebrachten Kosten

von Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen abgeleitet wird. Das ist genau die Vorstellung des

Landtages, wenn er in einer Entschließung eine Überprüfung der Deckelung nach Ablauf

von fünf Jahren für erforderlich ansieht. Denn dann – so darf man ergänzen –, kann man

aus der Umsetzung des NNatG 2004 inzwischen „eigene“ Erfahrungswerte ableiten.

97

Wie wenig die politischen Gremien allerdings die Sachlage durchschauen, zeigt sich darin, dass der Satz

von 7% unverändert bleibt, obwohl sich Entwurf und Ausschussbericht im Umfang der Investitionskosten

unterscheiden. Das wäre nur dann unerheblich, wenn die Beschaffungskosten für Grundstücke unbedeutend

wären. Dass gerade dies nicht der Fall ist, zeigt die politische Auseinandersetzung im Nds. Landtag.

- 49 -

(2) Eine Mittelwertannahme und die darauf bezogene begrenzende Deckelungsfunktion

schließen sich denkgesetzlich aus. Eine Mittelwertannahme erlaubt in concreto keine linea-

re Rückrechnung. Die Summanden, die zu einem Mittelwert geführt haben, bleiben unbe-

kannt. Die Ermittlung der Durchschnittskosten erfolgte in der Regel über das arithmetische

Mittel aus den Einzelkosten zahlreicher Vorhaben. In der Logik des Mittelwertes – sowohl

eines arithmetischen oder ggf. eines gewichteten – liegt es, dass es Werte gibt, die oberhalb

des errechneten Durchschnittswertes liegen. Bereits damit ist das Verständnis des OVG

Lüneburg überaus kritisch, man könne aus dem Erfahrungswert einer Kappungsgrenze eine

lineare, das heißt gleichmäßige Stufung der Einzelwerte vornehmen und dies mit der

(mutmaßlichen) Eingriffstiefe korrelieren. Das Gericht weist in seiner Begründung nicht

auf, wie ihm dies unter der von ihm selbst gebilligten Prämisse eines durchschnittlichen

Erfahrungswertes möglich ist. Das ist auch nicht möglich: Aus einem gegebenen arithmeti-

schen Mittel lässt sich nun einmal keine ordinale Verteilung zurückrechnen.

Verständlich wird dieser Irrtum, wenn man sich das Bemühen des Gerichtes vor Augen

hält, der gesetzgeberischen Regelung des § 12b Abs. 1 Satz 3 Halbs. 1 NNatG 2004 ein ir-

gendwie anwendungsfähiges Berechnungsmodell zu entnehmen. Um dieses zu erreichen,

akzeptiert das OVG Lüneburg nicht nur eine bedenkliche logische Unschärfe, sondern

übergeht zudem den unzweifelhaften historischen Begründungszusammenhang. Die von

ihm angenommene lineare Deutung des § 12b Abs. 1 Satz 3 NNatG 2004 missachtet vor

allem die klar ausgesprochene Deckelungsfunktion. Mit der Deckelung unterstellt der Ge-

setzgeber gerade, dass es eine höhere Kostenbelastung gegeben hat und diese demgemäß

auch nicht auszuschließen ist. Der Gesetzgeber nimmt gerade hin, dass bei durchzuführen-

den Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen ein Kostenvolumen (§ 12b Abs. 1 Satz 2 NNatG

2004) bestehen kann, das den Erfahrungswert von 7% der Investitionskosten übersteigt.

Will man überhaupt einen Zusammenhang von Investitionskosten und Eingriffsintensität

herstellen – was fragwürdig genug ist –, dann setzt § 12b Abs. 1 Satz 3 NNatG 2004 eine

Eingriffsintensität voraus, die auch oberhalb von 7 % liegen kann.

Damit ist die vom OVG Lüneburg zugrunde gelegte Auslegung des § 12b Abs. 1 Satz 3

NNatG 2004 jedenfalls nicht durch die Entstehungsgeschichte legitimierbar. Sein Versuch,

eine erste interpretatorische Präzisierung der „Obergrenzen“ durch Parallelität von Kosten-

limitierung und Eingriffsintensität zu gewinnen, muss als gescheitert angesehen werden.

Nochmals: Der Versuch ist ehrenwert, aber er kann wegen konstruktiver Mängel der ge-

setzgeberischen Lösung interpretatorisch nicht gelingen. Durch Auslegung lassen sich die

immanenten und grundlegenden Mängel des § 12b Abs. 1 Satz 3 NNatG 2004 nicht besei-

tigen. Es gibt keinen interpretatorisch aufzuhellenden Zusammenhang zwischen kostenspa-

render Kappung und Intensität der Eingriffslage.

5.2.3.3 Inhaltliche Bedenken gegen den Interpretationsansatz des OVG Lüneburg

Es gibt auch innere Gründe, aus denen sich die vom OVG Lüneburg favorisierte Lösung

verbietet. Diese liegen zum einen in den entstehungsgeschichtlich belegbaren Zielsetzun-

gen der Regelung. Zum anderen aber in dem auch vom Landesgesetzgeber zu beachtenden

Grundsatz der Gleichbehandlung.

(1) Der Gesetzgeber hat ein Berechnungsmodell wählen wollen, das denkbare Vorteile des

Vorhabenträgers, den dieser dadurch haben kann, dass er nicht mit berechnungsfähigen

Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen belastet ist, durch die Ersatzzahlung gleichsam ab-

- 50 -

schöpft. Das ist die Belastungsstruktur des Vorhabenträgers. Darin schwingt auch der Ge-

sichtspunkt der ökonomischen Gleichbehandlung mit. Der Bundesgesetzgeber bringt dies

deutlich mit dem Kriterium des „Vorteils“, der zu berücksichtigen sei, zum Ausdruck (vgl.

§ 15 Abs. 6 Satz 3 BNatSchG 2009).98

Das meint eigentlich auch das OVG Lüneburg. An

der tatsächlich eintretenden Beeinträchtigung von Natur und Landschaft ändert das System

der Ersatzgeldzahlung ohnedies nichts. Die gesetzgeberische Zielsetzung kommt zunächst

darin zum Ausdruck, dass der Landesgesetzgeber überhaupt Ersatzgeldzahlungen für den

Fall des unvermeidbaren und nicht ausgleichsfähigen Eingriffs vorsieht.

Wenn dieser „Vorteil“ allein in den ersparten Aufwendungen für Ausgleichs- und Ersatz-

maßnahmen gesehen werden soll, dann erlaubt der ermittelte „Erfahrungswert“ von 7% der

Investitionskosten keine nochmalige Abstufung nach der Intensität und Dauer des Ein-

griffs. Die Maßgeblichkeit dieser Kriterien ist nämlich – wie dargelegt – bereits im (durch-

schnittlichen) Erfahrungswert enthalten. Bereits hier sieht man, dass der Gesetzgeber sich

in einen Zirkel begeben hat. Aus der Höhe der Investitionskosten sinnvolle Aussagen über

Schwere und Dauer des Eingriffs abzuleiten, ist nun einmal – auch pauschalierend – ver-

fehlt.99

Damit kann der kraft Bundesrecht bestehende naturschutzrechtliche Grundsatz der

Kompensation (vgl. § 15 Abs. 2 BNatSchG 2009) nicht hinreichend gesichert werden. Der

grundlegende Gesichtspunkt ist der der „Wiedergutmachung“, bezogen auf den status quo

ante. Die darin liegende Einstandspflicht des Verursachers wird dadurch begrenzt, dass er

nur, aber auch nicht mehr als dasjenige auszugleichen hat, was aufgrund der durch das zu-

gelassene Projekt ausgelösten Wirkungen auszugleichen ist.100

Für den Bereich der mögli-

chen Naturalkompensation wird der Gedanke der ökonomischen Belastung ausgeschaltet.

Es liegt auf der Hand, dass ein sehr tiefgreifender Eingriff in die Funktionsfähigkeit des

Naturhaushaltes möglicherweise mit sehr geringem Kostenaufwand an anderer Stelle „er-

satzmäßig“ ausgeglichen werden kann. Dann besitzt der Vorhabenträger gleichsam einen

„Lagevorteil“.101

Auch das Umgekehrte gilt: Ein relativ geringer Eingriff in die Funktions-

fähigkeit des vorhandenen Naturhaushaltes erfordert möglicherweise einen erheblichen

Kostenaufwand, um diesen Eingriff an anderer Stelle „ersatzmäßig“ im Sinne einer natur-

schutzrechtlichen Gesamtbilanz ausgleichen zu können. Dieser durchaus wechselseitige

Zurechenzusammenhang ist dem naturschutzrechtlichen Ausgleichssystem immanent. Es

gibt in der bundesrechtlichen Zielsetzung des § 15 Abs. 6 BNatSchG 2009 keinen Anhalt

dafür, dass ein subsidiäres, nämlich finanzielles Ausgleichssystem diese Systemimmanenz

relativieren will. Jedes Berechnungsmodell muss ergebnisbezogen leisten, dass bei annä-

hernd gleicher Eingriffsintensität nach Dauer und Schwere des Eingriffs eine annähernd

gleichhohe Ersatzzahlung begründet werden kann. Dabei sind wichtige Indikatoren der

Wert des Schutzgutes, in das eingegriffen wird, einerseits und das Gewicht des Eingriffs

andererseits. Das kann man sich leicht bei einem Vergleich von Onshore-WEA mit Offs-

hore-WEA vor Augen führen.

98

Man muss an der Rationalität der niedersächsischen Gesetzgebung zweifeln. In der parlamentarischen

Auseinandersetzung wird betont, dem Vorhabenträger, dem eine reale Ausgleichs- oder Ersatzmaßnahme

nicht möglich sei, dürfe daraus kein ökonomischer Vorteil erwachsen. Dann ist es unverständlich, wenn der

Landesgesetzgeber das in § 15 Abs. 6 Satz 3 BNatSchG 2009 statuierte Kriterium des „erwachsenen“ Vorteil

in § 6 NAGBNatSchG 2010 gerade „abgewählt“ hat. 99

So deutlich BVerwG, Beschluss vom 5.4.2002 - 4 B 15.02 - ZfBR 2003, 50 = BauR 2002, 1835 = BRS

65 Nr. 223 (2002). 100

Vgl. Erich Gassner, Zur Verfassungswidrigkeit naturschutzrechtlicher Ersatzzahlungen, in: DVBl 2011,

1268-1274 [1269]. 101

Vgl. dazu auch Erich Gassner, Zur Verfassungswidrigkeit naturschutzrechtlicher Ersatzzahlungen, in:

DVBl 2011, 1268-1274 [1272]; Hans-Ulrich Marticke, Zur Methodik einer naturschutzrechtlichen Aus-

gleichsabgabe, in: NuR 1996, 387-399 [393].

- 51 -

Es fehlt also in § 12b Abs. 1 NNatG 2004 und damit auch in § 6 Abs. 1 NAGBNatSchG

2010 an einem interpretatorisch herstellbaren Synallagma zwischen Eingriffsintensität und

Bemessungsgrundlage, wie sie der Landesgesetzgeber in der Kappungsgrenze zugrunde

legt. Der Gesetzgeber hat sich schlicht vertan.102

Das interpretatorische Bemühen des OVG

Lüneburg wird verständlich, wenn man es vor dem Hintergrund sieht, die innere Wider-

sprüchlichkeit des § 12b Abs. 1 Satz 3 NNatG 2004 einerseits und die damit verbundene

Unbestimmtheit eines nachvollziehbaren Berechnungsverfahrens andererseits zu verste-

hen.103

Das Gericht bemüht sich, die Schwelle der verfassungswidrigen Unbestimmtheit in-

terpretatorisch zu überwinden. Das gebotene Synallagma zwischen Eingriffsintensität und

Bemessungsgrundlage ist bundesrechtlich nicht nur für die vom Landesgesetzgeber nor-

mierte Kappungsgrenze geboten, sondern auch für das vom OVG Lüneburg verfolgte

„Rahmenkonzept“ des § 6 Abs. 1 NAGBNatSchG 2010. Hier gilt die Forderung nach ei-

nem berechnungsfähigen Synallagma erst recht. Das OVG Lüneburg will für sein Konzept

offenbar annehmen, dass das skizzierte Synallagma gewahrt bleibt. Indes gibt es zwischen

der Höhe der Investitionskosten – mit welchem Inhalt auch immer – und der Intensität des

naturschutzrechtlichen Eingriffs, der „fingierend“ ausglichen werden soll, keinen inhaltli-

chen Zusammenhang.104

Das galt auch stets für den Straßenbau. Ein Brückenbauwerk in

einem Gebiet mit geringem Naturschutzwert wird beispielweise hohe Investitionskosten

auslösen, während die Aufwendungen für das benötigte Ersatzland verhältnismäßig gering

sind. Auch hier gilt das Umgekehrte: Die Eingriffsintensität kann beispielsweise bei einem

Bodenabbau hoch sein, während die Projektkosten vergleichsweise gering sind. Das Krite-

rium der Investitionskosten hat zudem keinen inhaltlichen Bezug zum bundesrechtlich

vorgegebenen Kriterium der Dauer des Eingriffs. Das OVG Lüneburg will offenlassen, ob

die ausschließliche Ausrichtung der Höhe der Ersatzzahlung an der Höhe der Investitions-

kosten eine sachfremde Anknüpfung darstellt.105

Der mit § 12b Abs. 1 Satz 3 HS. 2 NNatG

2004 gesetzte Rahmen knüpfe nur vordergründig an die Investitionskosten an, letztlich

aber an den durchschnittlichen Kosten von Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen, „die ledig-

lich in Relation zu den Investitionskosten abgebildet“ worden seien.106

Das kann nicht

überzeugen. Das Gericht übersieht, dass die gesetzgeberisch maßgebende Relation aus der

Feststellung absoluter Beträge (Kosten) gewonnen und alsdann verallgemeinert wurde. Es

wird eben nicht isoliert gefragt, welches die im Straßenrecht entstehenden durchschnittli-

chen Kosten von Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen sind. Eine derartige Feststellung ist

ohne Erkenntniswert, wenn sie nicht in Korrelation zu einer anderen Größe gesetzt wird.

Wählt der Gesetzgeber dazu die jeweiligen Investitionskosten, dann kommt er nicht umhin,

den Nachweis zu führen, dass zwischen der Höhe dieser Kosten und der naturschutzrecht-

lichen Eingriffslage ein innerer Zusammenhang besteht. Gerade diesen Nachweis vermisst

man in der Begründung des Gerichts.

(2) Die gesetzgeberische Kappungsgrenze als solche wirft bereits Fragen der Gleichbe-

handlung auf. Maßstab ist die gesetzespolitische Zielsetzung, Vorteile für jene Gruppe ab-

zuschöpfen, deren Vorhaben einen unvermeidbaren und nicht ausgleichsfähigen Eingriff

darstellt. Für diese Gruppe sieht der Gesetzgeber eine Deckelung vor. Für diejenigen Vor-

haben, bei denen der Eingriff durch Ausgleichs- und Ersatzmaßnahen kompensationsfähig

102

Wie hier Stephan Gatz, Windenergieanlagen in der Verwaltungs- und Gerichtspraxis, Bonn 2009, S. 138

Rn. 310. 103

Zur Unbestimmtheit vgl. Erich Gassner, Zur Verfassungswidrigkeit naturschutzrechtlicher Ersatzzahlun-

gen, in: DVBl 2011, 1268-1274 [1273]. 104

Wie hier Stephan Gatz, Windenergieanlagen in der Verwaltungs- und Gerichtspraxis, Bonn 2009, S. 138

Rn. 310; Peter Fischer-Hüftle/Anke Schumacher, in: Peter Fischer-Hüftle/Jochen Schumacher (Hrsg.),

BNatSchG, 2. Aufl. 2011, § 15 Rn. 142. 105

Rn. 62 a.E. 106

Rn. 62.

- 52 -

ist, besteht keine Begrenzung der vom Vorhabenträger zu erbringenden Aufwendungen.

Maßgebend ist allein, ob der Eingriff ausgeglichen wird (vgl. § 19 Abs. 2 S. 2 BNatSchG

2002, § 15 Abs. 2 S. 2 BNatSchG 2009). Dass diese Aufwendungen oberhalb der Kap-

pungsgrenze von 7% liegen können, zeigt gerade – wie erörtert – der vom Landesgesetz-

geber zugrunde gelegte Durchschnittswert. Das bedeutet: In der betriebswirtschaftlichen

Berechnung kann es durchaus sein, dass die Kosten für die durchzuführenden Ausgleichs-

und Ersatzmaßnahmen einen Satz von 7 % übersteigen. Das wird nahezu regelhaft dann

der Fall sein, wenn das Vorhaben mit geringen Investitionskosten, aber vergleichsweise

höherer Eingriffsintensität verbunden ist. Beide Gruppen werden also ungleich behandelt.

Art. 3 Abs. 1 GG verbietet einerseits, Sachverhalte ungleich zu behandeln, wenn sich die

Differenzierung sachbereichsbezogen nicht auf einen vernünftigen oder sonst einleuchten-

den Grund zurückführen lässt107

, und andererseits, Art und Ausmaß tatsächlicher Unter-

schiede sachwidrig außer Acht zu lassen.108

Die gesetzliche Differenzierung muss sachbe-

reichsbezogen sein. Das ist nicht erkennbar. Die naturschutzrechtliche Eingriffslage ist für

beide Gruppen – wie bereits erörtert – strukturell identisch. Es ist kein Grund dafür er-

kennbar, weshalb nicht für beide Gruppen eine Kappungsgrenze statuiert wurde.

Das soll hier weiter nicht vertieft werden. Hervorzuheben ist etwas anderes: Die bestehen-

de Ungleichbehandlung wirkt sich bei dem vom OVG Lüneburg entwickelten „linearen“

Modell der Eingriffsintensität verstärkend aus. Denn nun wird noch deutlicher, dass der

Zusammenhang zwischen der Höhe des Ersatzgeldes und der Intensität des Eingriffs kaum

noch herzustellen ist. Ein „nach Dauer und Schwere“ eher als gering anzunehmender Ein-

griff in Natur und Landschaft kann im Falle möglicher Realkompensation gleichwohl er-

hebliche kostenintensive Maßnahmen erfordern.109

Sind Ausgleichs- und Ersatzmaßnah-

men möglich, sieht das Gesetz für den Vorhabenträger keine Abgabengrenze vor. Sind

derartige Maßnahmen nicht möglich, wird die ökonomische Belastung auf 7% der Investi-

tionskosten limitiert. Das gesetzgeberische Ziel der Vermeidung von Vorteilen der letztge-

nannten Gruppe gegenüber der erstgenannten wird also gerade nicht erreicht. Mit anderen

Worten: Der Landesgesetzgeber führt das zugrunde gelegte Verursacherprinzip (vgl. § 15

Abs. 1 Satz 1 BNatSchG 2009) nicht folgerichtig durch.110

Dieses Prinzip begründet gera-

de den Zusammenhang zwischen eingriffsbedingter Beeinträchtigung von Natur und Land-

schaft und zugeordneter Kompensation. Insoweit ist das Prinzip sowohl haftungsbegrün-

dend als auch in der Belastung limitierend. Ohne Frage gehört das naturschutzrechtliche

Verursacherprinzip zu den „allgemeinen Grundätzen“ im Sinne des Art. 72 Abs. 3 S. 1 Nr.

2 GG (vgl. auch Art. 191 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV). Es steht damit nicht zur Disposition des

Landesgesetzgebers.

Systemwidriges Vorgehen des Gesetzgebers ist, für sich genommen, noch nicht verfas-

sungswidrig, erlangt dann jedoch verfassungsrechtliche Relevanz, wenn die einfachgesetz-

liche Regelung sich in ihren prägenden Elementen als Ausdruck verfassungsrechtlicher

Grundsätze darstellt. Dies kann bei der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung der Fall

sein. Verantwortung des Verursachers, Grundsätze des Bestandsschutzes und der Ressour-

107

Vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 31.1.1996 - 2 BvL 39/93 - BVerfGE 93, 386 [397] = DVBl 1996,

503. 108

Vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 3.4.2001 - 1 BvR 1629/94 - BVerfGE 103, 242 [258] = DVBl 2001,

902. 109

Wie hier Stephan Gatz, Windenergieanlagen in der Verwaltungs- und Gerichtspraxis, Bonn 2009, S. 138

Rn. 310. 110

Vgl. zu diesem Grundsatz BVerwG, Urteil vom 20.1.1989 – 4 C 15.87 – BVerwGE 81, 220 = DVBl

1989, 658 (Naturschutzrechtliche Ausgleichsabgabe in Baden-Württemberg); vgl. auch BVerwG, Urteil vom

4.7.1986 - 4 C 50.83 - BVerwGE 74, 308 = DVBl 1986, 1009 (Zulässigkeit einer naturschutzrechtlichen

Ausgleichsabgabe in Baden-Württemberg).

- 53 -

censchonung fordern Vermeidung von nachteiligen Einwirkungen und im Fall unvermeid-

barer Beeinträchtigungen deren Kompensation.111

Die Gleichbehandlung erfordert als

Maßstab innere Systemgerechtigkeit und Belastungsgleichheit. Ob also § 6 Abs. 1 NAG-

BNatSchG 2010 sich systemgerecht in die grundsätzlichen Strukturen des Naturschutz-

rechts einfügt, ist angesichts der normprägenden Vorgaben des Art. 20a GG auch verfas-

sungsrechtlich relevant. Auch wenn also eine systemwidrige Durchbrechung der geltenden

Eingriffsregelung noch nicht per se das Verdikt des Verfassungsverstoßes begründet, indi-

ziert sie doch einen relevanten normativen Rückschritt.

5.3 Fehlende Anwendungssicherheit des „Linearkonzeptes“ des OVG Lüneburg –

16.12.2009

(1) Das OVG Lüneburg gibt in seinem Urteil vom 16. Dezember 2009 selbst keinen eige-

nen Maßstab an, an dem es die Richtigkeit der im Streitfall festgesetzten Ersatzgeldhöhe

misst. Dann müsste das Gericht nämlich in der Lage sein, den entsprechenden Betrag auch

ohne eine von der beklagten Behörde gegebene Begründung festzulegen. Das ist dem Ge-

richt ersichtlich nicht möglich. Das Gericht verfährt – wenngleich mit einem deutlich hö-

heren interpretatorischen Aufwand – strukturell ebenso wie die Vorinstanz. Auch als Beru-

fungsgericht beschränkt es sich auf eine Plausibilitätskontrolle der behördlichen Vorgaben.

Dazu wird eine Reihe von Erwägungen angestellt. Das Gericht verhält sich also wie die

Vorinstanz. Es prüft und erörtert allein, ob die von der beklagten Behörde aufgemachte

Rechnung der gesetzlichen Rechtslage entspricht, ohne diese selbst subsumtionsfähig aus-

zulegen. Das ist nichts anderes als die Überlegung, ob die von dem Beklagten vorgegebene

Berechnung „nachvollziehbar“ ist. Das Gericht beschränkt sich damit auf die Prüfung, ob

die Festsetzungsentscheidung des Landkreises zu einem offensichtlich falschen Ergebnis

führt, von einem falschen Sachverhalt ausgeht und auch im übrigen plausibel erscheint.

(2) Für diese Vorgehensweise – selbst auf der Grundlage seines „linearen“ Anwendungs-

modells – müsste das OVG Lüneburg den Nachweis erbringen, dass § 12b Abs. 1 Satz 3

NNatG 2004 den niedersächsischen Behörden einen Beurteilungsspielraum eröffnet. Das

wird nicht gesagt. Aber faktisch wird so verfahren. Mit seiner Auffassung räumt das OVG

Lüneburg dem jeweiligen Landkreis der Sache nach eine Letztentscheidungsbefugnis über

die Abgabenhöhe ein. Sieht man sich die tatsächliche Praxis des Gerichtes näher an, so

wird die fehlende Berechenbarkeit offenkundig. Bemerkenswert ist es zum einen, dass das

Gericht einzelne Berechnungskomponenten des NLT-Modells in Frage stellt. Gefragt oder

problematisiert wird, ob es sich bei Eingriffen in das Landschaftsbild durch Windkraftan-

lagen überhaupt um einen Eingriff gerade höchster Intensität handelt, ob die Bewertungs-

faktoren der einzelnen NLT-Papiere für die Bewertung des Landschaftsbildes angemessen

sind, ob Sichtverschattungen abgezogen werden müssen und ob die Kosten der Realkom-

pensation abgezogen werden dürfen und müssen. Das Kritikpotential derartiger Fragen ist

ein klares Verdikt gegenüber der „Selbstwahrnehmung“ der NLT-Papiere, hier würde ein

interpretatorisches Ergebnis der Gesetzeslage referierend angegeben. Das OVG Lüneburg

vermag dieses Defizit selbst nicht zu substituieren. Zum anderen: Die vom Gericht zu §

12b NNatG 2004 eingeleitete und durchaus erfolgreich umgesetzte Vergleichspraxis belegt

nicht nur das hohe Maß an Rechtsunsicherheit, sondern die erschreckende Beliebigkeit der

behördlichen Festsetzungen. Dem Gutachter sind folgende Beispiele aus der Vergleichs-

praxis bekannt gemacht worden:

111

Vgl. Christoph Degenhart, Regelungsmöglichkeiten des Bundes zur Gleichstellung von Ersatzgeld und

Naturalkompensation im Rahmen der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung – verfassungsrechtliche

Rahmenbedingungen (Expertise), Leipzig Januar 2011.

- 54 -

Berufungsverfahren Ausgangsbehörde Widerspruchsbehörde VG Vergleichswert OVG

4 LC 244/09 734.851.00 € 677.606.47€ 112 352.073,68 €

4 LC 107/09 322.952.00 € 243.080.00€ 200.000,00 €

4 LC 108/09 121.107.00 € 69.000.00 €

4 LC 277/09 102.068.00 € 77.886,93€ 113 46.033,22 €

Das ist eine erstaunliche Schwankungsbreite. Sie zeigt mit Deutlichkeit, dass die behörden-

interne Bewertung einer „basarartigen“ Festsetzungspraxis ersichtlich der Realität ent-

spricht. Die erkennbare Vergleichspraxis stellt das Modell, welches das OVG Lüneburg in

seinem Urteil vom 16. Dezember 2009 interpretatorisch zu entwickeln suchte, selbst nach-

drücklich in Frage, und zwar unabhängig davon, dass dieses Modell keinen hinreichenden

Ableitungszusammenhang mit der vorgegebenen gesetzlichen Textlage besitzt.

6. Ergebnis der Analyse der Spruchtätigkeit der nds. Verwaltungsgerichte

(1) Als Befund der Analyse der bisherigen Spruchtätigkeit der niedersächsischen Verwal-

tungsgerichte lässt sich festhalten: Die Variationsbreite des interpretatorischen Zugriffs ist

außerordentlich. Keine der drei untersuchten Entscheidungen kann einen korrekten Ablei-

tungszusammenhang zwischen den Kriterien der „Schwere“ und der Dauer“ des natur-

schutzrechtlichen Eingriffs einerseits und der Höhe des Ersatzgeldes andererseits inter-

pretatorisch, d.h. mit den üblichen Regeln der Auslegung, darstellen. Angesichts dieses Be-

fundes prognostizierte Stephan Gatz (2009) in seiner Arbeit „Windenergieanlagen in der

Verwaltungs- und Gerichtspraxis“, man werde auf der Vollzugsebene zu höchst unter-

schiedlichen Ergebnissen gelangen.114

Das ist zutreffend. Der Befund ist indes noch

schwerwiegender. Die Spruchpraxis hat sich auf eine Plausibilitätskontrolle eingelassen.

Damit steht hinreichend fest: Der Vorhabenträger kann nicht einmal im Ansatz wissen,

welche Zahlungsverpflichtungen auf ihn zukommen werden.115

Er kann auch nicht erwar-

ten, dass diese Unbestimmtheit des § 12b Abs. 1 Satz 3 NNatG durch eine klarstellende

Spruchpraxis gemildert wird. Es mag bereits zweifelhaft sein, ob die Rechtsprechung

überhaupt gehalten ist, Unklarheiten über den Anwendungsbereich von Rechtsätzen durch

Präzisierung und Konkretisierung im Wege der Auslegung nach Möglichkeit auszuräu-

men.116

Selbst wenn man dies – in Grenzen – annähme, haben die drei behandelten Ent-

scheidungen dazu nichts beigetragen. Zwar hat sich das OVG Lüneburg um eine inhaltli-

che Interpretation bemüht. Es ist ihm aber nicht gelungen, anwendungsbezogene Kriterien

zu entwickeln. Das Gericht hat keine nachvollziehbaren Kriterien dafür zu benennen ver-

mocht, in welcher Höhe das Ersatzgeld im Einzelfall zu bestimmen ist.117

Im Ergebnis hat

es sich bei seiner Prüfung auf eine Plausibilitätskontrolle beschränkt. Es hat sich eher täu-

schen lassen: Der Zahlenwert von 7% Investitionskosten, verstanden als arithmetische Mit-

telwert, darf jedoch nicht dahingehend missverstanden werden, dass er das allein "richtige"

Ergebnis ausdrückt. Er setzt vielmehr das Vorhandensein von höheren und niedrigeren

112

Herabsetzung durch beklagten Landkreis in mündlicher Verhandlung beim VG. 113

Herabsetzung durch beklagten Landkreis in mündlicher Verhandlung beim VG. 114

Stephan Gatz, Windenergieanlagen in der Verwaltungs- und Gerichtspraxis, Bonn 2009, S. 139 Rn. 313. 115

Stephan Gatz, Windenergieanlagen in der Verwaltungs- und Gerichtspraxis, Bonn 2009, S. 139 f. Rn.

316. 116

Jüngst bejahend für § 266 StGB BVerfG, Beschluss vom 23.6.2010 - 2 BvR 2559/08 - BVerfGE 126,

170 = NJW 2010, 3209 (Untreue Landowsky). 117

Vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 12.7.2006 - 10 C 9.05 - BVerwGE 126, 222 Rn. 35 = DVBl 2006, 1520

= NVwZ 2006, 1413

- 55 -

Werten voraus, denen die Statistik innerhalb einer Bandbreite keine beachtlich größere o-

der geringere Wahrscheinlichkeit zurechnet. Der mathematisch exakt ermittelte Zahlenwert

– die Vergleichbarkeit einmal unterstellt - täuscht eine Genauigkeit vor, die ihm nicht zu-

kommt und bei zutreffender Betrachtung als Kappungsgrenze auch nicht zukommen

soll.118

(3) Die Unbestimmtheit eines Berechnungsverfahrens findet ihren Grund in der inneren

Widersprüchlichkeit des § 12b Abs. 1 NNatG. Diese ergibt in erster Linie aus der Verwen-

dung einer von vornherein ungeeigneten Bemessungsgrundlage (Investitionskosten). Die-

ser Befund verstärkt sich, wenn die Deckelung bzw. die vom OVG Lüneburg angenomme-

nen Obergrenze eines Rahmens sich nur auf den „Restschaden“ und nicht auf die Gesamt-

kompensation bezieht. Die bundesrechtlich vorgegebenen Kriterien der Dauer und Schwe-

re des Eingriffs reichen dazu offenbar nicht aus, auf dieser Grundlage die Höhe des Ersatz-

geldes zu bestimmen. Das OVG Lüneburg führt zutreffend aus, dass Vollkompensation bei

einer Beeinträchtigung des Landschaftsbildes durch Windkraftanlagen mit einer Nabenhö-

he von mindestens 50 m nur in Ausnahmefällen möglich sei.119

Wenn nach dem bloßen

Wortlaut des § 12b Abs. 1 Satz 3 Hs. 1 NNatG keine Anhaltspunkte dafür bestehen, wie

ein nach Dauer und Schwere bewerteter Eingriff in eine Ersatzzahlung "umzurechnen" ist,

dann muss die Unbestimmtheit der gesetzlichen Regelung diagnostiziert werden.

E. Rechtsstaatswidrige Unbestimmtheit des § 12b Abs. 1 Satz 2 NNatG 2004

und des § 6 Abs. 1 NAGBNatSchG 2010

I. Fragestellung

Der zu D. dargestellte Befund ist eindeutig. Die analysierten Judikate haben im Ergebnis

darauf verzichtet, ein interpretatorisch ableitbares Berechnungssystem für die Höhe der

jeweiligen Ersatzzahlung darzustellen. Eine methodengerechte Auslegung, welche diesen

Namen noch verdient, ist nicht möglich Die analysierten Judikate haben – um es zu wie-

derholen – das Berechnungssystem des § 12b Abs. 1 NNatG 2004 durch eine Plausibili-

tätskontrolle substituiert.

Das wirft die Frage nach den Gründen für diese Vorgehensweise der Spruchgerichte auf.

Diese müssen schwerwiegender Art sein. Denn die angerufenen Gerichte waren sich ohne

Zweifel bewusst, dass sie unter dem verfassungsrechtlichen Gebot des Art. 19 Abs. 4 Satz

1 GG standen, einen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten. Dazu gehörte es, die ange-

fochtenen Verwaltungsakte in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht auf ihre Rechtmäßig-

keit vollständig nachzuprüfen. Sie waren sich gewiss auch darüber im Klaren, dass sie kei-

ne Beurteilungsspielräume „erfinden“ durften. Es gab zudem keinerlei Anhalt dafür, dass

der Landesgesetzgeber genau dies mit § 12b Abs. 1 Satz 2 NatSchG 2004 beabsichtigt ge-

habt haben könnte. Ohnedies darf der Gesetzgeber die durch Art 19 Abs. 4 S. 1 GG garan-

tierte Effektivität der Gerichte nicht durch Beurteilungsspielräume für einen ganzen Sach-

bereich aushebeln (siehe näher dazu unten).120

Die Gerichte dürfen nicht durch eine fern-

liegende Interpretation oder ein Normverständnis, das keine klaren Konturen erkennen

118

Vgl. in einem anderen Zusammenhang BVerwG, Urteil vom 17.4.2002 - 9 CN 1.01 - BVerwGE 116,

188 = DVBl 2002, 1409 = NVwZ 2002, 1123. 119

Rn. 45 f. 120

BVerfG, Beschluss vom 31.5.2011 - 1 BvR 857/07 – NVwZ 2011, 1062; BVerfG, Beschluss vom

20.2.2001 - 2 BvR 1444/00 - BVerfGE 103, 142 [156] = DVBl 2001, 637.

- 56 -

lässt, dazu beitragen, bestehende Unsicherheiten über den Anwendungsbereich einer Norm

noch zu erhöhen.

Wenn sich also die niedersächsischen Verwaltungsgerichte trotz dieses verfassungsrechtli-

chen Anforderungsprofils an einer Plausibilitätskontrolle der jeweils gegebenen Begrün-

dung des Festsetzungsbescheides ausrichteten – um überhaupt ein Mindestmaß an Rechts-

schutz zu eröffnen –, dann scheint es für diese Vorgehensweise nur eine hinreichende Er-

klärung zu geben, nämlich die Unbestimmtheit der Regelung. Und so formuliert das VG

Stade geradezu entlarvend, wenn es ausführt, dem beklagten Landkreis sei es auch „im

Wege einer rechtlich nicht zu beanstandenden Auslegung des § 12b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1

NNatG gelungen, die Berechnung der Ersatzzahlung anhand von objektiven Kriterien vor-

zunehmen und damit eine noch hinreichend voraussehbare und damit willkürfreie Handha-

bung zu gewährleisten“.121

Anders ausgedrückt: § 12b Abs. 1 Satz 2 NatSchG 2004 ent-

behrt der inhaltlichen Steuerungsqualität. Gerade dies ist jedoch ein verfassungsrechtlich

relevantes Defizit.

Das OVG Lüneburg nimmt für sich in Anspruch, innerhalb eines von ihm für richtig gehal-

tenen Rahmenkonzepts einzelne Kriterien abweichend von den Begründungen der Behör-

den festzulegen. Damit verfolgt das Gericht unverändert eine Plausibilitätskontrolle, auch

wenn es das eine oder andere Begründungselement neu entwickelt, dieses dann gegen Be-

gründungselemente der zu überprüfenden Behördenentscheidungen austauscht oder solche,

welche die Behörde gewählt hat, im Einzelfall bestätigt. Das alles vermag das diagnosti-

zierte Gesamtbild des „rechtlichen Chaos“ nicht zu verändern. Um überhaupt zu einer Ent-

scheidungsreife zu gelangen, akzeptiert das Gericht mithin ein Verfahren des muddling

through. In seiner Habilitationsschrift „Das Kompensationsprinzip“ hat Andreas Voßkuhle

1998 das Grundproblem mit großer Klarheit beschrieben. Eine Monetarisierung von Um-

weltgütern und eine Monetarisierung von Umweltschäden schließt grundsätzlich einen

Rückgriff auf (reine) Marktpreise aus.122

Aus eben diesem Grunde muss eine Rückkoppe-

lung an Investitionskosten als systemwidrig scheitern. Eine Simulierung einer preisbezo-

gene Marksituation ist vor allem bei Beeinträchtigungen eines Landschaftsbildes nicht

möglich. Im vorliegenden Fallbereich scheiden auch verhaltensorientierte „Ersatzmodelle“

aus. Ein kostenorientiertes Vorgehen ist nicht möglich. Voßkuhle folgert aus dieser Lage,

dass nur durch eine „geordnete“ Dezision eine rechtsstaatlich akzeptable Lösung möglich

ist. Im parlamentarischen System erfordert dies gesetzlich statuierte Konkretisierungshil-

fen, die eine differenzierende Anwendungspraxis erlauben.

II. Bestimmtheit von Gesetzesnormen – Rechtsanwendungsgleichheit

1. Bundesverfassungsrechtliche Problemebene und generelle inhaltliche Ausformung

(1) Das rechtsstaatliche Gebot der Gesetzesbestimmtheit und das Postulat der Rechtsan-

wendungsgleichheit können sowohl dem Landesverfassungsrecht als auch dem Bundesver-

fassungsrecht entnommen werden. Insoweit es dem Bundesrecht entnommen wird, bindet

es auch den Landesgesetzgeber. Die Grundzüge des Gebots der Gesetzesbestimmtheit sind

anhand der Judikatur des BVerfG schnell geklärt, desgleichen der Inhalt der Anwendungs-

121

VG Stade, Urteil vom 18.6.2009 - 2 A 1277/08 – juris Rn. 65. 122

Andreas Voßkuhle, Das Kompensationsprinzip: : Grundlagen einer prospektiven Ausgleichsordnung für

die Folgen privater Freiheitsbetätigung – zur Flexibilisierung des Verwaltungsrechts am Beispiel des Um-

welt- und Planungsrechts, Tübingen 1999, S. 399; vgl. auch Matthias Behrens-Egge, Monetäre Bewertung

von Umweltgütern - Möglichkeiten und Grenzen der Monetarisierung in der Umweltpolitik, 1989.

- 57 -

gleichheit nach Maßgabe des allgemeinen Gleichheitssatzes. In den Zielsetzungen bestehen

in Rechtsprechung und Schrifttum keine Meinungsverschiedenheiten. Die Grundsätze des

Rechtsstaates fordern, dass auch Ermächtigungen der Exekutive zur Vornahme belastender

Verwaltungsakte durch das ermächtigende Gesetz nach Inhalt, Gegenstand, Zweck und

Ausmaß hinreichend bestimmt und begrenzt sind, so dass die Eingriffe messbar und in ge-

wissem Umfang für den Staatsbürger voraussehbar und berechenbar werden.123

Zugleich

ist das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit zu beachten. Danach gilt zusammenfassend:

(2) Das in Art. 20 Abs. 3 GG verankerte Rechtsstaatsprinzip begründet das Gebot hinrei-

chender Bestimmtheit der Gesetze.124

Das ist im Kern nicht zweifelhaft. Gesetzliche Tat-

bestände sind so zu fassen, dass die Betroffenen die Rechtslage erkennen und ihr Verhalten

daran ausrichten können. Welche Anforderungen an die Bestimmtheit zu stellen sind, lässt

sich indes nicht generell und abstrakt festlegen, sondern hängt auch von der Eigenart des

Regelungsgegenstands und dem Zweck der betroffenen Norm ab.125

Nach dem Rechtsstaatsgebot sind vor allem Eingriffsregelungen so bestimmt zu fassen,

wie dies nach der Eigenart der zu ordnenden Lebenssachverhalte und mit Rücksicht auf

den Normzweck möglich ist.126

Jeder Rechtsunterworfene muss in zumutbarer Weise er-

kennen können, was von ihm verlangt wird.127

Gesetzliche Tatbestände sind so zu fassen,

dass die Betroffenen die Rechtslage erkennen und ihr Verhalten daran ausrichten kön-

nen.128

Sie müssen für ihr Verhalten selbst entscheiden können, ob die tatsächlichen Vo-

raussetzungen für die in der Rechtsnorm ausgesprochene Rechtsfolge vorliegen.129

Die Be-

stimmtheit wird also gefordert aus Gründen der Rechtssicherheit und des effektiven

Rechtsschutzes durch gerichtliche Kontrollfähigkeit der exekutivischen Anwendung. Ne-

ben die verfassungsrechtlich verbürgte Rechtsschutzgarantie tritt das Demokratieprinzip.

Dieses verlangt eine nachprüfbare Gesetzesbindung. Der Gesetzgeber ist daher gehalten,

seine Regelungen so bestimmt zu fassen, wie dies nach der Eigenart des zu ordnenden Le-

benssachverhalts mit Rücksicht auf den Normzweck möglich ist. Insoweit ergibt sich aus

den Zielwerten bereits ein Minimum an Eindeutigkeit.130

Das gilt insbesondere für Er-

mächtigungsgrundlagen, die belastende Eingriffe erlauben. Grundrechtseingriffe verlangen

verschärfte Anforderungen an die Präzisierung der Norm.131

123

So bereits BVerfG, Beschluss vom 12.11.1958 - 2 BvL 4/56 - BVerfGE 8, 274 = DVBl 1959, 171 (Er-

mächtigung im Sinne des § 2 Abs. 1 PreisG zum Erlass von Rechtsverordnungen und Verwaltungsakten zur

Aufrechterhaltung der Preisstabilität). 124

BVerfG, Beschluss vom 7.5.2001 - 2 BvK 1/00 - BVerfGE 103, 332 [384] = DVBl 2001, 1415 =

NVwZ-RR 2002, 81. 125

BVerfG, Beschluss vom 20.6.2012 - 2 BvR 1048/11 - NJW 2012, 3357 Rn. 118; BVerfG, Beschluss

vom 23.6.2010 - 2 BvR 2559/08 - BVerfGE 126, 170 [196] = NJW 2010, 3209; BVerfG, Beschluss vom

3.6.1992 - 2 BvR 1041/88 - BVerfGE 86, 288 [311] = NJW 1992, 2947; BVerfG, Beschluss vom 15.4.1970 -

2 BvR 396/69 - BVerfGE 28, 175 [183]. 126

Vgl. BVerfG, Beschluss vom 18.5.2004 - 2 BvR 2374/99 - BVerfGE 110, 370 [396] = NVwZ 2004,

1477; BVerfG, Beschluss vom 9.8.1995 - 1 BvR 2263/94 und 229, 534/95 - BVerfGE 93, 213 [238] = NJW

1996, 709; BVerfG, Urteil vom 17.11.1992 - 1 BvL 8/87 - BVerfGE 87, 234 [263] = NJW 1993, 643. 127

BVerfG, Beschluss vom 26.9.1978 - 1 BvR 525/77 - BVerfGE 49, 168 [181] = DVBl 1978, 881 = NJW

1978, 2446. 128

BVerfG, Beschluss vom 17.7.2003 - 2 BvL 1/99 - BVerfGE 108, 186 = DVBl 2003, 1388 = NVwZ

2003, 1241 Rn. 172. 129

BVerfG, Beschluss vom 24.11.1981 - 2 BvL 4/80 - BVerfGE 59, 104 Rn. 32 = NJW 1982, 1275; vgl.

auch BVerfG, Beschluss vom 23.4.1974 - 1 BvR 6/74 - BVerfGE 37, 132 [142] = DVBl 1974, 675. 130

Vgl. BVerfG, Beschluss vom 8.5.1988 - 2 BvR 579/84 - BVerfGE 78, 205 [212] = DVBl 1988, 839. 131

BVerfG, Beschluss vom 24.11.1981 - 2 BvL 4/80 - BVerfGE 59, 104 [114] = NJW 1982, 1275; BVerfG,

Beschluss vom 3.6.1992 BVerfGE 86, 288 [311] = NJW 1992, 2947 (lebenslange Freiheitsstrafe); BVerfG,

Beschluss vom 27.11.1990 - 1 BvR 402/87 - BVerfGE 83, 130 [152] = DVBl 1991, 261 (Josefine Mutzenba-

cher).

- 58 -

Deshalb ist im Wege einer wertenden Gesamtbetrachtung unter Berücksichtigung mögli-

cher Regelungsalternativen zu entscheiden, ob der Gesetzgeber seinen Verpflichtungen

nachgekommen ist. Eine weiterführende Testfrage lautet hier, ob es für den Landesgesetz-

geber keine Möglichkeit einer Konkretisierung gab. Diese Frage ist zu bejahen, wie ein

Blick in § 15 Abs. 7 BNatSchG 2009 und in andere landesgesetzliche Regelungen ergibt.

Kein anderes Land hat – wie es Niedersachsen in § 6 Abs. 2 NAGBNatSchG 2010 getan

hat – die Ermächtigungsregelung des § 15 Abs. 7 BNatSchG 2009 ausgeschlossen. Dabei

muss erneut daran erinnert werden, dass § 12b Abs. 1 Satz 2 NNatG2004 oder § 6 NAGB-

NatSchG 2010 sich zwar in tatsächlicher Hinsicht auf Windenergieanlagen beziehen, diese

aber nicht normierter Regelungsgegenstand sind.

(3) Das rechtsstaatliche Gebot der Bestimmtheit kann die prinzipielle Unbestimmtheit jen-

seits mathematischer Festlegungen wegen der grundsätzlichen Unbestimmtheit aller textli-

chen Vorgaben nicht beseitigen. In diesem Sinne gibt es stets in der Sprache und ihrer Ver-

schriftlichung eine semantische „Unschärferelation“.132

Das Bestimmtheitsgebot bedeutet

also nicht, dass der Gesetzgeber gezwungen wäre, sämtliche Tatbestände ausschließlich

mit unmittelbar in ihrer Bedeutung für jedermann erschließbaren deskriptiven Tatbe-

standsmerkmalen zu umschreiben. Es schließt die Verwendung wertausfüllungsbedürftiger

Begriffe bis hin zu Generalklauseln nicht von vornherein aus.133

Daher kann es genügen,

wenn sich der Inhalt der vom Gesetzgeber zugelassenen Belastung im Wege der Ausle-

gung der einschlägigen Bestimmung mit Hilfe der anerkannten Auslegungsregeln feststel-

len lässt.134

Dabei kann eine Präzisierung durch Heranziehung anderer Vorschriften des-

selben Gesetzes, durch Berücksichtigung des Normzusammenhangs oder aufgrund einer

gefestigten Rechtsprechung eine zuverlässige Grundlage für eine Auslegung und Anwen-

dung der Norm erreichbar sein.135

Welchen Grad an gesetzlicher Bestimmtheit der einzelne Eingriffstatbestand alsdann

gleichwohl haben muss, lässt sich nach alledem nicht allgemein sagen.136

Welche Tole-

ranzgrenzen hier zu beachten sind, lässt sich ebenfalls kaum konkret beschreiben. Diffe-

renzierungen nach Anwendungsbereich, Eingriffsintensität, betroffenem grundrechtlichen

Schutzbereich, Komplexität der Regelungsmaterie und Zielsetzung der gesetzlichen Rege-

lung sind möglich. Interpretationsspielräume durch Benutzung sog. unbestimmter Rechts-

begriffe sind nicht per se als Verstoß gegen den Grundsatz der Bestimmtheit zu missbilli-

132

Vgl. BVerfG, Beschluss vom 3.6.1992 - 2 BvR 1041/88 - BVerfGE 86, 288 [311] = NJW 1992, 2947;

vgl. auch Frankenburg, AK-GG, 3. Aufl. 2001, Art. 20 Abs. 1-3 IV Rn. 37. 133

Vgl. zum Strafrecht BVerfG, Beschluss vom 15.3.1978 - 2 BvR 927/76 - BVerfGE 48, 48 [56 f.] = NJW

1978, 1423; BVerfG, Beschluss vom 10.1.1995 - 1 BvR 718/89 - BVerfGE 92, 1 [12] = NJW 1995, 1141

(Sitzblockade III); ferner BVerfG, Beschluss vom 6.5.1987 - 2 BvL 11/85 - BVerfGE 75, 329 [341 f.] = NJW

1987, 3175 (Blankettstrafbestimmung). 134

Man unternehme den Versuch, den Regelungsgehalt des § 12b NNatG 2004 mit Hilfe der klassischen In-

terpretationsregeln der grammatikalischen, der historischen, der logisch-systematischen und der teleologi-

schen Auslegung zu präzisieren. Die erörterten Judikate der nds. Verwaltungsgerichte bemühen sich nicht

einmal im Ansatz, auf eines dieser Merkmale zuzugreifen. 135

Vgl. BVerfG, Beschluss vom 20.6.2012 - 2 BvR 1048/11 - NJW 2012, 3357 Rn. 118; BVerfG, Be-

schluss vom 3.6.1992 - 2 BvR 1041/88 – BVerfGE 86, 288 [311] = NJW 1992, 2947; BVerfG, Beschluss

vom 21.6.1977 - 2 BvR 308/77 - BVerfGE 45, 363 [371 f.] = NJW 1977, 1815. 136

BVerfG, Beschluss vom 23.6.2010 - 2 BvR 2559/08 - 126, 170 [196] = NJW 2010, 3209; BVerfG, Be-

schluss vom 17.7.2003 - 2 BvL 1/99 - BVerfGE 108, 186 = DVBl 2003, 1388 = NVwZ 2003, 1241 Rn. 172;

vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 24.6.1993 - 1 BvR 689/92 - BVerfGE 89, 69 [84] = DVBl 1993, 995 =

NJW 1993, 2365; BVerfG, Urteil vom 8.2.2001 - 2 BvF 1/00 - BVerfGE 103, 111 [135] = DVBl 2001, 463 =

NJW 2001, 1048; BVerwG, Beschluss vom 11.5.1993 - 7 NB 8.92 - NVwZ-RR 1994, 77 („Belebung des

Landschaftsbilds“).

- 59 -

gen. Da sich die Vielfalt der Verwaltungsaufgaben nicht immer in klar umrissenen Begrif-

fen einfangen lässt, ist auch die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe nicht von vorn-

herein verfassungsrechtlich bedenklich. Aber auch dann gilt, dass die Rechtsvorschrift so

formuliert zu sein hat, dass die Rechtsunterworfenen die Rechtslage erkennen und ihr Ver-

halten danach einrichten können.137

Das gilt auch für Beurteilungsspielräume der Exekuti-

ve.138

Ob der Exekutive ein Entscheidungsspielraum eingeräumt werden darf, verlangt al-

lerdings nach einem sachlichen Grund. Nur ausnahmsweise und bei Vorliegen ganz beson-

derer Voraussetzungen ist es zu rechtfertigen, der Verwaltungsbehörde bei der Anwendung

eines unbestimmten Rechtsbegriffs einen eigenen, gerichtlicher Kontrolle nicht mehr zu-

gänglichen Beurteilungsspielraum einzuräumen.139

Eine verringerte Kontrolldichte lässt

sich etwa mit der Unvertretbarkeit oder Unwiederholbarkeit einer Entscheidung, mit wer-

tenden und prognostischen Elementen einer Entscheidung oder mit zuerkanntem spezifi-

schem Sachverstand der Entscheidungsträger rechtfertigen.140

Auch bei sog. Massener-

scheinungen ist eine typisierende Sichtweise des Gesetzgebers eher tolerabel und mindert

eine einzelfallbezogene Subsumtionsfähigkeit. Von derartigen Besonderheiten kann vor-

liegend nicht die Rede sein.

Bei allen diesen dem Bestimmtheitsgebot gegenläufigen Kriterien gilt stets die Forderung,

dass der Gesetzgeber gehalten ist, „seine Regelungen so bestimmt zu fassen, wie dies nach

der Eigenart der zu ordnenden Lebenssachverhalte und mit Rücksicht auf den Normzweck

möglich ist“141

Aus der gesetzlichen Regelung müssen sich Zweck und Inhalt der Rechts-

begriffe ausreichend ermitteln und objektive Kriterien gewinnen lassen, die eine willkürli-

che Handhabung ausschließen.142

Bei der Frage, welche Bestimmtheitsanforderungen im

einzelnen erfüllt sein müssen, ist auch die Intensität der Einwirkungen auf die von der Re-

gelung Betroffenen zu berücksichtigen.143

Welche Anforderungen an das Ausmaß der er-

forderlichen Bestimmtheit im Einzelfall zu stellen sind, hängt zudem von der Intensität der

Auswirkungen der Regelung für die Betroffenen und von der Eigenart des geregelten

Sachverhalts ab, insbesondere auch davon, in welchem Umfang dieser einer genaueren be-

grifflichen Umschreibung überhaupt zugänglich ist. Bei der Höhe der von den Behörden

geforderten Ersatzgeldzahlungen kann man jedenfalls nicht von Quisquilien sprechen. Auf

jeden Fall gilt: Die Rechtsunterworfenen müssen in zumutbarer Weise feststellen können,

ob die tatsächlichen Voraussetzungen für die in der Rechtsnorm ausgesprochene Rechts-

137

Vgl. u.a. BVerfG, Beschluss vom 28.6.1983 - 2 BvR 539/80 - BVerfG 64, 261 [286] = NJW 1984, 33;

BVerfG, Urteil vom 3.11.1982 - 1 BvR 210/79 - BVerfGE 62, 169 [182 f.] = NJW 1983, 2309; BVerfG, Be-

schluss vom 12.6.1979 - 1 BvL 19/76 - BVerfGE 52, 1 [41] = DVBl 1980, 158 = NJW 1980, 985; BVerfG,

Beschluss vom 12.1.1967 - 1 BvR 169/63 - BVerfGE 21, 73 [79] = DVBl 1967, 232 = NJW 1967, 619. 138

Vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 28.6.1983 - 2 BvR 539/80 - BVerfGE 64, 261 [279] = NJW 1984,

33; BVerfG, Beschluss vom 17.4.1991 - 1 BvR 419/81 - BVerfGE 84, 34 [50] = DVBl 1991, 801 (Neube-

wertung von Prüfungsleistungen). 139

Vgl. BVerfG, Beschluss vom 28.6.1983 - 2 BvR 539/80 - BVerfGE 64, 261 [279] = NJW 1984, 33;

BVerwG, Urteil vom 25.11.1993 – 3 C 38.91 - BVerwGE 94, 307 Rn. 22 = NVwZ 1995, 707; BVerwG, Ur-

teil vom 1.3.1990 - 3 C 50.86 - DVBl 1991, 46 = NVwZ 1991, 568. 140

Vgl. auch aus bereits früherer Judikatur BVerfG, Beschluss vom 8.8.1978 - 2 BvL 8/77 - BVerfGE 49,

89 [133 ff] = DVBl 1979, 45 (Kalkar I); BVerfG, Beschluss vom 8.7.1982 - 2 BvR 1187/80 - BVerfGE 61,

82 [111] = DVBl 1982, 940 (Sasbach). 141

BVerfG [K], Beschluss vom 29.4.2010 - 2 BvR 871/04 - HFR 2010, 860 Rn. 39 – „Milchabgabe“;

BVerfG, Beschluss vom 24.11.1981 - 2 BvL 4/80 - BVerfGE 59, 104 Rn. 32 = NJW 1982, 1275; BVerfG,

Beschluss vom 26.9.1978 - 1 BvR 525/77 - BVerfGE 49, 168 [181] = DVBl 1978, 881 (Aufenthaltserlaub-

nis); BVerwG, Urteil vom 4.8.2010 - 9 C 6.09 - BVerwGE 137, 325 Rn. 44 = NVwZ 2011, 41 (Lkw-Maut);

BVerwG, Urteil vom 12.7.2006 - 10 C 9.05 - BVerwGE 126, 222 Rn. 30 = DVBl 2006, 1520 = NVwZ 2006,

1413. 142

BVerwG, Urteil vom 27.9.1978 - I C 48.77 - BVerwGE 56, 254 [257] = NJW 1979, 1112. 143

Vgl. BVerfG, Beschluss vom 8.8.1978 - 2 BvL 8/77 - BVerfGE 49, 89 [133] = DVBl 1979, 45 (Kalkar I).

- 60 -

folge vorliegen. Ist diese Rechtsfolge „offen“, muss diese in ihrer jeweiligen Dimension

voraussehbar sein.

(4) Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG enthält u. a. das Gebot der

Rechtsanwendungsgleichheit.144

Seine Beachtung bedingt, dass die Anwendungsgleichheit

durch hinreichende Bestimmtheit der maßgebenden Normen herstellbar ist. Nur dann kann

– namentlich bei belastenden Vorschriften – dem Gebot des Art. 20 Abs. 3 GG, nämlich

die Bindung der vollziehenden Gewalt an das Gesetz, entsprochen werden.

Der Gleichheitssatz verlangt dazu, dass die belasteten Bürger nicht nur rechtlich, sondern

auch tatsächlich gleich belastet werden. Diese Belastungsgleichheit hat als ihre Kompo-

nenten also sowohl die Gleichheit der normierten Pflicht als auch die Gleichheit bei deren

Durchsetzung. Daraus folgt auch, dass die belastende Norm in ein normatives Umfeld ein-

gebettet sein muss, welches die Gleichheit der Belastung auch hinsichtlich des tatsächli-

chen Erfolges prinzipiell gewährleistet.145

Dieses ihm so auferlegte Ziel der Anwendungs-

gleichheit kann der Gesetzgeber indes nicht erreichen, wenn er durch Unbestimmtheit sei-

nes normativen Netzwerkes seiner ihm möglichen Steuerungskapazität nicht genügt. Das

wiederum ist u.a. der Fall, wenn er eine hinreichende Gesetzesbindung nicht erreicht. So

liegt es hier. Die festgestellte tatsächliche Handhabung des § 6 Abs. 1 NAGBNatSchG

2010 zeigt auf, dass der Landesgesetzgeber eine Regelung getroffen hat, die eine Belas-

tungsungleichheit nicht nur nicht verhindert, sondern diese typischerweise auslöst. Dieser

Befund ist nicht auf eine Unfähigkeit der normdurchführenden Exekutive oder auf eine

verfehlte Judikatur zurückzuführen, sondern auf die Unbestimmtheit der Normvorgabe.

2. Besonderheiten des Abgabenrechts im weiteren Sinne

(1) Lässt man die hier nur skizzierten allgemeinen rechtsstaatlichen Anforderungen ge-

genüber § 12b Abs. 1 Satz 2 NatSchG 2004 und § 6 NAGBNatSchG 2010 gleichsam Re-

vue passieren, lässt sich jedenfalls nicht auf Anhieb sagen, dass die landesgesetzliche Re-

gelung in der Frage ihrer Bestimmtheit unbedenklich ist. Dieser Eindruck verschärft sich,

wenn man die entstandene Rechtsprechung hinsichtlich der Bestimmtheit in Abgabenfra-

gen hinzuzieht. Das gilt auch dann, wenn man an die tatbestandliche Fixierung keine nach

der konkreten Sachlage unerfüllbaren Anforderungen stellt.146

(2) Für öffentlich-rechtliche Abgaben gelten keine einheitlichen, generell-abstrakt formu-

lierbaren Anforderungen an die hinreichende Bestimmtheit des Gesetzes; vielmehr kommt

es auch hier auf die Eigenart des geregelten Sachbereichs wie auf das Betroffensein von

Grundrechten an.147

Die Bemessung der Abgabe ist verfassungsrechtlich dann gerechtfer-

tigt, wenn ihre Höhe durch zulässige Abgabenzwecke, die der Gesetzgeber bei ihrer tatbe-

144

Vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 14.1.1986 - 1 BvR 209/79 - BVerfGE 71, 354; BVerfG, Beschluss

vom 4.4.1984 - 1 BvR 276/83 – BVerfGE 66, 331 [335]; BVerfG [K], Beschluss vom 14.9.1992 - 2 BvR

1941/89 - NJW 1993, 997. 145

Vgl. BVerfG, Urteil vom 27.6.1991 - 2 BvR 1493/89 - BVerfGE 84, 239 (Zinsurteil). 146

Vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 8.1.1981 - 2 BvL 3/77 - BVerfGE 56, 1 [12] = NJW 1981, 1311. 147

BVerfG, Beschluss vom 17.7.2003 - 2 BvL 1/99 - BVerfGE 108, 186 Rn. 173 = DVBl 2003, 1388 =

NVwZ 2003, 1241; Vgl. für das Steuerrecht BVerfG, Beschluss vom 19.4.1978 - 2 BvL 2/75 - BVerfGE 48,

210 [221] = DVBl 1978, 698 = NJW 1978, 2143; BVerfG, Beschluss vom 9.11.1988 - 1 BvR 243/86 -

BVerfG, BVerfGE 79, 106 [120] = NJW 1989, 1599; für das Gebühren- und Beitragsrecht BVerwG, Be-

schluss vom 20.8.1997 - 8 B 170.97 - BVerwGE 105, 144 [147 f.] = DVBl 1998, 51 = NVwZ 1998, 408.

- 61 -

standlichen Ausgestaltung erkennbar verfolgt, legitimiert ist.148

Das rechtsstaatliche Be-

stimmtheitsgebot ist im Abgabenrecht verletzt, wenn die für die Abgabenfestsetzung maß-

geblichen Bemessungsgrößen keine klare Entscheidung über die Höhe der Abgabe ermög-

lichen. Das ist insbesondere der Fall, wenn es an den für eine Festsetzung notwendigen

normativen Festlegungen fehlt. Steuerrechtsregelungen, Gebührenregelungen oder andere

Abgabenpflichten genügen dem Bestimmtheitsgebot dann, wenn der Gesetzgeber die we-

sentlichen Bestimmungen über die Steuer oder Abgabe mit hinreichender Genauigkeit

trifft. Nach dem rechtsstaatlichen Grundsatz der Normenklarheit und mit Blick auf den

weiten Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum des Gebührengesetzgebers muss der Ab-

gabenpflichtige –erforderlichenfalls im Wege der Auslegung – erkennen können, für wel-

che öffentliche Leistung die Abgabe erhoben wird und welche Zwecke der Gesetzgeber bei

der Abgabenbemessung verfolgt.149

Dazu braucht der Gesetzgeber gewiss nicht jede ein-

zelne Frage zu entscheiden und ist hierzu angesichts der Kompliziertheit der zu erfassen-

den Vorgänge oft nicht in der Lage. Zweifelsfälle haben Verwaltung und Gerichte mit den

anerkannten Auslegungsmethoden bei der Gesetzesauslegung zu klären.150

Die Ausle-

gungsbedürftigkeit einer Regelung des Abgabenrechts nimmt ihr also noch nicht per se die

verfassungsrechtlich gebotene Bestimmtheit.151

Das setzt allerdings voraus, dass eine Prä-

zisierung im Wege der Auslegung methodengerecht auch möglich ist. Eine richterliche

„Rechtsergänzung“ im Sinne einer Rechtsfortbildung, die letztlich legislatorische Rege-

lungsdefizite zu substituieren versucht, ist im materiellen Abgabenrecht ausgeschlossen.152

Richterliche Rechtsfortbildung darf nicht dazu führen, dass der Richter seine eigene mate-

rielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des erkennbaren Willens des Ge-

setzgebers setzt.153

Ein Richterspruch darf sich also über die aus Art. 20 Abs. 3 GG folgen-

de Gesetzesbindung hinwegsetzen, wenn die vom Gericht zur Begründung seiner Ent-

scheidung angestellten Erwägungen erkennen lassen, dass es sich aus der Rolle des Nor-

manwenders in die einer normsetzenden Instanz begeben wird.154

Die zu entrichtende Abgabe muss also nicht generell anhand des normativ vorgegebenen

Gebührentatbestandes "auf den Cent genau" vorausberechnet werden können.155

Gleich-

wohl: Für alle Abgaben gilt als allgemeiner Grundsatz, dass abgabebegründende Tatbe-

stände so bestimmt sein müssen, dass der Abgabepflichtige die auf ihn entfallende Abgabe

148

Vgl. BVerfG [K], Beschluss vom 20.1.2010 - 1 BvR 1801/07 - NVwZ 2010, 831 Rn. 11 zu Wasserent-

nahmegebühren nach §§ 47ff nds. Wassergesetz. 149

Vgl. BVerwG, Urteil vom 4.8.2010 - 9 C 6.09 - BVerwGE 137, 325 Rn. 17 = NVwZ 2011, 41 (Lkw-

Maut) 150

Vgl. u.a. BVerfG, Beschluss vom 9.11.1988 -1 BvR 243/86 - BVerfGE 79, 106 [120] = NJW 1989, 1599

(Steuerrecht); BVerwG, Urteil vom 4.8.2010 - 9 C 6.09 - BVerwGE 137, 325 = NVwZ 2011, 41 (Lkw-

Maut); BVerwG, Urteil vom 12.6.2006 - 10 C 9.05 - BVerwGE 126, 222 Rn. 30 = DVBl 2006, 1520 =

NVwZ 2006, 1413; BVerwG, Urteil vom 1.12.2005 - 10 C 4.04 - NVwZ 2006, 589 [594]. 151

Vgl. BVerfG, Beschluss vom 9.5.1989 - 1 BvL 35/86 - BVerfGE 80, 103 = NJW 1989, 1985 (Streitwert-

festsetzung in Scheidungsverfahren); BVerfG, Beschluss vom 14.3.1967 - 1 BvR 334/61 - BVerfGE 21, 209

[215] - Kreditgewinnabgabe; BVerfG, Beschluss vom 18.5.1988 - 2 BvR 579/84 - BVerfGE 78, 205 [212] =

DVBl 1988, 839 (Schatzregal Baden-Württemberg). 152

Vgl. u.a. BVerfG [K], Beschluss vom 20.4.2010 - 1 BvR 1670/09 - BVerfGK 17, 240 Rn. 16 (Gebüh-

renverzeichnis) 153

Vgl. BVerfG [K], Beschluss vom 16.2.2012 - 1 BvR 127/10 - HFR 2012, 545Rn. 22; BVerfG, Beschluss

vom 3.4.1990 - 1 BvR 1186/89 - BVerfGE 82, 6 [12] = DVBl 1990, 690 = NJW 1990, 1593; BVerfG [K],

Beschluss vom 5.4.2006 - 1 BvR 2780/04 - BVerfGK 8, 10 [14] = NVwZ 2006, 926 Rn. 20. 154

Deutlich BVerfG, Beschluss vom 25.1.2011 - 1 BvR 918/10 - BVerfGE 128, 193 = NJW 2011, 836 (Be-

rechnung des nachehelichen Unterhalts: „eigenes Modell“ des Gerichtes). 155

Vgl. BVerwG, Urteil vom 4.8.2010 - 9 C 6.09 - BVerwGE 137, 325 = NVwZ 2011, 41 Rn. 44 ff.;

BVerwG, Urteil vom 4.8.2010 - 9 C 7.09 – juris Rn. 13; BVerwG, Urteil vom 4.8.2010 - 9 C 6.09 - BVerw-

GE 137, 325 = NVwZ 2011, 41 (Lkw-Maut)

- 62 -

– in gewissem Umfang156

– vorausberechnen kann.157

Bei kostenorientierten Abgaben ist

es dazu erforderlich, dass ein Mangel an konturenscharfen Regelungen zumindest dadurch

ausgeglichen wird, dass eine hinreichende Bestimmtheit der Bemessungsfaktoren gegeben

ist, um damit die Höhe der Abgabe jedenfalls annäherungsweise abschätzen zu können. In-

soweit fordert das Bestimmtheitsgebot im Bereich des Gebühren- und Beitragsrechts, aber

auch bei kostenorientierten Sonderabgaben, eine dem jeweiligen Zusammenhang angemes-

sene Regelungsdichte, die eine willkürliche Handhabung durch die Behörden aus-

schließt.158

Das schließt nicht aus, dass z. B. Rahmenabgaben festgelegt werden oder die Abgabenhö-

he an unbestimmte Rechtsbegriffe geknüpft wird, um der Behörde eine Festsetzung zu er-

möglichen, die unterschiedlichen Einzelfallumständen gerecht wird. Der Bürger muss sich

aus dem Gesetz oder aus untergesetzlichen Normen nicht in jeder Hinsicht absolute Ge-

wissheit über die Höhe des festzusetzenden Werts verschaffen können.159

Es ist dem

Normgeber indes „nur“ gestattet, abgabenrechtliche Regelungen in der Weise zu verallge-

meinern und zu pauschalieren, dass er an Regelfälle eines Sachbereichs anknüpft.160

Dabei

kann er sich auch auf Erfahrungstatsachen stützen und ggf. auch mit Wahrscheinlichkeits-

maßstäben arbeiten. Ein Verstoß gegen das rechtsstaatliche Bestimmtheitsgebot liegt je-

doch dann vor, wenn es wegen der Unbestimmtheit der abgabenrechtlichen Regelungen

nicht mehr möglich ist, objektive Kriterien zu gewinnen, die insbesondere eine willkürli-

che Handhabung durch die Behörden ausschließen.161

Durchgreifende Bedenken bestehen dann auch unter dem Gesichtspunkt des Demokratie-

prinzips. Dieses setzt einer versteckten Verlagerung von Gesetzgebungsbefugnissen Gren-

zen. Unzulässig sind danach insbesondere pauschale Blankoermächtigungen an die ausfüh-

rende Exekutive. Es muss voraussehbar sein, was dem Bürger gegenüber zulässig sein soll.

Gewiss darf das Gebot der Gesetzesbestimmtheit nicht übersteigert werden; die Gesetze

würden sonst zu starr und kasuistisch werden. Sie müssen aber in ihrer Steuerungsfunktion

konkretisierbar sein.

III. Anwendung zu § 12b Abs. 1 Satz 3 NNatG 2004 und § 6 Abs. 1 NAG-

BNatSchG 2010

Überträgt man die erörterten allgemeinen und die zum Abgabenrecht besonderen Anforde-

rungen an die tatbestandliche Bestimmtheit auf die als Ermächtigungsgrundlage normier-

ten Regelungen des § 12b Abs. 1 Satz 3 NNatG 2004 und des § 6 Abs. 1 NAGBNatSchG

2010, ergibt sich ein deutliches rechtsstaatliches Defizit. Das erörterte Urteil des OVG Lü-

156

Vgl. bereits BVerfG, Beschluss vom 10.10.1961 - 2 BvL 1/59 - BVerfGE 13, 153 [160] = MDR 1962,

26. 157

BVerfG, Beschluss vom 17.7.2003 - 2 BvL 1/99 - BVerfGE 108, 186 Rn. 174 = DVBl 2003, 1388 =

NVwZ 2003, 1241 158

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 20.8.1997 - 8 B 170.97 - BVerwGE 105, 144 [147] = DVBl 1998, 51 =

NVwZ 1998, 408. 159

BVerfG, Beschluss vom 9.5.1989 - 1 BvL 35/86 - BVerfGE 80, 103 Rn. 17 = NJW 1989, 1985. 160

BVerwG, Beschluss vom 16.6.2011 - 9 BN 4.10 - NVwZ-RR 2011, 745; BVerwG, Urteil vom 25.8.1982

- 8 C 54.81 - DVBl 1983, 46 = NVwZ 1983, 289. 161

Vgl. BVerwG, Urteil vom 12.6.2006 - 10 C 9.05 - BVerwGE 126, 222 Rn. 30 = DVBl 2006, 1520 =

NVwZ 2006, 1413; BVerwG, Beschluss vom 25.9.1989 - 8 B 95.89 - Buchholz 401.8 Verwaltungsgebühren

Nr. 23 S. 8; BVerwG. Beschluss vom 15.11. 1995 - 11 B 72.95 - juris Rn. 5; BVerwG, Beschluss vom 10.4.

2000 - 11 B 61.99 - juris Rn. 10.

- 63 -

neburg vom 16. Dezember 2009 enthält die Tendenz, die erkennbaren Defizite der gesetz-

geberischen Regelung durch ein „eigenes Modell“ der Berechnung zu substituieren.

1. Erste Testfrage: Kann der betroffene Bürger erkennen, was „auf ihn zukommt“?

(1) Die Frage ist zu verneinen. NAGBNatSchG 2010 fehlt es an subsumtionsfähigen Kri-

terien. Der Betroffene kann anhand des Gesetzestextes nur zwei Fragen mit hinreichender

Sicherheit beantworten: [1] Er muss davon ausgehen, dass bei einem naturschutzrechtli-

chen Eingriff eine Ersatzgeldzahlung in Betracht kommt. [2] Er kann damit rechnen, dass

die Höhe des Ersatzgeldes 7% der Investitionskosten nicht übersteigen kann. In welcher

Größenordnung sich der abverlangte Betrag bewegen könnte, kann er dem Gesetzestext

nicht entnehmen. Er muss von einer Schwankungsbreite zwischen 0, 1% bis 7% ausgehen.

(2) Der Bürger kann die maßgebenden Investitionskosten in der Regel zumindest annä-

hernd einschätzen. Geht man einmal von Vorhaben aus, welche Windenergieanlagen zum

Gegenstand haben, wirkt sich die Schwankungsbreite auch in ihrer jeweiligen absoluten

Höhe aus. Es handelt sich also nicht um zu vernachlässigende Belastungsgrößen. Betrach-

tet man im Falle des VG Lüneburg (20.9.2007) das der Festsetzung zugrunde gelegte Ab-

rechnungsverfahren, dann ist es ausgeschlossen, den Abrechnungsweg interpretatorisch aus

der normativen Vorgabe des § 12b Abs. 1 Satz 3 NNatG 2004 bzw. § 6 Abs. 1 NAGB-

NatSchG 2010 auch unter Beachtung der Interpretationsspielräume abzuleiten. Es geht an

dieser Stelle nicht darum, ob das konkrete Abrechnungsverfahren mit § 12b Abs. 1 Satz 3

NNatG 2004 bzw. § 6 Abs. 1 NAGBNatSchG 2010 (noch) vereinbar ist. Sollten mit § 6

Abs. 1 NAGBNatSchG 2010 unterschiedliche Abrechnungsverfahren vereinbar sein, dann

steht es jedenfalls nicht zur Kompetenz der Exekutive, eine Alternative auszuwählen. Die-

se Befugnis hat nur der Gesetzgeber oder der von ihm dazu ermächtigte Verordnungsge-

ber. Die Handlungsanweisungen der NLT-Papiere können dieses Regelungsdefizit nicht

substituieren.

Im Ergebnis wird der Verwaltung die freie Entscheidung über die Bemessung der Höhe der

Abgabe zugewiesen. Dass sich diese „Bemessung“ nach Angaben der Naturschutzbehör-

den in einem arithmetischen Durchschnittswert zwischen 2,2 und 2,8 %, bezogen auf die

Investitionssumme des Eingriffs, faktisch „eingependelt“ hat, ändert an der Konstruktion

des nur administrativen Zugriffs nichts. Es ist kein objektives Kriterium erkennbar, nach

dem zuverlässig festgestellt werden kann, wie hoch die Abgabe nach Maßgabe der Leitkri-

terien „Schwere“ und „Dauer“ des Eingriffs zu bestimmen ist. Um es anders zu sagen: Es

gibt derzeit kein Verfahren, wie diese Kriterien im Einzelfall hinreichend rational „herun-

tergebrochen“ werden können. Wenn es in einem Vermerk des Referates 10 des nds. Um-

weltministeriums vom 10. Mai 2011 heißt, die tatsächliche Höhe werde in einem langwie-

rigen und bürokratischen Prozess unter Beteiligung von Gutachtern „basarartig“ festgelegt,

kennzeichnet dies die tatsächliche Lage der Unbestimmtheit.162

2. Zweite Testfrage: Gab es für den Landesgesetzgeber Regelungsalternativen?

(1) Die Frage ist zu bejahen. Ein Blick auf Regelungen anderer Bundesländer zur natur-

schutzrechtlichen Ausgleichsabgabe zeigt dies, auch wenn das Bild derzeit nicht gerade

162

Akten des Nds. Umweltministeriums, Aktz. 10 – 27.40.1.3 zu Stellungnahme zum Vermerk der RGL N

vom 8. April 2011 zur Ersatzgeldbemessung bei Windenergieanlagen auf Grund der Handlungsempfehlung

des Niedersächsischen Landkreistages.

- 64 -

einheitlich ist.163

Beispielhaft sei hier auf Thüringen und auf Bayern als „positive“ Rege-

lungen, Sachsen-Anhalt als „negative“ Lösung verwiesen. Das Land Niedersachsen hat

von Anfang an ein „Minimalprogramm“ verfolgt. Das wird durch § 6 NAGBNatSchG

2010 bestätigt. Die Entstehungsgeschichte weist aus, dass der Landesgesetzgeber meint,

die geschaffene Regelung sei für die Umsetzung im Einzelfall ausreichend.

(2) Thüringen. Nach § 8 Abs. 7 des (fortgeltenden) Thüringer Gesetzes für Natur und

Landschaft vom 30. August 2006 ist die oberste Naturschutzbehörde ermächtigt, im Ein-

vernehmen mit dem für Finanzen zuständigen Ministerium die Höhe der Ausgleichsabgabe

und das Verfahren ihrer Erhebung näher zu regeln. Dabei sind Dauer und Schwere des

Eingriffs sowie Wert und Vorteil für den Verursacher zugrunde zu legen. Die Höhe der

Ausgleichsabgabe ist in der Regel anhand der geschätzten Herstellungskosten der nicht re-

alisierbaren Ersatzmaßnahmen oder der beeinträchtigten Biotope bei fehlenden Ersatzmaß-

nahmen zu ermitteln. Dabei sind auch die Kosten der ersparten Planungsleistungen und für

voraussichtliche Folge- und Pflegemaßnahmen einschließlich der Aufwendungen für die

dauerhafte Sicherung dieser Maßnahmen zu berücksichtigen. Die oberste Naturschutzbe-

hörde hat von dieser Ermächtigung Gebrauch gemacht. Sie hat in der fortgeltenden Thü-

ringer Verordnung über die naturschutzrechtliche Ausgleichsabgabe (ThürNatAVO) vom

17. März 1999 zum einen bestimmt, dass die Ausgleichsabgabe zusammen mit den Kosten

für die vom Vorhabenträger durchzuführenden Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen einen

Betrag in Höhe von 10 v. H. der Gesamtbaukosten des Vorhabens nicht überschreiten dür-

fe. In der Anlage 2 Nr. 2 zu der Verordnung ist zur Berechnung der Ausgleichsabgabe für

Windenergieanlagen vorgesehen:

50 Euro bis 100 Euro pro Meter Masthöhe bei einzelnen Windkraftanlagen, Hochspannungslei-

tungsmasten, Sendemasten, Nieder- und Mittelspannungsleitungsmasten sowie bei anderen mas-

tenartigen Eingriffen in Abhängigkeit von der verbleibenden erheblichen Beeinträchtigung des

Landschaftsbildes; der Betrag ist in den Schutzgebieten und bei den Schutzgegenständen nach den

§§ 12 bis 18 ThürNatG, in den in Landschaftsplänen festgelegten Gebieten mit einem hochwerti-

gen oder besonders empfindlichen Landschaftsbild und in den in Landschaftsplänen festgelegten

Gebieten mit einer besonderen Bedeutung für die Vogelwelt zu verdoppeln. Bei Windparks ist der

Betrag entsprechend zu ermitteln, aber auf den zweifachen Höchstbetrag für Einzelanlagen zu be-

grenzen.164

163

Vgl. auch Überblick bei Elke Sellmann/Christian Sellmann, Naturschutzrechtliche Ersatzzahlungen beim

Bau von Windenergieanlagen – am Beispiel des niedersächsischen (Lösungs-?)Weges, in: NuR 2007, 49-55

[51 f.]. 164

Hinweis: Im Rahmen einer Überprüfung der Kostenansätze in Anlage 1 der Thüringer Ausgleichsabga-

benverordnung (ThürNatAVO) vom 17.03.1999 (GVBl. Nr. 8 S. 254 ff.) wurden 2002 vom Ingenieurbüro

HELK Ilmplan GmbH Kosten für die Herstellung, Pflege und Entwicklung von Ersatzmaßnahmen gem. § 7

ThürNatG im Auftrag des Thüringer Ministeriums für Landwirtschaft, Naturschutz und Umwelt ermittelt

(HELK 2003). Hierzu wurden im Wesentlichen die folgenden, überwiegend thüringischen Quellen herange-

zogen: Zuordnung der für alle Einzelmaßnahmen arithmetisch berechneten Mittelwerte und gesetzten Durch-

schnittskosten. Die Ermittlung der Durchschnittskosten erfolgte in der Regel über das arithmetische Mittel

der aus den o. g. Quellen entnommenen Einzelkosten. Die angegebenen Kostenspannen geben die Schwan-

kungsbreite der ausgewerteten Kostenaufstellungen wieder. Die Einzelmaßnahmen sind sehr abhängig von

den jeweiligen Ausführungsbedingungen (Maschineneinsatz, Flächengröße, Hangneigung etc.). Anders als

bei den einmalig anfallenden Herstellungskosten, fallen Kosten für die Entwicklungs- und Unterhaltungs-

pflege über einen längeren Zeitraum an. Bei der Erhebung von Kosten im Rahmen von Vorhabengenehmi-

gungen müssen die Beträge aber in der Regel mit einer einmaligen Zahlung geleistet werden. Zur Berück-

sichtigung der wirtschaftlichen Nachteile einer einmaligen Zahlung gegenüber mehrjährigen Zahlungen wur-

den die Kosten für die Entwicklungs- und Unterhaltungspflege auf einen Zeitraum von 30 Jahren abgezinst.

Für Niedersachsen ist eine vergleichsweise anspruchsvolle Analyse nicht bekannt.

- 65 -

Es wäre also auch für das Land Niedersachsen ein Leichtes gewesen, jedenfalls für den Be-

reich der Windenergieanlagen eine gesonderte Regelung zu treffen. Dass dieses Bedürfnis

von Anfang an bestand, zeigen gerade die verschiedenen NLT-Papiere.165

(3) Bayern. Art. 8 Abs. 3 Nr. 2 des Gesetzes über den Schutz der Natur, die Pflege der

Landschaft und die Erholung in der freien Natur (Bayerisches Naturschutzgesetz – Bay-

NatSchG) vom 23. Februar 2011 (GVBl S. 82) ermächtigt die Staatsregierung, das Nähere

zur Kompensation von Eingriffen durch Rechtsverordnung zu regeln, insbesondere die

Höhe der Ersatzzahlung und das Verfahren zu ihrer Erhebung. Art. 8 Abs. 3 BayNatSchG

2011 enthält insoweit eine „Abweichung“ von § 15 Abs. 7 BNatSchG 2009. Die landesge-

setzliche Ermächtigungsfassung ist mit der des Bundesrechts inhaltlich textidentisch. Der

rechtspolitische Zweck ist wohl, die Möglichkeit zu schaffen, die Revisibilität auszuschal-

ten.

Eine bayer. Rechtsverordnung ist bislang nicht ergangen. Aussagen enthalten die vom Mi-

nisterrat am 20. Dezember 2011 beschlossenen "Hinweise zur Planung und Genehmigung

von Windkraftanlagen in Bayern" (sog. Bayerischer Windenergieerlass).166

Danach wird

die Höhe der Ersatzzahlung (jedenfalls für Windkraftanlagen) in Abhängigkeit von der

Bedeutung des Landschaftsbildes (Wertstufen) und der Anlagenhöhe (Anlagenhöhe = Na-

benhöhe inklusive Roterblätter) festgesetzt. Die Ermittlung der Wertstufen erfolgt in einem

Umkreis des Fünfzehnfachen der Anlagenhöhe um die Anlage. Insofern können auch Aus-

schlussgebiete … betroffen sein. Sind mehrere Wertstufen betroffen, ist eine anteilige Be-

rechnung durchzuführen. Für die Berechnung der Ersatzzahlung ist eine im Erlass angege-

bene, differenzierende Matrix bestimmend. Man kann sich gut vorstellen, dass die im Er-

lass angegebene Berechnungsmatrix Gegenstand einer Rechtsverordnung sein könnte.

(4) Exkurs: Sachsen-Anhalt. § 2 Verordnung über die naturschutzrechtliche Ersatzzah-

lung (Ersatzzahlungsverordnung) vom 28. Februar 2006 (GVBl. LSA 2006, S. 72) sieht

folgende Regelung vor:167

(1) Die Höhe der Ersatzzahlung bestimmt sich mit Ausnahme der Fälle des Absatzes 4 nach den

Kosten, die für die unterbliebenen Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen hätten aufgewendet werden

müssen.

….

(4) Kann die Höhe der Ersatzzahlung für verbleibende Beeinträchtigungen des Landschaftsbildes

nicht nach den Bestimmungen des Absatzes 1 ermittelt werden, ist für diese Beeinträchtigungen

1. bei mastenartigen Eingriffen eine Ersatzzahlung von 500 Euro je Meter über 20 Meter Ge-

samtbauhöhe,

2. bei der Errichtung anderer baulicher Anlagen eine Ersatzzahlung von 50 Cent je Kubikme-

ter die Erdoberfläche überragenden umbauten Raumes und

3. bei der Errichtung von Freileitungen zusätzlich zu der gemäß Nummer 1 ermittelten Ersatz-

zahlung eine Ersatzzahlung von 1 Euro je laufenden Meter Seil, wobei Bündelleiter jeweils als

ein Leiterseil anzusehen sind,

165

Vgl. kritisch zur Umsetzung des § 19 Abs. 4 BNatSchG 2002 Reinhard Sparwasser/Holger Wöckel, Zur

Systematik der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung, in: NVwZ 2004, 1189-1195. 166

Gemeinsame Bekanntmachung der Bayerischen Staatsministerien des Innern, für Wissenschaft, For-

schung und Kunst, der Finanzen, für Wirtschaft, Infrastruktur, Verkehr und Technologie, für Umwelt und

Gesundheit sowie für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten vom 20.12.2011 - IIB5-4112.79-057/11, B4-

K5106-12c/28037, 33/16/15-L 3300-077-47280/11, VI/2-6282/756, 72a-U8721.0-2011/63-1 und E6-7235.3-

1/396 (AllMBl. 2012, S. 34). 167

§ 2 in der Fassung der ändernden Verordnung vom 18. März 2011 (GVBl. LSA S. 542).

- 66 -

zu erheben.

(5) Für zeitlich begrenzte Vorhaben, deren Zulässigkeit auf einen Zeitraum von höchstens 30 Jah-

ren beschränkt ist und die zurückgebaut werden können, ohne nachhaltige Beeinträchtigungen des

Naturhaushalts und des Landschaftsbildes zu hinterlassen, beträgt die Höhe der Ersatzzahlung pro

Standjahr ein Dreißigstel der nach Absatz 4 ermittelten Ersatzzahlung.

Obwohl hiermit eine sehr genaue Berechnungsweise geschaffen werden sollte, kann das

sachsen-anhaltinische Modell nicht als beispielgebend bewertet werden. Das Berech-

nungsverfahren lässt die unterschiedliche Wertigkeit des Landschaftsbildes gänzlich außer

Betracht. Darauf kommt es nach den Vorgaben der §§ 13, 14 Abs. 1, 15 Abs. 1 BNatSchG

2009 gerade an.

3. Dritte Testfrage: Könnte der Landesgesetzgeber eine Präzisierung an den nachge-

ordneten Verordnungsgeber delegieren?

(1) Die Frage ist zu verneinen. Das Land Niedersachen hatte mit § 12b NNatG 2004 durch

das Gesetz zur Änderung naturschutzrechtlicher Vorschriften vom 19. Februar 2004 (Nds.

GVBl S. 75) zwar eine Ermächtigungsgrundlage geschaffen, Ersatzzahlungen zu fordern.

Es machte damit – wie erwähnt – von der rahmenrechtlichen Regelung des § 19 Abs. 4

BNatSchG 2002 Gebrauch. Eine ausfüllende (ausführende) Verordnungsermächtigung hat-

te der Landesgesetzgeber dagegen nicht vorgesehen. In § 13 Abs. 1 Nr. 6 NNatG 2004 ist

lediglich ergänzend bestimmt, dass die Behörde festsetzt, in welcher Höhe Ersatzzahlun-

gen (§ 12b Abs. 1 NNatG 2004) zu leisten seien. Der seinerzeitige Bericht des federfüh-

renden Umweltausschusses (LTags-Drucks. 15/2164 – ausgegeben 7.9.2005) erwähnt die

Frage einer Verordnungsermächtigung nicht. § 6 Abs. 2 NAGBNatSchG 2010 schließt im

Wege der in Anspruch genommenen Abweichungsregelung – wie erörtert – die Anwen-

dung des § 15 Abs. 7 BNatSchG 2009 gerade aus.

(2) Im Gegensatz zu Niedersachsen sahen und sehen zahlreiche, wenngleich nicht alle an-

deren Bundesländer eine Ermächtigung zum Erlass von ausführenden Rechtsverordnungen

vor. Die Zusammenstellung ergibt folgendes Bild:

1. Baden-Württemberg

§ 21 Abs.6 Gesetz zum Schutz der Natur, zur Pflege der Landschaft und über die Erholungs-

vorsorge in der freien Landschaft vom 13.12. 2005 (GBl. S. 745), zuletzt geändert durch Ge-

setz vom 17.12.2009 (GBl. S. 809, 816). Eine Ausgleichsabgabe ist zu entrichten, soweit ein

Eingriff nicht ausgleichbar oder in sonstiger Weise kompensierbar ist. Sie ist auch festzuset-

zen, wenn die Maßnahmen nicht in angemessener Zeit zu einem vollständigen Ausgleich oder

einer vollständigen Kompensation führen können. Weiteres bestimmt das Landesrecht nicht.

Insoweit gilt ergänzend die bundesrechtliche Regelung. Eine Ermächtigung zum Erlass von

Rechtsverordnungen besteht. Nach § 21 Abs. 6 regelt das Ministerium durch Rechtsverordnung

im Einvernehmen mit dem Innenministerium, dem Finanzministerium, dem Wirtschaftsminis-

terium und dem Umweltministerium die Höhe der Ausgleichsabgabe und das Verfahren zu ih-

rer Erhebung. Die Höhe ist nach Dauer und Schwere des Eingriffs, nach dem Zeitraum zwi-

schen Eingriff und voller Funktionsfähigkeit der Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen, Wert o-

der Vorteil für den Verursacher sowie nach der wirtschaftlichen Zumutbarkeit zu bemessen.

Die Schwere des Eingriffs ist bei der Berechnung der Ausgleichsabgabe in der Regel anhand

der beanspruchten Fläche und der Menge des entnommenen Materials (Entnahme) zu berück-

sichtigen.

2. Bayern

- 67 -

Ersatzzahlungen im Sinn des § 15 Abs. 6 BNatSchG sind gemäß Art. 7 des Gesetzes über den

Schutz der Natur, die Pflege der Landschaft und die Erholung in der freien Natur (Bayerisches

Naturschutzgesetz – BayNatSchG) vom 23. Februar 2011 (GVBl S. 82) an den Bayerischen

Naturschutzfonds zu entrichten und von diesem im Bereich der vom Eingriff räumlich be-

troffenen unteren Naturschutzbehörde nach deren näherer Bestimmung für Maßnahmen des

Naturschutzes und der Landschaftspflege zu verwenden. Art. 8 Abs. 3 Nr. 2 des BayNatSchG

2011 ermächtigt – wie gezeigt – die Staatsregierung, das Nähere zur Kompensation von Ein-

griffen durch Rechtsverordnung zu regeln, insbesondere die Höhe der Ersatzzahlung und das

Verfahren zu ihrer Erhebung. Hinweis BGBl. I 2011, 365

3. Berlin

Sind die Beeinträchtigungen nicht oder nicht vollständig ausgleichbar oder in sonstiger Weise

kompensierbar und ist der Eingriff nicht unzulässig, hat der Verursacher nach § 14a Abs. 3

Satz 1 des Berliner Naturschutzgesetzes 2011 eine Ersatzzahlung zu entrichten. Die Höhe der

Ersatzzahlung bemisst sich gemäß § 14a Abs. 4 des Gesetzes nach den Kosten für die Herstel-

lung der unterbliebenen Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen; dazu gehören auch die Kosten für

deren Planung, die Flächenbereitstellung und die Entwicklungspflege einschließlich der Kon-

trolle. Eine Regelung zum Erlass von Rechtsverordnungen besteht insoweit nicht. Der Senat

kann Verwaltungsvorschriften erlassen.

4. Brandenburg

§ 15 des Gesetzes über den Naturschutz und die Landschaftspflege im Land Brandenburg

(Brandenburgisches Naturschutzgesetz – BbgNatSchG) in der Fassung der Bekanntmachung

vom 26. Mai 2004 (GVBl.I/2004, S.350), zuletzt geändert durch Artikel 2 des Gesetzes vom

15. Juli 2010 (GVBl.I/2010 S. 2) sieht keine Ermächtigung zum Erlass von Rechtsverordnun-

gen vor.

5. Bremen

Nach § 8 Abs. 7 des Bremischen Gesetzes über Naturschutz und Landschaftspflege in der Fas-

sung des Art. 4 Bremisches Bundesnaturschutz-Ausführungsgesetz vom 27.4.2010 (Brem.

GBl. S. 315) kann abweichend von § 17 Absatz 11 des Bundesnaturschutzgesetzes der Senator

für Umwelt, Bau, Verkehr und Europa das Nähere zu den in § 17 Absätze 1 bis 10 des Bun-

desnaturschutzgesetzes geregelten Verfahren einschließlich des Kompensationsverzeichnisses

bestimmen. Eine abweichende Regelung über die Ersatzgeldfestsetzungen nach § 15

BNatSchG besteht nicht.

6. Hamburg

§ 6 Abs. 3 des Hamburgischen Gesetzes zur Ausführung des Bundesnaturschutzgesetzes

(HmbBNatSchAG) vom 11. Mai 2010 (HmbGVBl. 2010, S. 350) bestimmt lediglich, dass im

Falle der Beseitigung oder teilweisen Beseitigung von Gewässern im Hafennutzungsgebiet ein

Eingriff festgestellt wird, abweichend von § 15 Absatz 2 BNatSchG Ausgleichs- oder Ersatz-

maßnahmen nur im Hafennutzungsgebiet durchzuführen sind. Sind entsprechende Maßnahmen

im Hafennutzungsgebiet nicht möglich, beträgt die fällig werdende Ersatzzahlung abweichend

von § 15 Absatz 6 BNatSchG 7,50 Euro je Quadratmeter beseitigter Wasserfläche. Die Ersatz-

zahlung fließt in die Stiftung Lebensraum Elbe. Damit wird zugleich die Verpflichtung aus § 2

Absatz 3 des Gesetzes über die Zuführungen an die Stiftung Lebensraum Elbe vom 11. Mai

2010 erfüllt. Weitere Regelungen bestehen nicht. Hinweis BGBl. I 2011, 93.

7. Hessen

§ 9 des Hessischen Ausführungsgesetzes zum Bundesnaturschutzgesetz (HAGBNatSchG) vom

20.12.2010 (GVBl. I 2010, 629) sieht Ersatzzahlungen vor. Eine landesrechtliche Regelung

über die Höhe der Ersatzzahlung besteht nicht. Bestimmt ist nur, dass der Eingriffsverursacher

„die zur Festsetzung notwendigen Unterlagen und Berechnungen vorzulegen“ hat. Näheres

bleibt offen. Hinweis BGBl. I 2011, 663.

8. Mecklenburg-Vorpommern

Gesetz des Landes Mecklenburg-Vorpommern zur Ausführung des Bundesnaturschutzgesetzes

(Naturschutzausführungsgesetz – NatSchAG M-V) vom 23. Februar 2010 (GVOBl. M-V 2010,

S. 66), zuletzt geändert durch Gesetz vom 12. Juli 2010 (GVOBl. M-V S. 383, 395). § 12 Abs.

4 des Gesetzes bestimmt, dass die Ersatzzahlung nach § 15 Absatz 6 des Bundesnaturschutzge-

setzes an das Land zu leisten ist und an die Stiftung Umwelt- und Naturschutz Mecklenburg-

- 68 -

Vorpommern weitergeleitet wird. Näheres bleibt offen. Eine Ermächtigung zum Erlass von

ausführenden Rechtsverordnungen besteht landesrechtlich nicht.

9. Niedersachsen

Wie erörtert: kein Befund. Hinweis: BGBl. I 2010, 970.

10. Nordrhein-Westfalen

§ 5 des Gesetzes zur Sicherung des Naturhaushalts und zur Entwicklung der Landschaft (Land-

schaftsgesetz – LG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 21. Juli 2000 (GV. NRW. S.

568), zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 16. März 2010 (GV. NRW. S. 185),

sieht die Zahlung von Ersatzgeld vor. Geregelt wird nur die Verwendung des Ersatzgeldes. Ei-

ne Ermächtigung zum Erlass von ausführenden Rechtsverordnungen besteht landesrechtlich

nicht.

11. Rheinland-Pfalz

§ 10 Abs. 3 Landesgesetz zur nachhaltigen Entwicklung von Natur und Landschaft vom

28.9.2005 (GVBl., 387) sieht zur Durchführung von in der Zulassungsentscheidung festgeleg-

ten Ersatzmaßnahmen die Zahlung des erforderlichen Geldbetrages an die jeweilige Natur-

schutzbehörde (Ersatzgeld) vor. Die Höhe des Ersatzgeldes bemisst sich nach den bei der

Durchführung der Ersatzmaßnahmen üblicherweise aufzuwendenden Kosten. Die Einnahme

des Ersatzgeldes und seine Verwendung sind der obersten Naturschutzbehörde jeweils anzu-

zeigen. Die Landesregierung regelt nach § 10 Abs. 5 des Gesetzes durch Rechtsverordnung das

Nähere zum Vollzug der Eingriffsregelung, zur Höhe der Ersatzzahlung und zum Verfahren

zur Erhebung und Verwendung der Ersatzzahlung.

12. Saarland

Das Gesetz zum Schutz der Natur und Heimat im Saarland – Saarländisches Naturschutzgesetz

– (SNG) – vom 5. April 2006 (Amtsblatt 2006, S. 726), zuletzt geändert durch das Gesetz vom

28. Oktober 2008 (Amtsbl. 2009 S. 3) sieht keine Ausgleichsabgaben vor.

13. Sachsen

§ 9 Abs. 5 Sächsisches Gesetz über Naturschutz und Landschaftspflege vom 3.7.2007 (Sächs-

GVBl. S. 321), zuletzt geändert durch Gesetz vom 12.12. 2008 (SächsGVBl., S. 866), und Art.

3 des Gesetzes zur Anpassung des Landesumweltrechts an das neue Bundesrecht aufgrund der

Föderalismusreform vom 28. April 2010 (SächsGVBl S. 114), zuletzt geändert durch Art. 17

des Gesetzes vom 15.12.2010 (SächsGVBl. S. 387, 398). Soweit der Eingriff nicht voll aus-

gleichbar oder in sonstiger Weise kompensierbar ist, hat der Verursacher eine Ausgleichsabga-

be zu entrichten. Diese ist nach Dauer und Schwere des Eingriffs, dem Wert oder dem Vorteil

für den Verursacher sowie nach der wirtschaftlichen Zumutbarkeit zu bemessen. Die Abgabe

ist an den Naturschutzfonds zu zahlen und darf nur für Zwecke des Naturschutzes und der

Landschaftspflege, möglichst mit räumlichem Bezug zum Eingriff, verwendet werden. Das

Nähere zur Bemessung und Verwendung der Ausgleichsabgabe sowie zum Verfahren ihrer Er-

hebung bestimmt nach § 9 Abs. 5 des Gesetzes das Staatsministerium für Umwelt und Land-

wirtschaft im Einvernehmen mit dem Staatsministerium der Finanzen und dem Staatsministe-

rium für Wirtschaft und Arbeit durch Rechtsverordnung. In diese Verordnung sind auch allge-

meine Regeln über Inhalt, Art und Umfang von Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen aufzuneh-

men. Hinweis BGBl. I 2011, 842.

14. Sachsen-Anhalt

§ 8 des Naturschutzgesetzes des Landes Sachsen-Anhalt (NatSchG LSA) vom 10. Dezember

2010 (GVBl. LSA 2010, S. 569) ermächtigt das für Naturschutz zuständige Ministerium, auch

in Abweichung zu § 15 Abs. 7 Nr. 2 des Bundesnaturschutzgesetzes durch Verordnung das Er-

hebungsverfahren, die Berechnung der Höhe, die Verwendung und die Verwaltung der Mittel

aus den Ersatzzahlungen näher zu regeln. Hinweis BGBl. I 2011, 30.

15. Schleswig-Holstein

§ 9 Abs. 5 des Gesetzes zum Schutz der Natur (Landesnaturschutzgesetz - LNatSchG) vom

24.2.2010 (GVOBl. 2010, 301) – in der Fassung des Art. 2 Nr. 1 Buchst. a des Gesetzes vom

13.7.2011 (GVOBl. 2011, 225) – sieht die Zahlung von Ersatzgeld vor. Die nach § 15 Abs. 6

BNatSchG zu leistende Ersatzzahlung ist in den Fällen des § 17 Abs. 1 BNatSchG in Verbin-

dung mit § 11 Abs. 1 an die zu beteiligende zuständige Naturschutzbehörde, in den Fällen des

§ 17 Abs. 3 BNatSchG in Verbindung mit § 11 Abs. 2 und 3 an die für die Genehmigung zu-

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ständige Naturschutzbehörde, bei Eingriffen, die von Bundesbehörden zugelassen oder durch-

geführt werden, an die oberste Naturschutzbehörde zu leisten. Sie ist vor Beginn des Eingriffs

zu leisten. § 9 Abs. 7 ermächtigt die Landesregierung, hinsichtlich der folgenden Nummern 2

und 3 auch abweichend von einer Verordnung nach § 15 Abs. 7 Satz 2 BNatSchG, durch Ver-

ordnung das Nähere zur Kompensation von Eingriffen zu regeln, insbesondere abweichend von

§ 15 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 BNatSchG zu Inhalt, Art und Umfang von Ausgleichs- und Ersatz-

maßnahmen einschließlich von Maßnahmen zur Entsiegelung, zur Wiedervernetzung von Le-

bensräumen und zur Bewirtschaftung und Pflege sowie zur Festlegung diesbezüglicher Stan-

dards, insbesondere für vergleichbare Eingriffsarten, und abweichend zu § 15 Abs. 7 Satz 1 Nr.

2 BNatSchG die Höhe der Ersatzzahlung und das Verfahren zu ihrer Erhebung. Hinweis BGBl.

I 2010, 450, BGBl. I 2011, 1979.

16. Thüringen

§ Abs.7 Thüringer Gesetz für Natur und Landschaft vom 30.8.2006 (GVBl., S. 421) ermächtigt

die oberste Naturschutzbehörde, im Einvernehmen mit dem für Finanzen zuständigen Ministe-

rium die Höhe der Ausgleichsabgabe und das Verfahren ihrer Erhebung näher zu regeln. Dabei

sind Dauer und Schwere des Eingriffs sowie Wert und Vorteil für den Verursacher zugrunde

zu legen. Die Höhe der Ausgleichsabgabe ist in der Regel anhand der geschätzten Herstel-

lungskosten der nach § 7 Absatz 6 des Gesetzes nicht realisierbaren Ersatzmaßnahmen oder der

beeinträchtigten Biotope bei fehlenden Ersatzmaßnahmen zu ermitteln. Dabei sind auch die

Kosten der ersparten Planungsleistungen und für voraussichtliche Folge- und Pflegemaßnah-

men einschließlich der Aufwendungen für die dauerhafte Sicherung dieser Maßnahmen zu be-

rücksichtigen.

(3) Das BVerfG hält es für möglich, dass der Gesetzgeber zur näheren Regelung eine Er-

mächtigung zum Erlass einer Rechtsverordnung vorsieht und dass eine verfassungsrechtli-

che Pflicht besteht, diese Ermächtigung – in Normsetzung gleichsam arbeitsteilig – auch

auszunutzen.168

Schreibt der Gesetzgeber die Ausfüllung einer gesetzlichen Regelung

durch eine Rechtsverordnung vor und bleibt der Verordnunggeber jedoch untätig, ist es

Verwaltung und Rechtsprechung nicht stets verwehrt, die Vorschriften des Gesetzes unmit-

telbar anzuwenden. Das setzt allerdings dessen unmittelbare Anwendungsfähigkeit voraus.

4. Vierte Testfrage: Lässt sich mit Hilfe üblicher Auslegungsmethoden der Regelungs-

gehalt des § 12b Abs. 1 Satz 3 NNatG 2004 und § 6 Abs. 1 NAGBNatSchG 2010 präzisie-

ren?

(1) Die Frage ist zu verneinen. Die üblichen Auslegungsmethoden sind Wortauslegung

(grammatikalische Auslegung), Entstehungsgeschichte (historische Auslegung), logisch-

systematische Auslegung (Auslegung im Kontext anderer Regelungen) und zweckbezoge-

ne (teleologische) Auslegung. Keine der „Auslegungsmethoden“ erlaubt auch nur annähe-

rungsweise, einen nachvollziehbaren Zusammenhang zwischen den vorgegebenen Krite-

rien der Schwere und der Dauer des Eingriffs einerseits und einer festzusetzenden Betrags-

höhe herzustellen. Das wurde aufgewiesen.

(2) Wie vertiefend erörtert, ist vor allem das OVG Lüneburg in seinem Urteil vom

16.12.2009 in eine Uminterpretation des § 12b Abs. 1 Satz 3 NNatG 2004 ausgewichen.

Das geschah in zwei Schritten. Zum einen hat das Gericht das gesetzliche System der Kap-

pungsgrenze in ein lineares Intensitätsmodell reformuliert. Zum anderen hat das Gericht –

da auch das so reformulierte Modell keine weitere Präzisierung erlaubt – eine Plausibili-

tätsprüfung der jeweiligen behördlichen Entscheidung als hinreichend beurteilt. Insgesamt

168

BVerfG, Beschluss vom 30.11.1988 - 1 BvR 1301/84 – BVerfGE 79, 174 = DVBl 1989, 352 = NJW

1989, 1271.

- 70 -

ist die Prüfungsintensität textfern. Selbst die NTL-Papiere 2005 ff. legen nur Annähe-

rungswerte einer Stufung der Schwere des Eingriffs zugrunde, ohne dafür eine nähere, am

Gesetzestext ausgerichtete Begründung zu geben.

(3) Von Bedeutung ist stets die Frage, ob im Wege einer verfassungskonformen Ausle-

gung die Feststellung der Nichtigkeit der zu prüfenden Norm zu vermeiden ist.169

Ein Ge-

setz ist nicht verfassungswidrig, wenn eine Auslegung möglich ist, die im Einklang mit

dem Grundgesetz steht, und das Gesetz bei dieser Auslegung sinnvoll bleibt.170

Auch diese

Möglichkeit besteht vorliegend nicht. Eine verfassungskonforme Auslegung findet dort ih-

re Grenzen, wo der klare historische Wille des Gesetzgebers missachtet werden würde.171

Eine derartige Sachlage besteht hier. Die gegenläufigen Bemühungen des OVG Lüneburg,

wie sie in seinem Urteil vom 16. Dezember 2009 unternommen werden, können nicht

überzeugen.172

Sie werden dem historisch nachweisen Ableitungszusammenhang der 7%-

Regelung und der im gesetzgeberischen Entscheidungsverfahren sowohl zu § 12b Abs. 1

NNatG 2004 als auch zu § 6 Abs. 1 NAGBNatSchG 2010 nicht gerecht. Auch die Ent-

schließung des Landtages zur Überprüfbarkeit der gesetzlichen Regelung und die darauf

gegebene Antwort (vgl. oben S. ??) beschreiben einen anderen Kontext, als das OVG Lü-

neburg in seinem Urteil vom 16. Dezember 2009 zu rekonstruieren unternimmt. Selbst

wenn man eine Art „verfassungskonformer“ Auslegung annehmen wollte, so muss diese

ihrerseits den Anforderungen an den Grundsatz der Bestimmtheit erfüllen.173

5. Fünfte Testfrage: Lässt sich die landesgesetzliche Regelung durch Rückgriff auf die

bundesgesetzliche Ermächtigungsgrundlage präzisieren?

(1) Die Frage ist zu verneinen. § 12b Abs. 1 NNatG 2004 ist in Umsetzung der rahmen-

rechtlichen Regelung des § 19 Abs. 4 BNatSchG 2002 ergangen. Der Bundesgesetzgeber

ermächtigt die Länder zu Regelungen, für nicht kompensierbare Beeinträchtigungen „Er-

satz in Geld“ vorzusehen. Da vermutet werden darf, dass sich ein Landesgesetzgeber im

Zweifel an die ihn ermächtigenden Vorgaben halten will, ist dies an sich ein geeignetes

Mittel, um eine landesgesetzliche Regelung nicht nur bundesrechtskonform auszulegen,

sondern dadurch zugleich interpretatorisch zu präzisieren.

(2) Diese denkbare Vorgehensweise misslingt hier: Die seinerzeitige bundesgesetzliche

Rahmenregelung des § 19 Abs. 4 BNatSchG 2002 enthielt ihrerseits keine näheren Maß-

stabskriterien, sondern nur eine an den Landesgesetzgeber gerichtete „rahmenrechtliche“

Ermächtigung. Der Bundesgesetzgeber hatte für den eigenen Regelungsbereich eine Er-

169

Vgl. BVerfG, Beschluss vom 12.11.1958 - 2 BvL 4/56 - BVerfGE 8, 274 [324] Rn. 190 = DVBl 1959,

171 (Ermächtigung im Sinne des § 2 Abs. 1 PreisG zum Erlass von Rechtsverordnungen und Verwaltungsak-

ten zur Aufrechterhaltung der Preisstabilität). 170

So bereits BVerfG, Beschluss vom 7.5.1953 - 1 BvL 104/52 – BVerfGE 2, 266 (Notaufnahmegesetz) 171

Vgl. bereits BVerfG, Beschluss vom 11.6.1958 - 1 BvL 149/52 – BVerfGE 8, 28 [33] = NJW 1958,

1227; aus neuerer Zeit u.a. BVerfG, Beschluss vom 21.7.2010 - 1 BvL 8/07 - BVerfGE 126, 331 [355];

BVerfG, Beschluss vom 22.9.2009 - 2 BvL 3/02 – BVerfGE 124, 251 [263] = DVBl 2009, 1447 (Besteue-

rung von Leibrenten); BVerfG, Beschluss vom 10.6.2009 - 1 BvR 825/08 – BVerfGE 124, 25 [39] (Basista-

rif); BVerfG, Beschluss vom 14.10.2008 - 1 BvR 2310/06 - BVerfGE 122, 39 [61] = DVBl 2008, 1500 (Be-

ratungshilfe); BVerfG, Beschluss vom 12.3.2008 - 2 BvF 4/03 - BVerfGE 121, 30 [68] = DVBl 2008, 507

(Hessisches Privatrundfunkgesetz). Vgl. auch Michael Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG – Einführung, Grundge-

setz, 6. Aufl. 2011, Rn. 54. 172

Rn. 59 f. 173

Vgl. BVerfG, Beschluss vom 11.3.2008 - 1 BvR 2074/05 - BVerfGE 120, 378 [407] Rn. 153 ff. = DVBl

2008, 575 = NJW 2008, 1505 (automatisierte Kennzeichenerfassung); BVerfG, Beschluss vom 16.1.2003 - 2

BvR 716/01 - BVerfGE 107, 104 [128 f.] = NJW 2003, 2004 (Anwesenheitsausschluss im JGG-Verfahren).

- 71 -

satzgeldzahlung nicht vorgesehen. Da der nds. Landesgesetzgeber in § 6 NAGBNatSchG

2010 eine Übernahme der bundesgesetzlichen Ersatzgeldlösung (§ 15 Abs. 6 und 7

BNatSchG 2009) gerade bewusst ausgeschlossen hat, kann das Landesrecht insoweit auch

nicht bundesrechtskonform interpretiert werden.

6. Sechste Testfrage: Hat der Landesgesetzgeber der Exekutive einen Beurteilungsspiel-

raum eingeräumt?

(1) Die Frage ist im Grundsatz zu verneinen. Ob das materielle Recht in verfassungsrecht-

lich unbedenklicher Weise das Entscheidungsverhalten nicht vollständig determiniert und

der Verwaltung einen Einschätzungs- und Auswahlspielraum belässt, muss sich ausdrück-

lich aus dem Gesetz ergeben oder durch Auslegung hinreichend deutlich zu ermitteln sein.

Es kann weder der Verwaltung noch den Gerichten überlassen werden, ohne gesetzliche

Grundlage durch die Annahme behördlicher Letztentscheidungsrechte die Grenzen zwi-

schen Gesetzesbindung und grundsätzlich umfassender Rechtskontrolle der Verwaltung zu

verschieben.174

Andernfalls könnten diese "in eigener Sache" die grundgesetzliche Rollen-

verteilung zwischen Exekutive und Judikative verändern. Will der Gesetzgeber die gericht-

liche Kontrolle zurücknehmen, so hat er zu berücksichtigen, dass die letztverbindliche

Normauslegung und die Kontrolle der Rechtsanwendung im Einzelfall grundsätzlich den

Gerichten vorbehalten ist. Nimmt also ein Gericht ein behördliches Letztentscheidungs-

recht an, das mangels gesetzlicher Grundlage nicht besteht, und unterlässt es deshalb die

vollständige Prüfung der Behördenentscheidung auf ihre Gesetzmäßigkeit, steht dies nicht

nur in Widerspruch zur Gesetzesbindung der Gerichte (Art. 20 Abs. 3, Art. 97 Abs. 1 GG),

sondern verletzt vor allem auch das Versprechen wirksamen Rechtsschutzes aus Art. 19

Abs. 4 Satz 1 GG.175

(2) Angesichts dieser verfassungsrechtlichen Ausgangslage kann eine administrative

Letztentscheidung – auch in der Variante eines Beurteilungsspielraums – nur bei einer hin-

reichend klaren Auslegungslage angenommen werden. Das ist bei § 12b Abs. 1 NNatG

2004 und bei § 6 Abs. 1 NAGBNatSchG 2010 nicht gegeben. Der Gesetzestext enthält für

die zu prüfende Annahme, der Landesgesetzgeber habe den ausführenden Behörden einen

Beurteilungsspielraum einräumen wollen, keinen Hinweis. Die gesetzgeberische Lösung

bestimmt lediglich, dass die zuständige Behörde die Höhe der Ausgleichsabgabe festzuset-

zen habe. Der bereits erwähnte Bericht des federführenden Umweltausschusses (LTags-

Drucks. 15/2164 – ausgegeben 7.9.2005) erwähnt die Frage eines Beurteilungsspielraumes

nicht. Auch im übrigen erwähnte die Entstehungsgeschichte der Gesetzesänderung NNatG

2004 die Frage nicht einmal ansatzweise. Danach darf man den Gesetzgeber dahin verste-

hen, dass er von der Annahme ausging, der geschaffene § 12b Abs. 1 NNatG 2004 sei hin-

reichend „subsumtionsfähig“.

7. Siebente Testfrage: Wäre der Landesgesetzgeber befugt gewesen, der Exekutive ei-

nen Beurteilungsspielraum einzuräumen?

(1) Die Frage ist zu verneinen. Es ist gibt keine Beliebigkeit für den Gesetzgeber, admi-

nistrative Beurteilungsspielräume einzuräumen. Das BVerfG hat zwar jüngst offen gelas-

sen, ob gerichtlich nur eingeschränkt nachprüfbare Entscheidungsspielräume der Verwal-

tung (ausnahmsweise) auch ohne gesetzliche Grundlage von Verfassungs wegen dann zu-

174

BVerfG, Beschluss vom 31.5.2011 - 1 BvR 857/07 – NVwZ 2011, 1062 Rn. 74. 175

BVerfG, Beschluss vom 31.5.2011 - 1 BvR 857/07 – NVwZ 2011, 1062 Rn. 74.

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lässig sind, wenn eine weitergehende gerichtliche Kontrolle zweifelsfrei an die Funktions-

grenzen der Rechtsprechung stieße.176

So ist die Sachlage vorliegend nicht. Für die administrative „Bearbeitung“ der Ersatzgeld-

regelung können nicht einmal im Ansatz Gründe für eine immanente Funktionsbegrenzung

gefunden werden. Das hier erörterte Problem der Bestimmtheit ist keines der Administrati-

on, sondern des Landesgesetzgebers, der sich nicht um eine subsumtionsfähige Regelung

bemüht. Es fehlt im übrigen auch – ohne dass es darauf mangels der erforderlichen gesetz-

lichen Regelung noch entscheidend ankäme – an einem tragfähigen Sachgrund für eine be-

hördliche Letztentscheidungsbefugnis. Die Rechtsprechung gelangt bei der Überprüfung

einer behördlichen Festsetzungsentscheidung nicht an die Grenzen einer immanenten

Funktionsfähigkeit, weil diese Frage dem Sachproblem inhärent ist. Vielmehr läuft die am

Maßstab des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG auszurichtende effektive Kontrolldichte leer, weil

die gesetzlichen Regelungen unbestimmt, nicht determinierend und damit defizitär sind.

Ein hinreichend bestimmtes Entscheidungsprogramm besteht nicht.177

Die rekonstruieren-

de Annahme eines faktisch zugrunde gelegten Beurteilungsspielraums kaschiert diesen Be-

fund nur, kann ihn aber deshalb nicht legitimieren. Das BVerfG hat wiederholt betont, dass

es in diesem Zusammenhang unerheblich ist, ob Entscheidungen der Verwaltung auf fach-

lichen Bewertungen beruhen, die ohne spezialisierten Sachverstand nicht nachvollziehbar

sind. Der Verwaltung stehe auch bei besonderer fachlicher Kompetenz kein besonderer,

einer gerichtlichen Überprüfung entzogener Entscheidungsspielraum zu. Das BVerfG hat

in seiner Rechtsprechung dementsprechend einen Beurteilungsspielraum der Exekutive nur

in Ausnahmefällen und nur dann anerkannt, wenn jener aus besonderen Gründen unum-

gänglich erschien.178

Die Argumentationslast steht beim Normgeber, nicht indes beim be-

troffenen Bürger.

(2) Selbst wenn man die NLT-Papiere funktional als Verwaltungsvorschrift ansehen wür-

de, ändert dies an der Rechtslage nichts. Soweit allgemeine Verwaltungsvorschriften die

einheitliche Rechtsanwendung durch die Behörden für diese verbindlich regeln wollen,

verändert dies nichts an Umfang und Intensität der durch Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gebote-

nen gerichtlichen Kontrolle. Verwaltungsvorschriften, mit denen die Verwaltung einen

einheitlichen Verwaltungsvollzug bei der Auslegung und Anwendung unbestimmter

Rechtsbegriffe oder bei der Ausübung des Verwaltungsermessens sicherstellen will, sind

grundsätzlich Gegenstand, nicht jedoch Maßstab richterlicher Kontrolle des Verwaltungs-

handelns.179

F. Zusammenfassung

1. Bundesrechtlich vorgegeben ist, dass erhebliche Eingriffe in Natur und Landschaft, die

nicht zu vermeiden sind oder die nicht in angemessener Frist ausgeglichen werden können,

eine Ersatzzahlung nach sich ziehen (vgl. §§ 13, 15 Abs. 6 S. 1 BNatSchG 2009).

176

BVerfG, Beschluss vom 31.5.2011 - 1 BvR 857/07 – NVwZ 2011, 1062 Rn. 76 mit Bezugnahme auf

BVerfG, Beschluss vom 17.04.1991 - 1 BvR 419/81 - BVerfGE 84, 34 [50] = DVBl 1991, 801 = NJW 1991,

2005; BVerfG, Beschluss vom 17.4.1991 1 BvR 1529/84 - BVerfGE 84, 59 [77 f.] = DVBl 1991, 805. 177

Vgl. hinzu BVerfG, Beschluss vom 10.12.2009 - 1 BvR 3151/07 - DVBl 2010, 250 = NVwZ 2010, 435

mit Bezugnahme auf BVerfG, Beschluss vom 16.12.1992 - 1 BvR 167/87 - BVerfGE 88, 40 [56] = NVwZ

1993, 666; BVerfG, Urteil vom 20.2.2001 - 2 BvR 1444/00 - BVerfGE 103, 142 [156 f.] Rn. 50 ff. = DVBl

2001, 637 = NJW 2001, 1121. 178

Vgl. Überblick bei Klaus Rennert, in: Eyermann, VwGO, 13. Aufl. 2010, § 114 Rn. 51 ff. 179

BVerfG, Beschluss vom 31.5.2011 - 1 BvR 857/07 – NVwZ 2011, 1062 Rn. 71.

- 73 -

2. § 6 Abs. 1 Satz 1 NAGBNatSchG 2010 ist aus bundesverfassungsrechtlicher Sicht nicht

kompetenzwidrig. Den sich aus der Abweichungskompetenz des Landes nach Art. 72 Abs.

3 S. 1 Nr. 2 GG ergebenden bundesverfassungsrechtlichen Anforderungen wird genügt.

Problematisch bleibt, wie § 6 Abs. 2 NAGBNatSchG 2010 zu verstehen ist. Der Landesge-

setzgeber betrachtet eine verordnungsrechtliche Ermächtigung zur Detailregelung als über-

flüssig. Nach seiner Ansicht enthält § 6 Abs. 1 NAGBNatSchG 2010 einen kompletten

Regelungsgehalt. Ob die Regelung inhaltlich verfassungswidrig ist, berührt die Kompe-

tenzfrage nicht.

3. § 6 Abs. 1 Satz 1 NAGBNatSchG 2010 muss sich inhaltlich an Bundesverfassungsrecht

messen lassen. Bestandteil bundesverfassungsrechtlicher Ordnung ist der rechtsstaatliche

Grundsatz der Bestimmtheit jeder gesetzlichen Regelung. Diesem Erfordernis kann der

Landesgesetzgeber allein oder ggf. im Zusammenwirken mit einer Rechtsverordnung, zu

deren Erlass er ermächtigt ist, genügen. Der gebotene Detailreichtum seiner Regelung be-

stimmt sich nach dem Sachbereich, der zu normieren ist. Kriterium ist die Anwendungssi-

cherheit, verbunden mit dem aus Art. 3 Abs. 1 GG abzuleitenden Gleichbehandlungs-

grundsatz. Bestandteil bundesverfassungsrechtlicher Ordnung ist auch eine auf tatsächliche

Verhältnisse zurückzuführende rationale Gesetzgebung.

4. § 6 Abs. 1 Satz 1 NAGBNatSchG 2010 genügt diesen Anforderungen nicht. Die lan-

desgesetzliche Regelung ist bundesverfassungswidrig. Versuche, durch eine übliche juristi-

sche Auslegung einen gesicherten Anwendungskern zu ermitteln, scheitern. Hinreichende

Belege hierfür sind zum einen die uneinheitliche Judikatur der niedersächsischen Verwal-

tungsgerichte. Sie weisen auf, dass die Gerichte sich der Sache nach in Ermangelung klarer

normativer Vorgaben auf eine Plausibilitätskontrolle beschränken. Dazu fehlt es indes an

einer gesetzlichen Ermächtigung. Sie wäre auch bundesverfassungsrechtlich nicht zulässig.

Eine von Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG geforderte effektive Rechtsschutzkontrolle scheitert, weil

es an einer subsumtionsfähigen Regelung fehlt. Zum anderen zeigt die faktische „Erlass-

praxis“ des Niedersächsischen Landkreistages (NLT), dass eine sachgerechte Auslegung

mit beabsichtigter Anwendungssicherheit nicht gelingt. Eine derartige „Erlasspraxis“, wel-

che eine fehlende verordnungsrechtliche Regelung zu substituieren sucht, verstößt oh-

nedies gegen den Vorbehalt und den Vorrang des Gesetzes.

5. Die Entstehungsgeschichte des § 6 Abs. 1 Satz 1 NAGBNatSchG 2010 und der Vor-

gängerregelung des §12b NNatSchG 2004 enthält deutliche Mängel einer rationalen Ge-

setzgebung. Die Begrenzung der Ersatzzahlung auf einen Prozentsatz einer Investitions-

summe stellt außerdem einen Zusammenhang zwischen Aufwand und Eingriffsintensität

her, der sachwidrig ist.

Jörg Berkemann

Hamburg/Berlin, den 28. Dezember 2012