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Rätsel Um Das Schneemonster

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Page 1: Rätsel Um Das Schneemonster
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Aus Umweltschutzgründen wurde dieses Buch auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt.

7. Auflage 1992 CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek.

Knickerbocker-Bande/Thomas Brezina. Das Rätsel um das Schneemonster.

Abenteuer in Tirol. Hl. Atelier Bauch-Kiesel. Foto: Thomas Raab.

Wien; Stuttgart: Neuer Breitschopf Verlag 1990 ISBN 3-7004-1175-8

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe, der Übersetzung und der Übertragung in Bildstreifen, vorbehalten. © Copyright by

hpt-Verlagsgesellschaft m. b. H. & Co. KG, Wien 1990 ISBN 3-7004-1175-8

scanned & corrected by Crazy2001 @September 2003

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Inhalt

Das Schneemonster taucht auf ... 03 Das Krokodil kaut keinen Kaugummi! 09 Denkste, Herr Doktor! 15 Baby-Haie in Kitzbühel? 25 Der rote Teufel 29 Schnee- und andere Monster 36 Der Unfall 42 Das Schneemonster schlägt zu 49 Die Entführung 53 Tilly hat einen Verdacht 58 Ein Mann fällt vom Himmel 65 Einer spielt falsch ... 75 Fragen über Fragen 81 Ein Schuß in der Silvesternacht 86 Die Entdeckung 90 Die Falle für das Schneemonster 97 Wer anderen eine Grube gräbt... 102 Im Schneesturm 111 Die Lösung des Rätsels 117

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Das Schneemonster taucht auf…

Der Wind pfiff um die eiserne Wetterfahne auf der Bergstation der Hahnenkammbahn. Die Schneeflocken zischten wie winzige Pfeile aus Eis durch die Luft.

Ganz plötzlich und völlig überraschend war gegen drei Uhr Nachmittag aus einem harmlosen Schneegestöber ein grimmiger Schneesturm geworden.

Lässig holte der Skilehrer Sepp Stürzel ein knallrotes, gestricktes Stirnband aus der Tasche seines Anoraks und zog es über seine Ohren. Danach fischte er unter dem Kragen einen kleinen, Schaumgummiüberzogenen Knopf hervor. Er war durch ein Kabel mit seinem Walkman verbunden.

Reicht völlig, wenn ich mit einem Ohr das Gekreische dieser Mrs. Silverspoon höre, dachte sich Sepp und drehte den Lautstärkeknopf bis zum Anschlag auf. Während ihm Madonna ihr „Who's that girl?“ in den Gehörgang säuselte, putzte er gemächlich seine Skibrille. Danach warf er einen Blick in die Richtung, wo er Mrs. Silverspoon zuletzt gesehen hatte. Die rundliche Amerikanerin hatte sich nämlich an einen Wegweiser geklammert und „Ich keinen Schritt weiter!“ gejammert.

„Sie sollen auch nicht Schritte machen, sondern fahren. Auf den beiden Brettern, die Sie sich auf die Füße geschnallt haben. Man nennt diese langen Dinger auch Ski!“ lautete Sepps Kommentar dazu. Ungerührt war er dann mit einigen Schwüngen langsam ein Stück vorgerutscht. Eigentlich sollte ihm Mrs. Silverspoon

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nachkommen, doch sie dachte nicht daran. Die schrullige Lady aus Amerika schlang ihre Arme noch fester um den Holzpflock mit den Richtungstafeln. Sie hatte beschlossen, hier stehenzubleiben, bis sich der Schneesturm wieder legte.

Sepp Stürzel holte tief Luft und schnaufte verzweifelt. So etwas war ihm in den vergangenen sieben Jahren noch nie untergekommen. So lange arbeitete er nämlich schon Winter für Winter in Kitzbühel als Skilehrer. Diese Mrs. Silverspoon zog ihm wirklich den letzten Nerv.

Sie hatte ihn zu Mittag in einer Imbißstube im Tal angesprochen. „Ich wünschen nur eine Sache, bevor fliege zurück in die United States. Fahren hinunter the famous „Flecken-Abfahrt“, wo immer stattfindet Rennen,“ hatte sie geflötet.

Zuerst verstand Sepp nicht, was sie wollte. Doch schließlich fiel ihm ein, daß sie nur die „Streif“ meinen konnte. Über die Hänge dieser weltbekannten Abfahrt rasen jedes Jahr die Rennläufer aus aller Welt beim Hahnenkamm-Rennen. Dabei erreichen sie Spitzengeschwindigkeiten von hundert Stundenkilometern und mehr.

„Die echte Rennstrecke der Streif ist für normale Skifahrer gar nicht zugänglich“, hatte er der Amerikanerin erklärt, die ihn mit großen, blauen Kalbsaugen anblickte. „Die übrigen Hänge können Sie fahren. Das heißt natürlich, wenn Ihr Können dazu ausreicht.“

„Ich schaffen leicht“, hatte Mrs. Silverspoon gerufen. Dabei klimperte sie mit ihren langen, aufgeklebten Wimpern. „Ich nur brauchen eine good guide. Sie müssen mir zeigen die Strecke. Ich wollen erzählen das unbedingt

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meine Freundinnen in Amerika.“ Mit diesen Worten hatte die kleine, energische Dame zwei Tausend-Schilling-Scheine aus der Tasche ihres giftgrünen Skianzuges gezogen und Sepp unter die Nase gehalten. Da der Skilehrer stets knapp bei Kasse war und überdies seinen freien Nachmittag hatte, sagte er ja.

Das habe ich davon, dachte er sich nun auf der Piste und war böse auf sich selbst. Mittlerweile war das Schneegestöber so dicht, daß er nur noch weiß sah. Keine Spur von Mrs. Silverspoon oder dem Pistenwegweiser.

Die Lady aus Amerika schaffte mit Mühe und Not gerade den Babyhang. Es war unverzeihlich, daß er sich nicht gleich von ihrem Können überzeugt hatte.

Ich gehe jetzt zu ihr, schnapp sie und schnall ihr die Ski ab, beschloß er. Und dann stapfen wir zurück zur Bergstation der Gondelbahn. Sie kann höchstens ein paar hundert Meter entfernt sein. Bei diesem unwirtlichen Wetter machen selbst erfahrene und geübte Skifahrer kehrt.

Gerade als er die ersten Treppenschritte bergauf machte, hörte er ein Dröhnen über seinem Kopf. Er schaute in die Höhe, konnte aber im dichten Schneetreiben nichts erkennen. Das Dröhnen wurde lauter und kam näher und näher. Sepp hatte das Gefühl, daß die Piste unter seinen Skiern bebte. Er gehörte sonst nicht zu den Schreckhaften oder Furchtsamen, doch nun zog auch er den Kopf ein. Was war das? Woher kam dieses seltsame Donnern? Er hatte es schon einmal irgendwo gehört. Doch im Heulen des Sturmes konnte er es nicht erkennen.

Ein schriller, hoher Schrei ließ ihn zusammenzucken. Es gab keinen Zweifel. Dieser Schrei war aus der Kehle

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von Mrs. Silverspoon gedrungen. „Heeelp! Heeeeelp!“ kreischte sie gleich darauf noch

einmal. Sepp hörte noch einige keuchende, gurgelnde Laute, dann herrschte wieder Stille. Das Dröhnen war genauso schnell verschwunden, wie es gekommen war. Mit einem Ruck riß sich der Skilehrer den Kopfhörer aus dem Ohr und lauschte in das Brausen des Sturmes.

„Mrs. Silverspoon!“ schrie er. Keine Antwort. „Mrs. Silverspoon? Wo sind Sie? Was ist geschehen? Warum haben Sie so geschrien?“

Nichts rührte sich. Sepp bekam es mit der Angst zu tun. Schließlich war er für die Dame verantwortlich. Wenn ihr nun etwas zugestoßen war?

Mit einem Schlag entledigte er sich seiner Ski und stolperte durch den Schnee den Hang hinauf. Hier mußte sich der Wegweiser irgendwo befinden. Dieses verdammte Schneetreiben! Er konnte weder mit noch ohne Skibrille die Hand vor den Augen sehen. Deshalb bemerkte Sepp auch den knallgrünen Skischuh nicht, der vor ihm im Schnee lag. Er stolperte und landete — nicht gerade hart — auf einem menschlichen Wesen. Die Folge war entsetzlich. Das „menschliche Wesen“ — bei dem es sich natürlich um Mrs, Silverspoon handelte — brüllte aus Leibeskräften und schlug mit den Armen wild um sich.

Sepp versuchte die Lady zu beruhigen, allerdings ohne Erfolg. Mrs. Silverspoon trommelte nur noch fester auf ihn ein. Endlich gelang es ihm, ihre Fäuste zu erwischen und festzuhalten.

„Mrs. Silverspoon, ich bin es: der Sepp, Ihr Skilehrer. Was ist? Warum liegen Sie im Schnee? Haben Sie sich verletzt?“

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Die Dame aus Amerika sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an und klappte ihren Mund mehrere Male auf und zu. „The Monster ...“, stieß sie endlich hervor, „das Monster ist gefallen von Himmel. Es sich gestürzt auf mich. Eine Schneemonster. Ganz weiß mit dicker, weicher Haut. Es wollte mir fressen. Mich töten.“

Sepp Stürzel half Mrs. Silverspoon auf die Beine und schnallte ihr vorsichtig die Ski ab. Die Lady zitterte am ganzen Körper.

„Sie haben zu viele Hollywood-Horrorfilme gesehen,“ meinte er und schulterte ihre knallgrünen Bretter. Das hätte er besser nicht sagen sollen. Mrs. Silverspoon schlang ihre kurzen, dicken Arme um ihn und klammerte sich ängstlich an den Skilehrer. „I am not crazy! Ich haben es gesehen. The Schneemonster. Es sich auf mich gestürzt. Es sein gefährlich. Sie mir müssen glauben, bitte! Bitte! Es war so schrecklich!“

Sepp versuchte krampfhaft, ernst zu bleiben. Er blickte ihr tief in die Augen und nickte heftig. „Natürlich! Ich glaube Ihnen jedes Wort! Aber jetzt kommen Sie. Wir marschieren zurück zur Seilbahn!“

Willig trottete Mrs. Silverspoon neben ihm her. Nach wenigen Schritten tauchten zwei helle, gelbe

Augen aus dem Schneegestöber auf. Sie genügten, um Mrs. Silverspoon zu einem neuen Kreisch-Krampf zu veranlassen.

„Here it comes ... es kommt zurück! Es ist aus!“ „Gar nichts ist aus. Wir ersparen uns nur das Zu­

fußgehen!“ brummte Sepp, der die „gelben Augen“ sofort als Scheinwerfer des Pistenfahrzeuges erkannt hatte.

Der Fahrer nahm Mrs. Silverspoon mit zur Seilbahn.

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Für einen dritten wäre in der engen Kabine kein Platz gewesen. Deshalb mußte Sepp alleine zu Fuß weiter.

Meine Ski —, fiel ihm plötzlich ein. Er hatte sie in der Aufregung am Hang vergessen. Also stapfte er knurrend und fluchend zurück.

Als er beim hölzernen Wegweiser vorbeikam, horchte er auf. Da war etwas. Ein neues Geräusch. Diesmal handelte es sich nicht um ein Dröhnen, sondern um ein leises Heulen und Wimmern. Woher kamen diese Laute? Und von wem? Von einem Tier? Oder vielleicht wirklich von einem „Schneemonster“?

„Blödsinn“, schoß es Sepp durch den Kopf. „Schneemonster sind karierter Quatsch. Ich könnte einen Lachkrampf über mich selbst bekommen.“ Er klappte sein Stirnband von den Ohren weg und horchte. Nur der Wind pfiff und rauschte. Aber dann war es wieder da. Das Klagen und Heulen. Diese lang gezogenen, tiefen Laute. Die Richtung, aus der sie kamen, war ihm nun klar. Das Wesen, das diesen Spuk verursachte, mußte sich bei der Einfahrt in den Steilhang befinden. Es dämmerte schon, aber trotzdem wollte Sepp unbedingt der Sache auf den Grund gehen. Mit fest entschlossenen Schritten marschierte er in Richtung Steilhang. Die unheimlichen, heulenden Rufe wurden lauter und lauter ...

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Das Krokodil kaut keinen Kaugummi!

Es war einen Tag später, am Samstag, dem 9. De­zember, im Hotel Olympia in Innsbruck.

In einem der wuchtigen Ledersessel der Hotelhalle saß ein etwa zehnjähriger Junge. Mit ernster Miene blätterte er in den großen Seiten einer Tageszeitung. Er hatte eine runde Nickelbrille auf der Nase und trug einen grauen Anzug. Neben ihm stand ein kleiner Aktenkoffer. Auf den ersten Blick hätte man ihn für einen Generaldirektor halten können, der beim Waschen eingegangen war.

„Rätsel um Schneemonster von Kitzbühel“ las der Junge interessiert auf der letzten Seite. „Von einer amerikanischen Urlauberin wurde gestern nachmittag ein Schneemonster gesichtet. Das Untier soll sie angefallen und zu Boden gerissen haben. Danach verschwand es im Schneesturm. Die Urlauberin hat keine Verletzungen erlitten. Die Suche der Bergwacht nach dem Schneemonster blieb erfolglos.“

Neben dem Jungen kauerte auf einer wuchtigen Le­derbank ein zartes Mädchen und knabberte nervös an seinen Fingernägeln. Es trug eine dicke Daunenjacke und blickte ständig nach allen Seiten. Immer wieder warf es seine langen Haare über die Schultern und seufzte leise.

Die Drehtür des Hotels setzte sich wieder in Bewegung und beförderte einen sportlichen, rothaarigen Jungen und ein schlankes, aufgeschossenes Mädchen mit langen, blonden Zöpfen herein. Ihnen folgte ein dickbäuchiger, kleiner Mann, der ein paar Autoschlüssel um den

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Zeigefinger kreisen ließ. „Das sind die letzten beiden dieses Wettbewerbs“, sagte

er zu dem Herrn an der Rezeption. „Sag dem Doktor Bescheid. Ich muß weiter.“

Der Portier nickte und deutete den beiden Neuan­kömmlingen, Platz zu nehmen. „Bitte setzt euch und habt noch eine Minute Geduld, liebe Kinder.“

„Wir sind keine Kinder mehr,“ knurrte der rothaarige Bub, als er sich in den tiefen Ledersessel fallen ließ.

Der Portier telefonierte, und ein paar Sekunden später stürzte ein kleiner Mann mit Riesenschritten die Treppe herunter. Die wenigen Haare, die noch auf seinem Kopf sprossen, waren mit einer süßlich riechenden, fettigen Pomade festgeklebt. Höfliche Menschen hätten den Mann als „untersetzt“ bezeichnet. In Wahrheit war er allerdings ziemlich fett und schwammig. Sein rundes Gesicht war sehr faltig, und er hatte große Ähnlichkeit mit einem Mops.

„Tag, Tag, Tag!“ rief der kleine Dicke den Kindern zu. Die Fröhlichkeit war gespielt, das merkte jeder.

„Mein Name ist Doktor Markus Grassus. Ich bin der Werbechef der Firma „Geier-Wally“. Ich hatte auch die Idee zu dem Lederhosen-Malwettbewerb, den ihr gewonnen habt. Ich gratuliere!“ Mit diesen Worten packte Herr Dr. Grassus die Hände der verblüfften Mädchen und Buben und schüttelte sie aus Leibeskräften. Dann blickte er die vier fragend an. „Wer ist aber nun wer?“

„Mein Name ist Dominik Kascha, ich komme aus Wien!“ stellte sich der Junge mit der Zeitung vor.

„Ich danke übrigens für den Flug von Wien nach Innsbruck. Er war ein großes Erlebnis für mich.“

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Der rothaarige Bub warf ihm einen spöttischen Blick zu. „Wieso redest du denn so geschwollen?“

„Tut mir leid, aber ich spiele gerade am Wiener Burgtheater im Stück ,Wilhelm Tell'. Die Sprache des großen Dichters Schiller scheint manchmal ein bißchen abzufärben!“

„Wen spielst du denn? Den Apfel?“ Der Rothaarige lachte über seinen Scherz laut los. Die beiden Mädchen kicherten mit. Dominik schwieg beleidigt.

„Darf ich nun dich nach deinem Namen fragen?“ wandte sich Dr. Grassus an den drahtigen Burschen mit den roten Haaren.

„Axel... Axel Klingmeier heiße ich, und ich komme aus Linz. Wieso haben Sie eigentlich erst gestern Abend bei uns angerufen? Warum müssen wir schon heute hier sein? Haben Sie uns nicht früher verständigen können?“

„Dazu komme ich gleich“, vertröstete ihn der Wer­bechef und sah die beiden Mädchen fragend an. „Und ihr? Wer seid ihr?“

Das kleine Mädchen holte tief Luft und piepste dann leise: „Poppi! Ich bin Poppi Monowitsch. Aus Graz! Ja ... danke für den Flug ... ich bin auch zum ersten Mal geflogen ...“

„Und ich heiße Lieselotte Schroll und komme aus Kitzbühel“, sagte das Mädchen mit den dicken, blonden Zöpfen.

Dr. Grassus setzte ein Lächeln auf, das er selbst wohl für freundlich hielt, und flötete: „Sehr erfreut! Sehr erfreut! Der Grund, warum ihr erst gestern Abend von der heutigen Preisverleihung verständigt wurdet, ist die Vergeßlichkeit meiner Sekretärin. Deshalb mußten wir

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euch heute schnellstens herbringen lassen. Um sechs Uhr abends findet nämlich im Festsaal dieses Hotels die Siegerehrung statt. Wir erwarten mehr als hundert Gäste, die eure Entwürfe bestaunen und würdigen werden. Aber jetzt lasse ich euer Gepäck auf die Zimmer bringen. Und euch bitte ich, mir in den Festsaal zu folgen. Zu einer kleinen Probe. Geht das in Ordnung?“

Die zwei Mädchen und die beiden Jungen nickten. Ein selten unsympathischer Kerl, dachte sich Lieselotte. Schleimbeutel hatte Axel Herrn Dr. Grassus mitt­

lerweile im stillen getauft. Möpschen hieß er in Dominiks Gedanken. Auf jeden Fall erwartete die vier im Festsaal eine —

nicht gerade angenehme — Überraschung. Dr. Grassus führte die Kinder zuerst in einen kleinen

Raum hinter der Bühne. „Das ist die Garderobe. Hier könnt ihr euch umziehen.“

„Wieso umziehen?“ wollte Dominik wissen. „Erinnert ihr euch noch an die ausgeflippten, knall­

bunten Knickerbocker-Hosen, die ihr für den Wettbewerb erfunden habt?“

„Na klar“, knurrte Axel. „Wir leiden schließlich nicht an Gedächtnisschwund.“

„Wir haben eure Modelle nähen und bemalen lassen. Ganz nach eurem Entwurf. Und jeder von euch soll heute abend seine Sieger-Lederhose vorführen.“

Für Dominik war das kein Problem, „Ein Kostüm wie jedes andere auch“, lautete sein Kommentar.

Axel hatte allerdings bedeutend weniger Lust, bei dieser Sache mitzumachen. „Ich bin doch kein Foto­modelt“, brummte er,

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Dr. Grassus sah ihn mit seinen kleinen, stechenden Augen an. Es war ein böser, bohrender Blick. „Willst du deinen Preis, dann tu, was ich gerade gesagt habe!“ Seine Stimme klang ruhig, aber drohend.

Im nächsten Moment hatte er bereits wieder sein Grinsen Marke „zuckersüß“ aufgesetzt und verkündete: „Wenn ich „eure Namen aufrufe, kommt ihr bitte auf die Bühne und marschiert einmal auf und ab. Alle Besucher sollen schließlich eure tollen Ideen bestaunen können. Zum Abschluß überreiche ich euch dann die Preise.“

„Bin ich froh, daß mich meine Freunde nicht so sehen können“, dachte Axel. „Ich glaube, ich würde sonst im Boden versinken. Wieso habe ich hirnverbrannter Depp eine knallrosa Lederhose mit grünen Flügeln gezeichnet?“

Hastig schob Dr. Grassus die Kinder aus dem Saal. „Meine Sekretärin, Fräulein Tilly, erwartet euch in wenigen Minuten in der Hotelhalle. Sie macht mit euch eine kleine Runde durch die Stadt. Wir sehen uns dann am Abend wieder.“

Kaum hatte Axel als letzter den Saal verlassen, ver­schloß der kleine, dickbäuchige Mann die Tür, lehnte sich dagegen und stöhnte. Langsam ließ er die Hand in seine linke Sakkotasche gleiten und zog einen zerknitterten Zettel heraus. Es war ein Telegramm, das er in der Früh erhalten hatte. Er warf einen kurzen Blick darauf und kniff dann die Augen zusammen. Er konnte noch immer nicht glauben, was er da las:

„Das Krokodil kaut keinen Kaugummi — stop — das Krokodil taucht im Nil — stop — das Krokodil ver­schlingt, was es nur bekommen kann — stop — roger.“

Mit dem Taschentuch wischte sich Dr. Grassus die

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Schweißperlen von der Stirn. „Verdammt“, murmelte er, „verdammt, verdammt,

verdammt!“ Er ließ sich in einen der herumstehenden Sessel fallen. Seine kleinen, grauen Grübelzellen rotierten auf Hochtouren.

Wieso konnte das geschehen? Ich hätte ihn nie aus den Augen lassen dürfen, schoß es ihm durch den Kopf. Wenigstens wissen wir, wo er sich befindet. Er hat sich vielleicht verletzt. Auf jeden Fall müssen wir ihn dazu bringen, daß er sich zu erkennen gibt. Aber wie soll ich das schaffen, überlegte der Werbechef.

Er warf das Telegramm auf den Boden und trampelte wütend darauf herum. Mit einem Ruck hielt er inne und schaute sich hastig um. Hatte ihn jemand beobachtet? Außer ihm war niemand im Saal zu sehen. „Hallo? Hallo Sie ...?“ rief er. Keine Antwort. Er war also wirklich allein. Schnell bückte er sich und ließ das Stück Papier wieder in seinem Anzug verschwinden. Sorgfältig drückte er es tief in die Tasche. Diese Nachricht durfte niemand außer ihm in die Hand bekommen. Obwohl der Inhalt für Nichteingeweihte ohnehin völlig unverständlich war.

Plötzlich hellte sich seine Miene auf. Er hatte an­scheinend eine Idee. Genau so mache ich es! Genau so und nicht anders, sagte er leise zu sich selbst. Er sprang auf, und grinsend versuchte er ein paar hüpfende Schritte, die sehr ungeschickt und unbeholfen wirkten. Diesmal sah das Grinsen übrigens triumphierend aus. Im Hüpfen war Dr. Grassus jedenfalls nicht sehr geübt. Denn gleich darauf knallte er mit dem Schienbein gegen einen Sessel und jaulte auf. Er preßte seine Hände auf die schmerzende Stelle und hinkte aus dem Saal.

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Denkste, Herr Doktor!

Fräulein Tilly war das genaue Gegenteil ihres Chefs. Sie war eine überaus elegante, freundliche Dame, die Axel, Lieselotte, Dominik und Poppi in einem bequemen Wagen durch Innsbruck kutschierte.

„Sie trägt keinen Pelzmantel, sondern einen Mantel aus Teddyplüsch“, dachte Poppi zufrieden. Leute, die sich tote Tierhäute umhängen, mochte Poppi nicht.

„Und jetzt zeige ich euch die bekannteste Sehens­würdigkeit hier in Innsbruck. Das ...“

„... Goldene Dachl!“ riefen alle vier im Chor. „Es besteht aus genau 2.714 feuervergoldeten Kup­

ferschindeln und wurde — samt dem darunterliegenden Balkon — von Kaiser Maximilian I. in Auftrag gegeben.“ Lilos Vortrag klang wie die Rede eines erfahrenen Fremdenführers.

Fräulein Tilly sah sie erstaunt an. „Woher weißt du das so genau?“

„Kunststück, ich bin doch Tirolerin!“ lachte das Mädchen mit den blonden Zöpfen. „Übrigens, es gibt da eine lustige Sage: Angeblich hat Herzog Friedrich das, Goldene Dachl erfunden. Sein Spitzname war nämlich ‚Friedel mit der leeren Tasche’. Um aber der Welt zu beweisen, daß er doch nicht so arm war, ließ er dieses Dach mit goldenen Schindeln decken.“

Staunend betrachteten die drei anderen das berühmte Dach, von dem der frischgefallene Schnee zum Glück abgerutscht war. Es strahlte und glänzte in der

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Wintersonne. „Und wohin fahren wir jetzt, Fräulein Tilly?“ erkundigte sich Axel.

Die Sekretärin schenkte ihm ein freundliches Lächeln und meinte: „Bitte nennt mich nicht Fräulein Tilly. Da komme ich mir wie meine eigene Urgroßmutter vor. Sagt einfach Tilly zu mir.“ Sie warf einen schnellen Blick auf die Uhr. „Wir haben noch genau zweieinhalb Stunden Zeit. Ihr könnt auswählen. Wie wäre es mit den „Schwarzen Mandern“ ?“

Poppi zog fragend die Augenbrauen hoch. „Das sind 28 schwarze Statuen in Lebensgröße.

Verwandte und Vorbilder von Maximilian I., die an seinem Grabmal Wache halten. Von Maximilian habt ihr bestimmt schon einmal gehört. Er wird auch der ‚letzte Ritter’ genannt. Beerdigt ist er übrigens nicht hier, sondern in Wiener Neustadt. Trotzdem befindet sich sein Grabmal in Innsbruck.“ Tilly zog ein kleines Buch über die Sehenswürdigkeiten der Stadt aus der Handtasche und zeigte den Kindern ein Foto der „Schwarzen Mander“.

„Unbedingt solltet ihr aber die Kolossal-Statue vom Andreas Hofer sehen. Sie steht auf dem Berg Isel. Dort, wo die Tiroler unter der Führung von Andreas Hofer die Truppen Napoleons geschlagen haben“, erzählte sie.

Lieselotte wußte es natürlich ganz genau: „Später wurde er von seinen Gegnern gefangen und lag in Mantua in Banden, wie es im ,Andreas Hofer-Lied’ heißt! In Mantua wurde er schließlich auch hingerichtet. Für uns ist und bleibt er aber ein Volksheld!“

Tilly ließ den Motor wieder an und fuhr los. „Wir machen jetzt einen Sprung zur ,Hungerburg-Bahn’.

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In der Talstation gibt's nämlich ein 1000 Quadratmeter großes Rundgemälde, auf dem die Entscheidungsschlacht dargestellt ist. Wir fahren dann weiter auf den Berg Isel zum Andreas Hofer-Denkmal und zum Olympia-Skisprung-Stadion! Einverstanden?“

Die Kinder nickten heftig. „Preisfrage: Wie oft hat die Olympiade schon in

Innsbruck stattgefunden?“ Lieselotte schaute die anderen prüfend an.

„Na einmal!“ lautete Dominiks Antwort. „Irrtum, Dominik. Zweimal. 1964 und 1976!“ Dominik zuckte mit den Achseln. „Da war ich noch gar

nicht auf der Welt. Woher soll ich das wissen?“ Poppi tippte Tilly mit dem Finger auf die Schulter. „Ja, Poppi? Was denn?“ „Ich würde gerne in den Innsbrucker Alpenzoo gehen.

Ich habe gehört, daß es der schönste Tierpark Österreichs sein soll. Außerdem sind dort Tierarten zu sehen, die in der freien Natur schon ausgestorben sind. Zum Beispiel der Waldrapp und das Alpensteinhuhn!«

„Ich fürchte, das wird sich nicht alles heute ausgehen“, seufzte Tilly. „Aber ihr bleibt ohnehin noch bis morgen da.“ Die vier Kinder waren überrascht. Davon wußten sie noch nichts.

Tilly schüttelte verwundert den Kopf. „Das verstehe ich nicht. Der Chef wollte euch unbedingt selbst verständigen und euch alles mitteilen. Davon war er nicht abzubringen. Und nun hat er auf die Hälfte vergessen.“

„Er?“ rief Dominik. „Der Dr. Grassus hat gesagt, du hättest vergessen.“

Tilly blähte wütend die Nasenflügel und atmete

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zweimal tief durch. „Jetzt reicht's mir. Heute werde ich mit ihm ein Hühnchen rupfen“, knurrte sie leise vor sich her.

Kurz nach fünf Uhr trafen sie wieder im Hotel ein. Während Axel, Lilo, Dominik und Poppi ihre Mäntel und Jacken auf die Zimmer trugen, marschierte Tilly mit fest entschlossenen Schritten auf ein kleines Büro hinter der Bühne zu. Sie klopfte.

„Herein“, hörte sie die Stimme von Dr. Grassus. Tilly riß die Tür auf und stürzte zu ihrem Chef. „Es reicht, Herr Doktor. Es reicht. Ich möchte endlich

wissen, warum Sie mir ständig Ihre eigenen Fehler in die Schuhe schieben?“

Markus Grassus machte ein Gesicht wie ein kleiner Junge, der gerade bei einem Streich ertappt worden war. „Tu ich das?“ fragte er unschuldig. „Ja“

„Ja“. „Dann verzeihen Sie mir, Fräulein Tilly.“ Er verzog

den Mund und zeigte seine gelben Zähne. Man hätte es fast für ein Lächeln halten können.

„Allerdings muß ich Sie trotzdem tadeln. Sie hätten mich durchaus erinnern können, daß ich diese komischen Kinder selbst anrufen wollte. Ich habe heute keine Ahnung mehr, wie ich auf diese Idee gekommen bin. Außerdem scheint es Ihnen entfallen zu sein, ein Hotel für die vier im schönen Skiort Ischgl zu reservieren. Das war doch ausgemacht, oder?“

„Nein“, protestierte Tilly, „ausgemacht war ein Erlebnis-Ferienaufenthalt im Zillertal. Und den habe ich auch organisiert!“

„Zu dumm. Ich habe in Ischgl angerufen und erfahren,

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daß nichts bestellt war. Deshalb mußte ich blitzschnell alle Hebel in Bewegung setzen, um doch noch etwas aufzutreiben. Die Gewinner werden nun die Weihnachtsferien in Kitzbühel verbringen. Im Hotel Hochbrunner! Ein Freund hat das für mich eingefädelt. Wir sind ihm zu großem Dank verpflichtet.“

„Aber Herr Doktor Grassus, das ...“ Der Werbechef schnitt ihr einfach das Wort ab. „Ich

fürchte, Fräulein Tilly, wir verstehen uns in letzter Zeit nicht mehr gut. Haben Sie schon einmal daran gedacht, sich einen anderen Arbeitsplatz zu suchen?“

Tilly schaute erschrocken auf. Was sollte das alles? Was war nur in ihren Chef gefahren? Seit ungefähr einem Monat benahm er sich sonderbar. Er war nervös und gereizt. Die Tür zu seinem Zimmer mußte ständig verschlossen sein. Einige Male hatte er ihr sogar verboten, Telefonate entgegenzunehmen. Und jetzt legte er ihr plötzlich nahe, zu gehen. Dabei hatte sie immer genau das getan, was er wollte.

Mit einem Ruck erhob sich Dr. Grassus. „Entschul­digen Sie mich. Die beiden Fotografen von der Zeitung sind hier. Ich muß sie begrüßen.“

„Herr Doktor, ich habe mich mit den Kindern unterhalten. Dem größeren Mädchen und dem rothaarigen Jungen wäre es bestimmt nicht angenehm, in diesen Lederhosen aus der Zeitung zu lachen. Sie wissen schon, wegen ihrer Freunde ...“

Dr. Grassus winkte ab. „Mir völlig egal. Über alles andere reden wir später.“ Er stand auf und ließ die fassungslose Tilly einfach stehen. Wütend stapfte sie mit dem Fuß auf. Das mußte sie sich nicht gefallen lassen.

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Eine Tilly Tiptoll warf niemand hinaus. Sie würde freiwillig gehen. Doch dieser eingebildete Werbefritze sollte nicht so ungeschoren davonkommen.

Sie lief in die Halle und erkundigte sich beim Portier nach den Zimmernummern der vier Preisträger.

Der Festsaal des Hotels war gesteckt voll. Die Firma „Geier-Wally“ hatte über das Radio alle Kinder Innsbrucks zur Preis Verleihung eingeladen. Mehr als dreihundert waren gekommen. Ein buntes und spannendes Programm erwartete sie. Zuerst trat ein Zauberer auf, der statt Kaninchen eine Lederhose nach der anderen aus seinen Kisten und Käfigen zog. Ihm folgte eine Rock'n'Roll-Akrobaten-Gruppe, die selbstverständlich auch in Lederhosen auftrat. Weiter ging es mit einem Clown, der — man glaubt es kaum — seine großkarierte Hose gegen eine lederne Knickerbocker eingetauscht hatte.

Danach spielte die Band einen Tusch, und Herr Dr. Grassus betrat die Bühne. Statt seines mausgrauen Anzugs trug er nun ein Trachtensakko und eine dunkle — wie könnte es anders sein — Lederhose.

„Meine Damen und Herren, liebe Kinder!“ säuselte er in das Mikrofon. „Ich habe nun das Vergnügen, die Sieger unseres Knickerbocker-Malwettbewerbs zu präsentieren. Über 1000 Zeichnungen sind bei uns eingelangt. Die Wahl ist uns schwer gefallen, doch heute stehen sie fest: die Gewinner. Vier Kinder, die die ausgeflipptesten und poppigsten Lederhosen entworfen haben. Da wäre einmal Poppi mit ihrem Modell ,Giraffo-bra’!“

Poppi tappte zaghaft auf die Bühne. Der donnernde Applaus des Publikums erschreckte sie. Axel versetzte ihr

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einen Schubs. „Los, schnell raus, damit wir zu unseren Preisen kommen. Du weißt schon warum“, flüsterte er ihr verschwörerisch zu.

Also tänzelte Poppi in ihrer Knickerbocker zur Bühnenrampe. Das eine Bein war gefleckt wie der Hals einer Giraffe, das andere war gestreift wie das Fell eines Zebras. Daher der Name „Giraffo-bra“!

Auf Poppi folgte Dominik in einer Lederhose, die aussah, als wäre sie aus Filmstreifen zusammengenäht worden. Lilos Modell war mit richtigen kleinen Bergen aus Leder verziert, auf denen sogar winzige Männchen kletterten. Den Abschluß bildete Axel in seiner knallrosa Knickerbocker mit den giftgrünen Flügeln. Er hatte den Entwurf nur aus Langeweile in einer Schulpause hingekritzelt.

Der Werbechef zückte vier große Kuverts, auf denen dick der Schriftzug „Geier-Wally“ prangte. Er überreichte sie den Kindern mit den Worten: „Hier drinnen findet ihr die Gutscheine für eure Preise. Da wäre einmal ein Abenteuer-Skiurlaub zu Weihnachten in Kitzbühel.“

„Wau! Irre!“ rief Axel. Die Kinder im Saal klatschten begeistert in die Hände.

Nur Poppi machte kein sehr erfreutes Gesicht. „Ich kann gar nicht Ski fahren. Und Ski habe ich auch keine!“

„Das macht gar nichts“, gröhlte Dr. Grassus. „Für jeden von euch gibt es eine neue Skiausrüstung, und außerdem werdet ihr von einem Skilehrer wertvolle Tips erhalten.“

Lilo lachte laut auf. „Vielleicht von meinem Papa!“ „Wieso von deinem Papa?“ Dr. Grassus verstand nicht,

was das Mädchen meinte. „Naja, ich bin doch aus Kitzbühel, und mein Vater ist

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dort Skilehrer!“ Das Publikum kicherte. Der dicke Herr Dr. Grassus

runzelte die faltige Stirn. Das war ihm nun etwas peinlich. Lilo tröstete ihn darüber hinweg. „Macht gar nichts“,

sagte sie. „Immerhin darf ich mir doch noch etwas wünschen. Jeder Preisträger hat einen Wunsch frei. Das stand bei den Wettbewerbs-Bedingungen.“

„Ach ja, richtig“, grinste Dr. Grassus verlegen. „Aber zuerst muß noch ein Foto der Gewinner geknipst werden.“ Er winkte zwei Herren, die neben der Bühne standen und bisher gelangweilt zugesehen hatten. Nun stürzten sie zur Mitte und begannen gleich darauf wild zu fotografieren. Die vier Kinder standen in einem richtigen Blitzlicht-Gewitter. Axel biß die Zähne zusammen. Zum Glück hatte ihn Tilly gewarnt. Er wußte, daß er den Fotografen nicht entkommen konnte. Aber er hatte für Dr. Grassus auch noch eine Überraschung bereit. Und was für eine ...

Endlich war das Geknipse beendet, bei dem sich der Werbechef im Hintergrund gehalten hatte.

„Nun zu euren Wünschen“, wandte sich Dr. Grassus wieder den Kindern zu. „Was möchtet ihr denn?“

Dominik machte einen Schritt vor und nahm dem verblüfften Doktor das Mikrofon aus der Hand. Er blickte zu den Kindern im Saal und sagte dann langsam und genüßlich: „Wir alle hätten gerne, daß sie fünf volle Minuten lang Schuhplatteln!“ Eine Sekunde lang herrschte Stille. Dann begann Dr. Grassus heftig mit den Armen zu fuchteln.

„Kommt nicht in Frage. Es geht hier um Wünsche, die man kaufen kann.“

„Das steht aber nirgends!“ protestierte Axel. „Es hat

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immer nur geheißen: Ein Wunsch! Das ist unser Wunsch!“ „Nein! ich denke nicht daran.“ Ein weißhaariger Herr in der ersten Reihe stand auf und

meinte mit ruhiger Stimme: „Das gilt nicht, Herr Doktor. Die Kinder haben recht. Wenn es ihr Wunsch ist, müssen Sie ihn erfüllen.“

Dr. Markus Grassus blickte den Mann entsetzt an, „Das ist der Chef der Firma“, flüsterte Lilo Axel zu. „Schuhplatteln! Schuhplatteln! Schuhplatteln!“

gröhlten die 300 Kinder im Saal und trampelten aus Leibeskräften. „Schuhplatteln!“

Dr. Grassus blieb nichts anderes übrig. Er warf den vieren in ihren bunten Lederhosen bitterböse Blicke zu, während er zur Mitte der Bühne stapfte. Er machte zwei Sprünge, die an eine hinkende Gemse erinnerten, und versuchte mit seinen kurzen, dicken Armen die Schuhsohlen zu erreichen. Sehr erfolgreich war er dabei nicht. Danach wollte er wieder abgehen.

Dominik stellte sich ihm in den Weg. „Halt! Wir haben uns gewünscht, daß Sie fünf Minuten

lang Schuhplatteln. Und selbstverständlich mit Musik! Bitte sehr!“ Er gab der Band ein Zeichen, worauf die drei Musiker sofort einen zünftigen Schuhplattler anstimmten.

„Elende Knickerbocker-Bande!“ zischte Dr. Grassus den Preisträgern Axel, Lilo, Dominik und Poppi zu. Dann versuchte er so zu tun, als würde er Schuhplatteln.

Die Kinder im Saal johlten vor Lachen und klatschten im Takt.

Am Bühnenrand stand Tilly und lächelte zufrieden. Das vergönnte sie dem Mops! Der Spitzname gefiel ihr. Sie zwinkerte den vier Kindern aufmunternd zu. Alle vier

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grinsten fröhlich und zufrieden zurück. „Wir vier sind also die Knickerbocker-Bande!“ flüsterte

Axel den anderen zu. „Warum eigentlich nicht?“

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Baby-Haie in Kitzbühel?

Es war schon kurz nach drei Uhr früh. Im vierten Stock eines Hauses am Inn-Ufer brannte noch immer Licht. Ein beleibter, kleinwüchsiger Mann trat ans Fenster und blickte hinaus auf den schwarzen Fluß.

Mit den Händen rieb er über die schmerzenden Oberschenkel. Er hatte einen schlimmen Muskelkater vom Schuhplatteln.

Die halbe Nacht lang war er in seinem Zimmer auf und ab gegangen. Nun hatte er einen Entschluß gefaßt.

Mir doch egal, ob es für sie gefährlich wird oder nicht. Diese heimtückischen kleinen Ganoven —, dachte er, als er zum Telefon griff und eine Nummer wählte.

„Telefonische Telegrammaufnahme“, meldete sich eine freundliche Stimme am anderen Ende der Leitung.

Der Mann gab seinen Namen und seine Telefon­nummer bekannt und buchstabierte der Dame von der Post den Namen des Empfängers in Italien.

„Und wie soll der Text lauten?“ „Baby-Haie feiern Weihnachten in Kitz — STOP —

Haben zweite Hälfte des Zahnes — STOP — Münchhausen hätte seine Freude — STOP — doch beißt der Zitterrochen so bald an? — STOP!“

„Aha!“ Die Stimme der Telefonistin klang etwas verunsichert, aber das Wundern hatte sie sich im Laufe der Jahre abgewöhnt.

Der Mann mit dem Mopsgesicht legte auf und rieb sich zufrieden die Hände. Der Köder war gelegt. Nun mußte

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sein Opfer nur noch anbeißen. „Zwei Wochen wirst du dich noch gedulden müssen,

aber auch diese Zeit geht vorüber!“ sagte er zu sich und ließ sich dann auf sein Bett fallen.

Am nächsten Tag erfüllte Tilly Poppis Wunsch und fuhr mit den vier Kindern zum Alpenzoo.

Unterwegs bewunderte Poppi die ganze Zeit die schneebedeckten Berge, die die Stadt umgaben.

„So viele Berge und alle so hoch.“ „Das ist doch nichts Besonderes“, lachte Lilo. „Der

Patscherkofel und die Frau Hitt sind nur ein bißchen über 2.200 Meter hoch. In den Zillertaler-Alpen reiht sich ein Dreitausender an den anderen.“

Poppi staunte. „Wißt ihr, ich habe bis vor kurzem im Burgenland gelebt, und dort gibt es kaum Berge. Dafür kann man im Sommer herrlich Rad fahren!“

Kurz darauf waren sie im Alpenzoo angekommen und schlenderten von Gehege zu Gehege. In den geräumigen, kleinen Landschaften, die für die Tiere aufgebaut worden waren, tummelten sich Schleiereulen, Bartgeier, Wölfe, Biber, Braunbären und Steinböcke.

„Schade, daß wir heute schon wieder zurück müssen“, meinte Axel.

„Aber wir sehen uns doch bald wieder. In ein bißchen mehr als zwei Wochen. Am 27. Dezember, am Nachmittag, ist Treffpunkt im Hotel Hochbrunner“, meinte Lilo. „Das ist übrigens nur zwei Straßen von meinem Haus entfernt!“

Warum schläfst du dann nicht daheim?“ wollte Axel wissen.

„Weil es im Hotel viel mehr Spaß macht und außerdem

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mein Preis ist! Und zehn Tage ohne Eltern sind doch auch nicht schlecht.“

Axel nickte zustimmend. „Meine Mutter spielt zu Weihnachten Theater. Die

kann sicher nicht weg. Sie ist nämlich Schauspielerin!“ berichtete Dominik.

„Und meine Eltern fliegen gleich nach Weihnachten nach Amerika. Weil mein Papa zwei Monate dort arbeiten soll. An einer Universität. Hoffentlich lassen sie mich allein kommen!“ meinte Poppi.

„Aber klar“, beruhigte sie Lilo. „Und wenn nicht, dann ruf mich an. Meine Mama regelt das schon. Die verspricht, ein wachsames Auge auf dich zu werfen, und alles ist geritzt.“ Poppi strahlte, „Danke, Lieselotte! Super!“

Beim Ausgang des Alpenzoos wurde die Knicker­bocker-Bande bereits erwartet. Als sie auf den Parkplatz kamen, sprang Dr. Grassus aus einem Wagen und angelte vier Schachteln von der Rückbank. Er drückte jedem der vier eine in die Hand.

Lilo betrachtete sie prüfend. „Was ist denn da drin­nen?“

„Eure Kunstwerke natürlich“, grunzte der Werbechef. „Ihr wollt sie doch bestimmt als Andenken mitnehmen. Außerdem braucht ihr sie in Kitzbühel.“

„Wieso?“ forschte Axel. „Weil mit eurem Preis eine kleine Bitte verbunden ist.

Als Werbespaß für die Firma ‚Geier-Wally’ sollt ihr eure Meisterwerke in einer Discothek vorführen.

Nur einmal und ohne Fotografen. Wäre das möglich? Der Chef hätte es gerne.“

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Die vier blickten einander fragend an und nickten schließlich.

Zwei Stunden später hieß es Abschied nehmen. Jeder fuhr wieder nach Hause und freute sich über die Neugewonnenen Freunde. Keiner ahnte, daß eine der knallbunten Lederhosen ein gefährliches Geheimnis trug. Das sollte der Beginn des ersten Falls der Knickerbocker-Bande sein...

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Der rote Teufel

Drei Tage nach Weihnachten war es dann soweit. Am 27. Dezember trafen die vier Mitglieder der

Knickerbocker-Bande nacheinander in Kitzbühel ein. Der erste war Dominik, der es sich gleich in der

Hotelhalle beim grünen Kachelofen bequem machte. Kurz nach ihm kamen Poppi und Axel. Lilo stapfte als letzte mit Riesenschritten in das Hotel Hochbrunner. Mit den dicken, weichgepolsterten Moon-Boots an den Füßen erinnerten ihre Bewegungen an einen Astronauten auf dem Mond.

Nach einer stürmischen Begrüßung ging es hinauf in die Zimmer. Die Firma „Geier-Wally“ hatte nicht gespart. Sowohl die Mädchen als auch die Buben bewohnten jeweils gemeinsam ein eigenes Appartement. Es bestand aus einem Vorraum, einem Wohnzimmer und einem eigenen Schlafzimmer.

„Wo hast du denn dein Gepäck?“ fragte Poppi ihre Freundin, als sie ächzend ihren schweren Koffer zum Kasten zerrte.

„Das kommt nach“, verkündete Lilo. „Mein Papa bringt mein Zeug heute abend vorbei. Mit dem Auto. Ich war nämlich zu faul, die Sachen herzuschleppen, obwohl ich nur dreimal ums Eck wohne!“

Das Zimmertelefon schnarrte, und Lilo hob ab. „Ja bitte?“

„Die jungen Herrschaften werden gebeten, in die Halle zu kommen“, hörte sie die Stimme des Portiers. „Sie

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werden unten erwartet.“ Neugierig rasten die vier über die Stiege hinunter und

prallten direkt in ... Tilly. Die freundliche Sekretärin stand in ihrem schwarzweiß gestreiften Skianzug am Fuße der Treppe und empfing lachend die Knickerbocker-Bande.

„Was machst denn du da?“ fragte Axel erstaunt. „Das klingt ja so, als wäre ich unerwünscht!“ Tilly

spielte auf sehr empört. „Aber nein!“ lachte Lilo. „Wir sind nur ganz über­

rascht.“ Tilly verneigte sich vor den vieren und verkündete

feierlich: „Ich habe die ehrenvolle Aufgabe, euch als zünftige Skifahrer auszurüsten. Und da ich schon hergekommen bin, werde ich auch noch ein paar Tage mit euch verbringen. Der Schnee ist prachtvoll. Das Wetter soll es auch werden, wenn die Wetterfrösche sich nicht geirrt haben. Natürlich bleibe ich nur, wenn ihr nichts dagegen habt.“

„Aber nein! Überhaupt nicht!“ riefen die vier. „Außerdem möchte ich euch eurem Skilehrer vor­

stellen.“ Tilly machte eine schwungvolle Handbewegung in

Richtung Kachelofen. Auf der Bank saß einer der „Roten Teufel von Kitz“. So werden die Kitzbühler Skilehrer wegen ihrer roten Anoraks genannt.

„Ich bin der Sepp! Sepp Stürzel, wenn ihr es ganz genau wissen wollt. Aber ich mache meinem Nachnamen ganz und gar keine Ehre!“ stellte er sich vor. Dann stutzte er. „Aber sag, Lilo, was machst denn du da? Willst du mir das Skifahren beibringen?“

„Nein, nein“, wehrte Lilo ab, „aber Preis ist Preis. Und

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wenn es dir nichts ausmacht, würde ich gerne mit dem Axel fahren. Der ist nämlich ein toller Pistenflitzer — hat er zumindest gesagt.“

„Stimmt auch!“ rief Axel. Poppi meldete sich zaghaft zu Wort. „Ich bin aber

Anfängerin!“ Sepp legte ihr den Arm um die Schulter und meinte:

„Kein Problem, da bin ich Spezialist. In spätestens einer Woche kannst du auch auf den Berg rauffahren.“

„Und was ist mit mir? Ich fahre mittel!“ meldete sich Dominik.

„Dann suchen wir beide uns gemeinsam die ein­facheren Pisten aus“, entschied Tilly. „Abgemacht?“

„Abgemacht!“ rief die Knickerbocker-Bande im Chor. Anschließend ging es ins Sportgeschäft, wo alle vier

mit den neuesten Skianzügen ausgestattet wurden. Je nach Können erhielt dann jeder noch das richtige Paar Ski, mit Sicherheitsbindung und Skischuhen.

„Das ist ja wie ein zweites Mal Weihnachten,“ stellte Axel fest, als er mit den anderen ins Hotel zurückkehrte.

„Wie Ostern und Weihnachten zusammen!“ lachte Dominik.

Sepp, der die beiden Buben und die Mädchen beim Kauf beraten hatte, verabschiedete sich.

„Ich muß nach Hause. Mein Bruder ist auf Besuch da. Morgen um neun Uhr hole ich euch ab. Ist das zu früh?«

„Nein, gerade richtig!“ Alle waren einverstanden. Lilo, Axel, Dominik und Poppi fuhren mit dem Aufzug

in den dritten Stock. Als sie zu ihren Zimmern kamen, erschraken sie. Beide Türen standen offen. Dabei hatten sie doch abgesperrt und die Schlüssel beim Portier

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abgegeben. Als Poppi das Wohnzimmer ihres Appartments betrat,

machte sie einen leisen Schrei. Ihr Koffer war geöffnet worden, und der Inhalt lag wild verstreut im ganzen Raum.

Dominik und Axel stürzten zu den Mädchen. „Bei uns hat jemand alles durchwühlt! Unsere Koffer! Alles! Das totale Chaos!“ Ratlos betrachteten sie das Durcheinander bei Poppi und Lilo.

„Wer war das?“ fragte Dominik. „Ein Wahnsinniger oder ein Hoteldieb!“ lautete Axels

Verdacht. Lilo schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht. Für einen Hoteldieb sind wir völlig uninteressant. Ich vermute, daß hier jemand etwas gesucht hat. Oder er wollte etwas suchen und hat sich in der Zimmernummer geirrt.“

„Du redest wie eine geborene Detektivin!“ staunte Axel.

„Krimis sind auch mein Hobby“, erzählte Lilo. „Ich habe heuer zu Weihnachten alle Abenteuer des Sherlock Holmes bekommen. Der konnte vielleicht kombinieren.“

Dominik hatte jetzt keine Lust zum Detektivspielen. „Ich gehe zum Portier. Vielleicht hat der eine Ahnung, wer das angerichtet hat. Aufräumen ... wäähhh!“ stöhnte er.

Das Aufräumen blieb Dominik erspart. Nachdem die Gendarmerie die Zimmer besichtigt hatte, kam ein Zimmermädchen und schlichtete die Kleidungsstücke in die Kästen. Die Knickerbocker-Bande marschierte unterdessen in den Speisesaal, wo sie bereits von Tilly erwartet wurde.

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Tilly trug nun einen Jogginganzug, der aus vielen bunten Stoffstücken zusammengenäht war. Mit den aufgesteckten blonden Haaren und dem bunten Halstuch sah sie sehr frisch und freundlich aus — wie Poppi anerkennend feststellte.

„Die Gendarmerie hat nicht den leisesten Verdacht, wer da in euren Zimmern gewütet hat“, berichtete sie den Kindern. „Auf jeden Fall rate ich euch, am Abend abzuschließen.“

Poppi schaute sie mit weit aufgerissenen Augen an. „Meinst du, der Einbrecher kommt zurück?“

Tilly schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht. Und wenn ihr euren Schlüssel innen stecken laßt, kann er gar nicht hinein. Er hat nämlich eindeutig einen Zweitschlüssel besessen.“

Lilo zeigte Poppi ihre Fäuste. „Die linke Faust riecht nach Krankenhaus, die rechte nach Friedhof!“ meinte sie scherzhaft, um ihre kleine Freundin zu beruhigen. „Aber im Ernst, ich bin ganz gut im Boxen. In der Schule haben ein paar Buben schon den Rückzug angetreten! Also keine Angst, Poppi!“

„Stärk dich lieber mit einem Tirolerknödel“, riet ihr Dominik und löffelte schlürfend und schmatzend seine Suppe, in der zwei große, runde Knödel schwammen.

„Wieso bricht jemand in unsere Zimmer ein? Gleich nach unserer Ankunft! Am hellichten Tag!“ Dieser Gedanke ging Poppi nicht aus dem Kopf. Sie hatte Angst, und Tilly sah ihr das an. Sie legte ihre schlanke Hand beruhigend auf Poppis Arm. „Im dritten Stock befinden sich außer euren beiden Appartements nur ein paar Zimmer, die die Besitzer des Hotels bewohnen. Ich bin

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sicher, der Dieb hatte es auf diese Zimmer abgesehen. Er hat sich in der Tür geirrt. Vergiß die Sache, Poppi!“

Sehr überzeugend klang Tillys Stimme aber nicht. Das fiel auch Axel und Lilo auf.

Dominik hatte für diese Zwischentöne allerdings keine Ohren. Er war viel zu sehr mit dem Essen beschäftigt.

Als Hauptspeise stand an diesem Tag „Forelle blau“ auf dem Menü. „Zählt nicht zu meinen Lieblingsspeisen, da der Verzehr unter Umständen gefährlich und mit Hustenanfällen verbunden sein kann“, war Dominiks Meinung dazu.

Tilly blickte ihn fragend an. „Du meinst, die Gräten stören dich?“

„Habe ich doch gerade gesagt.“ Lilo und Axel johlten vor Lachen. „Kannst du das nicht

einfach und normal ausdrücken, wie jeder andere?“ Dominik schob beleidigt die Unterlippe vor und

schaufelte das nächste Stück Fisch auf die Gabel. Al­lerdings war es ein wenig zu groß, und auf dem Weg zu Dominiks Mund fiel es unter den Tisch. Dominik blickte schnell nach allen Seiten. Hatte jemand sein Mißgeschick bemerkt? Ja, man hatte es gesehen. Poppi, Axel und Lilo starrten ihn grinsend an und verbissen sich das Lachen.

Umständlich bückte sich Dominik und suchte den Teppich nach dem verloren gegangenen Bissen ab. Jedoch vergeblich. Er sah nur fünf Paar Schuhe und die übergroße Handtasche, die Poppi ständig mit sich herumschleppte. Vom Fisch keine Spur. Er wollte sich schon wieder aufrichten, als er eine seltsame Beobachtung machte. Poppis Tasche bewegte sich. Er verharrte einen Moment ganz ruhig, ließ die blau-gelbe Kunststofftasche dabei aber

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nicht aus den Augen. Nun blieb es in ihr völlig still. Vorsichtig streckte er seine Hand danach aus. Der Reißverschluß war ein Stück offen. Dominik ließ seine Finger hineingleiten.

„Autsch!“ schrie er und sauste in die Höhe. Dabei knallte er mit dem Kopf an die Tischkante.

Als er auftauchte, lutschte er an seinem rechten Zeigefinger und rieb sich mit der linken Hand den Hinterkopf.

Nun konnte sich auch Tilly nicht länger zurückhalten. „Was treibst du denn da unten?“ prustete sie.

„Angelst du vielleicht nach ganzen Forellen?“ spottete Axel.

Dominik betrachtete verwundert den kleinen Schnitt auf seinem Daumen. Er blutete nicht stark, aber doch ein bißchen. Er hatte in der Tasche plötzlich auf etwas sehr Scharfes gegriffen. Aber worauf? Sollte Poppi vielleicht ein Messer bei sich tragen? Dominik wußte, daß jedes weitere Wort nur einen neuen Lachkrampf seiner Freunde auslösen würde. Deshalb schwieg er und widmete sich lieber genüßlich dem Essen.

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Schnee- und andere Monster

Nach dem Dessert lud Tilly die Knickerbocker-Bande noch in das gemütliche „Jagdzimmer“ ein. Seinen Namen hatte dieser Raum von den zahlreichen Jagdtrophäen, die dort an den Wänden hingen. Sogar die ausgestopften Köpfe eines Hirsches und eines Wildschweines waren da zu sehen.

„Lebendige Tiere sind mir lieber!“ brummte Poppi. Das knisternde Feuer im offenen Kamin war dann aber

doch zu verlockend. Die vier ließen sich in die ausladenden, weich gepolsterten Lehnsessel fallen, die davor standen, und starrten in die Flammen. Ein Kellner brachte jedem ein hohes Glas mit einem rotgrün-gelben Getränk. Unten war es ganz rot, in der Mitte grün und oben gelb.

Lilo betrachtete ihr Glas mißtrauisch. „Das ist ein Pistenflitzer-Cocktail!“ erklärte Tilly.

„Besteht aus Himbeersirup, Pfefferminz-Sirup und Orangensaft. Ihr könnt ihn Schicht für Schicht oder aber vermischt trinken. Auf jeden Fall gibt er Kraft für unseren morgigen Skitag!“

„Was macht eigentlich Möpschen?“ erkundigte sich Dominik.

„Möpschen?“ Tilly verstand nicht ganz. „Er meint Herrn Dr. Grassus!“ sagte Lilo schnell. Tilly lachte laut. „Der Spitzname paßt wirklich zu ihm.

Warum er mir nie eingefallen ist? Also ‚Möpschen’ ist nicht mehr in der Firma ,Geier-Wally’! Er hat gekündigt.

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Drei Tage nach der Preisverleihung. Ich wollte ja auch gehen, aber der Chef hat es nicht

zugelassen. Und nun leite ich selbst die Werbeabteilung.“ „Bravo!“ Die Knickerbocker-Bande spendierte Tilly

einen donnernden Applaus. Die junge, blonde Frau bedankte sich dafür mit einer Verbeugung.

„Gespannt bin ich ja, ob wir morgen auch dem Schneemonster begegnen!“ platzte Dominik plötzlich heraus.

„Schneemonster? Hast du das vielleicht auch schon gespielt? Im Theater oder in einem Film?“ machte sich Axel lustig.

Dominik hörte gar nicht hin. „He, Lilo, du mußt doch mehr darüber wissen. Die Geschichte mit dem Schneemonster ist sogar in der Zeitung gestanden.“

Lilo nickte. „Diese komische Amerikanerin hat sich eingebildet, in einem Schneesturm ein weißes, weiches Ungeheuer gesehen zu haben. Es hat sie angeblich überfallen. Aber zuerst hat ihr das niemand geglaubt. Diese Gurke hat auch behauptet, Ski fahren zu können. Dabei hat sie nicht einmal den Schneepflug beherrscht.“

„Was heißt zuerst hat ihr niemand geglaubt?“ bohrte Axel, der neugierig geworden war.

„Naja, das Schneemonster ist danach noch zweimal gesichtet worden. Einmal vom Direktor des Hotels auf dem Hahnenkamm, und das zweite Mal von einer angeheiterten Urlauberin. Diese wollte in der Nacht unbedingt im Schnee spazieren und ist hinausgelaufen. Sie hat eine Windlaterne mitgehabt, und plötzlich soll vor ihr ein schneeweißes Wesen mit einer faltigen, schrumpeligen Haut aufgetaucht sein. Es hat geröchelt und gekeucht. Mit

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seinen kräftigen Pranken hat es der Urlauberin gedeutet zu verschwinden. Aber die Frau war starr vor Schreck. Da hat sich das Monster gebückt und ihr eine Ladung Schnee ins Gesicht geschleudert. Die Frau ist daraufhin krei­schend zum Hotel zurückgerannt!“

Ein feuchtes Holzstück krachte im Kamin. Poppi schrie auf.

„Keine Angst, untertags ist das Monster noch nie aufgetaucht. Und ins Tal zum Babyhang wagt es sich ohnehin nicht“, beschwichtigte sie Lilo.

Dominik gähnte herzhaft, und das Gähnen wirkte ansteckend. Bald gähnten auch Axel, Lilo, Poppi und Tilly. Sie tranken aus und zogen sich auf ihre Zimmer zurück.

„He, mach auf! Was soll denn das?“ Lilo klopfte mit der Faust gegen die Badezimmertür. „Ist dir nicht gut? Kann ich dir helfen?“

„Nein, nein, alles in Ordnung!“ kam Poppis Antwort dumpf durch die Tür.

Lilo wollte durch das Schlüsselloch spähen, aber leider gab es keines. Sie war mitten in der Nacht aufgewacht und hatte bemerkt, daß Poppis Bett leer war. Die Uhr zeigte zwei Uhr in der Früh.

Poppi war weder im Wohnzimmer noch im Vorraum zu finden. Schließlich war Lilo der schmale Lichtstreifen aufgefallen, der unter der Badezimmertür durchfiel. Warum hatte sich das Mädchen eingesperrt?

Der Riegel knackte, und die Tür ging auf. Poppi trat in ihrem langen, sonnenblumengelben Nachthemd heraus. Auf dem Arm trug sie ihre Tasche.

„Wozu brauchst du die im Badezimmer?“ fragte

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Lieselotte erstaunt. Poppi kniff die Lippen zusammen und blickte zu Boden. Als Lilo nach der Tasche greifen wollte, preßte sie Poppi noch enger an sich. „Nicht, die gehört mir!“

„He, wir sind doch Freundinnen“, rief Lilo, „was hast du da so Schreckliches drinnen? Warum kannst du es mir nicht zeigen?“

Ein leises Wimmern war die Antwort. „Spinnst du?“ Lilo wurde langsam ärgerlich. „Du

scheinst einen leichten Höhenkoller abgekriegt zu haben!“ Poppi schüttelte energisch den Kopf.

Wieder ertönte ein hoher, gurgelnder Laut. Er klang nach Protest. Poppi blickte erschrocken auf die Tasche. „Pssst!“ machte sie.

Jetzt riß Lilo die Geduld. „Poppi, ich will endlich wissen, was da drinnen ist! Los, bitte zeig es mir!“

„Du darfst es aber niemandem verraten. Wenn das Hotel daraufkommt, muß ich vielleicht ausziehen.“

„Komm schon, so fürchterlich kann es doch nicht sein.“ „Poppi kniete sich auf den Boden und zog den

Reißverschluß der Tasche auf. Ein kleiner, roter Katzenkopf schoß heraus. „Miau!“ lautete die klägliche Begrüßung.

„Eine Katze!“ Lilo starrte sie fassungslos an. „Hast du die schon die ganze Zeit herumgetragen?“

Poppi nickte. „Aber wieso hast du sie mitgenommen?“ „Weil ich Tiere so gern habe. Daheim laufen bei uns

drei Katzen, ein Bernhardiner, ein Papagei, mehrere Kaninchen und zwei zahme Ratten herum. Goldfische habe ich auch noch. Der Rosso, der hängt aber ganz

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besonders an mir. Ohne mich wird er vielleicht krank. Seine Mutter ist von einem Auto überfahren worden. Ich habe ihn mit der Babyflasche aufgezogen. Darum ist er mitgekommen.“

Lilo streichelte die kleine, rote Katze, die schnurrend den Kopf an ihrem Arm rieb.

„Rosso ist toll“, erzählte ihr Poppi, „er geht sogar aufs Klo. Er braucht nicht einmal ein Kisterl. Jetzt habe ich ihn gerade gefüttert.“

„Die Vorspeise hat er ja schon gehabt“, lachte Lilo. „Das Stück Forelle, das Dominik vom Teller gefallen ist. Deshalb hat er es nicht mehr gefunden. Aber Poppi, ich mache dir einen Vorschlag. Du könntest Rosso untertags bei meiner Mutti lassen. Wir haben auch zwei Katzen, mit denen sich Rosso bestimmt gut versteht.“

„Machen wir“, jubelte Poppi, die ohnehin schon große Sorge gehabt hatte. „Am Abend hole ich ihn dann wieder ab. Das macht ihm nichts aus. Er wird gerne herumgetragen.“

Erst jetzt fiel Lilo das schmale Halsband auf, das Rosso trug. Eine kleine Glocke aus Messing baumelte daran.

„Die habe ich ihm wegen Klarabella umgehängt. Das ist meine Ratte. Ein wahnsinnig kluges Tier. Rosso wollte sie aber schon zweimal — naja ,kosten'. Dazu kommt er jetzt aber nicht mehr. Wenn Klarabella frei herumläuft und das Klingeln hört, bringt sie sich gleich in Sicherheit. Hinter dem Bücherregal, wo Rosso sie nicht erwischen kann.“

Der rote Kater schaute Lilo und Poppi fragend an und riß dann sein Maul weit auf. Er gähnte. „Na dann komm!“ rief sein Frauchen und schlüpfte unter die Bettdecke.

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Rosso machte es sich auf ihrem Kopfpolster bequem und schlief zufrieden ein.

Er wußte ja nicht, daß er schon bald ein paar Tage ohne Poppi auskommen mußte ...

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Der Unfall

Ein prachtvoller Wintertag erwartete die Knicker­bocker-Bande am nächsten Morgen. In der Nacht waren außerdem ein paar Zentimeter Neuschnee gefallen. Die Bäume und Häuser sahen wie mit Staubzucker bestreut aus. Keine Wolke war am strahlend blauen Himmel zu sehen, und der Schnee glitzerte in der Sonne.

Lilo, Axel, Dominik, Poppi und Tilly spazierten durch die malerische Altstadt von Kitzbühel, unter dem alten Stadttor durch zur Talstation der Hahnenkammbahn. Unterwegs holten sie noch ihre neuen Ski aus dem Sportgeschäft ab, wo die Bindungen auf die Schuhgröße und das Gewicht der Kinder eingestellt worden waren.

Bei der Hahnenkammbahn warteten schon einige Skifahrer auf die Abfahrt der nächsten Gondel.

„Hallo!“ rief eine tiefe Stimme und ließ einen laut­starken Jodler folgen. Aus der Menge trat Sepp in seinem roten Anorak zu den Kindern.

„Los! Anstellen!“ kommandierte er. „Wir fahren heute alle hinauf — weil’s der erste Tag ist. Poppi soll auch sehen, was sie da oben schon bald erwartet.“

In wenigen Minuten hatte sie die geräumige Gondel auf die Spitze des Hahnenkamms gebracht. Seinen Namen verdankt er den zahlreichen Zacken auf der Bergkuppe. Hinter der Bergstation erstreckte sich ein längeres, flaches Pistenstück, auf dem die vier Kinder ihre neuen Ski ausprobierten.

Lilo und Axel, die beide gute Skifahrer waren, fuhren

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den anderen mit kräftigen Schlittschuhschritten davon. Dominik war vorerst noch etwas zaghafter unterwegs,

und Poppi ließ sich an den Stöcken von Sepp ziehen. Bei einem hölzernen Pistenwegweiser trafen sie ein­

ander wieder. „Hier beginnen jetzt die Abfahrten. Auch die berühmte

Streif!“ erklärte Sepp. „Axel, die solltet ihr heute noch nicht fahren. Ein Tag zum Eingewöhnen ist notwendig. Dominik, du und die Tilly, ihr kommt besser auch mit der Poppi mit ins Tal und rutscht heute dort einmal herum. Aber zuerst genießt den Gipfel.“

Lilo war dieser Blick mehr als vertraut, deshalb be­gutachtete sie lieber die Kante, die der Berg hier machte, und den Steilhang dahinter.

„Sepp, du warst doch dabei, als das Schneemonster aufgetaucht ist. War das nicht genau an dieser Stelle?“

Der Skilehrer machte ein sehr ernstes Gesicht und nickte.

„Ich würde nur zu gerne wissen, was dahintersteckt. Ein Schneemonster — was soll das sein? Ihr habt es ja zuerst auch nur für eine Erfindung der Mrs. Silverspoon gehalten. Aber nach dem Zwischenfall gestern abend . . .“

„Was war gestern abend?“ fragten die vier Kinder wie aus einem Munde.

„Das Schneemonster hat einen jungen Mann aus Deutschland verletzt!“

„Verletzt?“ Tilly konnte es nicht glauben. „Der Bursche hatte mit seinen Freunden gewettet, daß

er es auch in der Dunkelheit wagt, hier herzugehen. Er ist im Berghotel geblieben und gegen elf Uhr in der Nacht aufgebrochen. Als er nach Mitternacht noch immer nicht

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zurück war, haben seine Freunde den Direktor des Berghotels verständigt, der mit dem Motorschlitten herfuhr und den Burschen gefunden hat.“

Poppi lauschte mit offenem Mund. „Und, was war mit ihm?“

„Er ist im Schnee gelegen und hat nicht auf können. Das Schneemonster — so hat er später erzählt — hat ihn von hinten angefallen und ihm einen Stoß versetzt. Er ist ausgerutscht und hat sich dabei den Knöchel verstaucht. Er konnte nicht mehr auftreten und ist nun auf allen vieren in Richtung Hotel gerobbt.“

„Hat er das Schneemonster gesehen?“ wollte Lilo wissen.

Sepp nickte. „Auch er hat es als ein weißes, sehr kräftiges Wesen beschrieben. Sein Körper besteht aus zahlreichen dicken Falten. Der Bursch behauptet sogar, daß das Monster keinen Kopf besitzt.“

Poppi hatte gespannt zugehört und nicht bemerkt, wie ihr die Ski unter den Füßen davon rutschten. Mit einem Plumps landete sie im Schnee.

„Aufstehen, Fräulein, damit wir uns nicht verkühlen“, kommandierte der Skilehrer. Mit den ungewohnten Bretteln an den Füßen war das aber nicht so einfach. „Das mußt du lernen, jetzt sofort!“ meinte Sepp, „Ski zum Hang drehen, damit sie nicht davon rutschen, und dann auf.“

Poppi machte alles genau, wie er gesagt hatte. Als sie aber mit dem Fäustling in den Schnee griff, um sich abzustützen, entdeckte sie plötzlich eine metallene Perle mit einer Öse oben darauf. Sie lag direkt neben ihrer Hand im Schnee. Die gehört bestimmt zum Reißverschluß eines Skianzuges, dachte sie. Poppi hatte so eine Perle schon

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längere Zeit gesucht und ließ sie deshalb in ihre Tasche gleiten. Dann bohrte sie die Stöcke links und rechts von sich in den Schnee, und hopp — stand sie aufrecht da.

„Bravo!“ lobte sie Sepp. „Und jetzt teilen wir uns auf. Treffpunkt ist heute um halb eins im Tal. Wir essen gemeinsam im ,Blue Bull’!“

Poppi wollte sich gerade in Richtung Bergstation umdrehen, als von oben ein Skifahrer in einem schwarzen Overall gefahren kam. Sein Gesicht war durch einen gelben Schal und eine breite Schneebrille verdeckt. Er machte weitausholende Schlittschuhschritte, um Tempo zu gewinnen.

„He, warte auf mich, Schnuckelchen!“ rief er seiner Freundin zu, die schneller war als er. „Wirf doch einen Blick auf Mark, den supereleganten Pisten-Panther!“

Um bei seiner Freundin Eindruck zu schinden, fuhr er nur auf dem rechten Ski und fuchtelte mit dem linken durch die Luft. Der „Pisten-Panther“ war so sehr mit sich beschäftigt, daß er auf nichts anderes achtete und im Vorbeifahren Poppi mit seinem linken Ski genau am Knie traf.

„Aua!“ schrie sie auf und sank zusammen. Der Ski­fahrer starrte das Mädchen erschrocken an und machte sich blitzschnell aus dem Staub.

„Pisten-Wildsau! Ich krieg dich!“ brüllte Sepp, hochrot vor Wut. Er wollte dem Pistenrowdy nach, doch Tilly hielt ihn zurück.

„Nicht Sepp, das hat keinen Sinn. Wir müssen uns um Poppi kümmern.“ Sie stieg aus den Bindungen und beugte sich zu dem Mädchen.

„Mein Knie“, weinte Poppi, „das tut so weh. Ich kann

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es nicht bewegen.“ Vorsichtig nahm Sepp Poppis Ski ab und versuchte das

Bein abzubiegen. Das Mädchen verzog vor Schmerz das Gesicht.

„Ihr bleibt hier. Ich hole die Bergrettung. Hoffentlich hat dieser hirnverbrannte Idiot nicht eine Sehne verletzt!“ rief Sepp.

Es war Mittag. Die Knickerbocker-Bande saß — leider nicht komplett — in einer Skihütte im Tal und aß Spaghetti.

Tilly betrachtete bekümmert die drei betrübten Ge­sichter. „Jetzt schaut doch nicht so traurig! Bitte!“ Sie lächelte Lilo, Axel und Dominik aufmunternd zu. „Poppi ist schon wieder aus dem Spital. Ihr Knie ist weder gebrochen noch ernstlich verletzt. Der Arzt meint, sie kann übermorgen wieder auf die Piste.“

Obwohl sich die vier noch nicht lange kannten, verstanden sie sich doch sehr gut. „So etwas wie diese Lederhosenvorführung und der Streich gegen den eingebildeten Dr. Grassus verbündet!“ hatte Axel festgestellt. Poppi fehlte ihnen nun.

Sepp setzte sich zu ihnen an den Tisch. „Alles in bester Ordnung“, berichtete er, „Poppi ist gut

versorgt, und deine Mutti, Lilo, hat versprochen, sie am Nachmittag im Hotel zu besuchen. Poppi läßt euch grüßen und wünscht euch viel Spaß. Und wenn ihr den jetzt nicht habt, ist sie auf euch böse!“

„Gut, diesem Befehl dürfen wir uns nicht widersetzen!“ rief Tilly. Die anderen drei stimmten ihr zu.

„Also auf zu neuen Pistenabenteuern!“ meinte Sepp. Als sie aus der Hütte stampften — das Gehen in den

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wuchtigen Skischuhen kann man wirklich nicht anders bezeichnen — sagte Lilo zu Axel: „Dieses „Schneemonster“ möchte ich gerne kennen lernen. Das reizt mich.“

Der Skilehrer hatte die letzten Worte aufgeschnappt und packte Lieselotte fest an der Schulter. „Paß auf, Lilo“, seine Stimme klang ungewöhnlich hart und streng, „seit diesem Vorfall gestern ist klar, daß mit dem Schneemonster nicht zu spaßen ist. Das ist eine Sache für die Polizei. Halte dich heraus!“

Lilo blickte ihn treuherzig an und nickte. Sepp hielt das für ein eindeutiges „Ja“ und wandte sich

seinen Skiern zu. Lilos Gedanken gingen aber in eine ganz andere Richtung . . .

Als Lilo mit Axel im Sessellift saß, erläuterte sie ihm, was sie vorhatte.

„Allein hätte ich mich nie getraut, diesem Schnee­monster auf die Spur zu kommen. Aber wenn du mit­machst, könnten wir es schaffen.“

Axel zögerte kurz. Er wollte nicht als Feigling da­stehen. Deshalb willigte er ein.

„Paß auf, mein Onkel fährt eines der Pistenfahrzeuge ganz oben auf dem Hahnenkamm. Wir werden ihn heute am Abend besuchen. Das erlaubt er bestimmt. Er kann mir nämlich keinen Wunsch abschlagen. Wir rüsten uns mit Taschenlampen aus und nehmen dann die Einfahrt in den Steilhang unter die Lupe. Vielleicht entdecken wir etwas. Später fahren wir dann gemeinsam mit ihm in der Gondel wieder ins Tal.“

Axel war einverstanden. „Aber Tilly und Dominik werden die Vermißtenanzeige machen.“

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„Werden sie nicht. Wir werden Tilly erzählen, daß wir ins Kino gehen und erst gegen acht Uhr Abendessen können. Wenn wir uns dann verspäten, ist das keine Katastrophe.“

Axel hatte noch immer Bedenken. „Vielleicht wollen die anderen mit ins Kino?“

„Du hast recht, das wäre möglich. Wir machen das anders. Wir tun ganz auf geheimnisvoll und behaupten, daß wir eine Überraschung für Silvester vorbereiten. Das klappt bestimmt!“

Tilly und Dominik glaubten diese Ausrede den beiden aufs Wort.

Die größte Überraschung erwartete Axel und Lilo aber selbst. Schon bald . . .

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Das Schneemonster schlägt zu

Lieslottes Onkel Peter war ein richtiger Bergfex. „Irgendwie hat er Ähnlichkeit mit dem Kasamandl“,

schoß es Axel durch den Kopf, als er den kleinen, kräftigen Mann sah.

Sie trafen ihn, wie vereinbart, um fünf Uhr bei der Bergstation der Hahnenkammbahn. Stolz zeigte Onkel Peter den Kindern das neue Pistenfahrzeug. Es konnte selbst die härteste Eisscholle zerhacken. Als er sich schließlich hinter das Lenkrad schwang, meinte er: „Mitkommen kann aber nur einer von euch. Wer will?«

Beide Kinder winkten ab. „Wir warten hier, oder besser im Berghotel auf dich. Wann wirst du fertig sein?“

Peter schob sich den grauen Hut ins Genick und zuckte mit den Schultern.

„Der Schnee ist hart. Heute müssen wir viel fahren, damit ihr morgen schöne Pisten habt. Vor halb zehn bin ich nicht zurück.“

„Das ist aber sehr spät, Onkel Peter“, seufzte Lilo. „Ihr könnt ja auch ohne mich hinunterfahren. In 40

Minuten geht eine Gondel, weil neue Gäste vom Berghotel unten warten.“

„Das machen wir“, versprach Lilo und verabschiedete sich von ihrem Onkel.

Kaum war das Pistenfahrzeug unter lautem Geknatter hinter einer Schneewächte verschwunden, machten sich Lilo und Axel an die Arbeit. Im Lichtkegel ihrer Taschenlampen suchten sie zuerst den Wegweiser, bei

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dem sie heute früh gestanden waren. „Das Schneemonster muß mit diesem Berghang etwas

zu tun haben“, meinte Lieselotte, „Wir steigen am besten vorsichtig ein Stück hinunter und suchen nach Fußabdrücken. Gib acht, daß du nicht ausrutscht. Mit den Skischuhen passiert das leicht.“

Axel hackte mit der Spitze seiner Skischuhe kleine Stufen in die Hartgefrorene Schneedecke. Rund um ihn herrschte Finsternis. Schritt für Schritt tastete er sich weiter vor. Der Schnee knirschte. Lilos Taschenlampe leuchtete ihm ins Gesicht. Sie war ungefähr zwanzig Meter von ihm entfernt.

„Hast du schon was entdeckt?“ „Nein“, rief Axel leise. Der Lichtkegel schwenkte in

die andere Richtung und tastete über die Schneebuckel. Axel suchte wieder mit dem Schuh nach einer sicheren

Trittstelle. Schnell hatte er Halt gefunden und trat fest auf. Mit einem Ruck gab der Schnee unter ihm nach, und er kippte nach hinten. Axel fuchtelte wild mit den Armen, aber er konnte das Gleichgewicht nicht mehr finden. Er stürzte in die Dunkelheit und rutschte auf dem Rücken — Kopf voran — den Hang hinunter. Axel überschlug sich und griff immer wieder ins Leere. Rasend schnell sauste er in die Tiefe. Seine Taschenlampe flog in einem hohen Bogen davon.

Die Sturzfahrt endete in einer flachen Mulde, wo Axel endlich liegen blieb. Er rappelte sich auf und schüttelte den Schnee aus dem Kragen. Rund um ihn war es stockfinster.

„Lilo!“ rief er. „Lieselotte!“ Weit oben auf dem Hang entdeckte er einen Lichtschimmer. Das mußte Lilo sein.

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„Verdammter Supermist“, fluchte Axel und versuchte seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Plötzlich hörte er ein leises Röcheln hinter sich. Erschrocken drehte er sich um und starrte in die Finsternis.

Nur wenige Schritte entfernt erkannte er die Umrisse einer einfachen Holzhütte. Es mußte sich dabei um einen verfallenen Stadl handeln.

Axels Herz schlug wild. Hinter dem Haus leuchtete ein Licht. Befand sich jemand in der Hütte? Sollte er näher gehen?

Das ist vielleicht nur ein Pistenfahrzeug, beruhigte er sich. Aber warum war kein Motorengeräusch zu hören? Axel lauschte angestrengt in die Nacht.

Da wieder! Ein Röcheln und Keuchen. Es wurde lauter. In der Dunkelheit konnte er aber niemanden entdecken. Ängstlich schaute er sich nach einem Fluchtweg um.

„Wuuuaaaaaaa!“ — ein gellender Schrei zerriß die Stille. Axel versuchte — so schnell er nur konnte — den Hang hinaufzuklettern.

„Wuuuaaaaaaa!“ brüllte es wieder hinter ihm. Er drehte sich um und erstarrte. Ein mindestens zwei Meter großes Wesen mit einem leuchtenden Auge auf dem Kopf war hinter der Holzhütte hervorgetorkelt. Die breiten Arme drohend erhoben, wankte es auf Axel zu. Axel schloß geblendet die Augen und blinzelte zwischen den Wimpern hindurch. Im Schein des Feuerauges konnte er die weiße, runzelige, glänzende Haut sehen, die vom Körper des Schneemonsters in dicken Falten herabhing.

Axel schrie. Er brüllte aus Leibeskräften. Das Monster sprang auf ihn und riß den Jungen in den

Schnee. Es preßte seinen Kopf mit eisernem Griff nach

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unten. Axel bekam keine Luft mehr. Er boxte nach allen Seiten und traf dabei das Ungeheuer mehrere Male.

Das Ungeheuer wirbelte ihn nun herum, hob ihn mit seinen mächtigen Pranken auf und schleuderte ihn gegen den Hang, wo Axel liegen blieb.

Würde sich dieses Monster noch einmal auf ihn stürzen? Der Junge wagte nicht, sich zu bewegen. Doch es geschah nichts. Kein Laut war zu hören.

Zaghaft hob Axel den Kopf und schaute sich um. So schnell, wie es gekommen war, war es auch wieder verschwunden.

Axel richtete sich auf und tastete seine Arme und Beine ab, es war noch alles heil. Er würde nur ein paar blaue Flecken davontragen.

„Axel!“ hörte er Lilo rufen. Sie mußte sich ganz in seiner Nähe befinden.

„Ich bin hier!“ schrie er laut. „Bei der Holzhütte!“ Der Schnee knirschte, und eine Taschenlampe blitzte

auf. Geschickt rutschte Lilo auf den Schuhsohlen über den harten Schnee. „Was war denn los? Wieso hast du so gebrüllt?“

„Das glaubst du mir nie, wenn ich es dir erzähle“, keuchte der Junge. „Aber Traum war das leider keiner. Das spüre ich noch ganz genau.“ Stöhnend rieb er sich die schmerzenden Beine.

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Die Entführung

Poppi langweilte sich. Sie blickte auf ihre kleine Armbanduhr, die die Form eines Pandabären hatte, und verzog den Mund. Es war kurz nach sieben Uhr.

Poppi befand sich nicht mehr im Hotel, sondern im Haus von Lilos Eltern. Frau Schroll hatte das Mädchen mitgenommen, damit es nicht so allein war.

Den ganzen Nachmittag lang hatte Poppi ferngesehen. Rosso war in dieser Zeit schnurrend auf ihrem Bauch gelegen und leistete ihr Gesellschaft. Lilos Mutter versorgte sie ständig mit Limonade, Obst und Erdnüssen. Rosso hatte drei Portionen Katzenfutter verdrückt. Doch gegen sechs Uhr mußte Frau Schroll weg. Lilos Großmutter lag im Spital, und sie wollte sie besuchen. Herr Schroll, der Skilehrer, hatte an diesem Tag noch eine Besprechung in der Skischule.

„Im Hotel liegt eine Nachricht für Lieselotte. Sie wird dich bestimmt gleich abholen. In spätestens einer halben Stunde“, hatte Frau Schroll Poppi versprochen.

Lieselottes Zimmer, in dem Poppi einquartiert war, lag im ersten Stock. Das Mädchen wollte gerade wieder den Fernseher einschalten, als sie im Erdgeschoß die Wohnungstür klicken hörte.

Das ist bestimmt Lilo, dachte sie. Poppi beschloß, ihrer Freundin einen tüchtigen Schreck einzujagen. Sie krabbelte aus dem Bett und versuchte zaghaft mit dem verletzten Bein aufzutreten. Es ging schon ganz gut und tat nicht mehr so weh. Sie glättete die Bettdecke und

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bewegte sich leicht humpelnd zu einem der großen, dunklen, alten Kästen. Poppi öffnete die geschnitzte Tür und schlüpfte hinein. Unter der Stange, auf der Lilos Hosen und Kleider hingen, kauerte sie sich nieder und zog die Kastentür wieder zu.

„Hallo? Hallo, ist da wer?“ rief eine tiefe Stimme im Vorzimmer. Poppi horchte auf. Lilos Stimme war das bestimmt nicht. Gehörte die Stimme vielleicht dem freundlichen Sepp? Der konnte ruhig auch erschreckt werden.

Sie verhielt sich völlig ruhig. Im Erdgeschoß wurden Zimmertüren aufgerissen und

zugeschlagen. Laut polternd kam nun jemand die Treppe herauf.

Wieder krachten Türen, bis der Besucher endlich Lilos Zimmer betrat. Poppi versuchte durch einen Riß im Holz durchzuspähen und sah für einen Moment einen Mann.

Er stand mit dem Rücken zu ihr, zog die Laden des Schreibtisches auf und leerte sie aus. Er durchwühlte das Bett und stöberte in dem zweiten Schrank, der sich gleich neben der Tür befand. Poppis Herz begann wild zu pochen.

Wer war das? In dieser Sekunde riß der Einbrecher die Tür zu ihrem

Versteck auf. Das Mädchen duckte sich, aber der Mann hatte sie entdeckt. Er drehte sich ruckartig weg, und Poppi sah, wie er eine gestrickte Mütze aus der Tasche seiner Jacke hervorzog. Er stülpte sie sich über den Kopf und zerrte sie hastig über sein Gesicht. Die Mütze war so gefertigt, daß sie nur einen schmalen Schlitz für die Augen freiließ. Der Rest des Gesichtes war verdeckt.

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„Wer . . . wer . . . wer sind Sie?“ stammelte Poppi. Statt einer Antwort zog sie der Mann aus dem Kasten.

Poppi wollte schreien, doch ihre Kehle war wie zugeschnürt. Ein nach Öl stinkender Handschuh preßte sich auf ihren Mund. Der Mann packte das Mädchen und schleppte es aus dem Zimmer. Wehren war sinnlos und unmöglich. Er hielt Poppis Arme fest umklammert.

Am Fuße der Treppe löste der Mann die Umklam­merung für einen Moment. Den Mund hielt er ihr aber weiterhin zu. Mit der anderen Hand Öffnete er die Haustür und spähte in die Gasse. Es war ein dunkles, verwinkeltes Seitengäßchen. Poppi blieb keine Möglichkeit zur Flucht. Der Entführer schleifte sie aus dem Haus zu einem kleinen Kastenwagen. Entsetzt sah sie, daß er die Ladeklappe öffnete. Wie ein Paket schleuderte er sie hinein und knallte die Tür zu. Poppi trommelte dagegen.

„Paß auf, du kleines Biest“, flüsterte ihr der Entführer durch die Wagentür zu, „wir sind zu zweit. Mein Kumpel ist noch im Haus. Ich stehe mit ihm in Funkkontakt. Noch ein Laut und er dreht deinem Rosso den Hals zu. Kapiert?“

Poppi hörte augenblicklich auf und kauerte sich auf den Boden. Die Ladefläche war bis auf ein paar alte Säcke leer.

Das Mädchen legte den Kopf auf die Knie und schluchzte. Poppi hatte Angst. Schreckliche Angst. Außerdem schmerzte ihr Knie wieder.

Der Motor wurde angelassen, und der Wagen fuhr los. Durch ein kleines Fenster konnte Poppi in das Fahrerhaus blicken. Als der Entführer das bemerkte, stopfte er eine Zeitung davor.

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Poppi ließ sich wieder auf die Säcke fallen. Wo würde sie der Mann nur hinbringen? Was wollte er überhaupt? Wieso wurde sie entführt?

Tilly saß im Hotelzimmer der Mädchen und ringelte mit den Fingern ihre langen, blonden Haare zu Locken.

Lieselotte kaute unruhig an ihren Nägeln, während Axel und Dominik eine Tafel Schokolade in sich hin­einstopften. „Schon zehn Uhr und noch immer nichts“, sagte Lilo leise.

Tilly brach ein Stück von der Schokolade ab und schob es in den Mund. „Angeblich soll Schokolade die Nerven stärken. Hoffentlich stimmt das. Die Gendarmerie hat versprochen, uns sofort zu verständigen, wenn sie irgendetwas herausgefunden hat.“

„Vielleicht ist Poppi nur aus dem Haus gegangen und wollte zu Fuß ins Hotel. Wir haben sie ziemlich lange warten lassen. Möglicherweise hat sie sich verlaufen,“ meinte Axel.

Lieselotte glaubte das nicht. „Kitzbühel ist keine Großstadt. Sie hätte doch jemanden nach dem Weg fragen können. Von meinen Eltern zum Hotel gehst du höchstens fünf Minuten!“

Tilly holte sich noch ein Stück Schokolade. „Ich könnte mir vorstellen, daß sie ausgerutscht ist und nicht weiterkann. Aber irgendjemand müßte sie doch längst gefunden haben.“

Dominik blickte seine Freunde mit todernstem Gesicht an. „Habt ihr schon daran gedacht, daß sie Opfer eines Verbrechens geworden sein könnte?“

„Das darfst du nicht sagen. Daran will ich nicht einmal denken!“ brauste Lilo auf. „Entschuldige, es ist nur ... es

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ist nur . . . weil mir das auch schon eingefallen ist. Warum war mein Zimmer durchstöbert? Poppi hat das bestimmt nicht gemacht. Aber wer dann und warum?“

„Der gleiche“ der auch schon die Hotelzimmer heimgesucht hat. Axels Verdacht war naheliegend.

„Übrigens: Wo seid ihr eigentlich gewesen, Lilo und Axel?“ wollte Tilly wissen.

„Auf dem . . .“, weiter kam Axel nicht. Lilo hatte ihm einen Stoß in die Rippen versetzt. „Wir haben eine Überraschung für euch vorbereitet. Eine Neujahrs­überraschung. Die verraten wir noch nicht.“

Tilly sah sie kurz an, und ihr Gesichtsausdruck verriet, daß sie kein Wort glaubte. Aber zum Glück forschte sie nicht weiter.

„Kommt, legt euch hin“, schlug sie den drei Kindern vor. „Versucht zu schlafen. Falls ich etwas Neues erfahre, wecke ich euch sofort.“

„Wir werden kein Auge zutun können, aber wir gehen trotzdem ins Bett“, willigten die drei Knickerbocker ein.

Eine unruhige Nacht stand ihnen bevor . . .

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Tilly hat einen Verdacht

Poppis Irrfahrt durch Tirol nahm keine Ende. Zweimal war sie kurz eingenickt. Doch schon beim nächsten Schlagloch oder beim erstbesten Eisklumpen auf der Fahrbahn war sie wieder unsanft wachgerüttelt worden. Ihr Hinterteil schmerzte vom Sitzen auf dem harten Blechboden. Die staubigen Jutesäcke hatte sie nämlich als Decken verwendet und sich fest darin eingewickelt. Trotzdem zitterte sie vor Kälte.

Poppi drückte sich fest in eine Ecke, um dort ein wenig Halt zu finden.

Der Wagen war erst einmal stehen geblieben. Poppi hatte die Fahrertür schlagen gehört. Der Mann war ausgestiegen und hatte sich neben das Fahrzeug hin­gestellt. Das darauf folgende Rauschen erinnerte das Mädchen ein wenig an sein Radio, wenn es einen Sender einstellen wollte.

Vielleicht kommt es vom Funkgerät, erinnerte sich Poppi.

„Guiseppe . . , was soll ich mit ihr tun?“ hatte der Entführer gefragt. Die krächzende Antwort hatte Poppi nicht verstehen können. Auf jeden Fall klang sie sehr wütend und barsch. Das Funkgespräch hatte nicht lange gedauert. Gleich darauf war die Fahrt weitergegangen.

Seit diesem ersten Stopp waren Stunden vergangen. So kam es Poppi zumindest vor. Sie hatte Angst. Große Angst. Die Ungewißheit, was nun geschehen würde, jagte ihr Furcht ein.

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Die Bremsen quietschten, und das zarte Mädchen wurde gegen die Wand des Transporters geworfen. Sein Entführer funkte wieder. Das erkannte Poppi sofort an den Geräuschen.

Gleich darauf riß er die Ladetür auf und versuchte nach ihr zu greifen: „Raus da!“

Poppi kroch zaghaft nach vorne. Der Mann packte sie am Arm und zerrte sie ohne Rücksicht auf blaue Flecken aus dem Wagen. Poppi fiel auf eine schneebedeckte Fahrbahn. Ehe sie sich noch umschauen konnte, war der Gangster wieder in das Auto gesprungen und mit Vollgas davongerast.

Poppi rappelte sich auf und versuchte irgendetwas zu erkennen. Sie mußte sich auf einem Feldweg befinden. Sie fror fürchterlich und klapperte vor Kälte laut mit den Zähnen. Wohin sollte sie gehen?

Ein Auto brummte in der Ferne. Das Brummen wurde lauter und lauter.

Kommt der Entführer zurück? — schoß es Poppi durch den Kopf. Sie wollte sich gerade hinter einem Schneehügel verstecken, als zwei gelbe Lichter aus der Dunkelheit auftauchten. Poppi stand mitten im Lichtkegel.

Das Fahrzeug hielt, und eine Frau sprang heraus. „Ja, Mädchen, was machst denn du da? Mitten in der

Nacht?“ rief sie und lief auf Poppi zu. Diese starrte sie eine Sekunde stumm an, dann fiel sie der Frau um den Hals und begann zu schluchzen.

Tilly hatte in dieser Nacht kaum ein Auge zugetan. In ihrer erdbeerroten Kordhose und ihrem weißen, flauschigen Pullover saß sie auf dem Bett, den Kopf gegen die Wand gelehnt. Es war kurz vor zwei Uhr in der Früh,

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als sie endlich einschlief. Sie träumte von Poppi, die durch eine dunkle Gasse

humpelte und nach Hilfe schrie. Tilly sah sich selbst im zweiten Stock am Fenster stehen. Sie streckte die Hand nach Poppi aus, aber natürlich reichte sie nicht hinunter.

„Geh durch die Tür!“ rief sie ihr zu. Aber das Haus hatte keine Tür, Poppi preßte ihren Daumen auf einen Klingelknopf, und schrilles Surren erfüllte das Haus.

Tilly schlug die Augen auf. Das Schrillen war kein Traum. Das war wirklich da. Es kam vom Telefon. Sie riß den Hörer ans Ohr. „Ja, hallo?“

Es war der Gendarmerieposten von Ötz. Eine Ärztin hatte ein Mädchen namens Paula Monowitsch auf einem Waldweg gefunden.

„Ist die Kleine ausgerissen?“ „Nein, bestimmt nicht“, erwiderte Tilly, „was sagt sie

denn selbst?“ „Sie hat irgendetwas von einer Entführung geredet.

Völlig wirr allerdings. Die Ärztin hat ihr ein leichtes Beruhigungsmittel gegeben. Sie schläft jetzt.“

„Wir kommen sofort!“ Tilly drückte den Finger auf die Gabel und wählte dann die Zimmernummer des Mädchen-Appartements.

Es war bereits hell, als die Knickerbocker-Bande — nun wieder vollzählig — mit Tilly die Gendarmerie verließ. Ein Kriminalbeamter sollte später noch einmal mit Poppi reden, aber vorerst mußte sie sich von dem Schreck erholen.

„Wir nehmen uns ein Zimmer beim Himmel-Wirt, gleich hier in Ötz. Ich kenne den Besitzer“, teilte Tilly den Kindern mit. „Wir fahren frühestens morgen nach

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Kitzbühel zurück. Erstens möchte ich euch das Ötztal ein wenig zeigen ...“ Sie hielt inne und biß sich auf die Lippe.

Lieselotte glaubte ihr das natürlich nicht. „Das ist doch nicht der Grund. Wir wollen Ski fahren und wir haben unsere Ski in Kitzbühel. Tilly, warum machst du so ein besorgtes Gesicht?“

Tilly deutete stumm auf Poppi und gab den anderen zu verstehen, daß sie im Augenblick vor dem aufgeregten Mädchen nicht darüber sprechen wollte. Lilo, Axel und Dominik verstanden das.

Sie setzten sich ins Auto und fuhren zum Himmel-Wirt. Als die schläfrige Poppi endlich im Bett lag und die Aufregungen der vergangenen Nacht vergaß, lud Tilly die restlichen drei Knickerbocker zum Frühstück in die gemütliche Bauernstube ein.

Es gab Kakao und warme Semmeln. „Paßt auf: Was ich euch jetzt sage, solltet ihr für euch

behalten, Kinder“, begann Tilly. „Die Sache mit dem durchwühlten Gepäck und Poppis Entführung sind kein Zufall. Ich bin überzeugt, sie wurde nur deshalb hierher verschleppt, weil sie einem Gauner in die Quere gekommen ist, der etwas gesucht hat. In Lilos Zimmer.“

„Was soll es bei mir schon zu finden geben?“ warf Lieselotte ein.

„Was soll es überhaupt bei uns zu finden geben?“ meinte Axel. „Der Kerl hat es eindeutig auf unsere Sachen abgesehen.“

„Das hat er. Und nun mein Verdacht, den ich nicht bestätigen kann. Ich bin ziemlich fest davon überzeugt, daß Dr. Grassus hinter allem steckt!“ meinte Tilly.

„Der Fettmops?“

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„Ja, dieser Kerl ist nicht astrein. Das spüre ich schon mehrere Jahre lang. Doch seit dem 7. Dezember bin ich davon überzeugt.“

„Was war an diesem Tag?“ wollte Lieselotte wissen. „Es hat mit einem Anruf begonnen. Ein gewisser

Professor Frasel aus Zürich wollte ihn sprechen. Ich habe das Gespräch hineinverbunden, und eine Minute später hat mich Dr. Grassus fortgeschickt. Ich sollte einen angeblich dringenden Brief zur Post bringen. In Wirklichkeit wollte er mich loswerden.“

„Und warum?“ Tilly zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Als ich

zurückgekommen bin, hat er mir mitgeteilt, er müsse für einen Tag verreisen. Am 9. Dezember in der Früh sei er zurück.“

„Das war der Tag der Preisverleihung“, warf Axel ein. „Stimmt! Und an diesem Tag war der Mops völlig

durcheinander. Launisch und bösartig. Er wollte mich sogar hinauswerfen. Ein paar Tage später hat er selbst gekündigt. Aber worüber ich am meisten nachdenke, ist: Er hat eure Preise abgeändert. Ihr solltet zuerst nach Ischgl fahren. Er hat dann Kitzbühel bestimmt. Und nun diese Zwischenfälle hier ...“

Lilo lehnte sich zurück und fixierte ein Astloch in der Holzdecke. „Wozu habe ich so viele Krimis verschlungen? Da muß es doch Zusammenhänge geben. Warum kann ich nur nicht so scharf kombinieren wie Sherlock Holmes?“

„He!“ Axel sprang auf und schlug auf den Tisch. „Einer von uns hat — ohne es zu merken — etwas mitgenommen. Vielleicht hat es uns Dr. Grassus zu­

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gesteckt. Und dieses Ding will jetzt jemand haben.“ „Nicht schlecht gefolgert, Dr. Watson“, lobte Lilo.

„Dieser Jemand' weiß zweifellos nicht, wo das Ding versteckt ist. Sonst hätte er nicht das Gepäck von uns allen durchstöbert.“

Tilly staunte. „Ihr seid ja richtige Junior-Detektive. Doch könnt ihr mir auch sagen, was der Jemand sucht, und wo es versteckt sein könnte?“

Lilo knabberte an ihren Zopfspitzen. „Was es ist, weiß ich nicht. Aber es muß sich um etwas handeln, das jeder von uns besitzt . . . Ein Versteck wären . . . unsere Lederhosen. Erinnert ihr euch, Dr. Grassus hat sie uns doch aufgedrängt. Angeblich sollen wir sie in Kitzbühel noch einmal vorführen. Wir müssen sofort zurück und die Lederhosen untersuchen.“

„O, nein“, winkte Tilly ab, „das kommt nicht in Frage. Erstens werdet ihr euch ab jetzt aus dieser Sache heraushalten und zweitens bleiben wir hier. Kitzbühel ist im Moment viel zu gefährlich für euch.“

Lilo und Axel stöhnten enttäuscht. „Ich werde gleich telefonieren. Ihr könnt sicher sein, an

die Lederhosen kommt keiner mehr. Ab jetzt.“ Sie machte ein geheimnisvolles Gesicht und verschwand.

Lilo grübelte weiter. „Du Axel, eigentlich kann sich das Heißbegehrte Ding nur noch irgendwo in meiner Lederhose befinden. War's in einer von den anderen, so hätte es der Gauner schon gefunden und sich den Einbruch bei meinen Eltern erspart.“

Das leuchtete Axel ein. „Aber was kann das für ein ,Ding’ sein?“

Lilo überlegte kurz. „Es muß etwas Kleines sein. Alles

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andere wäre uns aufgefallen. Wir haben die Lederhosen doch zu Hause unseren Eltern gezeigt, oder?“

„Ich schon“, rief Dominik. „Ich auch!“ sagte Axel. Lieselotte dachte scharf nach. Ihr fiel aber keine

Besonderheit an ihrer „Alpen-Knickerbocker“ ein. „Ich möchte wissen, was Tilly jetzt vorhat?“ brummte

Axel. „Von unserer Begegnung mit dem Schneemonster

sagen wir ihr auf jeden Fall nichts. Sonst läßt sie uns keine Sekunde mehr aus den Augen!“ flüsterte ihm Lilo zu. „Außerdem wissen wir da selbst noch nicht, was dahinter steckt.“

„Doch“, sagte Axel leise, während er nachdenklich auf seine Handschuhe starrte, die auf der Bank lagen. „Doch, ich weiß jetzt, daß ein Mensch im Schneemonster steckt. Da ist der Beweis dafür!“

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Ein Mann fällt vom Himmel

Gerade als Lilo fragen wollte, wie Axel zu diesem Schluß gekommen war, gesellte sich der Himmel-Wirt höchstpersönlich zu ihnen.

Er war ein gemütlicher, kräftiger Mann mit gutmütigen, grünen Augen. Sein Gesicht war fast zur Gänze von einem zerzausten, grauen Bart bedeckt.

„Na Kinder, wie gefällt euch das Ötztal?“ „Allzu viel haben wir noch nicht gesehen“, antwortete

Axel höflich, „es war noch dunkel, als wir angekommen sind.“

„Das Ötztal, das ist für mich der schönste Fleck auf der Erde“, begann der Himmel-Wirt zu schwärmen. „Was es hier alles gibt: Züm Beispiel den höchsten Berg Tirols. Das ist die Wildspitze: 3.772 Meter ist sie hoch. Im Sommer findet ihr bei uns aber auch den wärmsten Badesee Tirols, den Piburgsee. Der hat manchmal gut und gerne seine 24 Grad!“

Dominik hörte aufmerksam zu. War das ein Platz, um die Ferien zu verbringen?

„Einen Wasserfall haben wir auch. Die Stuibenfälle. 150 Meter stürzt das Wasser da in die Tiefe. Am anderen Ende des Tales beginnt die Ötztaler Gletscherstraße. Oben auf den Gletschern könnt ihr sogar im Sommer Ski fahren. Und habt ihr vielleicht schon einmal von dem Mann gehört, der in Obergurgl vom Himmel gefallen ist?“

Alle drei schüttelten die Köpfe. „Das war im Jahr 1931“, berichtete der Himmel-Wirt.

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„Da ist auf dem Gurgler Gletscher der Höhen- und Meerestiefenforscher Auguste Piccard gelandet.“

„Mit einem Flugzeug?“ fragte Axel. „Nana, mit einem Wasserstoffballon. Da war eine

Druckausgleichskabine dran, und der Monsieur Piccard ist damit 15.781 Meter aufgestiegen. Weil er Angst vor der Landung gehabt hat, soll er sich angeblich den Proviantkorb als Sturzhelm aufgesetzt haben.“ Die drei Kinder lachten laut auf.

„Jaja, und weil das ein neuer Höhenflug-Rekord war, wurde der kleine Ort Obergurgl damit plötzlich auf der ganzen Welt bekannt.“

Tilly trat wieder in die Stube ein und schob sich neben den Himmel-Wirt auf die Holzbank.

„So Kinder, alles in Sicherheit“, meinte sie ver­schwörerisch. „Ich habe den Sepp verständigt. Er bringt eure Lederhosen in den Hotelsafe. Dort bekommt sie der ,Jemand’ nicht. Deine Eltern, Lilo, sind auch verständigt, damit sie sich keine Sorgen machen.“

„Und was habt ihr jetzt im Sinn?“ erkundigte sich der Himmel-Wirt. Wie auf Kommando gähnten die vier herzhaft. „Wir schlafen noch eine Runde nach!“ schlug Tilly vor. Alle waren damit einverstanden.

Kaum hatte die freundliche Tilly ihre Tür hinter sich zugemacht, wurde auch schon eine andere Tür auf dem Gang geöffnet. Lilo huschte lautlos zum Bubenzimmer.

„Wieso ist das Schneemonster ein Mensch?“ fragte sie, als sie sich auf Axels Bett fallen ließ.

„Weil das Monster Reißverschlüsse in der Haut ein­gebaut hat. Schau dir das einmal an.“ Axel streckte Lilo seinen Handschuh hin. Er war aus dickem, weichen Stoff

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genäht. Die äußere, wasserundurchlässige Schicht war beim Kampf mit dem Schneemonster aufgeplatzt. Zwischen ihr und dem flauschigen, weichen Innenfutter hatte sich eine Tasche gebildet. Aus dieser Tasche zog Axel einen flachen, metallenen Gegenstand heraus.

„Ich habe ihn da drinnen gefunden“, berichtete er. „Es ist eine Figur, die aus zwei Buchstaben besteht. Aus einem G und einem W.“

Lilo lachte auf. „Das könnte ,Geier-Wally* bedeuten. Die meisten Firmen befestigen doch Zeichen, die an sie erinnern sollen, als Griff am Reißverschluß.“

Axel war mit dieser Schlußfolgerung nicht einver­standen. „Das Monster hat doch keine Lederhose ge­tragen.“

„Aber irgendein anderes Produkt von ‚Geier-Wally’. Tilly kann uns sicher Auskunft geben, wenn sie wieder aufwacht.“

Es war schon Nachmittag, als die Kinder und Tilly wieder munter wurden.

In der Bauernstube stärkte sich die Knickerbocker-Bande vorerst einmal tüchtig. Es gab ein Tiroler-Gröstl mit Geselchtem, Bratenstücken, geröstetem Knödel und Erdäpfeln. Die vier schlugen tüchtig zu. Vor allem Poppi hatte eine Stärkung nötig. Sie hatte immerhin fast 24 Stunden nichts gegessen. Nachdem sie zum Abschluß noch eine ganze Pfanne Apfel-Auflauf verschlungen hatten, zog Axel den metallenen Anhänger aus der Tasche und zeigte ihn Tilly.

„Wo hast du denn den her?“ wollte sie wissen. Axel wußte nicht, was er antworten sollte. „Gefunden ... damals ... bei der Preisverleihung!“ half

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ihm Lilo weiter. „Diese Anhänger verwendet die Firma nur für ganz

bestimmte Anzüge. Für Fallschirmspringer-Anzüge. Die stellen wir nämlich auch her“, erklärte Tilly.

Axel und Lilo blinzelten einander zu. „Wie sieht so ein Fallschirmspringer-Anzug aus?“ fragte Lieselotte.

„Er ist meistens sehr weit geschnitten. Wir bieten ihn wollweiß und knallrot an.“

Axels Verdacht hatte sich damit bestätigt. Das Schneemonster war ein Mensch in einem Fallschirm­springer-Anzug. Das war auch die Erklärung für die „faltige Haut“. Jetzt galt es nur noch zu klären, wer in der Verkleidung steckte, und warum er als Schneemonster spukte.

„Jaja, die ,Geier-Wally’„, rief der Himmel-Wirt plötzlich, „die hat's wirklich gegeben. Im Lechtal soll es gewesen sein. Da hat die sture und dickköpfige Wally gelebt. Um zu beweisen, wie stark sie ist, hat sie junge Geier aus dem Nest geholt und aufgezogen.“

„Josef!“ kam eine Stimme aus der Küche. „Halt keine Volksreden, sondern hilf mir lieber.“ Vor sich hinschimpfend verschwand der Wirt in der Küche.

„Tilly, wir würden gerne nach Kitzbühel zurück“, begann Lilo.

„Nein!“ war Tillys Antwort. An ihrer Stimme konnte die Knickerbocker-Bande erkennen, daß sie es ernst meinte. „Frühestens morgen Abend geht es zurück. Außerdem hat unser Skilehrer gar keine Zeit für uns. Er muß seinen Bruder nach Innsbruck bringen und ist froh, uns einen Tag los zu sein.“

„Was machen wir dann bis morgen abend?“ wollte

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Axel wissen, Tilly zog ein kleines Buch aus ihrer Handtasche und

überreichte es den Kindern. „Es gibt genug tolle Sachen in Tirol. Sucht euch etwas aus!“

„Es hat keinen Sinn, die bleibt hart“, zischte Lilo Axel zwischen den Zähnen zu. Dieser nickte, weil er derselben Meinung war. Also steckten die vier ihre Köpfe zusammen und blätterten in dem Buch:

1. OLYMPIA-SPORTZENTRUM IN SEEFELD

Beim Hallenbad gibt es ein Becken mit 28 Grad warmem Wasser, wo die Besucher auch im Winter hinausschwimmen können. Im Freien befindet sich überdies ein Sprudelbecken mit Wildbachströmung. Das 36 Grad warme Wasser macht das Baden im Freien zum Abenteuer und Vergnügen. Vom warmen Wasser aus kann der Schwimmer einen Blick auf die verschneiten Berge ringsum werfen.

2. DIE HÖCHSTE BRÜCKE EUROPAS

... befindet sich auf der Brenner-Autobahn. Diese Autobahn über den Alpenhauptkamm ist 37 Kilometer lang und führt über 42 Brücken.

Die imposanteste ist die Europa-Brücke mit einer Länge von 820 Metern. In der Schwindelerregenden Höhe von 190 Metern überquert man auf ihr das Wipptal.

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3. ORCHIDEEN IN ÖSTERREICH

Im Bezirk Kitzbühel blühen im Frühjahr und im Sommer an die 200 Orchideen-Arten. Eine prachtvolle, bunte Augenweide bietet sich jedem, der sie findet. Natürlich muß man dazu schon ein bißchen die Berge hinaufsteigen. Am besten mit einem erfahrenen Berg­führer.

4. WO ZUKÜNFTIGE BERGSTEIGER DIE SCHULBANK DRÜCKEN

In vielen Tiroler Bergregionen befinden sich Berg­steigerschulen, in denen auch Kinder lernen können, was man tun muß, damit ein Wanderschuh nicht drückt, wie eine Wanderung in den Bergen zum Erlebnis wird, woran man erkennt, daß ein Unwetter aufzieht, wie man einen Gebirgsbach überquert und wo man in Tirol Murmeltiere und Gemsen beobachten kann.

5. DIE MULLER VON THAUR

Jedes Jahr im Fasching findet in Thaur und einigen Stadtteilen von Innsbruck der „Mullerlauf“ statt. Hunderte Maskierte wirbeln an diesem Tag durch die Stadt. Die — oft Selbstgeschnitzten — Masken tragen Namen wie: Zottler, Zaggeier, Melcher, Hexen, Weiße und Spiegeltuxer. Der Kopfputz der Spiegeltuxer hat manchmal eine Höhe von einem Meter!

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6. DAS JAGDSCHLOSS IM BERGSEE

In der Nähe des Fernpasses befindet sich der Fern­steinsee. In der Mitte liegt eine kleine Insel, auf der man die Ruine des Jagdschlößchens Sigmundsburg sehen kann. Dieses Schloß hat sich Herzog Sigmund vor rund 500 Jahren erbauen lassen. Er trug den Beinamen „der Münzreiche“. Seine Einnahmen kamen von einer Straßensperre über den See. Wer daran vorbei und über den Paß wollte, mußte zahlen!

7. SCHMIEDEMUSEUM IN FULPMES

Dort stehen noch echte Hammerschmieden. Die Nachfahren der Schmiede von früher erzeugen heute in Fulpmes Eispickel und Kletterhaken.

8. DIE KLEINSTE STADT TIROLS IST RATTENBERG

Rattenberg liegt auf einem schmalen Stück Land zwischen dem Inn und einem Felsen. Es zählt rund 540 Einwohner. Bekannt ist es heute für seine Glasschleifer!

9. SELBER EINMAL LOKFÜHRER SEIN

... im Zillertal ist es möglich. Im Sommer haben die Urlauber die Möglichkeit, die Zillertaler Dampfeisenbahn einmal selbst zu lenken. Für die Sommergäste wird die Dampflok aus dem Jahre 1916 aufgeheizt. Die Mitreisenden können in den alten Zuggarnituren Platz nehmen ... so sie dem Hobby-Lokführer vertrauen.

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10. DER ERFINDER DER NÄHMASCHINE

... ist im malerischen Kufstein daheim gewesen. Sein Name ist Joseph Madersperger, und auch er hat ein typisches Erfinderschicksal erlitten. Als Erfinder der „Nadel mit dem Öhr am falschen Ende“ wurde er verlacht. Den großen Erfolg seiner Entwicklung hat er nicht mehr erlebt. Sein Denkmal steht in Kufstein.

11. LÜFTERLMALEREIEN

... werden die Bemalungen auf vielen Häusern in Tirol genannt.

12. DAS ZUCKERHÜTL

... ist der höchste Gipfel der Stubaier Alpen: 3.507 Meter ist es hoch. 70 Dreitausender gibt es übrigens in diesem Gebirgszug!

13. IN EBEN AM ACHENSEE

... steht die Kirche der Hl. Notburga, der Schutz­patronin der Dienstboten. Sie soll in Eben in Tirol gelebt haben. Die Mittagsandacht war ihr vom Bauern, bei dem sie diente, verboten worden. Eines Tages hat sie deshalb auf dem Feld ihre Sichel einfach in der Luft aufgehängt, um doch noch beten zu können.

14. DIE SCHULE DER ADLER ...

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Stams ist nicht nur durch sein prachtvolles Stift, sondern auch durch das Skigymnasium bekannt. Dort haben zahlreiche erfolgreiche Skisportler die Schulbank gedrückt. Zum Beispiel Andreas Felder, Ernst Vettori, Hubert Strolz, Bernhard Gstrein, Katrin Gutensohn und Lisi Kirchler.

Während sie den kleinen Tirol-Führer durchblätterten, ertönte hinter ihren Rücken ganz zart die Melodie von „Stille Nacht“. Sie kam aus einer Spieldose, die in einer Weihnachtskrippe eingebaut war.

Der Himmel-Wirt hob sie liebevoll zu den Kindern auf den Tisch. „Habt ihr gewußt, daß ,Stille Nacht’ seinen Weltruhm einem Orgelbauer aus dem Zillertal zu verdanken hat?“ Die Knickerbocker-Bande verneinte. Also erzählte ihnen der Himmel-Wirt die ganze Geschichte: „Das Lied wurde ja bekanntlich komponiert, weil die Orgel in Oberndorf in Salzburg kaputt war. Ein gewisser Karl Mauracher, Orgelbauer aus dem Zillertal, reparierte sie kurz nach Weihnachten und hörte dabei das neue Lied. Er brachte die Melodie den ‚Natursängern Rainer’ nach Fügen heim. Diese Gesangsgruppe war in ganz Europa unterwegs und hatte unter anderem den ‚Jodler’ hoffähig gemacht. Sie jodelte nämlich vor Fürsten und Königen, denen dieser ,AIpengesang’ gut gefiel. Bei ihrer nächsten Tournee stimmten sie »Stille Nacht' vor dem Zaren von Rußland und dem Kaiser von Österreich an. Das war der Anfang des Siegeszuges von ,Stille Nacht’ um die Welt.

Die Tiroler Sänger waren überhaupt sehr erfolgreich.

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Bereits im Jahre 1838 segelte ein Zillertaler Sänger-Quartett nach Amerika, wo es stürmische Erfolge feierte. Und 1851 sangen die vier Zillertaler anläßlich der Weltausstellung in London sogar vor Queen Victoria. ,Auf der Alm da gibt's ka Sund’, stimmten sie an. Sie hatten sogar eine englische Übersetzung dafür gemacht, die lautete ,On the Alp no sin is found’. Das waren die Hitparadenstürmer von damals!“ schmunzelte der Himmel-Wirt.

„Nun, wohin soll es gehen?“ Tilly blickte die Knik­kerbocker-Bande erwartungsvoll an.

„Ins Bett!“ Poppi gähnte und wankte auf ihr Zimmer. „Ich bin noch immer zum Umfallen müde. Tut mir leid ...“

„Schlaf dich gesund und wieder munter! Übermorgen ist Silvester, und da willst du bestimmt aufbleiben“, lächelte Tilly.

„Und wir schauen heute einmal in das Glotzophon“, entschied Lilo und erntete dafür einen verständnislosen Blick von Tilly.

„In den Fernsehapparat“, erklärte sie ihr. „Da läuft nämlich der Film ‚Die Abenteuer des Sherlock Holmes’!“

Die anderen waren einverstanden. Am nächsten Tag wollten sie einfach ins Blaue fahren.

Außerdem hatten es Axel und Lilo sehr eilig zu­rückzukommen. Sie wollten dem Schneemonster und dem Geheimnis der Lederhosen unbedingt auf die Spur kommen.

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Einer spielt falsch...

Am späteren Nachmittag des 30. Dezember kam die Knickerbocker-Bande mit Tilly ins Hotel Hochbrunner zurück.

Poppi war wieder vergnügt und dachte kaum noch an die schreckliche Nacht. Ihr Knie war in Ordnung, und sie freute sich schon auf den nächsten Tag, an dem sie zum ersten Mal ein bißchen ihre Ski ausprobieren konnte.

Kurz nach ihrer Ankunft liefen Axel und Lilo in die Direktion des Hotels. Sie wollten die Lederhosen aus dem Safe holen.

„Tut mir leid“, sagte der Chefportier, „aber es wurde nichts für euch im Tresor hinterlegt. Wer sollte das gemacht haben?“

„Der Sepp Stürzel, der Skilehrer mit den vielen Schneckerln. Sie kennen ihn bestimmt. Der damals mit der Amerikanerin dem Schneemonster zum ersten Mal begegnet ist“, sagte Lilo.

Der Portier erkundigte sich auch bei seinen Kollegen, aber niemand wußte etwas von den Lederhosen.

„Verdammt, die sind gestohlen worden. Im Zimmer sind sie auch nicht mehr!“ sagte Axel. „Du Lilo, aber vielleicht sind sie schon am ersten Tag abhanden gekommen. Keiner von uns hat in die Schachteln ge­schaut, in denen sie verpackt waren.“

„Durchaus möglich“, meinte das Mädchen. „Ich rufe schnell daheim an. Vielleicht ist meine Lederhose noch da. Wir treffen uns im Jagdzimmer.“

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Dort saßen bereits Poppi und Dominik und lasen Comic-Hefte. Im hinteren Teil des großen Raumes befand sich ein Klavier, an dem ein hagerer Mann mit einem zerfurchten Gesicht saß und spielte.

Eine schlanke Dame in einem roten Abendkleid trat zu ihm und lehnte sich an das Klavier. Obwohl sie sehr leise sprach, konnte Dominik jedes Wort verstehen. Er ließ das Comic-Heft sinken und belauschte die beiden.

„Du hast mir einen Liederabend verpatzt, du Idiot!“ schimpfte die Dame.

Die Antwort des Klavierspielers war kurz und bissig. „Gut für die Ohren der Gäste.“

Die Dame stampfte empört mit dem Fuß auf. „Arno, wo warst du? Ich will es wissen. Ich habe

vorgestern Abend die ganze Zeit bei dir angeklopft. Wieso hast du nicht geöffnet?“

„Weil mir schlecht war. Lebensmittelvergiftung oder so etwas.“

„Und was war gestern mit dir? Wieso bist du nicht gestern Abend gekommen?“

„Habe etwas Besseres zu tun gehabt. Außerdem werde ich erst ab heute bezahlt.“

„Und ich werde überhaupt nicht bezahlt, weil ich nicht gesungen habe. Das ist deine Schuld. Du hast mich nicht begleitet, du Schuft!“ schimpfte die Dame und rauschte aus dem Zimmer.

„Wie auf der Bühne, nur noch spannender“, meinte Dominik grinsend und vertiefte sich wieder in Donalds Abenteuer.

Poppi aber war mit einem Mal unruhig geworden. Wieso klang die Stimme des Klavierspielers so seltsam in

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ihren Ohren? Sie hatte ihr Angst eingejagt, doch warum? Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie den Gedanken aus ihrem Kopf verscheuchen, und widmete sich wieder ihrem Comic.

Kurze Zeit später gesellten sich Axel und Lilo dazu. „Meine Lederhose ist auch weg“, berichtete Lieselotte

atemlos. „Der Dieb muß sie mitgenommen haben, als er Poppi entführt hat.“

„Glaube ich nicht!“ sagte Poppi, „aber der Mistkerl hat von einem Zweiten gefaselt. Er hat mit ihm über ein Funkgerät gesprochen.“

„Interessant“, murmelte Lilo und beobachtete den Tanz der Flammen im Kamin.

Ein Glockenspiel läutete, als Lieselotte und Axel das Hotel für einen kurzen Spaziergang verließen.

„Das ist in einem Turm der Katharinenkirche un­tergebracht und erklingt jeden Tag um 11 und um 17 Uhr!“ erklärte Lilo.

„Und wohin gehen wir jetzt?“ fragte Axel. „Zu meiner Freundin Franziska. Ihr Vater ist Wur­

zelschnitzer. Vielleicht dürfen wir ihm ein bißchen bei der Arbeit zuschauen.“

Die beiden marschierten durch die Hauptstraße, in der es vor Skifahrern nur so wimmelte. Die meisten kamen gerade aus den gemütlichen Cafes, wo sie sich zum Apres-Ski getroffen hatten.

„He, schau dort, beim Stadttor“, rief Axel plötzlich und deutete in eine Richtung.

„Was ist dort?“ „Der dicke Kerl in dem braunen Pelzmantel. Das ist

doch der Mops! Der Dr. Grassus!“

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Jetzt erkannte auch Lilo ihn. Axel und das Mädchen wichen in einen breiten Hauseingang aus, damit sie Dr. Grassus nicht sehen konnte. Es war nicht leicht, den kleinen Mann im Getümmel der Menschen im Auge zu behalten.

„Was tut denn der da?“ wollte Axel wissen. Diese Frage hätte ihnen aber nur Dr. Grassus selbst beantworten können.

Von ihrem Versteck aus machten Axel und Lilo dann eine sonderbare Beobachtung.

Aus der Entgegengesetzten Richtung kam plötzlich der Klavierspieler des Hotels Hochbrunner. Sein Name war Arno Arretiz. Das hatte die Knickerbocker-Bande auf einem Plakat neben der Rezeption gelesen. Ohne auf die Menschen rings um ihn zu achten, hastete er über den Gehsteig.

Dr. Grassus war mittlerweile vor der Auslage eines Juweliers stehen geblieben und betrachtete die ausge­stellten Schmuckstücke. Als Herr Arretiz nur noch wenige Schritte von ihm entfernt war, fiel sein Blick auf den kleinen Mann im Pelzmantel. Mit einem Ruck blieb er stehen und starrte den Mops mit weit aufgerissenen Augen an.

Wie das Kaninchen vor der Schlange sieht er aus, fiel Lilo dazu ein.

Der Klavierspieler machte langsam ein paar Schritte zurück. Er wollte anscheinend nicht, daß der andere auf ihn aufmerksam wurde. Als der Abstand zwischen den beiden größer war, drehte sich Arno Arretiz auf dem Absatz um und stürmte zurück zum Hotel.

Lilo und Axel blickten sich fragend an. Beide zuckten

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mit den Achseln. „Los, wir schleichen dem Mops nach“, forderte Lilo Axel auf. Doch als sie auf die Straße traten, war Dr. Grassus nicht mehr zu entdecken. Er war wie vom Erdboden verschluckt.

Lilo und Axel suchten eine Weile nach ihm und gaben dann auf. Um sich aufzuwärmen, liefen sie zu Lilo s Freundin.

Franziska war ein lustiges, sommersprossiges Mädchen mit dem größten Wuschelkopf, den Axel je gesehen hatte.

Die drei Kinder standen in der Werkstatt ihres Vaters und schauten ihm über die Schulter.

Der Schnitzer war gerade mit einem „Bücherwurm“ beschäftigt. Einem kleinen, verhutzelten Männchen, das auf einem Stapel Bücher saß und das Gesicht tief in die Seiten vergraben hatte. Mit seinen verschiedenen Messern holte Franziskas Vater Stück für Stück das Gesicht des Bücherwurms aus dem Holz.

„Hat deine Mutti in der Pension viel Betrieb?“ er­kundigte sich Lilo. Franziska nickte. „Und wie. Wir sind voll bis unter das Dach. Leider sind heuer ein paar unfreundliche Gäste dabei.“

Während sie den Schnitzer weiter bei der Arbeit be­obachteten, erzählten Lilo und Axel von ihrem Gewinn beim Knickerbocker-Wettbewerb. Besonders den mopsgesichtigen Dr. Grassus schilderten sie in allen Einzelheiten. Seinen tollpatschigen und bockfüßigen Schuhplattler ließen sie selbstverständlich nicht aus.

Franziska stutzte. „Hat dieser Dr. Grassus nur noch ganz wenig Haare auf dem Kopf, die er mit so einer Creme einschmiert?“

„Ja, genau!“ riefen Axel und Lilo zugleich.

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„Du, ich glaube, der wohnt bei uns in der Pension. Aber als Namen hat er Erik Friedrichson angegeben.“

„Bist du sicher?“ fragte Lilo aufgeregt. „Ganz sicher, er ist nämlich ein Ekel. Nichts ist ihm

recht. Den ganzen Tag nörgelt er nur herum. Ein totaler Muffel!“

Lilo sprang auf. „Komm, Axel, wir schauen ihn uns an. Vielleicht ist er es wirklich. Herr ,Friedrichson’ wird schön staunen, wenn er uns sieht.“

Herr Dr. Grasus kehrte aber nicht nach Hause zurück. Lilo und Axel warteten bis halb acht, dann machten sie sich auf den Heimweg. Sie waren ein wenig enttäuscht.

Ein paar Schritte vor dem Hotel Hochbrunner blieb Lilo stehen.

„Nein, das hätte ich nie gedacht“, murmelte sie. Axel entdeckte sofort den Grund ihrer Überraschung. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, in einer Schwachbeleuchteten Nische, standen Dr. Grassus und Tilly. Sie waren offenbar in ein ruhiges Gespräch vertieft. Tilly lachte immer wieder. Die Geschichten, die ihr der Mops erzählte, schienen sehr lustig zu sein.

„Die steckt mit dem Kerl unter einer Decke. Jetzt verstehe ich auch, warum wir nicht zurück nach Kitzbühel sollten. Damit wir nicht im Weg sind.“

Tilly verabschiedete sich lächelnd von ihrem früheren Chef.

„Schnell weg“, zischte Lilo. Sofort waren die beiden in der Hotelhalle verschwunden. Sie beschlossen, Tilly beim Abendessen ein wenig auszuhorchen. Was wußte sie?

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Fragen über Fragen

Auf dem Weg zum Speisesaal traf die Knickerbocker-Bande den Skilehrer Sepp.

„Also ihr macht Sachen“, rief er ihnen entgegen, „die ganze Stadt spricht schon davon.“

„Ich will aber nicht mehr daran erinnert werden!“ sagte Poppi. Sepp verstand das und wechselte das Thema.

„Morgen geht es wieder los, ich hole euch gegen neun Uhr ab. Einverstanden?“ Die vier waren einverstanden, aber vor allem hatte Lilo noch eine Frage.

„Sepp, Tilly hat dich doch angerufen, oder?“ „Ja, das hat sie!“ „Du solltest unsere bunten Lederhosen aus den

Zimmern holen und in den Tresor legen.“ Sepp nickte. „Ich wollte es auch tun, aber ich habe die

Lederhosen nicht gefunden. Auch deine, Lieselotte, war verschwunden. Deine Mutter hat das ganze Zimmer auf den Kopf gestellt. So, und jetzt muß ich zurück. Mein Bruder wartet daheim auf mich. Wir wollen essen gehen. Also dann, bis morgen!“

Im Speisesaal wurde die Knickerbocker-Bande schon von Tilly erwartet.

„Du siehst heute wie ein Pfirsich mit Vanille-Eis aus“, bewunderte Poppi Tillys dunkelgelbe Hose und ihren flauschigen, cremefarbenen Pullover.

„Danke“, Tilly strahlte und freute sich über das Kompliment.

Die perfekte Täuscherin, schoß es Lilo durch den Kopf.

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Aber mich führt sie nicht mehr so leicht aufs Glatteis. Als sie schließlich bei der Nachspeise angelangt waren,

begann Lilo mit dem Verhör. „Tilly, kennst du eigentlich einen Herrn Friedrich­

son?“ Tilly überlegte kurz und verneinte. „So nennt sich dein Ex-Chef hier in Kitzbühel!“ Nun

war Lieselotte auf die Reaktion der Sekretärin gespannt. Sie wurde enttäuscht. Tilly suchte gar nicht nach Ausreden. Sie tischte auch keine erfundene Geschichte auf. Sie begann der Knickerbocker-Bande lachend ihre Erlebnisse zu erzählen.

„Ich habe den Mops gerade vorhin auf der Straße getroffen. Zuerst war ich ziemlich sauer, ihn zu sehen. Aber jetzt kann ich nur lachen. Mein Verdacht auf ihn war völlig unbegründet. Ich kann mir auch vorstellen, wieso er hier unter einem falschen Namen abgestiegen ist.“

„Wieso?“ forschte Lilo. „Damals, Anfang Dezember, hat er von einer Erbschaft

erfahren, die er gemacht hat. Eine Tante, die er nur ein einziges Mal gesehen hatte, hinterließ ihm mehrere Millionen. Dr. Grassus war deshalb völlig durcheinander. Das war auch der Grund für seine Kündigung. Er will seine eigene Firma gründen. Und nach Kitzbühel ist er gekommen, weil ihn ein anderer Neffe dieser Tante verfolgt. Der ist nämlich leer ausgegangen.“

Dominik und Poppi lachten. Vor allem war Axel erleichtert, daß sich der Verdacht gegen Tilly als falsch erwiesen hatte. Er hatte sich in Kitzbühel nicht mehr sehr wohl gefühlt. Das war jetzt anders.

Lieselotte preßte die Lippen zusammen und sagte

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nichts. Die Geschichte klang glaubwürdig, aber ir­gendetwas störte sie daran. Sie konnte nur nicht her­ausfinden, was es war.

Am Abend, als Poppi schon schlief, nahm Lilo einen Bogen Papier aus dem Hotelschreibtisch und notierte folgendes:

Fall: Rätsel um das Schneemonster Frage 1: Wer steckt im Kostüm des Schneemonsters?

Wieso treibt sich der oder diejenige auf dem Hahnenkamm herum und schlägt sogar Buben nieder? Welchen Sinn hat das?

Lilo lehnte sich zurück und starrte an die Decke. Plötzlich fiel ihr der Himmel-Wirt ein. Er hatte doch von diesem Ballonfahrer erzählt, der in Obergurgl gelandet war. „Er ist vom Himmel gefallen ...“ hatte der Himmel-Wirt gesagt.

Die Augenzeugin hatte auch davon gesprochen, daß das Schneemonster „vom Himmel gefallen ist und sich auf sie gestürzt hat“. In einem Ballon war es bestimmt nicht gekommen. Aber möglicherweise mit einem kleinen Flugzeug. Lieselotte beugte sich über das Papier und schrieb:

Mögliche Antwort: Der Mann ist aus einem Flugzeug abgesprungen. Vielleicht wollte er Fallschirm springen, aber warum?...

Lilo war zufrieden, wenigstens ein Stück weiterge­

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kommen zu sein. Doch noch immer blieben viele Fragen offen.

Zum Beispiel Frage 2: Hat Tilly die Wahrheit gesagt? Frage 3: Warum hat der Klavierspieler Angst vor Dr.

Grassus? Ist er der „Neffe?“ Hat der Mops wirklich geerbt?

Sie betrachtete das Blatt lange und eingehend und schob es dann in den Schreibtisch. Als sie wieder unter die Bettdecke schlüpfte, setzte sich Poppi ruckartig in ihrem Bett auf. „Lilo“, flüsterte sie heiser.

„Ja, was ist denn Poppi? Kannst du nicht schlafen?« „Mir ist gerade etwas eingefallen. Der Mann ... der

Mann, der mich entführt hat ...“ Poppi schluchzte. Lilo setzte sich zu ihr und nahm sie in den Arm. „Was ist mit ihm, Poppi?“

„Er ... er ... er ...“, stammelte Poppi, „er hat gewußt, wie meine Katze heißt. Er kannte Rossos Namen. Woher?“

Lilo runzelte die Augenbrauen. Sie konnte sich denken, woher er den Namen wußte. Von einer Person, die mit der Knickerbocker-Bande zusammen war. So viele kamen dafür nicht in Frage. Lieselotte drückte Poppi sanft in den Polster und murmelte etwas von: „Vielleicht hast du dir das nur eingebildet.“

Natürlich war ihr bewußt, daß Poppi nicht geträumt hatte. Wer spielte da falsch? Lilo wollte unbedingt eine Antwort auf diese Frage. Sie ahnte nicht, in welche Gefahr sie sich dadurch begab.

Es war kurz nach Mitternacht. In den Straßen von Kitzbühel waren nur wenige Menschen unterwegs. Einige junge Leute kamen lachend und singend aus den Discos und machten sich auf den Heimweg.

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Ein kleiner, dickbäuchiger Mann mit einem fetten, hängenden Gesicht stand vor einer Telefonzelle und sah sich nach allen Seiten um. Erst als er überzeugt war, daß ihn hier kaum jemand beobachten und schon gar niemand belauschen konnte, trat er ein. Er warf mehrere 10­Schilling-Münzen in den Automat und wählte eine lange Nummer.

„Ich bin es ... Ja ... Codewort: Der Elefant trompetet nur einmal ... Er ist in die Falle gegangen und hat sogar ein Mädchen in der Panik entführt. Wahrscheinlich ist sie ihm in die Quere gekommen. Ich vermute zu wissen, wer es ist. Guter Bekannter von der Gegenseite ... Was? Warum? ... Warum ich ihn noch nicht geschnappt habe? Weil es hier von Menschen wimmelt. Sobald ich ihn allein zu fassen kriege, hole ich sie von ihm ... Mich wundert allerdings eines: Er ist erst vor drei Tagen angekommen ... Angeblich ... Und wenn er den echten Teil eins hätte, wäre er doch eigentlich schon längst abgehauen ... Irgendetwas stimmt nicht.“

Eine Ader auf der Stirn des Mannes schwoll dick an. Die Stimme am anderen Ende mußte etwas gesagt haben, das ihn sehr aufregte.

„Natürlich weiß ich das, und ich werde ihn wieder­beschaffen“, schnauzte er in den Hörer. „Ende!“ Er legte auf, fischte die restlichen Münzen aus dem Geldfach und stapfte mit energischen Schritten davon. Die Hände hatte er tief in die Taschen seines Mantels gebohrt.

Morgen Nacht, beschloß er, wenn die Raketen knallen, nehme ich ihn mir vor ...

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Ein Schuß in der Silvesternacht

Der letzte Tag des Jahres verging für die Knicker­bocker-Bande ohne besondere Vorkommnisse.

Axel baute einen fürchterlichen Sturz und mußte nachher eine halbe Stunde seine Ski, seine Stöcke, die Mütze und die Skibrille suchen. Er selbst hatte sich zum Glück nicht verletzt.

Poppi zog ihre ersten Schwünge auf dem Babyhang und fand Ski fahren bereits „irre toll“.

Dominik unterhielt Tilly bei jeder Liftfahrt, indem er ihr alle Lieder aus dem Musical „Les Miserables“ vorsang. „Da wirke ich nämlich mit. Meine Mutter auch!“ hatte er stolz verkündet.

Lieselotte war an diesem Tag still und nachdenklich. Im Vorbeifahren warf sie dem Steilhang einen sehnsüchtigen Blick zu. Sie wollte ihn gerne einmal bei Tag unter die Lupe nehmen. Aber Axel weigerte sich mitzukommen. Das Mädchen hatte beschlossen, Tilly in nächster Zeit nicht aus den Augen zu lassen. Sollte sich hinter dem freundlichen Gesicht eine Verbrecherin verstecken? Lilo konnte es sich nicht vorstellen, aber man wußte nie ...

Am Abend hatte Tilly eine Überraschung für die Knickerbocker-Bande vorbereitet. Nach einem köstlichen Abendessen unternahmen sie eine Fahrt mit dem Pferdeschlitten. Poppi strahlte, als sie die beiden Haflinger sah, die den alten, hölzernen Schlitten über die verschneiten Felder und Waldwege zogen.

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Page 88: Rätsel Um Das Schneemonster

Die vier Kinder und Tilly hatten sich fest in Decken eingewickelt, damit sie nicht froren. Zwei Fackeln, links und rechts vom Kutschbock, tauchten die vorbeiziehende Landschaft in ein gespenstisches, flackerndes Licht.

„Genau um Mitternacht werden wir auf dem Skihang am Fuße des Hahnenkamms sein“, verkündete Tilly. „Wir laufen ein Stück den Hügel hinauf. Von dort oben haben wir nämlich einen schönen Blick über Kitzbühel und können das Feuerwerk gut beobachten.“

Schließlich war es soweit. Unter lautem Glockengeläute wurde das neue Jahr

begrüßt. Überall in Kitzbühel zischten glühende Punkte in die Luft, die auf dem schwarzen Nachthimmel zu leuchtenden Feuergebilden zerplatzten.

„Prosit Neujahr!“ riefen einander die Kinder zu. Tilly zog eine kleine Flasche Sekt aus der Manteltasche und öffnete sie mit einem zischenden Knall. Alle nahmen einen tüchtigen Schluck.

„Das kitzelt am Gaumen“, kicherte Poppi. „Hallo, Tilly“, rief Axel. Als sich die junge Frau zu ihm umdrehte, landete auch

schon ein Schneeball mitten in ihrem Gesicht. Tilly prustete. „Na warte“, rief sie übermütig und griff in den Schnee. Gleich darauf war eine wilde Schneeballschlacht im Gange. Lachend und schreiend kollerten alle durch den Schnee.

Ein scharfer, lauter Knall riß sie aus ihrem Spiel. „Das war ein Schuß!“ schrie Axel und sprang auf. Er

schnappte eine Fackel und stürmte den Hang hinunter. „Wo willst du hin?“ rief ihm Tilly nach, aber er hörte

nicht mehr.

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Page 89: Rätsel Um Das Schneemonster

„Das war wirklich ein Schuß. Er hat viel schärfer und nicht so dumpf wie die Feuerwerkskörper geklungen“, sagte Lilo. „Außerdem war er näher als das Feuerwerk. Das habe ich eindeutig erkannt.“

Lilo zog die zweite Fackel aus dem Schnee, und ge­meinsam rannten sie Axel nach. „Ihr bleibt bei mir“, befahl Tilly Dominik und Poppi. „Gemeinheit“, knurrte Dominik, als sie ihn bei der Hand packte. „Ich bin kein Baby.“

Lilo traf kurz nach Axel bei dem flachen, blauweiß gestrichenen Haus im Tal ein. Axel gab ihr ein Zeichen mitzukommen. Die beiden schlichen zaghaft durch den knirschenden Schnee um das Haus.

Vor dem gemauerten Sockel, auf dem sich die Terrasse befand, machten sie eine schlimme Entdeckung.

Lilo stieß einen leisen Schrei aus. Ein Mann lag auf dem Rücken im Schnee und hatte die

rechte Hand abwehrend in die Luft gestreckt. Wovor fürchtete er sich?

„Schau, da!“ flüsterte Axel Lilo zu und deutete zum anderen Ende des Steinsockels. Dort stand Herr Dr. Grassus. Er hatte eine Pistole auf den Mann gerichtet. Seine Hände zitterten.

„Weg, Kinder“, schrie er. „Das ist nichts für euch. Dieser Mann hat soeben versucht, mich zu erschießen.“

„Lüge!“ stammelte der Mann auf dem Boden. „Lüge. Sie haben mich hier überfallen, auf meinem Spaziergang ...“

Lilo preßte sich die Hand auf den Mund. „Das ... das ist ja ... der Klavierspieler aus dem Hotel!“

Tilly kam mit Dominik und Poppi um die Ecke.

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„Verschwinden Sie!“ brüllte der Mops außer sich. „Kommt, Kinder, schnell weg, schnell!“ Tilly packte

Lilo und Axel am Arm und zerrte sie mit sich. Stolpernd und keuchend rannten sie über den Schnee, über den Bahnübergang und durch den Park zur Straße. Von dort war es nicht mehr weit zum Hotel.

Tilly verständigte sofort die Gendarmerie. Im Ap­partement der Mädchen traf sie die Knickerbocker-Bande wieder.

Axel, Lilo und Dominik standen über Poppi gebeugt, die auf dem Bett lag und schluchzte. Ihr schlanker, kleiner Körper wurde nur so geschüttelt.

„Was hat sie?“ fragte Tilly besorgt. Die junge Frau setzte sich auf die Bettkante und strich

Poppi über den Kopf. Das Mädchen zitterte, als hätte es einen Schüttelfrost.

Tilly beugte sich zu ihrem Ohr. „Poppi, komm, sag mir, was los ist.“ Irgendetwas mußte das Mädchen sehr erschreckt haben.

Poppi hob das verweinte Gesicht aus dem Polster und blickte Tilly mit roten Augen an. „Der ... der Mann ... im Schnee ...“ stieß sie hervor.

„Was ist mit ihm?“ „Der Mann ... der hat mich ... entführt!“ „Woher weißt du das?“ fragte Tilly sanft. „Die Schuhe ... die habe ich mir gemerkt. Es waren

Seehundstiefel. Ich ... ich habe mir gedacht... so ein Tierquäler ... Der eine Absatz ist schwarz ... der andere ist braun. Das war er ... Ich weiß es genau!“

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Page 91: Rätsel Um Das Schneemonster

Die Entdeckung

Gegen zehn Uhr am Vormittag trudelten die Mitglieder der Knickerbocker-Bande zum Frühstück ein.

Poppi war noch ein bißchen blaß, doch Lilo hatte sich viel Mühe gegeben, sie zu beruhigen.

„Jetzt kann dir der Kerl nichts mehr machen“, hatte sie zu Poppi gesagt.

Die Gendarmerie war noch in der Nacht ins Hotel gekommen. Sie hatte Tilly darüber unterrichtet, daß sowohl Dr. Grassus als auch Arno Arretiz festgenommen worden waren.

Der Pianist hatte einen Schuß abgefeuert. Das stand fest. Ein paar Meter von ihm entfernt hatte die Gendarmerie einen Revolver gefunden, in dem eine Patrone fehlte. Warum der Klavierspieler eine Waffe bei sich trug, blieb aber ungeklärt. Dr. Grassus begründete seine eigene Waffe mit der Angst vor dem Wildgewordenen Neffen aus Italien, der ihn angeblich verfolgte. Er hielt Arretiz für einen Profi-Gauner, der beauftragt worden war, ihn zu beseitigen. In diesem Fall würde die Erbschaft dann dem Neffen zufallen. Poppis Entführung leugnete Arno Arretiz. Es war überhaupt nicht viel aus ihm herauszubekommen.

„Wir müssen die ganze Angelegenheit der Krimi­nalpolizei übergeben“, hatten die Beamten Tilly berichtet. „Dr. Grassus haben wir vorläufig wieder freigelassen. Es ist aber nicht geklärt, ob er Herrn Arretiz wirklich bedroht hat oder nicht.“

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Im Speiseaal war es noch sehr ruhig. Die meisten Gäste hatten bis in die frühen Morgenstunden gefeiert und schliefen sich nun aus.

Lilo freute das. „Die Pisten sind jetzt ganz leer, und an den Liften muß man nur kurz warten! Hoffentlich ist der Sepp pünktlich. Er hat versprochen, uns spätestens um halb elf abzuholen.“

Der Skilehrer hatte anscheinend verschlafen. Die Knickerbocker-Bande wartete vergeblich. Um 11 Uhr wurde es Lilo dann zu langweilig. Sie ging zum Telefon und rief bei Sepp an. Niemand hob ab.

„Diese Schlafmütze“, schimpfte sie. „Er hat bestimmt wieder viel getrunken und getanzt. Jetzt hört er nicht einmal das Telefon.“

„Dann gehe ich mit Poppi und Dominik auf die Piste. Wir bleiben herunten und treffen uns um halb eins in der Skihütte,“ schlug Tilly vor.

„Abgemacht!“ riefen Axel und Lieselotte. Die beiden machten sich auf den Weg zu Sepps Wohnung, um ihn aus dem Bett zu klingeln.

Der Skilehrer wohnte in einem dreistöckigen, alten Haus, das zum Glück weder Türöffner noch Gegen­sprechanlage besaß. Lieselotte hatte ihn schon einmal besucht und kannte seine kleine Bude, direkt unter dem Dach. Sie bestand aus einem winzigen Wohnzimmer und einem noch kleineren Schlafzimmer.

Im Dachgeschoß angekommen, legte Lilo ihren Daumen auf den Klingelknopf neben der Tür und läutete. Nichts rührte sich.

Also klingelte Lilo noch einmal. Diesmal länger. Es tat sich noch immer nichts. Als das nichts nützte, klopfte

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Axel mit der Faust an die Tür. Sie schwang quietschend auf.

Lilo schaute verdutzt. Es war also gar nicht abgesperrt. „Hallo!“ rief sie in die Wohnung. „Sepp? Bist du hier?“ Keine Antwort.

Axel betrat zaghaft das winzige Vorzimmer, das gleichzeitig als Küche diente. Es zischte, und er zuckte zusammen.

Lilo deutete auf die automatische Kaffeemaschine. Am roten Licht konnte man erkennen, daß sie eingeschaltet war. Es war also jemand bis vor kurzem hier gewesen. Gemeinsam warfen die beiden Knickerbocker einen Blicken das Schlafzimmer. Hier herrschte das totale Chaos. Skibekleidung, Jeans, Bettzeug, Unterwäsche, Socken, Zeitschriften, ein Radio und ein Walkman lagen wild durcheinander herum.

Im Wohnzimmer sah es nicht besser aus. Neben einem abgewetzten Lehnstuhl war ein Klappbett aufgebaut, in dem jemand geschlafen hatte. Ein Polster und eine zerknitterte Decke waren achtlos darauf geworfen worden. Von Sepp fehlte aber jede Spur.

Axel und Lilo wollten die Wohnung gerade verlassen, als das Telefon klingelte.

„Sollen wir abheben?“ Axel sah seine Freundin fragend an. Lilo schüttelte den Kopf. Sie marschierten zur Tür. Das Telefon läutete hartnäckig weiter. Es schien sich um einen Anrufer mit Ausdauer zu handeln.

Lilo wußte selbst nicht warum, doch plötzlich lief sie zurück und nahm den Hörer ab. „Hallo? Hier bei Sepp Stürzel! ... Nein, der Sepp ist leider nicht da. Wer spricht bitte? ... Wer? ... Wo sind Sie?“ Lilos Gesichtsausdruck

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zeigte Axel, daß sie etwas Unfaßbares erfahren hatte. „Hat er noch einen? ... Aha ... jaja ... ich richte es aus. Wiederhören.“ Sie ließ den Hörer auf die Gabel

fallen und atmete tief ein und aus. „Was hast du denn? Wer war's?“ „Sepps Bruder.“ „Der ihn gerade besucht hat?“ „Nein, den gibt es nämlich nicht. Sepps Bruder sitzt in

Afrika, in Nairobi. Er lebt dort und wollte seinem kleinen Bruder ein glückliches neues Jahr wünschen.“

„Hat der Sepp noch andere Brüder?“ Lilo schüttelte den Kopf, daß ihre Zöpfe flogen. „Warum hat er uns dann angelogen? Und wer wohnt

hier bei ihm?“ „Keine Ahnung, aber wir werden es herausfinden. Du

stellst dich zur Tür und paßt auf, ob er zurückkommt. Ich schaue mich hier ein wenig um.“

Lilo hob vorsichtig die schmutzigen Hosen und Pullover vom Boden auf. Vielleicht lag etwas darunter, was ihr einen Hinweis auf Sepps Gast geben konnte. Das Mädchen achtete aber darauf, alles wieder genau an dieselbe Stelle zu legen. Keiner sollte merken, daß jemand hier gewesen ist.

„Was gefunden?“ fragte Axel, als sie zehn Minuten später aus der Wohnung schlüpfte.

„Jede Menge. Ich erzähl' dir alles auf dem Lift. Wenn mein Verdacht stimmt, sind wir einer irrsinnigen Sache auf der Spur.“

Kurz darauf schaukelten Axel und Lilo im Sessellift den Berg hinauf. Axel platzte fast vor Neugier.

„Du hast doch schon einmal von Professor Kagori

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gehört, oder? „ begann Lilo. Axel dachte nach und erin­nerte sich schließlich an einen Bericht im Fernsehen. „Das ist dieser verrückte italienische Wissenschaftler, der in einem Schloß am Meer lebt und dort seine Forschungen betreibt. Angeblich soll er ein Elektroauto entwickelt haben, das Spitzengeschwindigkeiten von 150 Stundenkilometern erreicht und über 1.000 Kilometer ohne Aufladen fahren kann“, erinnerte er sich.

„So ist es! Dieses Auto würde unsere Benzinkutschen wahrscheinlich völlig ersetzen. Die Ölscheichs haben natürlich alles darangesetzt, die Pläne für dieses Auto zu bekommen. Auf der Welt würde dann nämlich kaum noch Erdöl gebraucht werden. Professor Kagori hat aber abgelehnt, seine Idee zu verkaufen. Er hat sie wie einen Schatz gehütet und bewachen lassen. Am 6. Dezember vergangenen Jahres ist er nun verstorben, und einen Tag später ist sein Labor abgebrannt. Die Feuerwehr konnte den Tresor aus den Flammen retten. Nur ... er war leer. Die Pläne des Elektroautos sind verschwunden.“

„Woher weißt du das?“ wollte Axel wissen. „Ich habe in Sepps Wohnzimmer einen Zeitungs­

ausschnitt gefunden, in dem es gestanden ist. Aber jetzt halte dich fest...“

„Geht nicht“, rief Axel, „wir sind nämlich bei der Bergstation. Wir müssen aussteigen.“

Sie rutschten von ihren Sesseln und schwangen auf dem Platz vor dem Lift ab.

„Komm, wir fahren ganz hinauf. Ich erzähle dir am nächsten Lift alles Weitere“, rief Lilo und sauste davon. Axel hatte Mühe ihr zu folgen.

Kaum hatten sie im nächsten Sessellift Platz ge­

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nommen, wollte Axel mehr wissen. „Na und, was hat das alles mit Sepp zu tun?“ „Das weiß ich nicht genau. Aber ich habe noch ein paar

andere Sachen entdeckt. Zum Beispiel die Quittung für einen Helikopterflug. Datum 8. Dezember. Fällt dir etwas auf?“

Axel schüttelte den Kopf. „Am 8. Dezember ist das Schneemonster zum ersten

Mal aufgetaucht.“ „Na und, glaubst du, es ist mit dem Hubschrauber

gekommen?“ Lilo lachte. „Ja! Zuerst habe ich an ein Flugzeug

gedacht. Doch nun ist klar, es war ein Helikopter. Er hat das Dröhnen erzeugt, von dem diese Mrs. Silverspoon erzählt hat. Wahrscheinlich ist der Mann im Fallschirmspringer-Anzug herausgesprungen. Ich habe aber keine Ahnung, warum jemand so etwas tut.“

„Dann ist das Schneemonster also der Mann, der bei Sepp wohnt?“

„Dafür haben wir noch keine Beweise. Allerdings weiß ich, wie der Typ heißt. Ich habe einen Ausweis gefunden. Einen italienischen Paß. Er lautet auf Guiseppe Castelli.“

„Was schließt du daraus? „ Axel blickte seine Freundin mit dem detektivischen Spürsinn gespannt an.

Lilo zog die Augenbrauen hoch. „Leider bin ich nicht Sherlock Holmes. Der wüßte längst alles. Aber ich werde auf jeden Fall einen Trick anwenden, den ich in einem anderen Krimi einmal gelesen habe.“

„Welchen?“ fragte Axel neugierig. „Warte es ab! Heute Nachmittag im Hotel bereiten wir

das Notwendige vor. Du darfst aber kein Wort zu Tilly

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oder den Kleinen sagen. Die könnten sonst alles verraten.“

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Die Falle für das Schneemonster

Als Dominik und Poppi mit roten, erschöpften Ge­sichtern vom Skifahren heimgekommen waren, hatte sie Lilo freundlich, aber bestimmt ins Hallenbad des Hotels geschickt. „Im Wasser erholen sich die müden Beine am besten“, hatte sie den beiden eingeredet, die gleich darauf mit Badehose und Badeanzug abgezogen waren…

Nun waren die beiden ungestört. Lilo zog das Briefpapier aus der Lade, das sich in jedem Hotelzimmer befand. Sorgfältig riß sie den Briefkopf weg,

„Wir werden dem Schneemonster nun eine Falle stellen!“ erklärte sie Axel. Für mich kommen zwei Personen in Frage, die etwas damit zu tun haben könnten: Erstens der Typ bei Sepp und zweitens der Mops. Außerdem habe ich einen düsteren Schimmer, was dieses Monster macht.“ Nun war Axel sehr gespannt. Diese Frage hatte er sich auch schon mehrere Male gestellt.

„Das Monster hält die Leute vom Steilhang fern, weil es dort etwas zu tun hat. Entweder errichtet es eine Anlage ...“

„Blödsinn, was für eine Anlage?“ warf Axel ein. „Keine Ahnung, auf jeden Fall eine wichtige und

geheime, von der niemand etwas erfahren soll. Oder ... Verdacht Nummer zwei... es sucht etwas?“

„Und was?“ Auch darauf wußte Lilo keine Antwort. Axel war damit

nicht zufrieden. Das kümmerte das Mädchen allerdings wenig. Lilo stand auf und holte aus einer Tasche eine

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kleine Kofferschreibmaschine. Sie spannte einen Bogen Papier ein und tippte fol­

genden Text: „Wir wissen, daß Sie das Schneemonster sind. Wir haben Sie fotografiert und besitzen damit wertvolle Beweise. Gegen Zahlung von 100.000 Schilling sind wir bereit, Ihnen die Negative zu übergeben. Treffpunkt Hahnenkamm, 100 Meter nach der Seilbahnstation. Heute 20 Uhr!“

„Gut, nicht?“ sagte Lilo. Axel wußte nicht so recht, was er davon halten sollte.

Lilo faltete die Zettel zusammen und überreichte einen davon Axel. „Den bringst du morgen der Franziska. Sie soll ihn dem Mops ins Zimmer legen. Aber er darf nichts merken. Den zweiten liefere ich beim Sepp ab. So, und jetzt werfen wir uns auch ins kühle Naß. Aber kein Wort zu Dominik oder Poppi. Verstanden???“

Axel nickte. Er hatte ein überaus mulmiges Gefühl im Bauch. Lilos Plan erschien ihm sehr gewagt.

Am Abend des 1. Jänner wurde — wie jedes Jahr — am Fuße des Hahnenkamms die Skihexe verbrannt. Es war dies eine lebensgroße Strohpuppe, die die Skilehrer angezogen und mit einer Holzmaske versehen hatten. Gefüllt war die Skihexe mit Knallerbsen, die im Feuer laut krachten.

Auf dem Hang hatten die Roten Teufel von Kitz mit Fackeln die Jahreszahl gesteckt. Darüber prangte das Kitzbühler Kitz.

Unter lautem Gejohle rasten die Skilehrer dann den Hang herunter und sprangen durch das lodernde Feuer des Scheiterhaufens. Die umstehenden Skifahrer und Urlauber applaudierten begeistert. Zum Abschluß gab es noch ein

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großes Feuerwerk. Als das Spektakel vorüber war und sich Tilly und die

Knickerbocker-Bande zum Gehen wandten, stand plötzlich Sepp vor ihnen.

„Ein gutes neues Jahr wünsche ich euch!“ „Na, schon ausgeschlafen?“ fragte Tilly scheinheilig.

„Wo warst du denn heute?“ „Schlimme Sache“, Sepp machte ein sehr bedrücktes

Gesicht. „Mein Bruder hat sich am Fuß verletzt, und ich habe ihn ins Krankenhaus gebracht. Deshalb konnte ich nicht kommen. Er mußte sogar drinnen bleiben. Aber morgen kommt er wieder heraus.“

„Fein, daß wir das jetzt erfahren“, Tilly war verärgert. „Du hättest dich wenigstens um einen Ersatz kümmern können.“ Sepp war zerknirscht und versprach, für den nächsten Tag einen anderen Skilehrer aufzutreiben.

Lilo stieß Axel in die Seite und grinste ihn ver­schwörerisch an.

In der Stadt begegnete ihnen dann noch Herr Schroll, der natürlich auch beim Fackellauf mitgewirkt hatte.

„Du Lilo, morgen fährt die Mama wieder zur Großmutter. Möchtest du mitkommen? Du solltest dich für den Fotoapparat bedanken, den sie dir zu Weihnachten geschenkt hat.“

Lilo war sofort einverstanden. „Darf der Axel mitkommen. Ich möchte ihm so gerne

die alten Kameras zeigen, die die Oma noch vom Opa hat.“

„Meinetwegen. Aber den Rest eurer ‚Knickerbocker-Bande’ bringen wir nicht in Mamas kleines Auto hinein. Du weißt!“ Ja, das weiß ich, dachte Lilo. Das ist auch das

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Gute daran. Sie hatte nur ganz kleine Gewissensbisse bei dem Gedanken, daß sie morgen am Nachmittag ihre Mutter anrufen und absagen würde.

In der Nacht schlief Axel sehr unruhig. Immer wieder tauchte das Schneemonster in seinen Träumen auf und stürzte sich mit seinen faltigen Pranken auf ihn. Er spürte den Schnee, der seinen Mund und die Nase verstopfte. Er keuchte und japste und schlug nach allen Seiten.

„Aua!“ rief Dominik schlaftrunken. „Spinnst du?“ Ohne es zu merken, war Axel aus dem Bett gerutscht,

zu Dominik hinübergewankt, der nur einen Schritt entfernt lag, und hatte auf ihn eingeschlagen.

Axel wachte auf und plumpste auf den Boden. Ver­schlafen rieb er sich die Augen und blinzelte Dominik an.

„Hast du einen Alptraum gehabt?“ fragte ihn dieser besorgt. Axel nickte. „Habe ich oft. Dann gehe ich manchmal sogar im Schlaf!“

„Das habe ich gemerkt“, lachte Dominik. „Aber wieso hast du Alpträume? Zu viel gegessen?“

Axel krabbelte hoch und schlüpfte in sein Bett. „Nein, das hat andere Gründe.“

„Erzähl schon!“ „Ich kann es dir jetzt noch nicht sagen. Du wirst es

spätestens übermorgen erfahren.“ Damit gab sich Dominik nur ungern zufrieden. Es war

ihm aufgefallen, daß Lilo und Axel ständig zu­sammensteckten und flüsterten. Das ärgerte ihn. Warum wurde er ausgeschlossen. Wütend warf er sich auf den Polster, verschränkte die Arme über der Brust und starrte auf die Decke.

Axel wußte nicht, was er tun sollte. Er wollte so gerne

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jemanden von Lilos Plan erzählen. Aber konnte Dominik dichthalten? Schließlich faßte er einen Entschluß ...

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Wer anderen eine Grube gräbt...

Der nächste Tag — es war der 2. Jänner — wird der Knickerbocker-Bande unvergeßlich bleiben. In nur 24 Stunden überstürzten sich die Ereignisse.

Am Vormittag waren Lilo und Axel beim Skifahren nicht so recht bei der Sache. Beide landeten öfter im Schnee und konnten es kaum erwarten, zu Mittag ihre Zettel auszutragen.

Axel hatte es leichter. Er mußte seine Nachricht nur Franziska übergeben, die den Zettel dann beim Aufräumen in das Zimmer von Dr. Grassus schmuggelte.

Lieselottes Herz klopfte laut und schnell, als sie die knarrende Holztreppe zu Sepps kleiner Wohnung unter dem Dach hinaufstieg. Ob er zu Hause war? Vielleicht befand sich auch nur dieser Italiener in der Wohnung? Für ihn war ja der Zettel eigentlich bestimmt. Er sollte anbeißen, wenn er wirklich etwas mit dem Schneemonster zu tun hatte. Im letzten Stock angekommen, blieb Lilo stehen und verhielt sich völlig ruhig. In einer der tiefer gelegenen Wohnungen schrie ein Baby, und jemand klapperte laut mit Töpfen in der Küche, Der Geruch von Kohl stieg ihr in die Nase.

Aus Sepps Wohnung drang kein Laut. Es war völlig still. Lilo tappte zögernd zur Tür und preßte ihr Ohr dagegen. Sie hörte noch immer nichts. Langsam griff sie nach der Schnalle und drückte sie herunter. Ein schrilles Klingeln ließ sie erschrocken zurückfahren. Bei Sepp läutete das Telefon. Drinnen polterte es. Jemand war

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aufgesprungen und hastete mit schnellen Schritten zum Apparat.

„Ja ...“ Die Stimme in der Wohnung klang aufgeregt und gepreßt. Sepp gehörte sie jedenfalls nicht. Seine Stimme war tiefer. „Si... no! ... Prego? ... Si!“ Das war italienisch. Lilo erkannte es sofort.

Der geheimnisvolle Italiener hatte den Hörer mit Wucht auf die Gabel geworfen. So stark, daß der ganze Apparat krachend zu Boden fiel.

Lilo blickte sich um. Ungefähr drei Meter von ihr entfernt befand sich eine schmale, enge Holztreppe, die unter den Giebel des Daches führte. Dort wurde normalerweise die Wäsche zum Trocknen aufgehängt. Das Mädchen zog den Zettel aus der Tasche, faltete ihn auf und legte ihn genau vor Sepps Wohnungstür.

Sie klingelte kurz und hastete dann mit großen Sprüngen die Treppe hinauf. Durch eine enge Luke schlüpfte sie auf den Dachboden und lehnte sich gegen einen der staubigen Holzbalken. Sie lauschte.

Unten wurde eine Tür geöffnet. „Hallo? Hallo? Ist da wer?“ rief eine Stimme mit fremdländischem Akzent. Jetzt hat er den Zettel entdeckt, dachte Lilo und wartete gespannt. Ein paar Sekunden später flog die Tür krachend ins Schloß.

Lieselotte wartete noch einige Minuten und wagte sich dann vorsichtig aus ihrem Versteck. Der Zettel vor Sepps Tür war verschwunden. Schnell hastete sie die Holztreppe hinunter und verfluchte sie in Gedanken. Warum mußte das schreckliche Ding auch so knarren, krachen und ächzen? Mit einem Seufzer der Erleichterung trat sie durch das Haustor ins Freie.

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Ihre Augen blitzten unternehmungslustig. In ihrem Kopf hakte sie auf einem Zettel Stufe l ihres Planes ab. Sie machte einen kleinen Freudensprung und rannte dann in Richtung Hotel.

Oben, an einem der drei kleinen Fenster unter dem Dach, stand ein dunkelhaariger Mann hinter dem Vorhang und spähte auf die Straße. Er musterte einen Zettel in seiner Hand, schnalzte mit den Fingern und hob einen Pistolengürtel vom Tisch auf, schnallte ihn um und kontrollierte das Magazin des Revolvers. Dann warf er einen Blick auf die Uhr und marschierte unruhig im Zimmer auf und ab. Er hinkte, und schon nach wenigen Schritten ließ er sich stöhnend in einen abgewetzten Sessel fallen.

Am späteren Nachmittag, als die meisten Skifahrer bereits ins Tal zurückgekehrt waren, trafen sich Axel und Lilo mit Onkel Peter, dem Pistenfahrzeug-Fahrer. Gemeinsam ging es in der Gondel der Hahnenkammbahn den Berg hinauf.

„Ja mei, seit wann hast du eigentlich so eine große Liebe zu den Pistenfahrzeugen und zu mir entdeckt?“ erkundigte sich der Onkel schmunzelnd bei seiner Nichte. Lilo blickte ihn mit großen, unschuldigen Augen an und setzte ihr liebstes Lächeln auf.

„Aber, Onkel Peter, wir haben uns doch immer schon gut verstanden, oder?“

Onkel Peter grinste etwas verlegen, als ihm seine Nichte den Bart kraulte.

Das Rütteln der Gondel verriet, daß sie bei der Bergstation angekommen waren. Für weitere Gespräche blieb keine Zeit.

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Diesmal ließen sich die beiden Junior-Detektive die Fahrt im Pistenfahrzeug nicht entgehen. Erstens weil sie ein wenig von dem bevorstehenden, spannenden Ereignis abgelenkt werden wollten, zweitens, um die Zeit totzuschlagen. Bis acht Uhr waren es noch über zwei Stunden.

Kurz nach sieben Uhr lieferte Onkel Peter Axel wieder bei der Bergstation ab. Dort wurde er schon von Lilo erwartet.

„Wir haben Glück, die nächste Gondel fährt in drei Minuten“, verkündete sie ihm strahlend.

Axel schaute sie etwas ratlos an. War Lilo überge­schnappt?

„Na sehr gut“, meinte ihr Onkel. „Ich muß nämlich weiter, und die Piste jetzt ganz abfahren. Bis ins Tal. Pfiat euch, ihr Gauner!“

Lilo winkte dem Onkel nach, bis er hinter der Kurve verschwunden war.

„Bist du verrückt, wir wollen doch nicht ins Tal“, zischte Axel.

Lilo sah ihn mitleidig an. „Das weiß ich selbst, aber ich mußte doch meinen Onkel beruhigen. Jetzt glaubt er, wir sind schon auf dem Heimweg, und das ist auch gut so. Bist du warm genug angezogen?“

Axel nickte. Er hatte unter seinem dicken Skianzug noch Jeans an und trug außerdem zwei Pullover über­einander.

„Die wirst du brauchen“, versicherte ihm Lilo. „Komm!“

Sie knipsten ihre großen, leuchtstarken Taschenlampen an und marschierten zu dem Punkt, an dem sie sich mit

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dem „Schneemonster“ treffen wollten. „Wir beziehen hinter dieser Schneewächte Stellung“,

beschloß Lilo. Sie deutete auf einen mannshohen Schneehügel am Rande der Piste. Das Mädchen marschierte darauf zu und verwischte im Gehen seine Spuren mit dem Schuh.

Hinter der Schneewand setzte sich Lilo nieder und öffnete ihre „Banane“. So wird jene längliche Tasche genannt, die viele Skifahrer umgeschnallt haben. Lie­selotte zog einen modernen Fotoapparat heraus und kontrollierte, ob auch alles eingestellt war.

„Blitz ist bereit, wir auch!“ murmelte sie. „Jetzt haben wir wirklich bald ein Foto vom Schneemonster.“

Nun hieß es warten, warten, warten. Die beiden Knickerbocker hatten sich in den Schnee gekniet und spähten von Zeit zu Zeit über die Kante der Schnee­wächte. Würde jemand kommen?

Axel warf einen Blick auf seine Armbanduhr und verdrehte die Augen. Noch 20 Minuten bis acht Uhr!

Die Zeit verging langsam, doch endlich war es soweit. Acht Uhr. Zur Enttäuschung der Kinder rührte sich jedoch nichts. Nur der Wind begann immer heftiger und kälter zu blasen.

Axel fröstelte. Lieselotte zitterte vor Aufregung. 20 Uhr 15. Noch immer nichts. 20 Uhr 20. Lilo warf wieder einen Blick über den

Schneehügel und zuckte zurück. „Es kommt jemand“, flüsterte sie mit heiserer Stimme.

„Jemand ziemlich großer, schlanker. Der Mops ist es also eindeutig nicht.“

Der Mann blieb stehen und drehte sich nach allen

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Seiten. Lilo konnte erkennen, daß er einen Skianzug trug und die Kapuze tief ins Gesicht gezogen hatte.

„Hallo? Hallo? Wo sind Sie?“ rief er. An seinem Akzent erkannte ihn das Mädchen sofort als den Mann aus Sepps Wohnung. Im Zeitlupentempo griff sie nach ihrer Kamera und zog sie zu ihrem Gesicht herauf. Lilo richtete das Objektiv auf den Mann und wollte schon abdrücken, als Axel plötzlich laut aufschrie.

Der Mann erschrak und stürzte in die Richtung, wo er die Erpresser vermutete.

„Idiot“, knurrte Lilo, doch im nächsten Moment hätte auch sie am liebsten losgebrüllt. Hinter ihnen stand — hoch aufgerichtet — das Schneemonster. Mit einem heiseren Gurgeln packte es die beiden Kinder an den Schultern und riß die verdutzten Hobby-Detektive zu Boden. Geschickt preßte das Monster Lilo und Axel die Handschuhe auf den Mund.

Doch nun erwachte Lilo aus ihrer Starre. Sie begann wild um sich zu schlagen und biß mit voller Kraft in die Finger des Untiers. Die Hand zuckte zur Seite. Diese Sekunde nützte das Mädchen, um nun zum Gegenangriff zu schreiten. In der Schule hatte sie einen Kurs in Selbstverteidigung besucht. Was sie da gelernt hatte, konnte sie nun sehr gut anwenden. Sie trat dem Monster mit voller Wucht gegen die Beine und in den Bauch. Das Untier stöhnte laut auf.

Axel half seiner Freundin, so gut er konnte. Er ver­drehte dem verdutzten Schneemonster den Arm und schlug ihm von hinten die Beine weg. Das Ungeheuer torkelte und fiel rücklings in den Schnee. Auf diesen Moment hatte Lilo nur gewartet. Sie rannte zum Kopf des

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Angreifers, der verzweifelt versuchte, eines der Kinder zu fassen zu kriegen. Lilo zerrte an dem Sturzhelm, den er trug. Der kleine Scheinwerfer, der daran befestigt war, erlosch. Er mußte Axel beim ersten Überfall wie ein Auge erschienen sein.

Endlich sprangen die Druckknöpfe unter dem Kinnschutz auf, und Lilo hielt den Sturzhelm in der Hand. Wie ein wildes Tier faßte sie die Strumpfmaske, die darunter zum Vorschein gekommen war und riß an.

„Sepp!“ schrie sie überrascht, als das Gesicht des Skilehrers darunter zum Vorschein kam.

Der sonst so freundliche und sonnige Sepp starrte sie wütend an. „Ihr werdet mir nicht mehr dazwi­schenfunken!“ Er packte Lilos Kamera und schleuderte sie in hohem Bogen davon. „Guiseppe“, brüllte er. „Hier sind sie. Schnell! Wir lassen sie in der Hütte verschwinden.“

„Das wollen wir sehen“, rief Lilo und wollte sich erneut auf Sepp stürzen.

„Stopp! Keine Bewegung ...!“ Vor ihnen stand ein großgewachsener, kräftiger Mann mit schwarzen Haaren und einem schmalen Oberlippenbart. In der Hand hielt er eine Pistole, die auf die Kinder gerichtet war. Er deutete ihnen, die Hände zu heben.

Axel und Lilo taten es langsam. Beide schwitzten, obwohl es eisig kalt war. Aus Angst brachten sie kein Wort heraus.

„Haben Sie ... ihn?“ fragte der Italiener Sepp. Der Skilehrer zuckte mit den Achseln. „Ich weiß nicht.

Ich werde aus denen nicht schlau.“ „Habt ihr ... gefunden ... die Mikrofilm?“ wandte sich

Guiseppe nun an Axel und Lilo.

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„Wie ... wie ... sieht sowas aus?“ brachte Axel mühsam heraus.

„Eine metallene Kapsel ist es. Nicht größer als der Nagel des kleinen Fingers.“

„Wo soll der gewesen sein?“ „Hier!“ „Poppi hat so ein Ding hier im Schnee gefunden. Beim

Wegweiser“, entschlüpfte es Lilo. Im nächsten Augenblick zuckte sie zusammen. Nun hatte sie auch Poppi in Gefahr gebracht.

„Was ist ... Poppi?“ wollte der Italiener von Sepp wissen.

„Die Kleine, die Carlo, der Idiot, entführt hat.“ Der Mann mit den eiskalten Augen deutete den

Kindern, daß sie den Hang hinuntergehen sollten. „Wir ‚versorgen’ die beiden und holen uns dann den

Film. Aber danach nur weg!“ sagte Sepp. Jetzt erschießen sie uns, dachte Axel und schloß die

Augen. Auch Lilo hatte ähnliche Gedanken. Plötzlich flammte ein grelles Licht hinter ihnen auf. Es

beleuchtete das Stück des Hanges, auf dem sie sich mit Sepp und dem Italiener befanden.

„Lassen Sie die Waffe fallen!“ kommandierte eine bekannte Stimme hinter ihnen. Lilo und Axel drehten sich vorsichtig um.

An der Kante der Schneewächte stand der Mops. Er hielt Sepp und Guiseppe mit einer Pistole, auf der ein Schalldämpfer montiert war, in Schach.

„Lassen Sie die Waffe fallen!“ kommandierte Dr. Grassus mit scharfer Stimme. Ein leises „Kling“ deutete den Kindern an, daß der Italiener den Befehl befolgt hatte.

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„Na also, warum nicht gleich. Und jetzt raus mit dem Mikro ...“

Weiter kam der Mops nicht. Ihm war entgangen, wie Sepp seine Hand langsam unter den Fallschirmspringer-Anzug hatte gleiten lassen. Blitzschnell zog er einen Revolver und feuerte einen Schuß ab.

Dr. Grassus taumelte und begann zu brüllen. Wieder knallte ein Schuß durch die Nacht. Die Männer stoben auseinander.

„Schnell weg, den Hang hinunter“, rief Lilo und packte Axel bei der Hand. Stolpernd, stürzend, keuchend und taumelnd rannten sie durch den Schnee und rutschten über das Eis.

Sie hörten laute Stimmen hinter sich und Schüsse. „Stehenbleiben!“ brüllte Sepp. Aber die beiden kümmerten sich nicht darum. Lilo

leuchtete mit ihrer Taschenlampe den Weg. Sie hasteten immer weiter, ohne sich umzudrehen.

Erst als rings um sie außer dem Sausen des Windes und dem Rauschen der Bäume nichts mehr zu hören war, blieben sie stehen.

„Wo sind wir?“ keuchte Axel. „Ich weiß es nicht“, stammelte Lilo und versuchte Luft

zu bekommen. „Ich fürchte ,.. wir .,. haben uns verirrt!“

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Im Schneesturm

Es hatte zu schneien begonnen, und der Wind wirbelte die dicken Schneeflocken durch die Luft.

Axel war ein guter Sportler und hatte eine ausge­zeichnete Kondition. Trotzdem wurde er mit jedem Schritt müder. Die Aufregungen und der Schreck hatten zu seiner Erschöpfung noch zusätzlich beigetragen.

Auch Lieselotte schleppte sich nur mit letzter Kraft durch den Schnee. Eine Taschenlampe hatte bereits ihren Geist aufgegeben. Das Licht der zweiten wurde immer schwächer.

„Wir dürfen uns unter keinen Umständen hinsetzen“, erklärte Lilo. „Wenn wir im Schnee einschlafen, sind wir verloren. Manche Skifahrer, die sich verirrt haben, sind so schon erfroren.“

Die Kinder beschlossen, den Berg immer weiter hinunterzulaufen. Vielleicht würden sie doch zu einer Straße oder zu einem Haus kommen. Viel Hoffnung hatten sie nicht. Weit und breit war kein Licht zu sehen.

Im Hotel Hochbrunner herrschte große Aufregung. Es war bereits kurz nach elf Uhr, doch Lilo und Axel waren noch immer nicht aufgetaucht.

Tilly saß mit Poppi und Dominik im Appartement der Buben und strich sich ununterbrochen durch das Haar. Sie drehte mit dem Zeigefinger wieder einzelne Strähnen zu Locken und seufzte tief.

„Wo bleiben die beiden denn nur?“ fragte Poppi an diesem Abend mindestens schon zum fünfzigsten Mal.

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„Wenn ich das wüßte, wäre ich schon dort, um sie zu holen. Lilo ist so verantwortungsbewußt. Falls sie mit Axel zu einer Freundin gegangen ist, hätte sie doch angerufen.“

Dominik blickte Tilly durch seine runde Brille traurig an. „Glaubst du, es ist ihnen etwas zugestoßen?“

Die junge Frau schwieg. Gedankenverloren ließ sie ihre Finger über die Messingknöpfe und Griffe des kleinen Schreibpultes gleiten. Sie zog die Laden auf und schob sie wieder zu.

„Was ist denn das?“ Aus dem Fach, in dem das Briefpapier für die Gäste lag, fischte Tilly einen Um­schlag. „Für Dominik“ stand darauf und „Nur Öffnen, falls wir bis 22 Uhr nicht zurück sind.“

In Windeseile riß sie das Kuvert auf und zog einen Zettel heraus. „Lieber Dominik, Lilo hat mir verboten Dir zu sagen, was wir vorhaben“, las Tilly den Kindern vor. Den Rest überflog sie nur murmelnd. Dann griff sie zum Telefon und wählte die Nummer der Rezeption.

„Portier? Bitte verständigen Sie die Bergrettung und die Gendarmerie gleich dazu. Schnell! Bitte schnell!“

Der Wind fegte immer heftiger durch die Bäume. Die Flocken tanzten im schwachen Schein von Lilos Taschenlampe.

Axel zitterte am ganzen Körper. „Ich kann nicht mehr, Lilo ... ich kann nicht mehr“, stammelte er.

„Komm weiter, du mußt weiter.“ Lilo packte ihn am Ärmel und zerrte ihn mit sich. Auch ihr war die Kälte unter den Skianzug geschlüpft und hatte ihren ganzen Körper erfaßt.

Axel ließ den Mut sinken. „Es hat keinen Sinn. Hier ist

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keine Straße. Und wer sollte da wohnen? Wir sind nicht einmal in der Nähe einer Skipiste.“

Nein, nein, nur nicht aufgeben, waren Lilos einzige Gedanken. Das hatte sie sehr oft in den Kletterkursen gehört, die ihr Vater im Sommer abhielt. Auch er war schon zweimal auf einem Gletscher in Bergnot geraten, weil er einen verirrten Halbschuhtouristen suchen mußte. Nur durch sein Durchhaltevermögen hatte er unverletzt überlebt.

Axel blieb ruckartig stehen. Seine Freundin stupste ihn, damit er weiterging. Aber Axel machte keinen Schritt weiter.

„Hör doch“, stieß er hervor, „hör doch. Da war etwas.“ Lilo lauschte in die Nacht, konnte aber nichts hören. „Es hat ein Hund gebellt. Ehrlich. Ich spinne nicht!“ Das Mädchen horchte wieder angestrengt. Axel hatte

recht. Da war ein dumpfes, tiefes Kläffen zu hören. Es wurde lauter.

„Ein Hund .., Dann muß auch irgendwo sein Herr sein.“ „Hallo! Wir sind hier! Hilfe! Hilfe!“ brüllten Axel und

Lilo aus Leibeskräften. „Helfen Sie uns, wir haben uns verirrt!“

Das Bellen kam näher. Ein großer, struppiger, schwarzer Hund bahnte sich seinen Weg durch das verschneite Dickicht. Freudig wedelnd und winselnd sprang er an Lilo hinauf,

„Wo ist dein Herrchen, wo?“ Das Knacken der Äste verriet, daß jemand dem Hund

folgte. Eine Taschenlampe blitzte auf und leuchtete den

Kindern ins Gesicht.

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„Hat der Tasso also recht gehabt, ist da wirklich je­mand“, sagte eine tiefe, rauhe Stimme. Ein Mann in einer dicken Pelzjacke und in festen Fellstiefeln trat zwischen den Bäumen hervor.

„Bin ich froh ... bin ich froh ... es hat uns jemand gefunden“, stammelte Axel.

„Wer seid ihr denn?“ wollte der Mann wissen. „Ich heiße Lieselotte, und das ist mein Freund Axel.

Aber woher kommen Sie?“ „Ihr könnt Fritz zu mir sagen. Ich habe dort vorne auf

der Lichtung eine kleine Hütte, die kaum einer kennt. Dort habe ich mich für ein paar Tage mit dem Tasso zurückgezogen. Aber jetzt kommt mit. Ihr seid ja völlig durchgefroren.“

„Haben Sie ein Telefon?“ Fritz schaute Lilo an, als hätte sie ihn gerade um eine

Million Schilling gebeten. „Natürlich nicht. Ich habe nicht einmal Strom in der

Hütte.“ „Wir müssen aber telefonieren. Es ist sehr wichtig.

Einer Freundin von uns droht große Gefahr.“ Es war kurz nach drei Uhr, als eine dunkle, hagere

Gestalt über den Korridor im dritten Stock des Hotels Hochbrunner schlich. Sie blieb vor einer Tür stehen und drückte sachte die Klinke nieder.

Der Einbrecher hatte Glück. Es war nicht abge­schlossen. Er huschte in das dunkle Zimmer und drückte die Tür lautlos ins Schloß. Aus der Tasche zog der Mann nun ein kleines Fläschchen und einen Wattebausch. Er träufelte ein paar Tropfen Flüssigkeit darauf und schaute sich suchend im Raum um. Mit der Hand tastete er sich an

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der Wand entlang durch den kleinen Vorraum und das Wohnzimmer zur nächsten Zimmertür.

Vorsichtig öffnete er sie. Die Tür quietschte leise, und er hielt erschrocken den Atem an. Im Zimmer rührte sich nichts.

Durch das Fenster fiel der schwache Lichtschein einer entfernten Straßenlaterne. Der Mann erkannte zwei Betten im Raum. Das eine war unberührt. Im anderen zeichneten sich unter der Decke die Umrisse eines ungefähr zehnjährigen Kindes ab.

Mit einem Sprung war der Mann am Bett und wollte den Kopf der Schläferin packen. Aber er griff ins Leere. Erschrocken schlug er die Decke zurück. Darunter lag eine zweite, zusammengerollte Decke, die das schlafende Kind vorgetäuscht hatte.

Plötzlich flammte das Licht im Zimmer auf. Drei Männer in Uniform traten hinter dem Vorhang und hinter der Tür hervor.

„Hände hoch und keine falsche Bewegung mehr!“ befahl einer der Männer.

Die anderen beiden durchsuchten den Eindringling nach Waffen und nahmen ihm das Fläschchen und den Wattebausch ab.

„Sehr schlau. Zuerst wollten Sie das Mädchen er­schrecken und von ihm erfahren, wo der Mikrofilm geblieben ist. Danach sollte sie mit dem Chloroform betäubt werden. Sehr schlau! Aber nicht schlau genug. Abführen!“

Der Einbrecher, der niemand anderer als Guiseppe Castelli war, warf den Kopf hochmütig in den Nacken und ließ sich die Handschellen umlegen. Er preßte die Lippen

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aufeinander. Von ihm würde die Polizei nichts erfahren. Kein Wort.

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Die Lösung des Rätsels

Der nächste Tag begann für die Knickerbocker-Bande erst am späten Nachmittag.

Es war schon nach vier Uhr, als endlich alle aufge­standen waren. Gemeinsam saßen sie im leeren Speisesaal und stillten ihren Heißhunger.

Tilly und Lilos Eltern sahen den vier schmunzelnd zu. „Ihr Schwindler“, meinte Herr Schroll, „uns so an­

zulügen und einen solchen Schrecken einzujagen!“ „Keine Strafpredigten, Papi, wissen wir alles selbst.

Aber immerhin haben wir zwei gefährliche und gesuchte Spione entlarvt. Falls ich vorher gewußt hätte, mit wem wir es zu tun haben, wäre ich wahrscheinlich nicht so mutig gewesen“, fügte Lilo grinsend hinzu.

„Wie ist es euch eigentlich gelungen, mich doch noch anzurufen? Ich dachte, auf der Hütte von diesem schrulligen Fritz gab es kein Telefon“, wunderte sich Tilly.

„Gab's auch nicht“, stieß Axel mit vollem Mund hervor. Er schluckte erst, bevor er weiterredete. „Aber der Fritz hatte zum Glück ein Autotelefon, und sein Wagen ist nur dreihundert Meter weiter auf einer Straße gestanden.“

Tilly seufzte. „Auf jeden Fall hätte ich nie gedacht, daß mein Ex-Chef für einen Spionagering arbeitet. Seit über zehn Jahren, wie er selbst gestanden hat. Er wurde übrigens von der Bergrettung gefunden. Der Sepp hat ihn am Bein getroffen und verletzt. Es war Rettung in letzter Sekunde, sonst wäre er womöglich verblutet.“

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Frau Schroll schüttelte fassungslos den Kopf. „Was ist nur in den sympathischen Sepp gefahren? Was hat er sich bei all dem gedacht? Hat er auch als Spion gearbeitet?“

„Nein“, erklärte Lilo ihrer Mutter. „Aber damit du das verstehst, muß Tilly die Vorgeschichte zu allem erzählen.“

„Dr. Grassus hat ein Geständnis abgelegt. Ein Reporter wird einen großen Bericht über den Fall schreiben. Er war heute bereits im Hotel, da er selbstverständlich auch mit der Knickerbocker-Bande reden will. Von ihm weiß ich die Zusammenhänge.“

„Und die wären? Machen Sie es nicht so spannend.“ Lilos Eltern wurden langsam ungeduldig. „Dr. Grassus hat damals im Dezember den Auftrag

erhalten, einen Mikrofilm aus Italien abzuholen und nach Österreich zu bringen. Von hier sollte er damit weiter nach Saudi-Arabien. Auf dem Film haben sich die Pläne und Aufzeichnungen über das perfekte Elektroauto von Professor Kagori befunden. Am Tag des Todes von Professor Kagori hatte nämlich ein Agent in Italien die Pläne abgelichtet und anschließend das Labor in Brand gesetzt. Die Originale wurden vernichtet. Dr. Grassus übernahm die Kapsel mit dem Mikrofilm und brachte sie nach Österreich.

Hier wurde er aber bestohlen. Von Guiseppe Castelli, der für eine amerikanische Autofirma arbeitet. Seine Auftraggeber waren an den Plänen ebenso interessiert wie die Ölmillionäre. Er hat Dr. Grassus in Innsbruck überfallen und ihm dabei den Mikrofilm abgenommen. Castelli floh damit quer durch Tirol. Dr, Grassus hat aber durch einen Spitzel erfahren, daß sich Guiseppe per Helikopter nach Italien absetzen wollte. Er verständigte

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seinen Chef. Dieser organisierte nun folgendes: Der Pilot des Hubschraubers war einer seiner Männer, der Anweisung hatte, Castelli nach Innsbruck zurückzubringen. Der Spion scheint das durchschaut zu haben. Er zwang den Piloten mit vorgehaltener Pistole, über dem Hahnenkamm tief herunterzugehen. Dann sprang er einfach ab . . .“

„Moment“, unterbrach Herr Schroll, „an diesem Tag war doch das Schneegestöber. Wieso konnte der Hubschrauber da überhaupt starten?“

Tilly hatte dafür zwei Erklärungen: „Erstens hat es zu Beginn des Fluges noch nicht so stark geschneit. Und zweitens mußte dieser Castelli unbedingt überwältigt werden. Daher riskierte der Pilot auch den Flug im Schneetreiben. Das hätte er unter normalen Umständen nie getan!“

„Naja, Guiseppe ist jedenfalls direkt neben die ein­fältige Amerikanerin gefallen, mit der Sepp an diesem Tag unterwegs war“, setzte Lilo fort. „Guiseppe hat einen weiten Fallschirmspringer-Anzug getragen, und in dem hat ihn die Lady aus Amerika für ein Schneemonster gehalten. Der Sepp ist später zurückgegangen und hat nachschauen wollen, was eigentlich los war. Dabei hat er den verletzten Agenten im Schnee gefunden und mitgenommen. Er hat ihn bei sich wohnen lassen und als seinen Bruder ausgegeben, damit ihm keiner auf die Spur kommt. Natürlich gegen hohe Bezahlung. Der Sepp leidet ständig unter Geldnot, da er hohe Spielschulden hat. Angeblich ist er einige Male auf sehr brutale Weise daran erinnert worden, daß die nächsten Raten fällig waren.“

Herr Schroll konnte das alles kaum glauben. „Aber

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wieso ist dieses ‚Schneemonster’ dann noch öfter auf­getaucht?“ wollte er wissen.

„Weil Guiseppe beim Absprung den Mikrofilm ver­loren hat“, erklärte Axel. „Er hat ihn im Mund unter der Zunge versteckt gehabt. Falls er von seinen Feinden erwischt und durchsucht worden wäre, hätte er die kleine Kapsel einfach geschluckt. Schlau, nicht wahr?“

Und dann erzählte Lilo weiter: „Sepp hat sich in den Kopf gesetzt, den Film zu finden,

obwohl es ein äußerst aussichtsloses Unternehmen war. Aber er wußte, daß der Mikrofilm viel Geld bedeutete, und davon hätte er zu gerne ein bißchen gehabt. Damit er von niemandem bemerkt und für verrückt gehalten wurde, hat Sepp zu dem Trick mit dem Fallschirmspringer-Anzug gegriffen. Außerdem hat er einen Sturzhelm mit eingebautem Mini-Scheinwerfer auf dem Kopf getragen. Er selbst hat die Gerüchte um das Schneemonster nur verstärkt. Er wollte damit die Leute vom Steilhang fernhalten. So konnte er in Ruhe suchen und lästige, unerwünschte Beobachter in die Flucht schlagen.“

Frau Schroll hatte auch noch eine Frage; „Aber was war mit euren Lederhosen? Wieso wurden die gestohlen?“

Tilly lachte. „Ganz einfach; Dr. Grassus hat vermutet, daß sich der Spion verletzt hatte. Der Pilot war nämlich bei seinem Absprung höher gegangen. Dadurch ist Castelli tief gefallen. Dr. Grassus hat nun folgende Überlegung angestellt: Guiseppe befindet sich ziemlich sicher in Kitzbühel. Ich werde ihn dort halten und ihm eine Falle stellen. Er hat von den Kollegen seines Spionageringes das Gerücht in die Welt setzen lassen, es gäbe noch einen zweiten Mikrofilm mit weiteren Plänen. Dieser zweite

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Mikrofilm sollte in unseren Lederhosen versteckt nach Kitzbühel geschickt und dort von einem anderen Agenten übernommen werden. So wollte der Mops Guiseppe aus seinem Versteck locken. Er sollte sich zu erkennen geben, damit ihn Dr. Grassus schnappen konnte. Allerdings hat die Besorgung der Lederhosen nicht Guiseppe, sondern der falsche Pianist Arno Arretitz übernommen — ein Komplize des Agenten. Sein richtiger Name lautet übrigens Carlo Carbani“, erläuterte Lilo.

Ein Mann betrat den Speisesaal und kam zum Tisch der Knickerbocker-Bande, Tilly erkannte ihn als einen der Kriminalbeamten.

„Entschuldigen Sie bitte die Störung. Doch wir haben gestern nacht das Wichtigste vergessen: die Kapsel mit dem Mikrofilm. Eines der Kinder hat sie doch angeblich gefunden.“

„Ich war das!“ rief Poppi. „Wenn ich jetzt die ganze Geschichte höre, dann war

das wirklich der Zufall der Zufälle!“ lachte Tilly. „Aber wo ist der Film jetzt?“ wollte der Kriminal­

beamte wissen. Poppi grinste verschmitzt über das ganze Gesicht. „Die

Gauner hätten sie nie gefunden. Nie im Leben.“ Sie setzte den schnurrenden Rosso, der die ganze Zeit auf ihrem Schoß gelegen hatte, auf den Tisch. Vorsichtig nahm sie sein Halsband ab, an dem die kleine Messingglocke hing. Der Kommissar schaute verdutzt, als sie ihm den Lederriemen überreichte.

„Der Mikrofilm . . .?“ „Werfen Sie einen Blick in die Glocke“, riet ihm Lilo.

Der Kriminalpolizist tat es, und nun lachte auch er. Poppi

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hatte die kleine Metallkapsel als Klöppel in das kaputte Glöckchen eingehängt.

„Dafür wirst du eine hohe Belohnung erhalten“, verriet ihr der Beamte. „Sie wurde von den Erben Professor Kagoris für die Wiederbeschaffung der Pläne ausgesetzt.“

„Die teilen wir uns aber“, meinte Poppi. „Klar, davon zahlen wir die Bahnreise nach Kitzbühel.

Wir wollen doch heuer einmal alle beim Hahnenkamm-Rennen dabei sein“, rief Axel.

„Unbedingt!“ meinten auch die übrigen Knicker­bocker-Banden-Mitglieder begeistert.

Tilly hob die Hand und bat um Ruhe. „Eines möchte ich aber gesagt haben: Ihr werdet das Rennen nur als Besucher verfolgen. Abgemacht?“

Lilo war mit diesem Vorschlag nicht ganz einver­standen. „Aber was ist, wenn der Favorit vergiftet wird? Oder der Pokal verschwindet? Oder . . .?“

„Ab heute sage ich nur noch Lilo Holmes zu dir!“ entschied Tilly und stimmte in das schallende Gelächter der anderen ein.

Für Lilo stand eines jedenfalls fest: Das war der erste Fall, den die Knickerbocker-Bande gelöst hatte. Aber sicher nicht der letzte!

Sie sollte recht behalten ...

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