5
Urologe 2012 · 51:862–866 DOI 10.1007/s00120-012-2849-y Online publiziert: 4. April 2012 © Springer-Verlag 2012 M.C. Bitschi · H.J. Winckelmann Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Universität Ulm, Ulm „Rassische Aufartung“  in Ravensburg "Der Staat hat, was irgendwie erblich krank und erblich belastet und damit weiter belas- tend ist, zeugungsunfähig zu erklären und dies praktisch auch durchzusetzen" [1]. Dieser Satz Adolf Hitlers steht auf Sei- te 447 von „Mein Kampf“, geschrieben während der Landsberger Festungshaft. Wenige Jahre später konnte der „Führer“ mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkran- ken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933 sei- ne programmatische Drohbotschaft in die politische Tat umsetzen. Zwischen 1934 und 1945 wurden etwa 350.000 Frauen und Männer innerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches von 1938 zwangswei- se unfruchtbar gemacht. An den Eingrif- fen starben etwa 5.500 Frauen und sechs- hundert Männer [2]. „Erbgesundheits- pflege“ nannte man das in der Sprache des Dritten Reiches. Der „rassenhygieni- schen Sonderbehandlung“ wurde zuge- führt, wer den „Mindestanforderungen der Volksgemeinschaft“ nicht genügte. Dies hatte eine lange Vorgeschichte. Aber bis 1933 gab es für Mediziner, Kri- minalbiologen, Psychiater oder Bevölke- rungswissenschaftler, die gegen die „Herr- schaft der Minderwertigen“ kämpften, keine gesetzlichen Grundlagen zur Ver- wirklichung ihrer „Vision einer völkischen Erneuerung“ [3]. Mit dem ersten Rassen- gesetz des Dritten Reiches aber wurde es möglich, „biologisch minderwertiges Erbgut“ auszuschalten und durch die Un- fruchtbarmachung eine allmähliche Rei- nigung des Volkskörpers und die Ausmer- zung von krankhaften Erbanlagen zu be- wirken (1933 Reichsgesetzblatt, S 529). Das Gesetz zur „Verhütung erbkranken Nachwuchses“ sah im § 1 eine Zwangsste- rilisation erbkranker Personen vor, die an „angeborenem Schwachsinn“, „Schizo- phrenie“, „manisch-depressivem Irresein“, „erblicher Fallsucht“, „Chorea Huntington“, „erblicher Blindheit“, „erblicher Taubheit“, „schwerer, erblicher, körperlicher Missbil- dung“ und an „schwerem Alkoholismus“ litten. In einer Gesetzesänderung vom 26. Juni 1935 wurden auch eugenisch und me- dizinisch indizierte Schwangerschaftsab- brüche gesetzlich geregelt. Laut einer wei- teren Gesetzesänderung im Februar 1936 waren neben operativen Methoden auch Bestrahlungen zur Sterilisation zulässig. Bei der Durchführung des Gesetzes arbeiteten Gesundheitsämter, Heil- und Pflegeanstalten und sog. „Erbgesund- heitsgerichte“ Hand in Hand. Dem Amts- arzt wurden als erbkrank geltende Patien- ten gemeldet, es folgte der Antrag auf Un- fruchtbarmachung bei dem zuständigen Erbgesundheitsgericht, von dem dann das Verfahren zur Sterilisation eröffnet wur- de. Die Erbgesundheitsgerichte waren mit nationalsozialistischen Juristen und Ärz- ten besetzt, die individuellen Belange der „Kranken“ wurden dabei im Kontext der Geschichte der Urologie Abb. 18 Ansicht vom Spitalhof, links das ehemalige Pfründner Haus, rechts  das Hauptgebäude des Spitals Redaktion F. Moll, Köln  D. Schultheiss, Gießen Abb. 28 Frontalansicht des Heilig-Geist-Spitals 862 | Der Urologe 6 · 2012

„Rassische Aufartung“ in Ravensburg; “Racial improvement” in Ravensburg;

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Page 1: „Rassische Aufartung“ in Ravensburg; “Racial improvement” in Ravensburg;

Urologe 2012 · 51:862–866DOI 10.1007/s00120-012-2849-yOnline publiziert: 4. April 2012© Springer-Verlag 2012

M.C. Bitschi · H.J. WinckelmannInstitut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Universität Ulm, Ulm

„Rassische Aufartung“ in Ravensburg

"Der Staat hat, was irgendwie erblich krank und erblich belastet und damit weiter belas-tend ist, zeugungsunfähig zu erklären und dies praktisch auch durchzusetzen" [1].

Dieser Satz Adolf Hitlers steht auf Sei-te 447 von „Mein Kampf “, geschrieben während der Landsberger Festungshaft. Wenige Jahre später konnte der „Führer“ mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkran-ken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933 sei-ne programmatische Drohbotschaft in die politische Tat umsetzen. Zwischen 1934 und 1945 wurden etwa 350.000 Frauen und Männer innerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches von 1938 zwangswei-se unfruchtbar gemacht. An den Eingrif-fen starben etwa 5.500 Frauen und sechs-hundert Männer [2]. „Erbgesundheits-pflege“ nannte man das in der Sprache des Dritten Reiches. Der „rassenhygieni-schen Sonderbehandlung“ wurde zuge-

führt, wer den „Mindestanforderungen der Volksgemeinschaft“ nicht genügte.

Dies hatte eine lange Vorgeschichte. Aber bis 1933 gab es für Mediziner, Kri-minalbiologen, Psychiater oder Bevölke-rungswissenschaftler, die gegen die „Herr-schaft der Minderwertigen“ kämpften, keine gesetzlichen Grundlagen zur Ver-wirklichung ihrer „Vision einer völkischen Erneuerung“ [3]. Mit dem ersten Rassen-gesetz des Dritten Reiches aber wurde es möglich, „biologisch minderwertiges Erbgut“ auszuschalten und durch die Un-fruchtbarmachung eine allmähliche Rei-nigung des Volkskörpers und die Ausmer-zung von krankhaften Erbanlagen zu be-wirken (1933 Reichsgesetzblatt, S 529).

Das Gesetz zur „Verhütung erbkranken Nachwuchses“ sah im § 1 eine Zwangsste-rilisation erbkranker Personen vor, die an

„angeborenem Schwachsinn“, „Schizo-phrenie“, „manisch-depressivem Irresein“,

„erblicher Fallsucht“, „Chorea Huntington“,

„erblicher Blindheit“, „erblicher Taubheit“, „schwerer, erblicher, körperlicher Missbil-dung“ und an „schwerem Alkoholismus“ litten. In einer Gesetzesänderung vom 26. Juni 1935 wurden auch eugenisch und me-dizinisch indizierte Schwangerschaftsab-brüche gesetzlich geregelt. Laut einer wei-teren Gesetzesänderung im Februar 1936 waren neben operativen Methoden auch Bestrahlungen zur Sterilisation zulässig.

Bei der Durchführung des Gesetzes arbeiteten Gesundheitsämter, Heil- und Pflegeanstalten und sog. „Erbgesund-heitsgerichte“ Hand in Hand. Dem Amts-arzt wurden als erbkrank geltende Patien-ten gemeldet, es folgte der Antrag auf Un-fruchtbarmachung bei dem zuständigen Erbgesundheitsgericht, von dem dann das Verfahren zur Sterilisation eröffnet wur-de. Die Erbgesundheitsgerichte waren mit nationalsozialistischen Juristen und Ärz-ten besetzt, die individuellen Belange der

„Kranken“ wurden dabei im Kontext der

Geschichte der Urologie

Abb. 1 8 Ansicht vom Spitalhof, links das ehemalige Pfründner Haus, rechts das Hauptgebäude des Spitals

RedaktionF. Moll, Köln D. Schultheiss, Gießen

Abb. 2 8 Frontalansicht des Heilig-Geist-Spitals

862 |  Der Urologe 6 · 2012

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„Volksgemeinschaftsideologie“ des NS-Re-gimes nicht hoch veranschlagt, der „Geist“ der NS-Zeit trieb die meisten Gutachter zu Aktionismus.

Die vorliegenden Standardwerke [4, 5] und Detailstudien [6] zur Zwangssterili-sation in Deutschland legen den Schwer-punkt auf die juristischen Grundlagen, die Indikationsstellung und die Rolle der Ärzte und Psychiater. Eine neuere Unter-suchung von Matthis Krischel und Fried-rich Moll [7] beschäftigt sich mit den eigentlichen Operationen und ihren Fol-gen. Nachdem die Autorinnen Bock [5] und Ley [4] den Grundstein der Erfor-schung der Zwangssterilisation im „Drit-ten Reich“ gelegt haben, sind verschiede-ne Regionalstudien erschienen, in denen die unterschiedliche Umsetzung des „Ge-setzes zur Verhütung erbkranken Nach-wuchses“ etwa in städtischen und ländli-chen, evangelischen und katholischen so-wie stärker oder weniger stark national-sozialistisch geprägten Gegenden aufge-zeigt wurde [8]. Die in dieser Arbeit vor-gestellte Ravensburger Regionalstudie hat das Ziel die Umsetzung des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in einer Kleinstadt im ländlichen Umfeld zu erforschen.1 Hierbei wird versucht, die In-dikationen für den Eingriff, die handeln-den Personen, sowie die angewandten Operationsmethoden aufzuzeigen [9].

Vornahme von Sterilisationen 1934–1938

Nach Inkrafttreten des „Gesetzes zur Ver-hütung erbkranken Nachwuchses“ am 1. Januar 1934 erfolgten auch am Städtischen Krankenhaus-Heilig-Geist-Spital in Ra-vensburg ab April 1934 die ersten Sterilisa-tionen (. Abb. 1, 2; StR B.2 B Kostdiarien des Städtischen Krankenhauses der Jahre 1934–1938). . Tab. 1 veranschaulicht die im Städtischen Krankenhaus durchge-führten Sterilisationen im Zeitraum April 1934 bis März 1938. Als Quellengrundla-ge dienten die Kostdiarien des Städtischen Krankenhauses der Jahre 1934–1938. Eine weiterführende Untersuchung über den

1   Am 17.05.1939 betrug die Einwohnerzahl des Oberamtes bzw. Landkreises Ravensburg 76.379 Personen.

Tab. 1  Sterilisationen am Städtischen Krankenhaus in den Jahren 1934–1938

  Überwiesene Personen (n) Im Städtischen Krankenhaus sterilisierte Personen (n)

Monat Heilan-stalt Weis-senau

Gertrudis-heim Rosenharz

Taubstummen- anstalt  Wilhelmsdorf

W M Total

1934  

April – – – 1 1 2

Mai 1 – – 1 2 3

Juni – – – 1 – 1

Juli 4 – – – 8 8

August 3 – – 2 1 3

September 1 – 1 2 1 3

Oktober 4 – – 7 1 8

November 6 – – 7 6 13

Dezember 5 – – 8 8 16

1935  

Januar 6 – 2 8 5 13

Februar 2 – – 3 2 5

März 2 1 – 3 5 8

April 1 – – 1 1 2

Mai 7 – – 7 1 8

Juni 1 1 – 4 3 7

Juli 3 2 – 9 1 10

August 3 – – 5 – 5

September 5 – – 5 – 5

Oktober 3 – – 3 – 3

November 5 – – 6 1 7

Dezember 2 7 – 5 8 13

1936  

Januar 2 1 – 3 4 7

Februar 3 – – 2 2 4

März 3 – 1 6 3 9

April 3 – – 4 4 8

Mai 2 5 – 17 13 30

Juni 3 6 1 7 5 12

Juli 3 8 – 11 12 23

August 1 2 2 3 8 11

September – 3 – 3 4 7

Oktober 2 – – 4 1 5

November – – – 1 5 6

Dezember 2 10 – 12 8 20

1937  

Januar – 3 – 5 3 8

Februar 3 1 4 5 6 11

März 2 3 – 6 2 8

April 3 5 – 11 4 15

Mai 2 5 – 6 3 9

Juni 1 – – 1 2 3

Juli – – – – 2 2

August 2 6 – 10 1 11

September – – – 1 5 6

Oktober – – – – – –

November 3 – – 3 2 5Fortsetzung auf S. 864

863Der Urologe 6 · 2012  | 

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Monat März 1938 hinaus war aufgrund fehlender Quellen nicht möglich.

Von April 1934 bis März 1938 konnten für das Städtische Krankenhaus insgesamt 389 Sterilisationen nachgewiesen werden. Im Mai 1936 war der Anteil der stationär aufgenommenen Personen, die sterilisiert werden sollten, im Vergleich zu den üb-rigen Einweisungen besonders hoch. Von den insgesamt 150 stationär aufgenom-menen Patienten betrug der Anteil der zu sterilisierenden Patienten 20% (30 Per-sonen). Die Vornahme von Sterilisatio-nen war somit der häufigste chirurgische Eingriff im Städtischen Krankenhaus2 (. Tab. 2).

2  StR A I Bü 3652 L 89.

Bemerkenswert ist der hohe Anteil an Überweisungen der Heilanstalt Weisse-nau, dem Gertrudisheim und der Taub-stummenanstalt Wilhelmsdorf an das Städtische Krankenhaus. Dieser betrug insgesamt 51,9%. Aus diesen Anstalten wurden vorwiegend Personen überwiesen, die als „Schizophrene“ und „Schwachsin-nige“ diagnostiziert worden waren. Dabei muss jedoch bedacht werden, dass bereits im Deutschland der 1930er Jahre die Dia-gnose dieser beiden Krankheitsbilder von vielen Psychiatern als zu breit kritisiert wurde. In der Alltagspraxis waren Zuge-hörigkeit zu einer sozialen Schicht und wirtschaftliche (Un-)Abhängigkeit eben-so wichtige Faktoren wie die ärztliche Be-urteilung [5].

Zusammenfassung · Abstract

Urologe 2012 · 51:862–866DOI 10.1007/s00120-012-2849-y© Springer-Verlag 2012

M.C. Bitschi · H.J. Winckelmann

„Rassische Aufartung“ in Ravensburg

ZusammenfassungNach Inkrafttreten des Gesetzes zur Verhü-tung erbkranken Nachwuchses am 1. Janu-ar 1934 wurden die ersten erzwungenen Ste-rilisationen am Städtischen Krankenhaus Ra-vensburg (Heilig-Geist-Spital) durchgeführt. Zwischen April 1934 und März 1938 erfolg-ten 389 Sterilisationseingriffe. Für die folgen-den Jahre sind keine Daten verfügbar, aber es ist anzunehmen, dass die Gesamtzahl deut-lich höher liegt. Betroffene Patienten wurden von der Heilanstalt Weissenau, dem Gertru-disheim und der Taubstummenanstalt Wil-helmsdorf an das Städtische Krankenhaus überwiesen. Nur in etwa der Hälfte der Fälle wurde der Sterilisationsgrund angegeben. Zu den Hauptgründen gehörten: Schwachsinn (57%), Schizophrenie (23%) und Epilepsie (6%). Dies war ähnlich wie bei den für ganz Deutschland publizierten Gesamtdaten.

SchlüsselwörterRassische Aufartung · Deutsches Reich ·  Drittes Reich · Sterilisation

“Racial improvement” in Ravensburg

AbstractAfter implementation of the Law for the Pre-vention of Progeny with Hereditary Diseas-es on 1 January 1934 the first enforced ster-ilizations were undertaken at the Städtische Krankenhaus-Heilig-Geist-Spital in Ravens-burg. Between April 1934 and March 1938, 389 sterilization operations were performed. For later years no data is available, but it can be assumed that the total number is signifi-cantly greater. Patients affected were trans-ferred to the Städtische Krankenhaus by the Psychiatric Clinic Weissenau, Gertrudisheim, and the Clinic for Deaf and Dumb in Wil-helmsdorf. In only about half of the cases was the rationale for the sterilization program stated. The main reasons included: mental ill-ness (57%), schizophrenia (23%), and epilep-sy (6%). This was similar to the total data pub-lished for all of Germany.

KeywordsRacial improvement · German Reich · Third Reich · Sterilization

Tab. 1  Sterilisationen am Städtischen Krankenhaus in den Jahren 1934–1938 (Fortsetzung)  Überwiesene Personen (n) Im Städtischen Krankenhaus 

sterilisierte Personen (n)

Monat Heilan-stalt Weis-senau

Gertrudis-heim  Rosenharz

Taubstummen- anstalt  Wilhelmsdorf

W M Total

Dezember – 4 – 3 2 5

1938  

Januar 1 2 – 4 3 7

Februar 1 – 2 3 1 4

März – 8 – 2 8 10

Total 106 83 13 221 168 389W weiblich, M männlich

Tab. 2  Ursachen (Insgesamt: n=150) für die stationäre Aufnahme von Patienten im Mai 1936 (StR B.2 B Kostdiarium von 1936)

Ursachen n Ursachen n

Lungenleiden 7 Gonorrhö 1

Magenleiden 8 Venenentzündung 1

Herzleiden 4 Abszesse, Karbunkel, Phlegmonen 4

Gallenblasenentzündung 4 Abortus 1

Adenoide 16 Phimose 1

Tonsillitis 6 Hyperazidität 1

Gelenkrheumatismus 4 Gasvergiftung 1

Appendizitis 7 Zellgewebeentzündungen 3

Quetschungen 4 Sterilisationen 30

Augenleiden 4 Nierenleiden 2

Stomatitis ulcerosa 1 Darmleiden 2

Grippe 1 Zur Beobachtung 2

Carcinoma 2 Stich-, Schnitt- und Platzwunden 4

Masern 1 Verätzung 1

Frakturen 4 Deviatio septi 1

Nagelbettentzündungen 2 Kieferhöhlenentzündung 1

Adnexaerkrankung 3 Tetanus 1

Stenosierendes Struma 1 Entbindungen 14

864 |  Der Urologe 6 · 2012

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Eine Aufschlüsselung in männliche und weibliche Personen ergab ein pro-zentuales Verhältnis von 43,2% zu 56,8%. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer betrug für Frauen 14,7 und für Männer 9,6 Tage. Die längere Aufenthaltsdauer der Frauen lässt sich auf eine erhöhte Komplikationsrate während und nach dem operativen Eingriff zurückführen.

Sterilisationsgründe

Bei der Durchsicht der Kostdiarien der Jahre 1934–1938 konnten lediglich in 210 von 389 (54%) Fällen der Sterilisations-grund ermittelt werden. . Abb. 3  ver-deutlicht die Verteilung.

Zu den häufigsten Sterilisationsgrün-den zählten „Schwachsinn“ (56,7%),

„Schizophrenie“ (23,3%) und „erbliche Fallsucht“ (6,2%). Die prozentualen An-teile entsprechen etwa denen der Steri-

lisationen im Reichsdurchschnitt. Bock gibt diese mit 53–60% bei „angeborenen Schwachsinn“, mit 20% bei „Schizophre-nie“ und mit 12% bei „erblicher Fallsucht“ an [5].

Von den aufgrund von Schwachsinn in das Städtische Krankenhaus aufgenom-menen Personen (n=119) stammten 50 (42%) aus dem Gertrudisheim, 10 (8,4%) aus der Taubstummenanstalt Wilhelms-dorf und eine (0,8%) aus der Heilanstalt Weissenau. Der Anteil dieser drei Anstal-ten an den Überweisungen der Diagnose Schwachsinn betrug somit 51%.

Schizophrene Patienten (gesamt n=49) wurden in 39 Fällen und Patienten, bei denen ein zirkuläres Irresein (gesamt n=5) diagnostiziert wurde in vier Fäl-len aus der Heilanstalt Weissenau über-wiesen. Bei den Patienten des Gertrudis-heims handelte es sich vorwiegend um Ju-gendliche. Das Durchschnittsalter lag bei 17,2 Jahren, wobei die jüngste Patientin 13 und der jüngste Patient 12 Jahre alt waren.

Sterilisationsmethode und Durchführung

Aufgrund der ungenügenden Quellen-nachweise konnten die zur Sterilisation angewandten Operationsverfahren nicht ermittelt werden. Es ist davon auszuge-hen, dass die Sterilisationen bei Männern aufgrund der Empfehlungen von Lexer [10] bzw. nach dem von Hans Boeming-haus und Hans Naujoks 1934 [11] in ihrem Lehrbuch zur Sterilisation und Kastration beschriebenen Verfahren durch Vasore-sektion erfolgten.

Als das leistungsfähigste und mit der geringsten Mortalität belastete Verfah-ren der Dauersterilisation bei Frauen galt zu jener Zeit die Tubenquetschung nach Madlener. Dabei wurde mit einer ei-gens dafür konstruierten Quetschklem-me eine 2–3 cm breite Tubenschleife breit gequetscht und anschließend fest ligiert. Durch die Quetschung und Ligierung trat eine völlige Verödung des Tubenlu-

Abb. 4 8 Erlass des Bischöflichen Ordinariats Rottenburg vom 3. August 1934

1 1 1 1 1 4 55

10

13

49

119

SchwachsinnEpilepsieOligophrenieSchwere erbliche körperlicheMissbildungGemütsleidenManisch depressives Irresein

Schizophrenie

Erbliche Taubheit

Zirkuläres Irresein

Erbliche Blindheit

Katatonie

Schwerer Alkoholismus

Abb. 3 8 Gründe für die Vornahme von Sterilisationen (StR B.2 B Kostdia-rien des Städtischen Krankenhauses der Jahre 1934–1938)

865Der Urologe 6 · 2012  | 

Page 5: „Rassische Aufartung“ in Ravensburg; “Racial improvement” in Ravensburg;

mens ein, das durch Bindegewebe ersetzt wurde. Höchstwahrscheinlich wurde die-se Operationsmethode auch im Städti-schen Krankenhaus angewandt. Da auch einige Sterilisationen an Frauen >38 Jah-ren durchgeführt wurden, ist nicht auszu-schließen, dass auch Röntgensterilisie-rungen vorgenommen wurden [12].

Die Sterilisationen im Städtischen Krankenhaus wurden nachweislich von Dr. Arthur Kutter und bis zu seiner Ent-lassung im Januar 1935 auch von Dr. Al-fons Wörz vorgenommen. Außerdem wurde Frau Dr. Bertha Essig als Assis-tenzärztin zu diesen Operationen hinzu-gezogen.3, 4

Nachdem die Fuldaer Bischofskon-ferenz im Juni 1934 jegliche Mitwirkung der Barmherzigen Schwestern bei der Vornahme von Sterilisationen abgelehnt hatte, kam es zu einem Mangel an Ope-rationshilfsschwestern (. Abb. 4). Aus diesem Grund wurde am 28. August 1934 die Einstellung einer weltlichen Schwes-ter mit Operationserfahrung beschlossen.5

Am 1. November 1934 konnte schließ-lich ersatzweise eine Operations-, Narko-se- und Röntgenschwester vom Mutter-haus der Charlottenschwestern des Ro-ten Kreuzes ihre Tätigkeit im Städtischen Krankenhaus aufnehmen.6 Aufgrund von personellen Engpässen wurde die Rot-kreuzschwester allerdings zum 31. Mai 1936 vom Mutterhaus wieder abberufen.7 Nachdem der Versuch, eine NS-Schwes-ter als Narkoseschwester für Unfrucht-barmachungen zu gewinnen, von Vertre-tern der Nationalsozialistischen Volks-wohlfahrt abgelehnt wurde, waren seit Ju-ni 1936 zwei Hebammen als Operations-hilfen im Städtischen Krankenhaus tätig.8

Fazit für die Praxis

Die erste rassenpolitische Maßnahme der Regierung Hitler war das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933. Auf dessen Basis konn-ten Erbgesundheitsgerichte Zwangsste-

3  StR A I Bü 3655 L 42.4  StR A I Bü 3652 L 89.5  StR A I Bü 3652.6  StR A I Bü 3652 L 7.7  StR A I Bü 3652 L 24.8  StR A I Bü 3652 L 19 u. 22.

rilisationen anordnen. Laut Kommentar zum „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ wurden bei staatlichen wie kommunalen Kranken-, Heil- und Pflegeanstalten gefordert, „dass sie über eine ausreichende chirurgische Einrich-tung und einen chirurgisch geschulten Arzt verfügen“ [13]. Diese Voraussetzun-gen waren für das Städtische Kranken-haus Ravensburg gegeben. Wie zahlrei-che andere Krankenhäuser wurde es im Dritten Reich zum Instrument der Ras-senhygiene. Im Zeitraum von April 1934 bis März 1938 wurden in Ravensburg 221 Frauen und 168 Männer zwangsste-rilisiert.Die Sterilisationsoperationen wurden von Dr. Arthur Kutter, Dr. Alfons Wörz und Dr. Bertha Essig vorgenommen. In den Entnazifizierungsdokumenten wer-den Dr. Kutter als Facharzt für Chirurgie, Dr. Wörz und Frau Dr. Essig als Praktische Ärzte geführt.9, 10, 11 Dr. Kutter wurde von der Spruchkammer als „belastet“ einge-stuft und zu einer Geldsühne von 2500 RM verurteilt. Gegen sein Verbleiben im Amt wurden keine Einwände erhoben. Dr. Wörz und Dr. Essig wurden als „unbe-lastet“ eingestuft.

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Dr. H.J. WinckelmannInstitut für Geschichte,  Theorie und Ethik der Medizin,  Universität Ulm,Frauensteige 6, 89075 [email protected]

Interessenkonflikt.  Der korrespondierende Autor gibt für sich und seinen Koautor an, dass kein Interes-senkonflikt besteht.

Literatur

  1.  Hitler A (1935) Mein Kampf, 135. Aufl. Eher, Mün-chen, S 447

9   Staatsarchiv Sigmaringen: Entnazifizierungs-dokumente

10  Staatsarchiv Sigmaringen, Wü 13, T2, Nr. 1499 (A29/V/1030); Wü13 T2, Nr. 1499 (A29/V/1036); Wü 13, T2, Nr. 1499 (A29/V/1020).

11  Stadtarchiv Ravensburg: Akten über den inter-nen Betrieb des Städtischen Krankenhau-ses. Akten über das Personalwesen am Städti-schen Krankenhaus.

  2.  Möller H, Wengst U (Hrsg) (2003) Einführung in die Zeitgeschichte. Beck, München, S 142

  3.  Wehler HU (2003) Deutsche Gesellschaftsge-schichte. Vom Beginn des 1. Weltkriegs bis zur Gründung der beiden Deutschen Staaten, 1914–1949, 4. Bd. Beck, München, S 664 ff

  4.  Ley A (2004) Zwangssterilisation und Ärzteschaft. Campus, Frankfurt/M

  5.  Bock G (2010) Zwangssterilisation im National-sozialismus; Studien zur Rassenpolitik und Frau-enpolitik. Monsenstein und Vannerdat, Münster, S 208–301

  6.  Schmuhl H-W (2011) Zwangssterilisation. In: Jüt-te R (Hrsg) Medizin und Nationalsozialismus. Wall-stein, Göttingen, S 201 ff

  7.  Krischel M, Moll F et al (2011) Forschung zur und Praxis der Sterilisation und Kastration von Män-nern im Nationalsozialismus. In: Urologen im Na-tionalsozialismus. Hentrich & Hentrich, Berlin, S 203 ff

  8.  Endres S (2010) Zwangssterilisation in Köln 1934-1945. Emons, Köln, S 14–18

  9.  Bitschi MC (2005) Das Heilig-Geist-Spital zu Ra-vensburg – vom Armenhospital zum Krankenhaus 

– (1845–1945). Medizinische Dissertation, Universi-tät Ulm

10.  Lexer E (1936) Die Eingriffe zur Unfruchtbarma-chung des Mannes und zur Entmannung. In: Kom-mentar zum „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, 2. Aufl. JF Lehmanns, München, S 319

11.  Krischel M (2010) Hans Boeminghaus und die uro-logische Sterilisationsforschung. Urol Nachr 10:14–15

12.  Stoeckel W (1941) Lehrbuch der Gynäkologie, 8. Aufl. Hirzel, Leipzig, S 664, 670–673

13.  (o A) (1934) Kommentar zum „Gesetz zur Verhü-tung erbkranken Nachwuchses“. JF Lehmanns, München, S 159–160

866 |  Der Urologe 6 · 2012

Geschichte der Urologie