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Raumbild und Fallgeffihl im Fluge. Von Dr. reed. Friedrich Noltenius, Bremen. Mit 1 Abbildung. Im Ausgange des vorigen und Beginn des j etzigen Jahrhunderts hat sich unsere Erkenntnis fiber das Zustandekommen des Raumbildes auBerordentlich erweitert. Das ist wohl vornehmlich der Entdeckung des ,,sechsten Sinnes", des Raumsinnes, im Vestibularapparat zu ver- danken. Dadurch wurden die Forscher zu einer Unmenge eingehender Untersuchnngen angeregt. Trotzdem sind unsere Anschauungen auf diesem Gebiete noch keineswegs gekl~irt. Die VerhSltnisse sind der- mal3en kompliziert, undes spielen so viele Sinnesgebiete hinein, dab zurzeit sich die Bedeutung der einzelnen Faktoren noch nicht einwand- frei absch~itzen l~iBt. Und doeh beanspruchen gerade diese Fragen heute ein h6heres Interesse den, n je, weil wit uns im vergangenen Jahrzehnt gewisser- maBen die dritte Dimension erobert haben. Die neuartigen VerhSlt- nisse des Fliegens setzen unseren K6rper vielfach in seither giinzlich ungewohnte, ja unbekannte Beziehungen zur Schwerkraft und zum Raume. ich m6chte nun in den kommenden Zeilen fiber einige Beobach- tungen aus meiner Fliegerzeit beriehten und deren Einfiigen in die herrschenden Theorien bzw. ihre Deutung versuchen. Ich habe diese Beobachtungen gewissermal3en im Vorbeigehen gemacht, ohne ein bestimmtes Ziel vor Augen. Ic5 merkte mir, was mir auffiel und erst erheblich spiiter ging ich daran, die Fragen zu bearbeiten. Inwieweit. die Beobachtungen auf rein subjektiven Empfindungen beruhen, das lasse ich dahingestellt. Eine Priifung ist Iiir reich natiirlich in abseh- barer Zeit ausgeschlossen. Die vorliegende Arbeit handelt naturgemiil3 nicht allein vom OhrapparaL sondern yon allen Sinnesorganen, soweit sie bei der Er- stehung des Raumbildes mitwirken. Ich babe sie in der Fachzeitschrift der Ohrenheilkunde erscheinen lassen, weil ich glaube, dab sie ffir den Otologen manches Interessante bringt und weil diese sich von jeher am meisten mit vielen der angeschnittenen Probleme beschiiftigt haben. Mit ein paar Worten fiber meine Fliegerzeit muB ich beginnen. Ich bin Flugzeugffihrer und wurde in B6blingen ausgebildet. Im ganzen

Raumbild und Fallgefühl im Fluge

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Raumbild und Fallgeffihl im Fluge. Von Dr. reed. Friedrich Noltenius, Bremen.

Mit 1 Abbildung.

Im Ausgange des vorigen und Beginn des j etzigen Jahrhunderts hat sich unsere Erkenntnis fiber das Zustandekommen des Raumbildes auBerordentlich erweitert. Das ist wohl vornehmlich der Entdeckung des ,,sechsten Sinnes", des Raumsinnes, im Vestibularapparat zu ver- danken. Dadurch wurden die Forscher zu einer Unmenge eingehender Untersuchnngen angeregt. Trotzdem sind unsere Anschauungen auf diesem Gebiete noch keineswegs gekl~irt. Die VerhSltnisse sind der- mal3en kompliziert, u n d e s spielen so viele Sinnesgebiete hinein, dab zurzeit sich die Bedeutung der einzelnen Faktoren noch nicht einwand- frei absch~itzen l~iBt.

Und doeh beanspruchen gerade diese Fragen heute ein h6heres Interesse den, n je, weil wit uns im vergangenen Jahrzehnt gewisser- maBen die dritte Dimension erobert haben. Die neuartigen VerhSlt- nisse des Fliegens setzen unseren K6rper vielfach in seither giinzlich ungewohnte, ja unbekannte Beziehungen zur Schwerkraft und zum Raume.

ich m6chte nun in den kommenden Zeilen fiber einige Beobach- tungen aus meiner Fliegerzeit beriehten und deren Einfiigen in die herrschenden Theorien bzw. ihre Deutung versuchen. Ich habe diese Beobachtungen gewissermal3en im Vorbeigehen gemacht, ohne ein bestimmtes Ziel vor Augen. Ic5 merkte mir, was mir auffiel und erst erheblich spiiter ging ich daran, die Fragen zu bearbeiten. Inwieweit. die Beobachtungen auf rein subjektiven Empfindungen beruhen, das lasse ich dahingestellt. Eine Priifung ist Iiir reich natiirlich in abseh- barer Zeit ausgeschlossen.

Die vorliegende Arbeit handelt naturgemiil3 nicht allein vom OhrapparaL sondern yon allen Sinnesorganen, soweit sie bei der Er- stehung des Raumbildes mitwirken. Ich babe sie in der Fachzeitschrift der Ohrenheilkunde erscheinen lassen, weil ich glaube, dab sie ffir den Otologen manches Interessante bringt und weil diese sich von jeher am meisten mit vielen der angeschnittenen Probleme beschiiftigt haben.

Mit ein paar Worten fiber meine Fliegerzeit muB ich beginnen. Ich bin Flugzeugffihrer und wurde in B6blingen ausgebildet. Im ganzen

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108 PRIEDRICH NOLTENIUS,

bin ich 8 Monate geflogen, vom z. M~irz I918 bis 12. November I918 und habe in dieser Zeit etwa 500 Fltig 9 gemacht. An der Westfront flog ich vom Beginn des Juli an, nacheinander in zwei Jagdgeschwadern.

In der Heimat, bei der Ausbildung, bin ich alle gangbaren Typen geflogen, an der Front fast ausschlieBlich den Jagdeinsitzer, Fokker Doppeldecker D vii, mit 16o PS-Mercedesmotor und 185'PS-BMW.- Motor.

Eine kurze Besprechung der Technik des Fliegens scheint mir wesent- lich zu sein. Im Geradeausflug mit vollaufenden Motor hat das Flug- zeug etwa eine Geschwindigkeit yon 18o km pro Stunde. Diese Ge- schwindigkeit kann, fiber der Erde gemessen, durch Windstr6mungen ver~indert werden. Aber im Verh~iltnis zur umgebenden Luft hat das Flugzeug stets die gleiche Geschwindigkeit. Das ist auch vielen Fliegern selbst nicht gel~ufig. Also bin ich nicht imstande, fiber geschlossener Wolkendecke die Windrichtung anzugeben, da die Wolken dieselbe Trift haben. Durch Drosselung des Motors kann ich langsamer fliegen bis zu einer unteren Grenze von wechselnder Gr6Be, j e nach dem Fl~chen- inhalt der Tragfl~chen. Durch ,,Driicken" mit vollaufendem Motor, d. h. durch Abw~irtsfliegen kann ich die Geschwindigkeit bedeutend erh6hen, je nachdem, wie stark ich die Maschine beanspruchen dart.

Bei stark gedrosseltem Motor geht die Maschine im Gleitflug zur Erde nieder. Man rechnet praktisch das Verhiiltnis yon H6henverlust zu Flugstrecke tiber Land wie I : 7, d. h. bei IOOO m H6henverlust komme ich 7000 m wel t .

Der gew6hnliche Sturzflug ist ein besonders steiler Gleitflug, er l~tBt sich nut bis zu einer gewissen Neigung steigern, weft Tragfl~chen und Motor - - der Propeller wird durch die Luftstr6mung gedreht - - die Beanspruehung sonst nicht aushalten. Dieser Sturzflug geht in schr~ger Linie zum Boden.

Um senkrecht herunter zu kommen, kann man ,,trudeln"~ Dabei steht die Achse des Flugzeuges genau vertikal und die ganze Maschine dreht sich ziemlich schnell um diese Achse nach Art eines Linden- samens. Man sieht die Erde wie eine ungehetire Scheibe um einen festen Punkt rotieren. Die Geschwindigkeit wird durch diese Drehung sehr gehemmt, so dab sie erheblich hinter der Faltgeschwindigkeit zurtick bleibt.

Der Fokker-Doppeldecker ist so gl~nzend durchkonstruiert, dab er nicht trudelt. Durch besondere Technik land ich bei ihm einen Sturzflug heraus, der tier Fallgeschwindigkeit ziemlich nahe kam. Durch Schr~iglage der Flugzeugachse konnte ich eine ~'berbeanspruchung des Motors dabei vermeiden. Ich hatte reich dieser Technik sehr an- genommen, weil sie mir ftir Ballonangriffe wesentlich war: Die Maschine sttirzte dabei senkrecht zu Boden, ohne sich zu drehen. Als Geschwindig-

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keit maB ich etwa 360 km pro Stun&. (Der Geschwindigkeitsmesser reichte nur bis 25o km pro Stun&; dariiber hinaus ging der Zeiger in der zweiten Umdrehung bis 12o km pro Stunde.) Diese Zahl ist vielleicht noch nicht die h6chsterreichte; denn beim Ablesen der hohen Ziffer getraute ich reich nicht, den Sturz fortzusetzen (ich hatte sonst den Ge- schwindigkeitsmesser nicht an der Maschine). Ffir einen Sturzflug aus 4ooo m bis 60o m gebrauchte ieh nach Stoppuhr 4o Sekunden. Die theoretische Fallgeschwindigkeit, ohne Luftwiderstand, betr~igt in der- selben Zeit fund 8ooo m. Die erreichte Geschwindigkeit erscheint weniger phantastisch, wenn man bedenkt, daB der Weltrekord im Horizontalfluge schon 3oo km pro Stunde iibersteigt.

Der Kurvenflug erfordert eine Schr~igstellung der Maschine m i t Hilfe der Verwindung, um so mehr, ]e enger ich die Kurve fliege. Die ,,steilen" Kurven mit dem Jagdeinsitzer flog ich zumeist mit um etwa 9 ~ geneigter Maschine. In der richtig geflogenen Kurve muB die K6rper- achse des Fiihrers genau der Res~ltierenden ans Schwerkraft und Zentri- fugalbeschleunigung entsprechen. Im Jagdflugzeug fliegt man die sch~irfste Kurve auch gerne etwas fiberdreht, d. h. mit einer Neigung yon etwa IOO ~ gegen die Horizontale, um die Geschwindigkeitsumkehr zu erleichtern. Auch in dem Falle liegt die K6rperachse senkrecht zum Sitz. Das gleiche gilt vom Looping. Anf~ingern, die bei diesem Kunststfick zu starken und zu brfisken Schwung nehmen, kann es dabei passieren, dab der angeschraubte Sitz durch die starke Zentri- fugMkraft ein wenig nach unten nachgibt. Mir selbst ist das zweimal begegnet.

Liegt ein Flugzeug in der Kurve nicht schr~ig genug, so gleitet es nach auBen, es ,,schiebt". Liegt es zu steil, so rutscht es nach unten ab, bis es die richtige Schr~iglage erreicht hat.

Die O?ientierung fiber die Lage des Flugzeuges richtet sich nach der Horizontlinie. In IOOO m H6he schon gibt es, auBer den Streben, keine Vertikale; denn die H6henunterschiede der Erde, yon gr6Beren Bergen abgesehen, erscheinen in st~irkster Verkfirzung und der im Ver- gleich zur Entfernung verschwindend geringe Abstand der beiden Augen l~/13t kein stereoskopisches Sehei1 mehr z u .

E s waren verschiedene Beobachtungen, die reich dazu trieben, mich mit dem Problem des Raumbildes und den Gleiehgewichtsfragen zu befassen. Schon aus meiner Ausbildungszeit stammt die erste Wahr- nehmung, Ich machte es im Beginn wie jeder Anf~inger: sobald der Lehrer das Flugzeug zur Knrve schief legte, neigte ich reflexm~iBig den K6rper nach der entgegengesetzten Seite und sehr unangenehm empfand ich das Geffihl der Schieflage. Das ~inderte sich mit einem Schlage, als ieh auf den Rat eines ~ilteren Fliegers mich beim Hinein- gehen in die Kurve ganz an die Bordwand der Innenseite der Kurve

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I IO FRIEDRICH NOLTENIUS,

legte und dazu noch den Kopf um die Sagitalachse nach innen drehte. Alsbald verschwand das unangenehme Gefiihl der Schr~iglage und ich lernte es bald, mit Sicherheit die Kurve zu fliegen. Wenn ich dann sparer einmal tiber die ~iul3ere Bordwand sah, verlor ich noch lange Zeit hindurch alsbald in sanften Kurven das Gefiihl der sicheren Lage im Raume. Auch habe ich stets unstreitig das gr6gere Sicherheitsgeftihl in einer scharfen Kurve, als in einer flachen. Wie viel rein subjektives Empfinden hierbei mitspiett, das entzieht sich nattirlich meinem Urteil. Immerhin war die Beobachtung wiihrend der ersten Kurvenfltige der- artig zwingend, dab ich glaubte, dartiber nachdenken zu sollen.

Viel auffiilliger ist die bekannte Tatsache, dab nach kurzem Flug in den Wolken jedes Geftihl fiir die Lage des Flugzeuges verschwindet. Mail glaubt geradeaus zu fliegen und ist hoch erstaunt, beim Durch- stoBen der Nebel die Erde vfllig schief vor sich liegen zu sehen.

Hier bedarf es noch einiger Bemerkungen fiber den Flug in den Wolken. Die Wolken sind kondensierter Wasserdampf, hoch- liegende Nebel. Der Fliegerausdruck ,,Waschkiiche" ist sehr treffend. Man sieht ringsherum nichts als eine weil3graue Masse. Die Sonne scheint nicht hindurch. Bei vollaufendem Motor ist eine Erhaltung der L~ings- achse des Flugzeuges in ihrer Lage durch den Tourenz~ihler leicht m6g- lich, da eine geringe Senkung bzw. Hebung der Spitze sogleich die Geschwindigkeit und damit die Umdrehungszahl des Propellers be- einflul3t.

Um den Kurs zu halten, ist ein KompaB da. Allein da das Gefiihl fiir die Lage des K6rpers /iul3erst stumpf ist, dreht sich alsbald die Maschine um ihre Litngsachse nach rechts oder links, kommt unbemerkt in eine Kurve und der KompaB beginnt zu kreisen. Es kann nun sein, dab man entweder in einer steilen Kurve fliegend, aus den Wolken herauskommt, oder mit rechts oder links h~ingender Maschine. In beiden F~itlen ist man aber der Uberzeugung, in normaler, horizontaler Lage zu fliegen. Diese Neigungen haben bei mir sch~itzungsweise schon 6o 0 iiberschritten.

Ich Iragte reich nun, woher kommt diese T~uschung, die doch sonst bei genau gleicher Flugzeuglage im Kurvenflug nicht eintritt. Jedenfallskann ich S i e g f r i e d G a r . t e n nicht beipflichten, der auch in der normalen Kurve Laget~iusehungen beobachtet hat. Es ist aber mfglich, dab sie anfangs vorhanden sind, um naeh einer gewissen Ubung zu versehwinden. Ich hatte bei meinen ersten Fliigen viel zu viel mit der Masehine zu tun, als dab ich darauf geachtet hiitte.

Uber das Zustandekommen des Raumbildes ist so viel gearbeitet worden, dab ein kurzer Hinweis gentigt. Vielerlei Komponenten wirken mit an seiner Erstehung, voran der Gesichtssinn. Durch die Projektion des Bildes auf die Netzhaut entsteht noch keine Raumempfindung.

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R a u m b i l d u n d Faltgefflhl i m Fluge. I I I

Darum nehmen wir ffir jedes Netzhautelement neben seiner Licht- empfindlichkeit auch ein bestimmtes Lokalzeichen an, so zwar, dab bei aufrechter Kopfhaltung der rechte untere Netzhautsektor z. B. die Empfindung ,,links oben" vermittelt.

Diese Lokalzeichen sind aber nicht konstant. Sic wechseln bei jeder Bulbusdrehnng, bei jeder Kopf- und K6rperverlagerung; sic werden umgewerte~. Das ist besonders wichtig bei Drehungen des K6rpers um die Sagittalachse, weil wir j a sonst bei seitlich geneigtem Kopf die Empfindung einer schiefstehenden Welt haben mfigten. Also fiir die normale Raumempfindung sind neben den Lokalzeichen der Netzhaut die Innervationsgr6Ben der Augenmuskeln - - nicht die Spannungs- empfindungen, wie die Erscheinungen bei Paresen beweisen - - und Muskelspannungen sowie die Haut- und Tiefensensibilit~it des K6rpers erforderlich.

Sehr umstrit ten ist aber die Frage fiber die Mitwirkung des Vesti- butarapparates an der Erzeugung der Raumempfindung bzw. an der Empfindung der Vertikalen, wie bier die Fragestellung zumeist lautet. Eine Unzahl yon Versuchen ist bisher darfiber angestellt worden, ohne doch eine klare Antwort auf diese Frage zu geben.

Die Versuche gingen wohl s~imtlich aus von dem A u b e r t s c h e n Ph~inomen, welches besagt, dab eine vertikale Lichtlinie im sonst v611ig dunklen Raume bei Kopfneigung zur Schulter eine der Neigung ent- gegengesetzte scheinbare Drehung vollffihrt. Diese Empfindung ist konstant und durehaus zwingend. Aber die Ergebnisse sind sehr ver- schiedenartig, ,,so daB nur das begleitende Geffihl der Sicherheit sic bemerkenswert macht" ( A l e x a n d e r und B'~rAny). Auch S a c h s und Mel ler heben die groBe Bestimmtheit der Angaben hervor.

Es lag nahe, da diese Erscheinung sowohl bei Kopfneigung, wie bei Neigung des ganzen K6rpers mit fixiertem Kopf eintrat, den Stato- lithen-Apparat hierfiir verantwortlich zu machen. Das haben auch viele Autoren angenommen. Aber auf Grund ~iuBerst eingehender Versuche an Normalen und Taubstummen (Lit. i) kommen A l e x a n d e r und B~rAny zu dem Ergebnis, ,,dab sieh vorstellungsbildende Empfindungen des Statolithen-Apparates nicht nachweisen lassen", oder zumindest so geringffigig sind, dab sic gegeniiber den anderen Komponenten des Raumbildes keine Rolle spielen. Sic schliegen damit: ,,Es w~ire m6g- lich, dab dort, wo alle Empfindungen fiber die Orientierung unseres Xopfes und K6rpers schweigen mfissen, also in einer auf das Gewicht des menschliehen K6rpers abgestimmten Salzl6sung, der Statolithen- Apparat wenigstens eine grobe Orientierung fiber oben und unten er- m6glicht." Diese geringfiigige Einwirkung darf man wohl sicher an- nehmen. Die Mitteilungen von J a m e s fiber die v611ige Ratlosigkeit von Taubstummen, wenn sic mit dem Kopf unter Wasser geraten,

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I 12 F R I E D R I C H NOLTENIUS,

spricht zu sehr in diesem Sinne. A l e x a n d e r und B•rAny lehnen aber die Auffassung von Sachs und Meller , dab vom Statolithen- Apparat aus eine Umwertung der Netzhaut stattfinde, durchaus ab.

Ein kurzer Hinblick auf das Raumbild im Kurvenflug beweist die geringe Bedeutung der Statolithen fiir dessen Lagerung. In der steilen Kurve (9 o~ zieht die Schwere genau horizontal. Es wirken also beim Flieger dieselben Zugkr~fte au~ die K6rperachse, wie im normalen Geradeausflug, nut um 9 ~ gedreht. Folglich miiBte, wenn eine wesent- liche Einwirkung der Statolithen best~inde, der Horizontals senkreehte Linie erscheinen. Das ist sicherlich nicht der Fall und eine geringe Neigungsempfindung nach einer Seite, - - die ich pers6nlich nicht be- sitze, - - wiirde nichts besagen.

Da dr~ingt sich die Frage auf: wie ist es iiberhaupt denn m6glich, dab uns in der Kurve die normale Raumempfindung nicht gest6rt wird? Der mediane Netzhautmeridian steht ohne Rollung genau in der K6rperachse, wie sonst bei der aufrechten K6rperhaltung. Die Muskelspannungen entsprechen denen beim Aufrechtstehen, desgleichen die Sensibilit~it. Und trotzdem trit t eine Umwertung der Netzh~iute ein im gleichen Sinne, als wenn ich den Kopf stark zur Seite neigte. DarauI kann es nur eine Antwort geben: das U r t eil ist es, alas die richtige Raumempfindung aufrecht erhiilt, das gewaltsam in die rein gekuppelten Komplexe eingreift und sie mit unserer Erfahrung in Einklang bringt. Damit erhalten wir als vierten, unter Umst~inden dominierenden Faktor fiir die Erstehung des Raumbildes, das Urteil. Mit anderen Worten, das Urteil folgt dauernd der Lagever~nderung des K6rpers, beim geiibten Flieger im sch~irfsten Luftkampf, und wertet dauernd die Raumempfin- dungen urn. Nur in extremen Fiillen versagt diese Uberwachung, im Looping und im Riickenflug, Dann wird die Orientierung v611ig un- klar, die Empfindung des Oben und Unten verschwindet und kann nur kiinstlich unterhalten werden. Das zeigt sich besonders im Riicken- ling. Ich habe dreimal den u gemacht. Durch Drehung um die L~ingsachse des Flugzeuges fiber die rechten Tragfl~ichen warf ich die Maschine auf den Riicken und blieb einige Sekunden in dieser Lage (in etwa Iooo m H6he). Ich hatte dabei keineswegs das Gefiihl, mit dem Kopf nach unten zu h~ngen, ja als meine FiiBe der Schwere folgend, vom Seitensteuer abgeglittenl), kam es mir eher so vor, als gingen sie nach oben. Die Steuerausschl~ige wollte ich so geben, als fl6ge ich normal und mul3te mich dazu zwingen, die meinem Gefiihl nach falschen Bewegungen, wie ich sie mir vorher zurecht gelegt hatte, auszufiihren. Diese T~iuschung trat ein, obwohl ich doch tats~ichlich in den Anschnall- gurten hing und nicht, wie im Looping, gegen den Sitz gepreBt wurde.

1) ]3eugung im Hflftgetenk.

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Raumbi Id und FallgefiihI irn lquge. I 13

Diese auff~llige Erscheinung ist gleichwohl verst~indlich, wenn man bedenkt, dab beim normalen Menschen fiir diese Lage kaum irgendwelche Erinnerungsbilder und Assoziationen bestehen. Unser Erfahrungswissen haben wir zum iiberwiegenden Tell in der aufrechten KSrperhaltung gewonnen. Aueh die horizontale Lage ist uns noch ge- l~iufig, aber keineswegs die, mit dem K opf nach unten, zumal hoch oben in der Luft ohne die Gegenwart bekannter Objekte von bekannter Lage. Ein einfacher Versuch erhellt das klar. Ein Bueh auf den Kopf gestellt, k6nnen wir nur mtihsam entziffern, desgleichen ein aufrechtstehendes Buch, wenn wi res etwa zwischen den Beinen hindurch betrachten.

DaB es sieh hierbei tats~ichlich nur um einen Mangel an Erfahrungs- wissen handelt, beweisen die Versuche yon S t r a t t o n (22), der sich binnen wenigen Tagen an das kopfstehende Raumbild, das eine bild- umkehrende Linsenkombination erzeugte, weitgehend gew6hnte. Er vertor binnen kurzer Zeit das Geftihl, da/3 die Gegenst~nde verkel~rt st~inden, das anfangs vorgeherrscht hatte.

Wenn aIso in diesen extremen F~illen die rJberwachung durch das Urteil versagt, so kann uns das nicht weiter wundernehmen. Umgekehrt mtissen aber ebenfalls alsbald grobe T~iuschungen auftreten, wenn je diese Uberwachung einmal unterbrochen wird. Das wiire etwa so m6g- lich, dal3 man als Fahrgast die Augen schl6sse und nun der Fiihrer l ang - s a m in die Kurve ging. Dasselbe tri t t nun in den Wolken ein. Hier wird die dauernde Uberwachung der Lage durch den Gesichtssinn un- mSglich. Ohne mein Wissen dreht sich langsam das Flugzeug, w~ihrend ich es fiir aufrechtliegen d erachte; und komme ich dann heraus, so liegt die Erde in der phantastischsten Lage. Ich gebe bier eine Beobach- tung wieder, die mir erz~ihlt wurde, die, wenn sie nicht wahr ist, j eden- falls durchaus wahr sein kann. Ein Flieger fliegt l~ingere Zeit in den Wolken. Wie er die Erde wieder zu Gesicht bekommt, vermeint e rvor sich einen gewaltigen Berg aufragen zu sehen mit schnurgeradem steilem Abhang. Es dauert geraume Zeit, bis er erkennt, dag dieser ,,Steil- abhang des Berges" nichts anderes ist, als der Horizont. Ich selbst habe so weitgehende T~iuschungen nicht erlebt, aber jedenfalls auch recht hochgradige. Eigentiimlich ist es dabei, wie lange sich diese Ialsche Raumempfindung erh~ilt. Obwohl man genau weig, wie das richtige Bild zu liegen hat, wilt das falsche Bfld nicht weichen.

Zum Gelingen dieses Versuches ist es aber wesentlich, dab man langsam in die Kurve geht; denn wir Menschen besitzen in unseren Bogeng~ingen, laut der jetzt wohl allgemein anerkannten Mach- Breue r schen Theorie, ein ~iul3erst empfindliches Organ fiir Dreh- bewegungen um die verschiedenen Achsen des Kopfes, fiir Winkel- besehleunigungen. Dies ist auch vielleicht ein Faktor, der im Kurven- flug die Aufrechtherhaltung des richtigen Raumbildes erleichtert.

_A_rchlv L Ohren-, Nasen- u, Kehlkopfheflkunde. Bd. io8. 8

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i 14 I~RIEDRICH NOLTENIUS,

Ich kann hier G a r t e n nicht beipflichten, der meint, dab vielleicht Vertikalb6en in den Wolken durch Hebungen und Senkungen des Flug- zeuges, uns unbewuBt, den Statolithen-Apparat gewissermaBen ver- wirren und dadurch unsere Raumempfindung f~ilschen. Diese Vertikal- b6en sincl schon in iooo m H6he iiuBerst spiirlich und von ganz geringem AusmaB. Unter einer geschlossenen Wolkendecke aber, wenn die direkte Sonnenbestrahlung gar nicht auf die Erde kommt, entstehen auch keine VertikalbSen, wie schon die schnurgerade untere Fl~che der Wolken beweist. Der KompaB der Otolithen weist nicht falsch, s o n d e r n - f a s t - gar nicht.

Das Schiefstehen des Raumbildes ist auch frtiher schon beobachtet worden und zwar in der Eisenbahn beim Durchfahren einer Kurve. Bevor ich aber darauf eingehe, muB ich noch auf die Wirkung des Vesti- bular-Apparates zu sprechen kommen.

Die Mac h - B r e ue r sc he Theorie sagt aus, dab bei Kopfdrehung die Endolymphe des Bogenganges, in dessen Ebene gedreht wird, vermfge ihrer Triigheit um eine geringes zuriickbleibt und die Cupula in der Ampulle verlagert. Der umgekehrte Vorgang tritt beim Aufh6ren der Drehbewegung ein. St~rkere Reizungen der Bogeng~inge erzeugen einen Nystagmus. Diese Tatsache beweist, dab die Bogengiinge eng mit dem Augenmuskelapparat zusammenh~ngen und zwar physiologisch in dem Sinne, dab die Netzhiiute ihre Stellung im Raume beibehalten (Prinzip von MeiBner -He lmho l t z ) . Das ist beim normalen Menschen nicht mehr ohne weiteres zu erkennen, weil die intendierten Bewegungen die Eeflexvorg~inge iiberlagern. Be1 den meisten Tieren aber tritt das aufs deutlichste hervor. Auch beim von Geburt an Blinden ist es gut zu beobachten.

Es ist klar, dab dieser Mechanismus die Orientierung im Raume und die Festhaltung des Raumbildes bedeutend erleichtert. Darum ist er auch am ausgepriigtesten bei Fischen und V6geln. (Bei der Eule werden die kompensatorischen Drehungen nicht durch die Augen, son- dern den ganzen Kopf ausgefiihrt.)

In der frontalen Ebene, bei seitlichen Kopfneigungen, client diesem Meehanismus die Raddrehung der Augen um die sagittale Achse, die Rollung. Die Geschichte dieses Ph~inomens ist eine sehr wechselnde. i786 yon H u n t e r , erkannt wurde sie wieder verworfen, um schlieBlich zum sicheren Besitzstande unseres Wissens zu werden.

Wir haben zwei Arten von Rollungen zu unterscheiden. Beide h~ingen vom Labyrinth ab, wie schon W. A. Nage l bewies und wie es nachher viele Forscher bestXtigt haben. Wit erkennen erstens die Rollung bei r a s c h e n Kopf- oder K6rperbewegungen um die sagittale Achse, die his zu 20 o ausmachen k6nnen, um alsbald zuriickzugehen und zweitens die bestehenbleibende RoUung bei seitlich geneigtem

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t taumbild und Fallgefiihl im Fluge. I 15

Kopf oder in der Seitenlage. Ihr Ausmal3 ist wechselnd, je nach der Gr6Be der Neigung; und zwar ist sie fiir die ersten 2o 0 am gr6Bten (6,30 B~r~ny) , um dann geringer zu werden (2o0--400 : 5,1 ~ 4o0--6o0: 4,1~ Mithin wird durch die Rollung die K6rperneigung in den ersten 2o 0 um V3, dann �88 bzw. 1/5 kompensiert.

Wir diirfen wohl als sicher annehmen, dab die voriibergehende st~irkere Rollung bei Winkelbeschleunigung durch die hinteren verti- kalen Bogeng~inge ausgel6st wird.

Die persistierende Rollung dagegen h~ingt vermutlich mit dem Statolithenorgan zusammen. I n o K u b o hat bei mechanischen Ver- schiebungen der Statolithen bei Fischen direkt Augenbewegungen er- zeugt. Er teilt ferner mit, daB, nachdem die Reaktion der Bogeng~nge durch Verletzung eingestellt war, sich gleichwohl die Bulbusstellungen je nach den K6rperlagen ver~inderten. B ~ r 4 n y berichtet, dab er unter zw61f F~illen vier F/ille gefunden habe, die normale Gegenrollung zeigten, wiewohl der kalorische Nystagmus auf einer SeRe ein Fehlen oder eine starke Herabsetzung der Empfindlichkeit des Vestibularapparates ergab.

Die Rollung tritt auch ein, wenn man sich aus der Riickenlage in die Seitenlage dreht. Sie ist abh~ingig von der Lage des Kopfes zur Schwerkraft. Da diese Rollung nur einen Bruchteil der Kopfneigung kompensiert, so ist sie wohl yon geringen physiologischem Werte fiir den Menschen im Gegensatz zu denmeis ten Tieren. N a g e l jun. nennt deshalb die Rollung beim Menschen auch einen rudiment~ren Reflex.

Ist nun dieser Reflex nicht gleichwohl in der Lage, gewisse Wir- kungen hervorzubringen ? Ich komme damit wieder auf das Ph~inomen der schiefstehenden Vertikale (B/iume, H~user) im Eisenbahnzug in der Kurve zuriick. B r e u e r und K r e i d l haben sich in ihrer Arbeit: ,,Uber die scheinbare Drehung des Gesichtsfeldes w~ihrend der Einwir- kung einer Zentrifugalkraft" eingehend mit dem Problem befaBt. Zu dem Zwecke haben sie sich in einer Karussellartigen Vorrichtung herum- rotieren lassen und dabei Versuche angestellt, fiber die Einstellung der Vertikale und die Augenrollung bei verdeckter AuBenwelt. Sie fanden dabei mittels der Nachbildmethode eine Raddrehung der Augen urn 7--8 0 (Kre id l 8 ~ ~ bei einer Rotationsgeschwindigkeit, die die Resul- tante aus Gravitation und Zentrifugalkraft (ein Pendel) um 14 0 von der Vertikalen abweichend einstellte. Sie schlossen daraus, dab die Raddrehung der Augen ein Reflexmechanismus sei, abh~ingig v o n d e r Richtung der Massenbeschlennigung, welche auf ein Organ im Kopfe, wirkt. Diese Raddrehung erzeuge dann die Schiefstellung der Erde indem bei aufrechter K6rperhaltung eine Rollung besteht, die dieser Haltung normalerweise nicht zugehOrt. Grol3e Schwierigkeit machte ihnen die Erkl~irung, warum die Raddrehung nur o~6 der Abweichung der Massenbeschleunigung betrage.

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I 16 FRIEDRICH NOLTENIUS,

Ich glaube, yon den VerhXltnissen im Flugzeug ausgehend, kann man zu einer nngezwungenen Erkl~irung kommen. B r eu er und K r ei d 1 blieben bei der Rotation in ihrem Karussell stets in derselben Vertikalen zum Erdboden. Sie gaben an, dab sich bei Neigung des Kopfes nach innen in die Richtung der Massenbeschleunigung das Nachbild eben- falls in diese Richtung einstelle, mithin keine Abweichung vorhanden sei. Das muB aus zwingenden theoretischen Erw~gungen auch so sein. Denn wenn das Statolithenorgan in der Richtung der Massenbeschleu- nigung steht, so empf~ingt es dieselben Reize, wie im normalen senkrechten Stand in der Ruhe; d. h. der mediane Netzhautmeridian steht in der Richtung der K6rperachse. Neigt sich ietzt bei der Rotation die Zug- linie der Massenbeschleunigung nach rechts, w~hrend der K6rper in der Vertikalen verbleibt, so ist das gleichbedeutend mit einer Neigung des K6rpers in der Ruhe v o n d e r Richtung der Schwerkraft fort nach links. In diesem Falle tri t t aber eine Augenrollung nach rechts auf, die die Neigung zum Tell kompensiert; d. h. der mediane Netzhantmeridian weicht weniger yon der Linie der Schwerkraft ab, als der K6rper. Mithin liegt in der Rollung beim Karussellversuch eine Gegenrollung versteckt.

Dieses Ph~nomen ist nun aber durchaus nicht identisch mit den im Knrvenfluge m6glichen Tguschungen. Denn in der exakt geflogenen Kurve verhXlt sich der K6rper wie in der normalen, senkrechten Rnhe- lage; d. h. der mediane Netzhautmeridian steht in der Richtung der K6rperachse. Nur in einer falsch geflogenen Kurve, wenn die Maschine ,,schiebt". oder abrutscht, bieten sich dieselben Verh~iltnisse. Abet hier Setzt sogleich wieder das Urteil ein und lgBt die T~iuschung nicht aufkommen, wie ja auch in der Eisenbahn nur dann das Phgnomen auftritt, wenn man zugleich die Fensterrahmen sieht. Man hglt sie, die objektiy geneigt sind, fiir ver t ikal stehend und die Erde fiir schief. Diese T~iuschung tritt in entsprechendem Sinne iedoch auch in der Zahnradbahn mit schr~iggestellten Sitzen, die sich auf der schr~igen Strecke horizontal stellen, ein, wenn die Strecke weniger stark ansteigt (s. auch H i t z i g , Schwindel, S. 27). Das scheint mir doch sehr dafiir zu sprechen, dab die Rollung der Augen nicht nnbedingt zur Erkl~irung erforderlich ist, dab vielmehr die Urteilsf~tlschung durch Schiefstehen solcher Dinge, die uns Ms vertikal bekannt sind, das mal3gebende ist. Wer kennt nicht die geradezu zwingende Tguschung in der ,,Hexen- schaukel" auf Jahrm~trkten, bei der ein Leinwandzimmer herumgedreht wird, w~hrend die Schaukel ruhig h~tngt. Obwohl ich genau wuBte, wie die Sache sich verhielt, h a b e i c h mich friiher doch stets krampf- haft am Sitze festgehalten, well ich den Eindruck, auf dem Kopfe zu stehen, nicht auszul6schen vermochte.

All diese Beobachtungen sprechen dafiir, dab der Einflug des Stato-

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lithenorgans jedenfalls ein recht geringer ist. Das ist bei den Fischen und V6geln nicht so. Die Entfernung der Statolithen ist bei den Hai- fischen mehrfach ausgefiihrt worden. Sie ruff j edesmal schwere St6- rungen hervor, wghrend der Mensch durch Zerst6rung der Labyrinth e auf die Dauer nicht erheblich geschiidigt ist. Dutch seine hochent- wickelte Oberfl[ichen- und Tiefensensibilitgt kann er das fehlende Organ leicht ersetzen. Ein Verlust der Tiefensensibilit[it, wie bei der Tabes, erzengt viel bedeutendere St6rungen. Bei den niederen Tieren ist die Funktion der Statolithen durchaus sichergestellt, u. a. dutch Kreidls Versuche mit der Krebsart Palaemon. Die Krebse werfen bei der H[iu- tung auch die Statolithen mit ab und bilden sie dann neu durch auf- genommene Sandk6rnchen. Kr eidl setzte sie nun nach dem Vorschlage Exners in Wasser, das statt des Sandes Eisenstanb zum Boden hatte. Wenn er dann spgter einen starken Magneten fiber die Wasserflgche brachte, so schwammen die Krebse anf dem Rficken. Versuche yon Loeb und yon Xubo sprechen im gleichen Sinne.

Von dieser hoehgradigen Bedeutung des Statolithenapparates ist beim Menschen keine Rede. Aber eines vermag er vielleicht doch zu erzeugen, das Geffihl fiir die Vertikale. Wie steht es damit ?

Allerdings vermag der Mensch die Lotlinie recht genau anzngeben, sei es bei Betrachtung der Objekte der Aul3enwelt, sei es durch Ein- sch~itznng eines schmalen Leuchtstreifens, sei es dnrch Zeichnen mit verdeckten Augen. Aber das Gefiihl ffir die Vertikale besitzen wir auch bei geneigtem Kopf, wenn auch ein wenig verschoben (Auber tsches Ph~inomen). Aueh in diesem Falle k6nnte durch differenzierte Erregung der Inacnlae utriculi nnd sacculi die Empfindung znstande kommcn. Hier fiillt schon auf, dab das Gefiihl Iiir die Vertikale verschieden ist je nachdem ich im Hellen bekannte Gegenst~inde sehe, oder die Licht- linie im Dnnkeln.

Zur Beantwortung dieser Frage ist wiederum der Versuch im Flug- zeug sehr geeignet, weil wir in der Kurve die Linie der Schwerkraft kiinstlich verlagern k6nnen und obendrein von allen bekannt vertikalen Gegenst~inden fern sind. Wenn dies Geffihl der Vertikalen nnr einiger- mal3en ausgepr~gt ist, so mfiBte sich in der steilen Kurve (9 o~ beim Blick auf die Erde jede Linie, die auf tier L~ingsachse des Flugzeuges senkrecht steht, st~irker aufdr~ngen, oder man mfil3te doeh bei dem Fl~ichenbild der Erde ein gewisses stumpfes Gefiihl des Oben und Unten haben. Ich habe beides nie empfinden k6nnen. Ich wage jedoch nicht zu behaupten, dab diese Empfindung nieht trotzdem besteht nnd dab sie nUr yore Urteil iiberlagert wird, in dem BewuBtsein der Zwecklosig- keit dieser Fragestellung.

Wie wenig wir yore Flugzeug aus imstande sind, die Vertikale ein- zusch~tzen, das erhellt' aus den Erfahrungen beim B0mbenabwurf.

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Es ist v611ig unm6glich, den gerade unter sich liegenden Punkt anzu- geben. Man ist den gr6gten T~iuschungen unterworfen.

Nunmehr m6chte ich die Frage aufwerfen, wie kommt es, dab man beim Hineingehen in die Kurve das Gefiihl der Schieflage auf- heben kann durch Neigung des Kopfes nach innen ? Die Gegenneigung des K6rpers ist wohl ein natiirlicher Vorgang. Aber es ist nicht recht ersichtlich, warum in stRrkerer Sehr~iglage das Geftihl verschwindct, das sich bei geringerer Neigung fiir den Anfiinger so st6rend bemerkbar macht.

Hier m6chte ich zur Erkl~irung die momentane Rollung des Auges bei Drehung des Kopfes u m die Sagitalachse heranziehen. Die Ein- haltung der stets gMchen Augenstellung im Raume bei alien Kopf- drehungen ist sicherlich ein physiologisch sehr zweckm~Biger Vorgang. Er vermeidet die Umwertung der Lokalzeichen der Netzhaut und er- leichtert die Bildung der Assoziationen, da jeweils dieselben Netz- hautelemente erregt werden. Man iiberlege nur, dab wit es erst l e r n e n miilgten, ein Buch umgekehrt zu lesen. Darum darf man wohl schliegen, dab dieser Reflex ein phylogenetisch ares Erbe darstellt und relativ m~ichtig ist.

Die M6gliehkeit der Kompensation hat abet beim Menschen ziem- lich enge Grenzen. M u l d e r fand bei raschen Neigungen Rollungen his zu 2o ~ Nimmt man dazu noch eine Neigung des K6rpers und Kopfes nach ausw~irts vom Zentrum der Kurve, so kann man wohl sagen, dab der Mensch imstande ist, bis zu rund 450 Neigung, die medianen Netzhautmeridiane vertikal zu erhalten und die Umwertung zu ver- meiden. Ich halte es nicht tiir unmOglich, dab innerhalb dieser Spanne ein gewisser Zwang besteht, diesen Reflex auszufiihren. Wenn ich aber Kopf und K6rper in die Kurve hineinneige, so ist jede M6glichkeit ge- nommen, die Netzhaut in der Normalstellung zu erhalten und der Reflex tritt nicht auf. Ich m6chte aber noch einmal wiederholen, dab ich nicht behaupte, die Gegenneigung des Kopfes und KOrpers sei, wie die Augen- rollung, ein unvermeidlicher Reflex. Ich halte es nur fiir m6glich, dab ein rudimentgrer Rest, der natiirlich vom Willen leicht zu unterdriicken ist, sich gerade beim Anlgnger noch hemmend bemerkbar macht.

Den Statolithen wird auger der gmpfindung der Lage des Kopfes im Raume aueh die der Progressivbeschlennigung zugeschrieben. Ein Organ dieser Art w~ire j edenfalls im Flugzeug durchaus wertvoll, um Gesehwindigkeitsiinderungen, Steigen oder Fallen bemerken zu k6nnen. Gerade bei den grogen Gesehwindigkeiten und ihrem steten Wechsel im Kurvenflug miigte dieses Organ deutliche Empfindungen vermitteln.

Wie steht es nun damit ? Sicherlich empfinden wir den Ubergang vom normalen Geradeausflug in den. Gleitflug sehr deutlich, ja unan- genehm deutlich. Das gleiche gilt yon den omin6sen sog. ,,LuftlOehern".

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(Diese Bezeichnung ist vollkommen irrefiihrend. Es handelt sich dabei um absteigende Luftstr6mungen, wie sie besonders um die Mittagszeit bei wolkenlosem Himmel sich zumal tiber Wasser und Wiildern unan- genehm bemerkbar machen.) Das Flugzeug wird yon diesen Str6- mungen einige Meter heruntergedriickt und alsbald tritt die ~itlgerst peinliche Empfindnng des Falles auf.

Wenn nun schon diese geringen Verschiebungen so starke Wir- kungen erzeugen, wie muB das erst sein im Sturzflug, wenn das Flug- zeug seine volle Fallgeschwindigkeit, die der Luftwiderstand iiberhaupt erm6glicht, erreicht ? - - S o sollte man meinen. Aber das Gegenteil tritt ein. Wenn man es nicht wtiBte, und nieht das allm~ihliche Gr6ger- werden der Gegenstiinde auf der Erde s~ihe, so wtirde man, z. B. bei geschlossenen AugelI, nicht vermuten, dab man f~tllt. Ebenso wenn man in der Kurve abrutscht, was sicherlich viel h~iufiger ist und viel erheblicheren H6henverlust bedeutet, als das Niedergedrticktwerden durch eine senkrechte Luftstr6mung, so hat man niemals die Empfin- dung des Falles. Ja, wenn man es nicht am Seitenwind sptirte und am ver~inderten Tone des Motors h6rte, so wiirde man es gar nieht merken k6nnen.

Woher kommt dieser auff~illige Widerspruch ? Er muB wohl zu der Richtung der K6rperachse in Beziehung stehen. In der Vertikalb6e und beim Ubergang in den Gleitflug steht die K6rperachse senkrecht, beim Abrutschen in der Kurve horizontal, Sehlinie zum Horizont, beim Sturzflug ebenfalls horizontal, der etwas gedrehte Kopf der Erde zu- gewandt.

Die theoretische Erw~igung verlangt also, dab wir ein Organ be- sitzen, das den Fall nur bei vertikaler Kopf- oder K6rperaehse anzeigt. Ob dieses'Organ die Bogeng~inge, das Statolithensystem, oder etwa abnorme Sensati0nen in den inneren Organen sind, das sei vorerst dahin- gestellt.

Die Fallempfindung tritt im gew6hnlichen Leben auf, wenn man, z. B. beim Baden, aus gr6Berer H6he s4nkreeht herUnterspringt, im Lift, in der Schaukel, auf dem Schiffe bei Seegang (Seekrankheit), nicht aber oder zum mindesten schw~icher, z. B. beim Kopfsprung. B ~ r ~ n y hat nun beobachtet, dab das Unbehagen im Lift verschwindet wenn man den Kopf neigt. Auch wird die Seekrankheit verringert, wenn man sich hinlegt. Das scheint daftir zu sprechen, dab ein Organ im Kopfe diese Empfindung vermittelt.

Ieh will vorerst einmal annehmen, es sei dies das Statolithenorgan, das ja wohl zweifellos als ein statisches Sinnesorgan aufzufassen ist. Es besteht aus zwei, bei den V6geln u n d Fischen aus drei einzelnen Teilen, der macula utriculi, der macula sacculi, und bei V6geln und Fisehen der lagena. Diese drei Teile sind naeh den drei Dimensionen

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des Raumes orientiert. Beim S~iugetier und Menschen stehen die macula utriculi und macula sacculi um 9 o0 einander zugeneigt, jene mit ihrer Fl~ichenausdehnung etwa horizontal, diese etwa vertikal. Zwei winzige, spezifisch schwerere Platten, als die Endolymphe, wie W i t t m a a c k s Drehversuche gezeigt haben (s. auch 23), aus feinen Krist~llchen zu- sammengesetzt, driicken auf die zarten Sinnesh~irchen des Nerven- endorgans.

Die Beobachtungen von E w a l d , von L o e b an Fischen, yon B~T a n y u. a. haben ergeben, dab das Statolithenorgan zu dem Tonus der Muskulatur der gleichen K6rperseite in Beziehung steht. Laby- rinthlose Tauben zeigen eine auffallende Schlaffheit der Muskulatur (Ewald). E w a l d sah in diesem Tonus iiberhaupt die wesentliche Wirkung des Labyrinths (Labyrinthtonus).

Was fiir physikalische Ver~inderungen gehe n nun w~ihrend des FaUes mit diesem Organ und mit dem K6rper iiberhaupt vor sich, die etwa einen Nervenreiz auslOsen k6nnten? Ich mOchte das an einem

Beispiel erl~utern. Ich denke mir einen metallenen Hohlk6prer, etwa in Tropfenform, um den Luft- widerstand m6glichst auszuschalten (s. Abb. I). Das gew61bte Ende sei beschwert. In diesen Hohlk6rper

B A denke ich mir zwei gleichschwere Bleikugeln ein- gebaut, die eine an einem starren Metallstab, die andere an einer elastischen Feder. Wenn ich den Apparat auf den Tisch stelle, die gew61bte Fl~iche

Abb. I. nach unten, so h~ngt die bewegliche Kugel A natiir- lich etwas tiefer, als die starr befestigte B. Die

potentielle Energie yon A ist etwas geringer als die von B; dafiir tr i t t die Spannungsenergie in der Feder auf.

Was geschieht nun, wenn ich das ganze System fallen lasse ? Etwa aus IOOO m H6he. Die Gravitation wirkt in gleicher Weise auf alle Teile. Die potentielle Energie der Kugel B und die etwas geringere potentielle + Spannungsenergie der Kugel A verwandelt sich in kinetische. Da nun beide Kugeln gleic h schwer sind, ist aueh ihre kinetische Energie die gleiche. Es kann also keine Spannungsenergie mehr auftreten, die Kugeln stehen sich genau gegeniiber, die Feder ist entspannt.

Es handelt sieh hier keinesfalls um irgendwelche Tr~igheitskriifte, die ein akitves Zuriickbleiben der beweglichen Kugel, etwa wie bei einer Progressiv~oeschleunigung parallel zum Erdboden, bewirkten, sondern lediglich um eine Aufhebnng der Federspannung. Eine Kugel, die frei beweglich auf dem Boden des Apparates l~ige, wiirde rnhig da liegen bleiben, weil die Schwerkraft auf sie genau so wirkt, wie auf die Metall- hiilse.

Auf den Statolithenapparat und den K6rper iibertragen, bedeutet

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das, dab im freien Falle niemals ein akdves Zurtickbleiben der Statolithen, eine Zerrung der Sinnesh~rchen, auftreten kann, sondern nur, dag eine etwaige Verbiegung der elastischen Sinnesh~irchen aufgehoben werden k6nnte. Die Bogeng~inge aber miissen vollkommen unerregt bleiben und etwaige Organempfindnngen k6nnen ebenfalls nicht in Erscheinung treten, wall nur elastische Spannungen in Fortfall geraten.

Nun ist aber die FaUempfindung bei senkrechter Kopfhaltung durchaus unleugbar, ebenso wie ihr Fehlen, wenn im Falle die Kopf- achse horizontal steM. Und diese Empfindung muB doch durch ein Organ vermittelt sein. Nun, wenn auch die Sinneshaare der maculae utriculi und sacculi nicht gereizt werden, so wird doch jedenfalls auch der Nervenreiz, den die Statolithen ausiiben, aufgehoben, dadurch, dab die Sinneshaare entspannt werden. Nun nehmen wir aber an, daft beim aufrechtstehenden Menschen dauernd Nervenreize der Mus- kulatur vom Statolithenapparat zustr6men, dab die Aufrechterhaltung des Labyrinthtonus eine wichtige Funktion dieses Organes sei. Sollte der Fortfal[ dieses Tonus nicht schon ausreichen, um die Fallempfin- dung zu erkl~iren? Ich habe jedenfalls beim Beginn des Abfahrens im Fahrstuhl stets ein Gefiihl der Schw~che in den Knien. Dieselbe Schw~che ist auch charakteristisch fiir die Seekrankheit. Ferner berichtet M a r i k o v s z k y yon seinen Tauben, d e n e n e r beiderseitig die Laby- rinthe herausnahm, dab beim Gehen bald das rechte, bald das linke Bein einknickte. Ich m6chte diese Deutung natiirlich mit aller Reserve aussprechen, aber sie scheint mir nicht unm6glich.

Auf der anderen Seite erhe]lt jetzt deutlich, warum wir im F a l l mit horizontaler K6rperachse keine Fallempfindung haben k6nnen. Die Kraft greift hierbei senkrecht zur Kopfachse an - - ich falle im Sturzflug mit dem Gesicht der Erde z u g e k e h r t - ,also in gleichem Sinne, wie bei der Progressivbeschleunigung etwa im Eisenbahnzug. Ob wir aber in diesem Falle die Beschleunigung empfinden, wenn wir yon der Oberfl~ehen- und Tiefensensibilit~it absehen, ist doch sehr fraglich. Sonst w~re eine Umkehrung tier Empfindungen bei geschlossenen Augen. wie De lage sie bei sich feststeltte, wohl unm6glich. JedenfaUs ist aber diese Wahrnehmung ganz erheblich stumpfer, als die des Falles mit senkrechtem Kopf.

Aber selbst wenn wir die Progressivbeschleunigung mit zur Rich- tung der Kraft senkrechter Kopfachse empf~inden, wfirden wir sie im Falle trotzdem nicht wahrnehmen k6nnen. Denn bei dem Anfahren im Eisenbahnzug kann der Statolith verm6ge seiner Tr~igheit gegen die Makula zuriickbleiben und etwa die Sinneshaare zerren, weil die Kraft nicht unmittelbar am Statolithen, sondern am K6rper angreift. Im Falle dagegen wird der Statolith, wie auch alle anderen Organe des K6rpers, genau an seiner Stelle bleiben, keine Sinneshaare zerren und

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keine Spannungen 1/Ssen, well in dieser Richtung normalerweise keine durch die Schwerkraft bedingten Spannungen bestehen. Auch ist kein anderes Organ denkbar, das irgendeinen Nervenreiz ausiiben k6nnte, weil sie ja alle in ihrer normalen Lage sin&

Nun kommt allerdings der Luftwiderstand hinzu; d. h. der K6rper fiillt, zumal im Flugzeug, nicht mit der theoretisch denkbaren Ge- schwindigkeit. Auf die Statolithen wirkt dieser Widerstand aber nicht unmittelbar ein, sie k6nnen also ein wenig voraneilen, die Sinneshaare in der Richtung des Falles ein wenig verbiegen. An unserem Apparat (Abb. I), wiirde das bedeuten, dab die Kugel A ein wenig ausschl~igt. Im Statolithenorgan ist dies der n~imliche Reiz, der das Organ trifft, wenn ich in der Eisenbahn ri ickw~irts fahre. Dadurch kommt die paradoxe Schlul3folgerung zustande, daB, wenn das Statolithenorgan die Empfindung progressiver Beschleunigung vermittelte, im Falle mit zur Erde geneigten Gesicht das Gefiihl des Nachobenfliegens ent- stehen miil3te. Das ist abet natiirlich nicht der Fall Freilich wird dieser Reiz, wenn anders er iiberhaupt eintritt, sehr geringgradig sein, so dab er einen RiickschluB auf die Frage, ob die Statolithen ein Organ fiir Progressivbeschleunigung seien nicht endgiiltig zul~iBt.

Fragt man sich nun nach dem physiologischen Sinn der Einrich- tung, dab der Mensch die Progressivbeschleunigung in der Richtung der Kopfachse so ~iuBerst rein empfindet, nicht abel oder fast nickc, die in der darauf senkrechten Richtung, so m6chte ich folgende D .... 1 , , ~ versuchen.

Wie der Schmerz eine Schutzeinrichtung des K6rpers ist, um ihn vor Verletzungen zu bewahren, so m6chte ich die Fallempfindung eben- falls als eine Schutzeinrichtung ansprechen. Es weiB doch jeder, welch eine Uberwindung dazu geh6rt, z. B. yon einem hohen Sprungbrett vertikal ins Wasser zu springen, obwohl man doch genau weil3, dab dabei nichts geschehen kann. Das Fallgefiihl ist dem Menschen der- mal3en unangenehm, dab es eine starke Hemmung bedeutet (Erbrechen bei Seekrankheit und Schwindel, s.u.). Schon ganz junge Tiere springen nicht aus gr6Berer H6he hernieder, obwohl sie dariiber doch keine Er- fahrungen besitzen k6nnen. Irgendwie nennenswerte Progressiv- beschleunigungen, die den K6rper sch~idigen k6nnten, sind aber in einer anderen Richtung fiir den Menschen ohne Maschine nicht m6glich. Deshalb bedarf es hier auch keiner Hemmungseinrichtung.

Diese Fallempfindung kann aber auch psychogen ausgel6st werden; und das ist wesentlich. Denn im Falle selbst kommt sie ja eigentlich schon zu sp~t. Sei es nun auf Grund yon Erfahrungswissen, sei es in angeborenen Reflexbahnen, wenn wir uns den Fall eindringlich vor- stellen, z. B. auf einem hohen Turin, einer Felsenkante, tritt im Schwindel diese Empfindung schon auf. Im Schwindel glauben wir zu fallen. Der

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Boden weicht unter unseren FiiBen. (Ich sprechc hier nicht yon dem Drehschwindel bei Labyrinthreizung oder Erkrankung, sondern ledig- lich von dem " ,,psychogenen .) Auch hier sehen wit wieder dieselbe Erscheinung der Schw~che in den Beinen, des Spannungsverlustes der Muskulatur.

Datum macht sich auch der Schwindel kaum bemerkbar, wenn wit lest und sicher sitzen oder hinter einem Gel~inder stehen, so dab wit nicht auf den schwierigen Koordinationsmechanismus der ]~rhal- tung des Gleichgewichtes angewiesen sin& Das ist der Grund, warum der Flieger den Schwindel nicht kennt. Ich selbst werde sehr leicht schwindlig, habe aber im Flugzeug niemals diese Empfindung gehabt, Dazu kommt noch, dab schon in m~iBiger H6he durch den AusfaU des stereoskopischen Sehens das GeffihI der H6he v611ig verschwindet. Die Erde erscheint nur wie ein bunter flacher Teppich.

Im fibrigen ist es ja eine bekannte Tatsache, dab diese psychogen erregte Fallempfindung, der Schwindel, auch psychogen zu unter- drficken ist, durch Ubung Konnte ich anfangs vorne an der Kante eines 3 m hohen Sprungbrettes kaum stehen, da ich intensiv das Gefiihl des Vorniiberfallens hatte, dies Geffihl verschwand v611ig, nachdem ich elne Anzahl verschiedenartiger Sprfinge gemacht hatte. Das Urteil unterdriickte den Reflexmechanismus.

Zum SchluI3 m6chte ich noch eine kurze Betrachtung fiber das Entfernungssch~tzen, die Tiefenwahrnehmung des Raumes anschlieBen.

An Komponenten, die diese Empfindung vermittein, kommen in Betracht:

I. Das stereoskopische Sehen; d. h. die Tiefenempfindung, die ent- steht, wenn die Lichtstrahlen irgendeines Punktes im Raume nicht- identische Netzhautstellen treffen, die Querdisparation.

2. Die Konvergenzeinstellung und Akkomodation. 3. Die Beurteilung der Gr613e des bekannten Objektes. Das stereoskopische Sehen versagt schon in geringer H6he. Wie

G a r t e n angibt, k6nnen wit in ioo m H6he noch gerade Tiefenunter- schiede von 3,7 m erkennen, in Iooo m H6he nut noch solche von 274 m, in 2ooo m gar n u t noch solche von 862 m. Aber auch beim Landen des Flugzeuges, wo eine Entfernungseinsch~tzung auf etwa 20 cm er- forderlic h ist, hat der stereoskopisehe Apparat keine wesentliche Be:

defltt/ng, da wir j a auf einem ebenen Felde landen, wo es kaum Er- hebungen gibt, aul]er sp~rlichem Graswuchs. Auch k6nnen Flieger, die ein Auge verloren haben, sehr wohl noch landen, vde der bekannte Flieger B o n g a r t z bewiesen hat. Ob sie dadurch benachteiligt sind, vermag ich nicht anzugeben. Ein vereinzelter Fall wiirde auch nicht v ie l beweisen.

Die Konvergenzeinstellung und Akkomodation kommt noch we-

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12 4 FRIEDRICH NOLTENIUS,

niger in Betracht. H i l l e b r a n d hat nachgewiesen, dab sie, wenn sie isoliert zur Geltung kommt, keinerlei Entfernungsempfindung ver- mittelt.

So bleibt als drittes noch die Beurteilung der Gr6Be der Objekte und das scheint mir das wesentlichste Moment zu sein. Wenn man auch bei der grof3en Landegeschwindigkeit im aUgemeinen keine einzelnen Objekte erkennt, hie und da bleibt doch der Blick an einem Gras- bfischel, einer Pflanze h~ngen und alsbald ist die Einsch~tzung der Entfernung gewonnen. Dutch die t~gliche (3bung im Leben sind uns die Dinge und ihre Gr6Be so gel~ufig, dab wit mit groBer Sicherheit ih re Entfernung sch~tzen. Das ~ndert sich, wenn wit Objekte vor uns haben, deren Gr6f3enbild uns, in der N~he wenigstens, unbekannt ist. Ich hat te Gelegenheit, das im Kriege bei FesselbaUonangriffen unliebsam zu erfahren. Bei meinem ersten Versuch blieb ich viel zu weit ab, w~hrend ich die Uberzeugung hatte, im n~chsten Moment in den Ballon zu stiirzen. Der mangelnde Erfolg lieB mich den Fehler erkennen. Ich nahm mir vor, beim zweiten Male rficksichfslos heran- zufliegen. Im Anflug hat te ich nur ein stumpfes Gefi~hl der Entfernung, Da erkannte ich mit einem ~fale das Netz auf dem BaUon, etwa finger- dicke Stricke, also ein mir bekanntes Objekt, und gerade noch gelang es mir die Maschine hochzureiBen; ich glitt vielleicht noch einen halbert Meter fiber den Ballon hinweg, In diesem Falle konnte mir das stereo- skopische Sehen gar nichts helfen, da das Netz dem Ballon dictlt an- liegt. Ich war rein auf die Gr6Beneinsch~tzung angewiesen und die war mir nicht gel~ufig. Sp~ter habe ich es dann gelernt, die Gr6Be des Ballons und damit die Entfernung genau einzusch~tzen.

In d~mselben Sinne spricht der gar nicht selten beobachtete Vor- gang, dab Flieger geradeswegs in den Ballon hineingeflogen sind.

Auch die Einsch~tzung der H6he des Flugzeuges ist ~uBerst un- genau. Wir sehen bier die nns an sich bekannten Objekte in einer un- gew6hrdichen Ansicht. Im Laufe der Zeit lernen wit dann einigermaBen die Beurteilung der H6he. Beim Anf~nger sind T~uschungen von mehr als 50 % fast an der Tagesordnung.

II~ den obigen Zeilen habe ich reich bemiiht darzulegen, dab das Fliegen nns noch mancherlei physiologische Probleme bietet. Ob die

.SchluBfolgerungen, die ich glanbte, ziehen zu diirfen, zu welt gehen, dariiber m6gen Berufenere entscheiden. Ich betone nochmals, dab eine Nachpriifung der Beobachtungen mit besserem wissenschaftlichen Riistzeug fiir reich nicht im Bereich der M6glichkeiten iiegt.

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