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Regulär oder Singulär? Grundlagen und Konstruktion der Differentialgleichungen sowie Erhaltungssätze der Strömungsdynamik Benedikt Gerweck 06.07.2017 Einleitung Die wohl wichtigsten Gleichungen der Strömungsdynamik sind die Euler-Gleichungen und die Navier-Stokes-Gleichungen. Die Euler-Gleichungen beschreiben die Strömung reibungsfreier Fluide und die Navier-Stokes-Gleichungen die Strömung newtonscher bzw. linear viskoser Fluide. Viskosität steht hierbei für die "Zähflüssigkeit" eines Materials. Viele Öle, Gase, sowie Wasser und Luft sind Newtonsch, wobei zum Beispiel die Viskosität von Honig höher ist als die von Wasser. Abb. 1: Honig Ein nicht-Newtonsches, also nicht-linear viskoses Fluid ist beispielweise Zement. Anwendungsgebiete dieser Formeln finden sich unter anderem in der Fahrzeugentwicklung, vorwiegend im Bereich des Flugzeugbaus. Doch ein großes Problem ist, dass bis heute nicht geklärt werden konnte, ob reguläre Lösungen dieser Gleichungen Singularitäten - also Definitionslücken sowie Pol- bzw. Unstetigkeitsstellen - entwickeln können. Auf kleinsten Skalen wäre dann die mathematische Beschreibung unzureichend. Das folgende Beispiel soll potentielle Gründe für Singularitäten aufzeigen und erläutern warum diese sehr kompliziert sein können. Turbulente Strömungen Auch wenn das Wort Turbulenz relativ geläufig ist, steht es doch für einen sehr komplizierten und allgegenwärtigen Vorgang. Turbulenz ist die Bewegung von Fluiden, bei der 1

Regulär oder Singulär? · Regulär oder Singulär? GrundlagenundKonstruktionderDifferentialgleichungen sowieErhaltungssätzederStrömungsdynamik BenediktGerweck 06.07.2017

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Regulär oder Singulär?

Grundlagen und Konstruktion der Differentialgleichungen

sowie Erhaltungssätze der Strömungsdynamik

Benedikt Gerweck

06.07.2017

Einleitung

Die wohl wichtigsten Gleichungen der Strömungsdynamik sind die Euler-Gleichungen und dieNavier-Stokes-Gleichungen. Die Euler-Gleichungen beschreiben die Strömung reibungsfreierFluide und die Navier-Stokes-Gleichungen die Strömung newtonscher bzw. linear viskoserFluide. Viskosität steht hierbei für die "Zähflüssigkeit" eines Materials. Viele Öle, Gase, sowieWasser und Luft sind Newtonsch, wobei zum Beispiel die Viskosität von Honig höher ist als dievon Wasser.

Abb. 1: Honig

Ein nicht-Newtonsches, also nicht-linear viskoses Fluid ist beispielweise Zement.Anwendungsgebiete dieser Formeln finden sich unter anderem in der Fahrzeugentwicklung,vorwiegend im Bereich des Flugzeugbaus. Doch ein großes Problem ist, dass bis heute nichtgeklärt werden konnte, ob reguläre Lösungen dieser Gleichungen Singularitäten - alsoDefinitionslücken sowie Pol- bzw. Unstetigkeitsstellen - entwickeln können. Auf kleinstenSkalen wäre dann die mathematische Beschreibung unzureichend.Das folgende Beispiel soll potentielle Gründe für Singularitäten aufzeigen und erläutern warumdiese sehr kompliziert sein können.

Turbulente Strömungen

Auch wenn das Wort Turbulenz relativ geläufig ist, steht es doch für einen sehr kompliziertenund allgegenwärtigen Vorgang. Turbulenz ist die Bewegung von Fluiden, bei der

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Verwirbelungen über weite Bereiche von Größenskalen auftreten. Betrachtet man zum Beispieldie Ausbreitung von Milch im Kaffee, so sind schon mit bloßem Auge sehr viele Wirbelunterschiedlichster Größe zu erkennen. Diese scheinbar zufälligen, turbulenten Strömungenhaben einige interessante Eigenschaften:

1. Ausgeprägte Selbstähnlichkeit

Abb. 2: Hurricane

Ein Wirbelsturm besteht aus vielen kleinen Wirbeln.

2. Ungeordnete bzw. schwer vorhersagbare raumzeitliche Struktur

Abb. 3: Windenergy

Wind schwankt an verschiedenen Orten.

3. Empfindliche Abhängigkeit von Anfangsbedingungen4. Empfindliche Abhängigkeit von Randbedingungen

Abb. 4: Golfball

Vertiefungen (Dimples) in Golfbällen verringern die Reibung.

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Konstruktion der Gleichungen

Wir wissen nun, dass es Faktoren gibt, die potentiell Singularitäten verursachen könnten. DieKonstruktion der gesuchten Formeln beginnt mit dem zweiten newtonschon Gesetz aus derklassischen Mechanik,

F = m · a (1)

wobei F die Kraft bezeichnet die auf eine Punkmasse m wirkt, welche um a beschleunigt wird.Um die Kraft in Abhängigkeit des Ortes zu erhalten, betrachten wir die Beschleunigung alsÄnderungsrate der Geschwindigkeit und die Geschwindigkeit als Änderungsrate des Ortes.Damit erhalten wir nach zweimaligem Ableiten des Ortes die folgende Gleichung:

F (x(t)) = m · d2x(t)dt2 . (2)

Nun wollen wir jedoch eine Gleichung, die eine Strömung und nicht nur ein Punktteilchenbeschreibt. Daher stellen wir uns eine Strömung als Kontinuum vor, also einezusammenhängende verformbare Masse.

Abb. 5: Flasche

Die Flussabbildung φ bildet das Kontinuum, bzw das Anfangsgebiet V auf ein Gebiet V(t) ab.

Da die Gleichung (1) für Punkmassen gilt, wollen wir den Fall betrachten, dass die Ausdehnungunseres Kontinuums gegen Null geht, also auf einen Punkt reduziert wird. Da sich die Massedabei nicht ändern soll, muss wiederum die Dichte % = m

V variieren. Durch Einsetzen in (1)ergibt sich:

FV = % · a. (3)

Nun stehen wir allerdings vor dem Problem, dass diese Gleichung nicht nur für Fluide, sondernauch für elastische Festkörper gilt. Der Unterschied ist, dass die Kraft eines Teilchens auf seinNachbarteilchen bei elastischen Festkörpern richtungsabhängig ist, bei Fluiden jedochrichtungsunabhängig. Da es sich hierbei um Druckdifferenzen handelt, lässt sich die Kraftdurch den Druck beschreiben. Lässt man also wieder die Ausdehnung unseres Gebietes gegenNull gehen, so ergibt sich der Ausdruck F

V = % · a aus dem Grenzwert einesDifferenzenquotienten und zwar −∇p, dem negativen Druckgradienten. Dieser ist negativ, daer in die Richtung des geringen Drucks wirken soll.

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Dies liefert beinahe die gesuchte Gleichung:

−∇p(x(t), t) = %(x(t), t) · d2x(t)dt2 (4)

Problematisch ist hierbei, das Eulersche - also Funktionen die vom aktuellen Ort abhängen -und Lagrangesche Größen - solche die explizit vom Ausgangspunkt eines Teilchens abhängen -vermischt werden und es praktischer ist, alle Größen in Abhängigkeit vom aktuellen Ort zubringen. Daher wollen wir die Geschwindigkeit v(t), die vom Ausgangspunkt abhängt, ersetzendurch die Geschwindigkeit u(x(t), t), die ein Beobachter am aktuellen Ort zur Zeit t misst. Dadies jedoch die Geschwindigkeit des Teilchens ist, welches genau zu diesem Zeitpunktvorbeikommt, sind die Geschwindigkeiten gleich.Um nun wieder die Beschleunigung zu erhalten müssen wir auf u die mehrdimensionaleKettenregel anwenden und erhalten nach Einsetzen - wir lassen ab sofort zur Vereinfachung dieArgumente weg - die Gleichung:

∇p+ % · (∂u∂t + u · ∇u) = 0. (5)

Diese Gleichung gilt jedoch nur für ideale Fluide, also unter Vernachlässigung derReibungskräfte.Problematisch ist außerdem, dass jede Strömung, die wir im d-dimensionalen betrachten, unsfür die Geschwindigkeit d Richtungskomponenten liefert und wir somit inklusive der Dichte unddes Drucks d+2 Unbekannte haben, allerdings nur d Gleichungen.Um dieses Problem zu beseitigen, bedient man sich an weiteren physikalischen Relationen.Zuerst betrachten wir nur noch inkompressible Fluide, was bedeutet, dass der Druck nicht vonder Dichte abhängt bzw. dass sich das Volumen mit der Zeit nicht ändert. div(u) ist dieÄnderungsrate des Volumens, soll dieses sich allerdings nicht ändern, können wir die Gleichung(5) mit div(u) = 0 erweitern. Als letzte Vereinfachung gehen wir von homogenen Fluiden aus,was bedeutet, dass die Dichte konstant ist und wir setzen % = 1.Damit lauten die vollständigen Euler-Gleichungen für homogene inkompressible Fluide:

∇p+∂u

∂t+ u · ∇u = 0

div(u) = 0.

Um von den Euler-Gleichungen zu den Navier-Stokes-Gleichungen überzugehen, fehlt nunletztendlich die Reibung. Reibung lässt sich veinfacht folgendermaßen beschreiben: Teilchenwerden vom Durchschnitt ihrer Nachbarn entweder gebremst oder mitgerissen. DieseAbweichung vom Durchschnitt bzw. dem Mittelwert wird mithilfe des Laplaceoperators∆ = ∇2 gemessen. Wir ergänzen die Euler-Gleichungen um den Reibungsterm ∆u, sowie umdie Viskositätskonstante ν und erhalten als Ergebnis die vollständigenNavier-Stokes-Gleichungen für homogene inkompressible Fluide:

∇p+∂u

∂t+ u · ∇u = ν ·∆u

div(u) = 0.

Beide Gleichungssysteme sind Anfangs-Randwert-Aufgaben, was bedeutet, dass wir Anfangs-und Randbedingungen benötigen, um einen Fluss auf einem beschränkten Gebiet eindeutig zu

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bestimmen. Man kann die Aufgabe jedoch vereinfachen, indem man die physikalischenRandwertbedingungen mit periodischen ersetzt und von einem quaderförmigen Gebiet ausgeht,dessen gegenüberliegenden Seiten jeweils miteinander identifiziert sind. Grenzschichtenausgenommen, verhalten sich die Randwertbedingungen qualitativ gleichwertig. Allerdingsbenötigt man bei den Navier-Stokes-Gleichungen - selbst bei vernachlässigbarem Energieverlustdurch Reibung - die Reibung am Rand, um aussagekräftige Ergebnisse zu bekommen. Nur solässt sich zum Beispiel der Auftrieb bei Flugzeugen erklären.

Nachdem wir nun die Grundgleichungen der Strömungsmechanik kennen gelernt haben, stelltsich die Frage wie Singularitäten entstehen können. Eine wichtige Rolle hierbei spielen zumBeispiel die

Erhaltungssätze der Strömungsmechanik

i. Impulserhaltung

Die Impulserhaltung ist durch das zweite newtonsche Gesetz explizit gegeben:

p = F , (6)

wobei F die äußere Kraft und p die Änderung des Impulses nach der Zeit bezeichnen.

ii. Energieerhaltung

E = 12 ·m· | v |

2 ist die Energie auf ein Punktteilchen. Wir interessieren uns allerdings fürdie Energie auf ein Kontinuum. Durch den Übergang von Masse zu Massendichte ergibtsich die kinetische Energiedichte 1

2 · %· | u |2. Da bei inkompressiblen Strömungen die

gesamte Energie kinetisch ist, ergibt sich die Energie indem wir die Energiedichte überdas Gebiet Ω unseres Kontinuums integrieren:

E =∫

Ω12 · %· | u |

2 dx. (7)

iii. Drehimpulserhaltung

Der Drehimpuls beschreibt die Rotation eines Systems um einen Referenzpunkt, im Falleines Kontinuums also um eine Referenzkurve C0. Man stellt sich vor, dass diese Kurve inder Strömung "mitschwimmt". Zusammen mit der Flussabbildung definieren wir eineKurvenschar Ct = φt(C0). Nun können wir die Zirkulation wie folgt definieren:

Γt =∮Ctuds. (8)

Dabei soll Ct ⊂ R3 eine beliebige, geschlossene und glatte Referenzkurve sein, die durchs : [a, b]→ Ct parametrisiert ist. Geschlossen soll heißen, dass der Anfangspunkt gleichdem Endpunkt ist, also s(a) = s(b). Außerdem soll die Kurve nur einmal und nichtmehrfach durchlaufen werden.Mit dem klassischen Satz von Stokes können wir nun das Kurvenintegral in einFlächenintegral umschreiben. Dafür sei St eine orientierte Referenzfläche, die durch dieReferenzkurve berandet ist, also ∂St = Ct. Diese Fläche soll in der Strömung"mitschwimmen". Damit ist dann:

Γt =∫Strot(u)dA, mit rot(u) = ω (9)

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das Flächenintegral, wobei ω = (w1, w2, w3) Wirbelstärke genannt wird. Die einzelnenKomponenten wi der Wirbelstärke sind jeweils der Grenzwert der Zirkulation proEinheitsfläche in der zur xi-Richtung senkrechten Ebene. Einfacher ausgedrückt gibt zumBeispiel w3 an, wie stark sich ein Blatt, das in der Strömung mitschwimmt, um diex3-Achse dreht.

Wozu benötigen wir also die Zirkulationserhaltung? Sie erklärt einen Unterschied zwischen zweiund drei Raumdimensionen. Im R2 haben Fläche und Volumen die gleiche Bedeutung, so dassdurch die Inkompressibilität bewirkt wird, dass das Flächenmaß unserer Referenzfläche zeitlichinvariant ist. Lässt man die Ausdehnung gegen null laufen, so bleibt durch dieZirkulationserhaltung auch die Wirbelstärke punktweise entlang der Bahnlinien erhalten.Daraus folgt, dass sich keine Singularitäten bilden können.Betrachten wir nun den R3. Volumen und Fläche sind nun nicht mehr identisch, also gibt eskeinen offensichtlichen Zusammenhang zwischen Volumen- und Flächenerhaltung und damitauch keinen Zusammenhang zwischen Zirkulationserhaltung und Wirbelstärke.

Betrachtet man zum Beispiel einen Ball, welcher mit einem ruhenden Fluid gefüllt ist und voneiner Schnur umwickelt wird. Zieht man die Schnur zusammen, entsteht letztendlich einetopologische Singularität. Doch die Wirbelstärke sowie die Geschwindigkeit sind beschränkt, dakeine Zirkulation stattfindet. Wäre der Ball jedoch mit einem rotierenden Fluid befüllt, mussbeim Zusammenziehen der Schnur, die Strömungsgeschwindigkeit unbeschränkt wachsen, da dieZirkulation nach Definition des Kurvenintegrals durch die Strömungsgeschwindigkeitmultipliziert mit dem Umfang der Öffnung gegeben ist. Der Umfang geht allerdings gegen nullund somit entsteht durch die Zirkulationserhaltung eine Singularität.

Abb. 6: Ball

Ein mit einem Fluid befüllter Ball wird mit einer Schnur zusammengezogen.

In diesem Beispiel haben wir jedoch aktiv in unser System eingegriffen, was nicht die Fragebeantwortet, ob solche Singularitäten auch ohne externe Einflüsse entstehen können.Man hat herausgefunden, dass bei den Euler-Gleichungen eine Singularität immer mit einerSingularität der Wirbelstärke einhergeht. Doch lässt sich diese Beobachtung nicht auf dieNavier-Stokes-Gleichungen übertragen. Die Reibung am Lasso würde eineGeschwindigkeitssingularität verhindern.

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Quellen

Kerr, R.M./Oliver, M.: „Regulär oder Singulär? Mathematische und numerische Rätsel in derStrömungsmechanik", in: Schleicher, D./Lackmann, M. (Hrsg.): Eine Einladung in dieMathematik, Heidelberg: Springer Spektrum, 2013, S. 141-170.

Wikipedia: „Turbulente Strömung". URL:https://de.wikipedia.org/wiki/Turbulente_Str%C3%B6mung [Stand:05.07.2017]

Abbildungen

Abb. 1: HonigURL:http://sunny7.at/sites/default/files/images/manuka\_honig\_wirkung\_4\_0.jpg[Stand:05.07.2017]

Abb. 2: HurricaneURL: http://cache.boston.com/universal/site\_graphics/blogs/bigpicture/hurricane\_09\_08/hurricane12.jpg [Stand:04.07.2017]

Abb. 3: WindenergyFoto: Christian WagnerURL: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/e/e0/Windenergy.jpg[Stand:29.06.2017]

Abb. 4: GolfballURL: https://i.stack.imgur.com/hrI39.png [Stand:02.07.2017]

Abb. 5: FlascheDarstellung: Benedikt Gerweck

Abb. 6: BallDarstellung: Benedikt Gerweck

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