Reinhart Koselleck - Einige Fragen an die Begriffsgeschichte von "Krise"

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    Einige Fragen an die Begriffsgeschichte von Krise

    Wer heute eine Zeitung aufschlgt, stt auf den AusdruckKrise. Er indiziert Unsicherheit, Leiden und Prfung und verweist auf eine unbekannte Zukunft, deren Voraussetzungen sichnicht hinreichend klren lassen. Das stellte ein franzsisches Lexikon 1 8 4 0 fest. ' Auch heute ist es nicht anders. Der inflationreWortgebrauch hat fast alle Lebensbereiche erfat: Innen- undAuenpolitik, Kultur, Wirtschaft, Kirchen und Religionen, alleGeistes- und Sozialwissenschaften und ebenso die Naturwissen

    schaften, Technik und Industrie, sofern diese als Teile unserespolitischen und sozialen Systems, als unabdingbares Element unserer Lebenswelt begriffen werden. Wenn der gehufte Wortgebrauch ein hinreichendes Indiz fr eine wirkliche Krise wre,dann mten wir in einer allumfassenden Krise leben. Aber dieser Rckschlu zeugt zunchst mehr von einer diffusen Redeweise, als da er schon zur Diagnose unserer Lage beitrge.

    Im folgenden versuche ich im Medium der Begriffsgeschichteeinige strukturelle Merkmale des Begriffs herauszuschlen, die

    dazu beitragen mgen, die Kraft der Argumente zu verstrken,sie zu przisieren. Dabei werfe ich zunchst einen Blick auf dieGeschichte des Begriffs; zweitens skizziere ich semantische Modelle, auf die der neuzeitliche Wortgebrauch reduziert werdenkann; drittens mchte ich einige Fragen erneut aufwerfen, diesich aus dem Verhltnis der christlichen Tradition zur modernenBegriffssprache ergeben.

    I. Begriffsgeschichtlicber berblick

    Krisis gehrt zu den Grundbegriffen, d.h. zu den nichtersetzbaren Begriffen der griechischen Sprache. Abgeleitet aus krino,scheiden, auswhlen, entscheiden, beurteilen: medial, sich mes-

    i Dictionnaire Politique, publ. par E. Duclerc et Pagnerre, Paris 1868 (7. d.), 1839(1. d), art. crise, p. 298. Fr alle folgenden Belege siehe meinen Artikel Krisein: Geschichtliche Grundbegriffe, hg. v. Otto Brunner u. a., Bd. 3, Stuttgart 1982,S. 617-650 .

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    2.04 Teil II: Begriffe und ihre Geschichten

    sen, streiten, kmpfen, zielte Krisis auf eine endgltige, unwiderrufliche Entscheidung. Der Begriff implizierte zugespitzte Alternativen, die keine Revision mehr zulieen: Erfolg oder Schei

    tern, Recht oder Unrecht, Leben oder Tod, schlielich Heil oderVerdammnis.

    Im Kampf der Mchte ging es - so bei Thukydides - umkriegsentscheidende Schlachten, deren vier den groen Perserkrieg entschieden htten. Dabei rckt Thukydides die Schlachten(wie spter Montesquieu) bereits in allgemeine Rahmenbedingungen ein, die es erst mglich machten, da vier Schlachtenkriegsentscheidend werden konnten.

    In der hippokratischen Schule ging es um die kritische Phaseeiner Krankheit, in der der Kampf zwischen Tod oder Leben endgltig ausgetragen wurde, in der die Entscheidung fllig, abernoch nicht gefallen war.

    Im Bereich der Politik - so bei Aristoteles - ging es um dieRechtswahrung oder -findung, an der mitzuwirken alle Brgerberufen waren, aber auch um politische Entscheidungen, die allesamt das erforderliche rechte Urteil voraussetzen sollten.

    Innerhalb der Theologie, so seit dem Neuen Testament, ge

    winnt Krisis, Judicium, beide Begriffe aus der Rechtssprachebernommen, eine neue, gewissermaen unberbietbare Bedeutung: das Gericht Gottes. Sei es, da Krisis das Jngste Gerichtam Ende der Zeiten meint, sei es, da dieses Gericht durch Christi Erscheinen, durch das Licht, das er dieser Welt brachte, allenGlubigen schon zu ihren Lebzeiten gegenwrtig sei.

    Der Begriff erfate also potentiell alle Entscheidungslagen desinneren und des ueren Lebens, des einzelnen Menschen und

    seiner Gemeinschaft. Immer handelte es sich um endgltige Alternativen, ber die ein angemessenes Urteil gefllt werdenmute, deren alternativer Vollzug aber auch in der jeweiligenSache selbst, um die es ging, angelegt war.

    Es war ein Begriff, der immer eine zeitliche Dimension mitsetzte, der, modern gesprochen, wenn man so will, eigentlich eineZeittheorie implizierte. Sei es, da der rechte Zeitpunkt fr daserfolgreiche Handeln getroffen werden mute, sei es, da dieHerrschaftsordnung durch Rechtswahrung oder Rechtsfindung

    stabilisiert wurde; sei es, da das medizinische Urteil - so Galen -

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    die richtige Zeitphase eines Krankheitsverlaufes diagnostizierenmute, um eine Prognose riskieren zu knnen. Oder sei es in derTheologie, da Gottes Botschaft angenommen wird, um - so beiJohannes - hic et nunc der Verdammnis zu entkommen trotz desnoch ausstehenden letzten Gerichtes, auf das sich der Kosmoszubewegt, dessen Eintreffen aber ins Dunkle gehllt blieb.

    Krisis richtete sich gleichsam auf die Zeitnot, die zu begreifen, den Sinn des Begriffs ausmachte. In fast allen Reden vonKrise gehrten dazu das Wissen um die Ungewiheit und derZwang zur Vorausschau, um ein Unglck zu verhindern oderRettung zu finden, wobei die jeweiligen Zeitfristen je nach den

    thematisierten Lebensbereichen auf verschiedene Weise begrenztwaren.

    Von der Antike bis zur frhen Neuzeit haben sich Wort undBegriff in der lateinischen Sprache durchgehalten, Crisis im Medizinischen und Judicium oder Judicium maximum in derTheologie. Thomas von Aquin unterschied z. B. in seinem Cora-

    pendium Theologiae (Cap. 242) drei zeitliche Phasen des Gerichtes, das der Gottessohn ausbt: das Gericht, das den Menschenwhrend seines Lebens trifft, das zu seiner Todesstunde undschlielich das Endgericht, nach der Wiederkehr Christi. Die Begriffsgeschichte von Krisis vollzog sich gleichsam fachsprachlich, zurckgebunden an die Institution der Kirche bzw. der verschiedenen Fakultten. Seit der bernahme des griechischenWortes in die europischen Volkssprachen - seit dem ausgehenden Mittelalter - lt sich dessen sukzessive und zunehmendeAusbreitung registrieren. Der Begriff erfate immer mehr Lebensbereiche: die Politik, die Psychologie, die sich entwickelnde

    konomie und schlielich die neu entdeckte Geschichte. Mankann die Behauptung wagen, da der Begriff Krise sogar dazubeitrug, die genannten Bereiche als eigenstndige Wissenschaften zu begrnden.

    Dabei stand zunchst der medizinische Wortgebrauch Pate.Die Corpus-Metaphorik fr die Staaten mag der medizinischenMetaphorik Vorschub geleistet haben. Sie diente dazu, Krankheit oder Gesundheit zu diagnostizieren und Leben oder Sterbenvorauszusagen.

    Im 1 8 . Jahrhundert hatte sich der Begriff freilich verselbstn-

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    digt. Der Verweis auf den medizinischen Sinn wurde nun bewutals Metapher apostrophiert, wie von Rousseau. In Deutschlandist z.B. von der Krise des Deutschen Reichssystems die Rede,

    wobei auf die fderale Verfassungsstruktur abgehoben wurde,deren interne Regeln nicht mehr ausreichten, um das Reich zustabilisieren. Deshalb sei ein zustzlicher Frstenbund zu stiften,aus dessen Prambel 1785 die Formulierung stammt.

    Krise legt insofern eine hnliche Karriere zurck, wie Revolution oder Fortschritt, die beide zu temporalen Begriffen werden, deren rumliche oder naturale Vorbedeutung sich seit derAufklrung verflchtigt, um zu primr geschichtlichen Begriffen

    aufzurcken. Das zeigt sich z. B. bei Leibniz, der whrend desnordischen Krieges mit dem Aufstieg des Russischen Reiches eineneue Weltkonstellation heraufziehen sah: Momenta temporumpretiosissima sunt in transitu rerum. Et l'Europe est maintenantdans un tat de changement et dans une crise o elle n'a jamaist depuis l'Empire de Charlemagne. 2 Der Begriff rckte in einegeschichtsphilosophische Dimension ein, mehr noch, er erschlodiese Dimension, die er im Laufe des 18. Jahrhunderts immermehr ausfllen sollte. Krise rckt auf zu einem geschichtsphi-

    losophischen Grundbegriff, der den Anspruch anmeldet, den gesamten Geschichtsverlauf aus der eigenen Zeitdiagnose herausdeuten zu knnen. Es ist immer die jeweils eigene Zeit, die seitdem als Krise erfahren wird. Und die Reflexion auf die eigeneZeitlage disponiert sowohl zur Erkenntnis der ganzen Vergangenheit wie zur Prognose in die Zukunft.

    Sptestens seit der Franzsischen Revolution wird Krisezum zentralen Interpretament sowohl fr die politische wie frdie Sozialgeschichte. Das gleiche gilt fr die langfristige industrielle Revolution, die von einer wissenschaftlich ausdifferenzierten Krisen- und Konjunkturlehre begleitet und beeinflutwird.

    Im Unterschied zur Nationalkonomie fllt allerdings auf,da fr die geschichtlichen Gesamtkonzeptionen im 19. Jahr-

    2 Leibniz, Konzept eines Briefes an Schleiniz (23. 9. 1712), Leibniz' Ruland betreffender Briefwechsel, hg. v. Wladimir Iwanowitsch Guerrier, Petersburg undLeipzig 1873, Tl. 2, S. 227L, zit. nach D. Groh, Ruland und das Selbstverstnd

    nis Europas, Neuwied 196 1,8.39 .

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    hundert keine explizite Krisentheorie entwickelt worden ist. Jacob Burckhardt bleibt die einzige Ausnahme. Und selbst Marx,

    der seine konomische Theorie mit einer Geschichtsphilosophiezu verbinden suchte, ist bei der Ausarbeitung einer Krisentheoriesteckengeblieben, auf die Schumpeter - im Hinblick auf diesenBegriff - 1939 (business cycles) ausdrcklich verzichtet hat.Auch im 20. Jahrhundert beschrnken sich die Krisentheorienauf spezielle Wissenschaftsbereiche wie die Psychiatrie oder diePolitologie. Globale Krisentheorien, wie sie den Geschichtsphilosophien des 18. und 19. Jahrhunderts implizit zugrunde lagen,geraten heute schnell in den Geruch, unseris, weil empirisch

    nicht hinreichend einlsbar oder absicherbar zu sein. - Damitwenden wir uns der Semantik von Krise als einem geschichtlichen Grundbegriff zu.

    II. Drei semantische Modelle

    Whrend anfangs der medizinische Bedeutungsgehalt von Krise

    stark in die politische Wort Verwendung eingewirkt hatte, werdenspter zahlreiche theologische Elemente in den geschichtlichenGrundbegriff eingespeist. Das gilt schon fr die Sprache des englischen Brgerkrieges von 1640-1660. Und das gilt ebenso frden geschichtsphilosophisch reflektierten Sprachgebrauch, dersich seit der Sptaufklrung allgemein durchsetzt. Die Assoziationskraft des Gottesgerichtes und der Apokalyptik spielt dauernd in die Wortverwendung hinein, so da an der theologischenHerkunft der neuen Begriffsbildung kein Zweifel bestehen kann.

    Das erweist sich nicht zuletzt daran, da die geschichtsphiloso-phischen Krisendiagnosen gerne mit harten Zwangsalternativenoperieren, die einer differenzierten Diagnostik abtrglich sind,aber durch den prophetischen Sprachgestus um so wirksamerund einleuchtender zu sein scheinen.

    Wenn ich im folgenden drei semantische Modelle entwerfe, soliegt darin das Risiko beschlossen, den historisch tatschlichenBegriffsgebrauch ungebhrlich zu vereinfachen. Drei semantische Optionen lassen sich jedenfalls feststellen:

    Erstens kann die Geschichte als Dauerkrise interpretiert wer-

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    den. Die Weltgeschichte ist das Weltgericht. Dann handelt es sichum einen Prozebegriff.

    Zweitens kann Krise einen einmaligen, sich beschleunigenden Vorgang bezeichnen, in dem sich viele Konflikte, das Systemsprengend, zusammenschrzen, um nach der Krise eine neueLage herbeizufhren. Dann indiziert Krise das berschreiteneiner Epochenschwelle, einen Vorgang, der sich mutatis mutandis wiederholen kann. Auch wenn die Geschichte im Einzelfallimmer einmalig bleibt, zeugt dieser Begriff doch von der Mglichkeit, da sich die Vernderungsschbe in analogen Formenabspielen knnen. Deshalb schlage ich vor, ihn als iterativen Pe

    riodenbegriff zu bezeichnen.Drittens kann Krise die schlechthin letzte Krise der bisheri

    gen Geschichte meinen, wobei die Aussagen ber das JngsteGericht allenthalben nur metaphorisch verwendet werden. Whrend gemessen am bisherigen Gang unserer Geschichte diesesModell als utopisch bezeichnet werden mu, lt sich nicht mehrausschlieen, da es in Anbetracht der gegenwrtigen Selbstzerstrungsmittel alle Chancen hat, verwirklicht zu werden. DieserKrisenbegriff ist im Unterschied zu den anderen ein reiner Zu

    kunftsbegriff und zielt auf eine Letztentscheidung.Tatschlich tauchen in der geschichtsphilosophischen oder

    geschichtstheoretischen Sprache die aufgefhrten Modelle nichtin reiner Form auf, sondern sttzen sich gegenseitig ab, werdengemischt und verschieden dosiert. Gemeinsam ist allen drei Modellen, da sie trotz ihrer theologischen Imprgnation den Anspruch erheben, geschichtsimmanente Erklrungsmuster fr Krisen zu bieten, die theoretisch auf den Eingriff Gottes verzichten

    knnen.Zu den drei semantischen Grundpositionen seien einige Erluterungen nachgeschickt, i. Die Weltgeschichte ist dasWeltgericht ist ein Diktum von Schiller und gleichsam zumMotto fr die Neuzeit aufgerckt. Scheinbar zufllig taucht diePassage in einem Liebesgedicht auf, in dem Schiller eine verpateSituation beklagt, die nicht mehr einzuholen ist. Was man vonder Minute ausgeschlagen / Gibt keine Ewigkeit zurck.3 For-

    3 Schiller, Resignation. Eine Phantasie, Smtliche Werke. Skularausgabe, hg. v.Eduard von der Hellen u. a., Stuttgart und Berlin o. J. , Bd. i, S. 199.

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    mal handelt es sich um die Verzeitlichung des Jngsten Gerichtes,das sich immer und stndig vollstreckt. Jeder Tag ist der Jngste.Dabei hat es eine ausgesprochen antichristliche Pointe, weil jedeSchuld gnadenlos in die Biographie des einzelnen, in die Geschichte der politischen Handlungsgemeinschaften, in die gesamte Weltgeschichte eingeht. Das Modell ist kompatibel mitdem Schicksal, das Herodot hinter allen Einzelgeschichten aufscheinen lt, die immer wieder als Vollzug einer weltimmanenten Gerechtigkeit gelesen werden knnen. Aber Schillers Diktumerhebt einen greren Anspruch. Nicht nur den Einzelgeschichten wird eine ihnen innewohnende Gerechtigkeit zugemutet, die

    einen fast magischen Anstrich erhlt, sondern der Weltgeschichte in toto. Logischerweise wird jede Ungerechtigkeit, jedeInkommensurabilitt, jedes ungeshnte Verbrechen, jede Sinn-und Nutzlosigkeit apodiktisch ausgeschlossen. Damit erhhtsich die Beweislast fr den Sinn dieser Geschichte enorm. Es istnicht mehr der Historiker, der ex post aufgrund seines besserenWissens die Vergangenheit moralisch richten zu knnen glaubt,sondern der Geschichte selbst wird als einem handelnden Subjektunterstellt, da sie Gerechtigkeit vollstrecke. Hegel hat es auf

    sich genommen, die moralischen Diskrepanzen und Unzulnglichkeiten, die sich aus diesem Diktum ergeben, aufzufangen.Seine Weltgeschichte bleibt das Weltgericht, weil sich der Weltgeist oder die Gedanken Gottes in sie hinein entuern, um zusich selbst zu finden. Theologisch gesehen, handelt es sich um dieletzte auch nur denkbare Hresie, die einer christlichen Geschichtsdeutung rundum gerecht werden will.

    Aber Schillers Diktum lie sich bruchlos weiterverwenden,

    solange die Geschichte als weltimmanenter Proze interpretiertwurde. Die Liberalen wurden nicht mde, sich darauf zu berufen, um eine moralische Legitimitt ihres Handelns daraus ableiten zu knnen. Aber auch die darwinistischen und imperialistischen Geschichtsphilosophien konnten bruchlos daran anknpfen, weil der Erfolg, die Durchsetzung des Strkeren, denAnspruch auf geschichtliche Legitimitt einlste - bis hin zu Hitlers sentimentalem Verzicht auf Selbstmitleid: Wer untergeht, hates gerechterweise verdient.

    Es gibt semantische Optionen, deren Folgelasten keineswegs

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    ihren sprachlichen Urhebern zugeschrieben werden drfen. Wersich anheischig macht, Hitler auf Hegel oder Schiller zurckzufhren, erliegt einem wirkungsgeschichtlichen Anspruch, der se

    lektiv verfhrt. Die Weltgeschichte als Weltgericht impliziert zunchst und vor allem die Aussage, da jede Situation vom gleichen Zwang zur Entscheidung geprgt ist.

    In diesem Sinne war Schillers Diktum auch theologisch adaptierbar, etwa wenn Richard Rothe 1837 feststellte: Die ganzechristliche Geschichte berhaupt ist Eine groe kontinuierlicheKrisis unseres Geschlechts.4 Oder wenn Karl Barth diese Dau-erkrisis aller finalistischen oder teleologischen Obertne entklei

    dete, um sie existentiell auszulegen: Die sogenannte Heilsgeschichte ist nur die fortlaufende Krisis aller Geschichte, nichteine Geschichte in oder neben der Geschichte.5 Krisis hat hierals Begriff seine endzeitliche oder seine bergangszeitliche Bedeutung eingebt - sie wird zu einer strukturalen Kategorie derchristlich begriffenen Geschichte schlechthin; die Eschatologiewird gleichsam geschichtlich vereinnahmt. Diese metaphorischeDehnung des Krisenbegriffs hat Kar! Popper auch fr seine Logikder Forschung beansprucht. Sein Buch sei eine Erkenntnistheo

    rie, eine Methodenlehre, schreibt er 1934: Es ist ein Kind derZeit, ein Kind der Krise - wenn auch vor allem der Krise derPhysik. Es behauptet die Permanenz der Krise; wenn es Rechthat, so ist die Krise der Normalzustand einer hochentwickeltenrationellen Wissenschaft6 - womit sich Theologie und Naturwissenschaft wenigstens in dieser Hinsicht einig wren.

    2. Theoretisch weniger anspruchsvoll ist Krise als iterativerPeriodenbegriff. Dieser fragt nach den Bedingungen mglicher

    Geschichtsverlufe, um aus ihrer Vergleichbarkeit Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausarbeiten zu knnen. Das semantische Modell erhebt nicht den Anspruch, die Geschichte insge-

    4 Richard Rothe, Die Anfnge der christlichen Kirche und ihre Verfassung (1837),zit. nach: Peter Meinhold, Geschichte der kirchlichen Historiographie, Mnchenund Freiburg 1967, Bd. 2, S. 221.

    5 Karl Barth, Der Rmerbrief (1918), 9. ND der 5. Aufl. (1926), Zollikon undZrich 1954, S. 57, 32.

    ti Zit. n. Lothar Schfer, Lat Theorien sterben anstatt Menschen. Vor hundert

    Jahren wurde Karl Popper geboren, in: Neue Zricher Zeitung, 27./28. Juli2002.

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    samt oder dauerhaft deuten zu knnen. Jacob Burckhardt hat esz.B. verstanden, anthropologische Konstanten aufzuweisen, diein ihren jeweiligen historischen Artikulationen verschiedene Krisenverlufe ermglicht haben. Als historisch einmalige Krise hater dabei die Vlkerwanderungszeit definiert, die nicht zuletzt dieEntstehung einer Kirche mit universalem Anspruch begnstigthabe. Daneben lie er nur noch die Neuzeit gelten, als eineDauerkrise mit offenem Ausgang. Hinter allen anderen Krisenentdeckte er letztlich mehr Kontinuitten, als die Wahrnehmungder Betroffenen jeweils zugeben wollte.

    Auch der konomische Krisenbegriff lt sich semantisch

    hier ansiedeln. Hinter den konomischen Krisenmodellen stehtdie Gleichgewichtsmetaphorik des T 8 . Jahrhunderts, die sichempirisch nie vollstndig einlsen lt. Krisen tauchen, grob gesprochen, immer dann auf, wenn das Gleichgewicht zwischenAngebot und Nachfrage, zwischen Produktion und Konsump-tion, zwischen Geldumlauf und Warenumlauf so gestrt wird,da Rezessionen, Rckschritte allenthalben sichtbar werden.Zugleich aber lehrt die bisherige Erfahrung, da auf eine Krisestets eine allgemeine Produktivittssteigerung folgte. Das Para

    dox dieser Krisenlehre scheint darin zu bestehen, da ein Gleichgewicht nur eingehalten bzw. wiedergewonnen werden kann,wenn sich die Produktivitt weiterhin steigert und nicht etwastagniert: denn dann scheint der Rckgang unentrinnbar zu sein.Insofern ist dieses Modell bisher auf den Fortschritt angewiesen,ohne den es nicht empirisch einlsbar wre. Wie Molinari,ein Konjunkturtheoretiker des 19 . Jahrhunderts, sagte: Jederkleine oder groe Fortschritt besitzt seine Krise. ' Da Krisen die

    Generatoren des Fortschritts seien, dieses semantische Modellscheint mir bisher nur im Bereich der konomie, der Naturwissenschaften, der Technik und der Industrie eingelst worden zusein. Ich erspare mir, fr die Anwendung des Modells auf diegesamte Geschichte der Menschheit Zitate zu bringen. Ihre Zahlist unbersehbar. Nur ein Beleg stehe fr alle ein: Out of everycrisis mankind rises with some greater share of knowledge,

    7 Gustave de Molinari, L'Evolution conomique du XIXe sicle. Thorie du Progrs, Paris 1880, S. iozf.

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    higher decency, purer purpose.8 Dies die Worte von FranklinD. Roosevelt kurz vor seinem Tode. Von der semantischen Option her mu die Frage gestellt werden, ob -Fortschritt der Leit

    begriff fr Krise ist oder ob der iterative Periodenbegriff vonKrise der wahre Leitbegriff ist, unter dem auch Tortschritt zusubsumieren ist. Wenn Krise als iterativer Periodenbegriff einegrere Erklrungskraft beanspruchen darf, dann knnte derFortschritt, den es unbestreitbar gibt, in sein relatives Recht eingewiesen werden.

    3. Die Krise als Letztentscheidung. Da die Krise, in der mansich jeweils befinde, die letzte groe und einmalige Entscheidungsei, nach der die Geschichte in Zukunft ganz anders aussehenwerde - diese semantische Option wird immer hufiger ergriffen,je weniger an das absolute Ende der Geschichte durch ein Jngstes Gericht geglaubt wurde. Insofern handelt es sich um die Um-besetzung eines theologischen Glaubenssatzes. Er wird der weltimmanenten Geschichte selbst zugemutet. Einige Zeugen seienaufgerufen. Robespierre sah sich als Vollstrecker einer moralischen Gerechtigkeit, die sich durch Gewalt wider Willen ihrenendgltigen Durchbruch verschafft. Thomas Paine glaubte ange

    sichts der Krisis der amerikanischen und der FranzsischenRevolution ebenso, da die Zukunft eine absolute Wende in sichbirgt. Auch ursprngliche Partisanen der Franzsischen Revolution, die zu erbitterten Gegnern ihrer bonapartistischen Folgenwurden, konnten diese semantische Option durchhalten. Esseien nur genannt: Friedrich Schlegel, Fichte oder Ernst MoritzArndt aus dem deutschen Sprachraum. Der absolute Tiefpunktder Geschichte verbrgt den Umschlag zur Erlsung. Fr Frankreich sei auf die Geburt der Soziologie aus dem Geist der Revolution (nicht nur der Restauration) verwiesen. St. Simon oderAuguste Comte wuten sich in der Grande Crise Finale, diedurch wissenschaftliche Planung und industrielle Produktionssteigerung ein fr allemal durchschritten und berwunden werden knne. Auch Lorenz von Stein ist hier zu nennen, der imAusgleich von Kapital und Arbeit die letzte Chance erblickte,Europa vor dem Rckfall in Barbarei zu bewahren.

    8 Zit. nach W. Besson, Die politische Terminologie des Prsidenten F. D. Roosevelt,Tbingen 1955,8.20.

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    Karl Marx ist hier gleichsam in einer Zwischenposition hngengeblieben: Einerseits erwartete er mit Sicherheit, da die

    letzte Krise des Kapitalismus den kommenden Zustand der Herrschaftsfreiheit und der Beseitigung von Klassenunterschiedenmit sich bringe, andererseits sah er sich nicht imstande, die Krisen des Kapitalismus so zu interpretieren, da sie das System -statt es zu erhalten - zwangslufig sprengen mten. Er operierteeinerseits mit einem systemimmanenten Krisenbegriff, indem erdie iterative Struktur konomischer Krisen aufzeigte. Andererseits kannte er einen systemsprengenden Krisen begriff, den eraus anderen - ehedem theologischen - Prmissen ableitete und

    der die Weltgeschichte auf eine letzte groe Krise zutreiben lie.Der vermeintliche letzte Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie vollzieht sich fr ihn zweifellos in den Dimensionen einesJngsten Gerichtes, das rein konomisch zu begrnden ihm nichtgelungen ist. Damit komme ich zu meinem Schluteil.

    III. Krise als Frage an die christliche Tradition

    Es ist leicht, die jeweils als letzte Entscheidung erwartete Krise alseine perspektivische Illusion zu enthllen. Es gehrt zur Endlichkeit aller Menschen, da sie ihre jeweils eigene Lage fr wichtigeransehen und ernster nehmen, als alle vorangegangenen Lagen esgewesen seien. Aber man sollte sich davor hten - gerade imHinblick auf die Lehre vom Jngsten Gericht -, diese berzogeneSelbsteinschtzung der Menschen nur als perspektivischen Irrtum abzutun. Gerade wenn es darauf ankommt, auch nur das

    berleben zu sichern, knnte es sein, da sich viele Entscheidungen als Letztentscheidungen herausstellen. Krisis im griechischen Sinne des Zwanges zum Urteilen und zum Handeln unterdem Vorgebot der Zeitnot bleibt ein Begriff, der auch unter denkomplexen Bedingungen der modernen Gesellschaft unverzichtbar ist. Das mchte ich mit einem historischen Gedankenexperiment erlutern.

    Es gehrt zur christlichen Lehre, da Gott die Zeit verkrzenwerde, bevor das Weltende hereinbreche. Dahinter steht die kos-mologische Vorstellung, da Gott als Herr der Zeiten das vorge-

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    sehene Ende der Welt frher herbeifhren knne, als vorgesehen,und zwar um der Auserwhlten willen, deren Leid er verkrzenwerde (Markus 13,20; Matthus 24,22). Nun mag man diese

    mythologische Sprache der apokalyptischen Erwartung psycho-logisieren oder ideologisieren. Der Nachweis mag nicht schwerfallen, in diesem Glauben an die bevorstehende Zeitverkrzungeinen Wunsch der Leidenden und Unterdrckten zu sehen, dasElend so schnell wie mglich gegen ein Paradies auszutauschen.Aber betrachtet man den Topos von der eschatologischen Zeitverkrzung entlang seinen geschichtlichen Ausdeutungen, sosteht man vor dem erstaunlichen Befund, da aus der anfangs

    bergeschichtlichen Zeitverkrzung sukzessive eine Beschleunigung der Geschichte selber geworden ist. Luther z. B. glaubte festdaran, da Gott vor dem unbekannten Ende der Welt die Zeitverkrzen werde. Aber er glaubte nicht mehr daran, da dieJahre zu Monaten, die Monate zu Wochen und die Wochen zuTagen wrden, bevor das ewige Licht den Unterschied von Tagund Nacht aufheben werde, sondern er deutete die Zeitverkrzung bereits geschichtlich: die Ereignisse selbst, die sich mit demZerfall der Kirche beschleunigt berstrzten, waren ihm ein Vor

    bote des kommenden Weltendes. Die Beweislast fr das hereinbrechende Jngste Gericht lag nicht mehr in der mythischen Vorstellung beschlossen, da die Zeit selbst verkrzbar sei, sondernsie wurde den empirisch sichtbaren geschichtlichen Ereignissenals solchen zugemutet. Aus ganz anderer Perspektive wurde dieGeschichte der naturwissenschaftlichen Entdeckungen analoggedeutet. Fr Bacon war es noch ein Satz der Erwartung und derHoffnung, da die Erfindungen in immer krzeren Intervallen

    stattfinden wrden, um die Natur immer besser beherrschen zuknnen. Daraus folgerte die Intelligenz der frhen Neuzeit, etwaLeibniz, da die weltimmanenten Fortschritte immer schneller,beschleunigt, zu einer besseren Weltordnung hinfhren wrden.Aus der apokalyptischen Zeitverkrzung wurde die Beschleunigung des geschichtlichen Fortschritts. Die Inhalte der Deutungsmuster wurden vollstndig ausgetauscht. Die Erreichbarkeit desParadieses erst nach dem Ende der Welt und die Erreichbarkeitbereits in dieser Welt schlieen sich logisch aus.

    Aber die kosmische Zeitverkrzung, die ehedem dem Jung-

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    sten Gericht vorausgehen sollte, hat den Begriff der Krisis nichtum seinen Sinn gebracht. Auch die Beschleunigung der neuzeitlichen Welt, ber deren Wirklichkeitsgehalt kein Zweifel besteht,lt sich als Krisis begreifen. Offenbar sind Entscheidungen fllig, die, wissenschaftlich oder nicht, gewollt oder ungewollt, darber befinden, ob und wie das berleben auf diesem Globusmglich ist oder nicht. Die kosmische Zeitverkrzung, die ehedem in mythischer Sprache dem Jngsten Gericht vorangehensollte, lt sich heute empirisch verifizieren als Beschleunigunggeschichtlicher Ereignissequenzen. In Jacob Burckhardts Worten: Der Weltproze gert pltzlich in furchtbare Schnelligkeit;

    Entwicklungen, die sonst Jahrhunderte brauchen, scheinen inMonaten und Wochen wie flchtige Phantome vorberzugehenund damit erledigt zu sein. 9 Der gemeinsame Oberbegriff fr dieapokalyptische Zeitverkrzung, die dem Jngsten Gericht vorausgehen, und fr die geschichtliche Beschleunigung ist Krise.Sollte das nur ein sprachlicher Zufall sein? In christlicher und innichtchristlicher Bedeutung indiziert Krisis in jedem Fall einenanwachsenden Zeitdruck, dem die Menschheit auf diesem Globus nicht zu entrinnen scheint.

    Deshalb sei zum Schlu eine temporale Hypothese angeboten, die durchaus nicht neu ist. Betrachtet man von heute aus diebisherige Geschichte der Menschheit, so lt sie sich durch dreiexponentielle Zeitkurven darstellen. Gemessen an den fnf Milliarden Jahren, seitdem unser Globus mit einer festen Erdrindeberzogen wurde, ist die eine Milliarde Jahre organischen Lebens eine kurze Zeitspanne, aber noch viel krzer ist die Zeitspanne der 10 Millionen Jahre des zu vermutenden menschenar

    tigen Wesens, von dem erst seit zwei Millionen Jahren selbstfabrizierte Werkzeuge nachweisbar sind.

    Die zweite exponentielle Zeitkurve lt sich in die 2 Millionen Jahre einzeichnen, seitdem der Mensch sich durch selbstgefertigte Werkzeuge auszeichnet. Die ersten Dokumente gleichsam genuiner Kunst liegen 3 0 0 0 0 Jahre zurck, die Entstehungvon Ackerbau und Viehzucht rund 1 0 0 0 0 Jahre. Und gemessen

    9 Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, hg. v. Rudolf Stadelmann,Pfullingen 1949, S. 211.

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    an den zwei Millionen Jahren eigener Produktivitt sind die rund6000 Jahre einer stdtischen Hochkultur, seit der es schriftlicheberlieferungssignale gibt, eine kurze Zeitspanne, und noch vielspter erst erfolgt die Reflexion in Philosophie, Dichtung undGeschichtsschreibung.

    Die dritte exponentielle Zeitkurve zeichnet sich ab, wenn manvon der Selbstorganisation stadtartiger Hochkulturen ausgeht,die erst 6000 Jahre zurckliegt. An deren vergleichsweise kontinuierlicher Geschichte gemessen, hat sich die moderne Industriegesellschaft, die auf Wissenschaft und Technik grndet, erst seitrund 300 Jahren entfaltet. Die Kurve der Beschleunigung sei nur

    an drei Datenreihen demonstriert: Die Kommunikation desNachrichtenwesens hat sich in einer Weise beschleunigt, da dietemporale Identitt von Ereignis und Nachricht darber potentiell hergestellt ist. Aber auch die Beschleunigung des Verkehrshat sich etwa verzehnfacht, seitdem die naturgegebenen Hilfsmittel, der Wind, das Wasser und die Tiere durch technische Instrumente der Dampfmaschine, der elektrischen Maschinen undder Verbrennungsmotoren abgelst worden sind. Die Beschleunigung der Kommunikationsmittel hat den Globus zu einem

    Raumschiff zusammenschrumpfen lassen. Gleichzeitig erfolgtdie Bevlkerungsvermehrung in einer analogen exponentiellenZeitkurve: Von rund einer halben Milliarde im 17. Jahrhundertsteigt seitdem die Weltbevlkerung, trotz aller Massenvernichtungen, an auf 2 72 Milliarden Menschen in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, um zu dessen Ende bereits die Achtmilliardengrenze zu erreichen.

    Die drei exponentiellen Zeitkurven mgen als Zahlenspielerei

    abgetan werden. Aber es zeichnet sich offenbar eine Grenze ab,die durch keinen technischen und wissenschaftlichen Fortschrittmehr berschritten werden kann. Hinzu kommt, da sich in dergleichen exponentiellen Zeitkurve die Kraft zur Selbstzerstrungder autonomen Menschheit vervielfacht hat.

    So stellt sich die Frage, ob unser semantisches Modell derKrise als einer Letztentscheidung nicht mehr Chancen der Verwirklichung erhalten hat als jemals zuvor. Wenn dem so ist, kmealles darauf an, alle Krfte darauf zu richten, den Untergang zu

    verhindern. Das Katechon ist auch eine theologische Antwortauf die Krisis.

  • 8/9/2019 Reinhart Koselleck - Einige Fragen an die Begriffsgeschichte von "Krise"

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    Einige Fragen an die Begriffsgeschichte von Krise 2 1 7

    Die drei exponentiellen Zeitkurven lassen sich auch als Verstrker der Beschleunigung lesen, die es vollends unmglich machen, Hochrechnungen in die Zukunft zu riskieren. Vielleichtbesteht die Antwort auf die Krise darin, da nach den Stabilisatoren Ausschau gehalten wird, die sich aus der langen Dauer derbisherigen Menschheitsgeschichte ableiten lassen. Es knntesein, da sich diese Frage nicht nur historisch und politisch, sondern auch theologisch formulieren lt.