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Susanne Schaaf, Matthias Mettner (Hrsg.) Zu Risiken und Nebenwirkungen von ICF und anderen christlichen Trendgemeinschaften Religion zwischen Sinnsuche, Erlebnismarkt und Fundamentalismus Schriftenreihe infoSekta Zürich Fachstelle für Sektenfragen

Religionzwischen Sinnsuche,Erlebnismarkt undFundamentalismus

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Page 1: Religionzwischen Sinnsuche,Erlebnismarkt undFundamentalismus

Susanne Schaaf, Matthias Mettner (Hrsg.)

Zu Risiken und Nebenwirkungenvon ICF und anderen christlichenTrendgemeinschaften

Religion zwischenSinnsuche, Erlebnismarktund Fundamentalismus

Schriftenreihe infoSekta ZürichFachstelle für Sektenfragen

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Susanne Schaaf, Matthias Mettner (Hrsg.)

Zu Risiken und Nebenwirkungenvon ICF und anderen christlichenTrendgemeinschaften

Religion zwischenSinnsuche, Erlebnismarktund Fundamentalismus

Schriftenreihe infoSekta Zürich, Fachstelle für Sektenfragen

Page 3: Religionzwischen Sinnsuche,Erlebnismarkt undFundamentalismus

Impressum

Herausgeber Susanne Schaaf und Matthias MettnerCopyright 2004 Schriftenreihe infoSekta Zürich

Fachstelle für Sektenfragenwww.infosekta.ch

Layout Ruth Feurer, Grafik & TypografieZürich, www.ruthfeurer.ch

Druck Schulthess Druckerei AG, ZürichISBN 3-9522971-0-0

Page 4: Religionzwischen Sinnsuche,Erlebnismarkt undFundamentalismus

Schriftenreihe infoSekta 09/04 3

5 Alte Sehnsüchte - neues Design Susanne SchaafVorwort zum Tagungsband

7 Religion und Markt, Erlebnisgesellschaft und City-Religiosität Matthias MettnerEinführung

11 Religion im Trend? Michael KrüggelerZitate des Religiösen und Unübersichtlichkeit der Religion

16 Von der Zucht zur Wucht Ralph KunzDie Stagnation traditioneller Freikirchen und der Boomdes freikirchlichen Erlebnismilieus

23 Marktförmige Inszenierung und leibsozialisatorische Massnahmen Sonja FriessDas Doppelgesicht der «International Christian Fellowship» ICF

30 Die Seele ist tot. Es lebe das Seelische! Daniel HellErlebniskultur als Gegenbewegung zur vorherrschenden Rationalisierung

35 Christliches Zentrum Buchegg - CZB Susanne SchaafErgriffen vom Heiligen Geist

40 Lighthouse Chapel International LCI Georg Otto SchmidBeispiel einer so genannten ethnischen Freikirche

44 Internationale Evangelische Gemeinde IEG, Zürich Georg Otto SchmidDie geistlichen Krieger an der Street Parade

47 Jugendkirche: Sozialer und spiritueller Erfahrungsort Markus HolzmannVorstellung des Projektes Jugendkirche der katholischen Kirche

52 streetchurch Angelika von LerberOffizieller Start der evangelisch-reformierten Jugendkirche Zürich

55 Autorinnen und Autoren

56 infoSekta - Fachstelle für Sekten- und Kultfragen

Inhalt

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Schriftenreihe infoSekta 09/04 5

Seit einiger Zeit stagniert der Mitgliederzuwachs in klassi-schen «Sekten». Freikirchliche Gemeinschaften aus demevangelikalen charismatischen Milieu befinden sich hin-gegen im Aufwind. Ein medienpräsentes Beispiel für dieseEntwicklung ist die Trendgemeinde International ChristianFellowship ICF. Man kann eigentlich von einer neuenGeneration vereinnahmender Gemeinschaften sprechen:moderne Gottesdienstshows mit Popmusik, Lichteffektenund inszeniertem Gemeinschaftsgefühl passen problemlosin den Lifestyle der Jugendlichen und vermitteln nebenbeiSchwarz-weiss-Vorstellungen vom «richtigen» Glauben.Dieses offenbar erfolgreiche Multipack, die «Urquelle desmenschlichen Beschenktsein» (Sloterdijk) mit modernenPauken und Trompeten wieder einzuführen, erstaunt denBetrachter, was sich auch in der Anfragestatistik derFachstelle infoSekta niederschlägt. Das hat uns dazu bewogen,über das Phänomen des christlichen Fundamentalismus inseinen neuen Formen und mit seinen Risiken und Neben-wirkungen im Rahmen einer öffentlichen Fachtagung ingemeinsamer Trägerschaft mit und an der Paulus-AkademieZürich nachzudenken.

Der vorliegende Tagungsband dokumentiert inleicht überarbeiteter Form die Beiträge, welche die Refe-rentinnen und Referenten im Rahmen der Veranstaltung«Religion zwischen Sinnsuche, Erlebnismarkt und Funda-mentalismus» am 12. Juli 2004 vorgetragen haben. Ziel derTagung war, das Phänomen der Attraktivität christlicherTrendgemeinschaften im heutigen Markt der religiösenAngebote aus verschiedenen Perspektiven kritisch zubetrachten.

Der Sozialwissenschaftler und Theologe MatthiasMettner steckt in seiner Einführung das im Titel angedeu-tete Spannungsfeld ab, in dem sich Religion heute bewegt:Bedeutungsverlust der institutionalisierten Religion, Indi-vidualisierung des Religiösen bei gleichzeitiger Kontur-losigkeit und Patchwork-Mentalität der Religion. Die ver-schärfte Ökonomisierung der gesellschaftlichen Verhält-nisse geht mit Erlebniszwang und Überforderung desEinzelnen, fundamentalistischen Erösungsangeboten undder Sehnsucht des Menschen nach Nestwärme einher.

Aus diesen Aspekten greift der Soziologe MichaelKrüggeler die «Renaissance des Religiösen» heraus, wenn er

den Gestaltwandel des Religiösen beschreibt. Die Auflösungder christlich-kirchlich institutionalisierten Glaubensmustergeht in einen kulturellen Pluralismus von Weltanschau-ungen über. Religion konzentriert sich heute auf das, wasdie moderne Gesellschaft offen lässt: die Identität des Ein-zelnen. In einer Erlebnisgesellschaft wählt der Menschschliesslich dasjenige Angebot, das ihm den grössten Erleb-nisnutzen bringt. Aber woher weiss ich, dass mein Erlebentatsächlich schön und befriedigend ist? fragt Krüggeler. Umdie Qualität des eigenen Erlebens beurteilen zu können,braucht es externe Referenzpunkte zur Orientierung, dieder Einzelne übernehmen und verinnerlichen kann.

Wie sich dieser religiöse Referenzrahmen im frei-kirchlichen Milieu konkret gestaltet, zeigt der TheologeRalph Kunz auf. Denn nicht alle Freikirchen befinden sichim Aufwind. Ein innerfreikirchlicher Vergleich zeigt, dasssich die kulturellen Settings in den evangelikalen Frei-kirchen teilweise stark unterscheiden. Die neupietistischen«Stündeler» mit dem negativen Image - altmodisch undweltfremd - stagnieren, während die ICF mit ihren Gospel-partys die Hallen füllt. Woran liegt es? Während diePietisten die moderne Erlebniskultur vehement ablehnen,wird sie von der ICF wirksam instrumentalisiert. DieVerpackung macht‘s aus, stellt Kunz fest – allerdings aufKosten eines nachhaltigen Glaubens und eines mündigen,kritischen Christseins.

Die Sozialarbeiterin und ReligionswissenschaftlerinSonja Friess vertieft diese These der Instrumentalisierungin ihrer Analyse zur ICF. Mit dem Konzept einer trendigenKirche stösst die ICF bei ihrem jugendlichen Zielpublikumzwar auf grosses Interesse, aber das peppige Auftreten unddie Erlösungsversprechen allein reichen nicht aus, um denErfolg von ICF zu erklären. Auch die ICF ist von einerhohen Fluktuation betroffen, die Massnahmen zu einerstärkeren Einbindung der Jugendlichen erfordert. DiesenEinbindungsprozess führt Friess anhand des Konzeptes derLeibsozialisation aus. Um Gott zu erleben, braucht es näm-lich Wissen darüber, wie sich Gott anfühlt. Die Gläubigenerhalten von der ICF eine Anleitung zum "richtigen"Empfinden und zur «richtigen» Gotteserfahrung. Die ver-innerlichte Lehre wird durch Erfahrung evident und fürden Einzelnen zur sinnlich erfahrenen Gewissheit. Dassozialisierte Erleben bestätigt wiederum die angeblicheRichtigkeit der Lehre.

Vorwort zum Tagungsband

Alte Sehnsüchte - neues Design

Susanne Schaaf

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Alte Sehnsüchte - neues Design6

Dass die Trendgemeinden bei all ihren manipulativenElementen auch auf einen fruchtbaren Boden fallen, greiftder Psychiater Daniel Hell in seinem Beitrag auf. Erbeschreibt den heutigen Erlebnishunger der Menschen alsGegenbewegung zur Beschleunigung und Technisierungdes modernen Lebens. Auf die «Abschaffung der Seele»reagieren die Menschen mit dem verzweifelten Versuch,sich leib-seelisch zu spüren. Punktuelle und unmittelbareSinnsättigung ist aber nur Fast-Food, der die Menschen zueinem suchtähnlichen Verhalten nach ständig mehrzwingt. Die Erlebniskultur spiegelt den Seelenhunger derMenschen wider, ist Hell überzeugt. In seiner Funktion alsPsychiater beobachtet er das Aufkommen einer Persönlich-keitsproblematik, die sich hauptsächlich durch Instabilitätund Identitätsmangel auszeichnet. Der betroffene Menschversucht, sich durch momentane intensive Erlebnisse undBeziehungen zumindest vorübergehend als einheitlichePerson zu spüren und der drohenden Leere und Geschichts-losigkeit zu entrinnen. Die Zunahme der Behandlungsfällevon Depression verweist auf die rebellische Autonomie desseelischen Erlebens. Ein wertvolles Potenzial. Kurzfristige(religiöse) Erlebniskicks aber verhindern echte Ent-wicklung und Heilung.

Nach religionssoziologischen und psychologischenÜberlegungen stellen die Psychologin Susanne Schaaf undder Theologe Georg Otto Schmid drei ausgewählte christli-che Gemeinschaften kurz dar, die derzeit im Raum Zürichaktiv sind. Beschrieben wird die Pfingstgemeinde Christ-liches Zentrum Buchegg, die den Menschen von seinenhochmütigen Bindungen ans Materielle befreien und mitdem Heiligen Geist erfüllen will. Erklärtes Ziel der ethni-schen Freikirche Lighthouse Chapel International von DanHeward-Mills aus Ghana ist die «Rückmissionierung» derweissen Bevölkerung. Die Internationale EvangelischeGemeinde IEG der Familie Souza wiederum fordert ihreMitglieder auf, sich als geistliche Krieger an der Street Parade,ein Werk des Teufels, zu engagieren, um dem dämonischenFürsten über Zürich die Macht zu entreissen.

Und wie steht es mit den etablierten Kirchen? DerErfolg der charismatischen Gemeinschaften verunsichertdie Landeskirchen, setzt sie unter Druck und dadurch eineDiskussion über die eigenen Positionen und Aktivitäten inGange. Welche Überlegungen die Landeskirchen in dieserFrage angestellt haben und zu welchen konkretenErgebnissen sie gekommen sind, zeigt die Darstellung derbeiden Jugendkirchenprojekte der katholischen und derreformierten Kirche durch den Theologen Markus Holzmannund die Kommunikationsbeauftragte für die evangelischeJugendkirche Angela von Lerber.

infoSekta wünscht Ihnen eine spannende Lektüre.

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Meinte man noch vor einigen Jahren zu wissen, «wohin esmit der Religion geht, nämlich – je nach Grad der gesell-schaftlichen Modernisierung – zu ihrem kontinuierlichenRückgang und Relevanzverlust» (Gabriel 2000, 9), so sindheute Phänomene zu beobachten, die dieser ohnehin euro-zentrischen, global nicht zutreffenden These widerspre-chen. Die Hinweise, die gegen eine abnehmende Bedeu-tung der Religion in modernen Gesellschaften sprechen,reichen von den neuen Virulenzen fundamentalistischerTendenzen in allen Weltreligionen bis zu dem Phänomen,das als «Wiederkehr der Religion» (vgl. Habermas 2001)bezeichnet wird.

Als Grund für ein verstärktes individuelles Interessean Religion und eine neue öffentliche Aufmerksamkeit fürdie Bedeutung von Religion mutmassen Theologen undReligionssoziologinnen: Religion werde neu erkannt alsunverzichtbare Ressource gegen die Banalisierung mensch-lichen Lebens, gegen den permanenten und gesteigertenZugriff des Menschen auf den Menschen, gegen die perma-nente Beschleunigung und Technisierung. Religion alsQuelle, aus welcher der Mensch rückgebunden an Gottseine Würde und die Heiligkeit menschlichen Lebenserkenne. Dadurch werde er widerständig gegen die Gefah-ren einer grenzenlosen Verfügbarkeit des Menschen inWissenschaft, Verwaltung, Wirtschaft und Politik; alsreproduzierbare Biomasse, als Zielobjekt totaler Daten-erfassung, als Humankapital oder als medial manipulierba-re Wählerklientel. Religion also als «Aufstand gegen dasBanale» (Paul Michael Zulehner)? Das wäre eine guteNachricht gegen die Erosion jener religiöser Traditionen,die ein Interesse an der Menschwerdung, der Subjektwer-dung des Menschen haben. Aber die Lage der Religion inEuropa ist gegenwärtig uneindeutig und widersprüchlich.

Religion als «Aufstand gegen das Banale»?

Drei Tendenzen bzw. religionssoziologische Deutungs-konzepte konkurrieren miteinander:

Erstens Prozesse der De- oder Entinstitutionali-sierung der Religion: Die lebensprägende und -führendeMacht von institutionalisierter Religion (z.B. der etablier-ten Kirchen) schwächt sich deutlich ab. Dieser Prozess, der

sich allgemein als Prozess der Zurückdrängung, desEinflussverlustes von organisierter Religion bestimmenlässt, umfasst sowohl «die Freisetzung und Distanzierungder Individuen von kirchlichen Glaubensvorstellungen,Ritualvorschriften und Verhaltensnormen als auch die Ein-grenzung der Wirkungsmöglichkeiten der Religion ineinem säkularisierten, d.h. religiös neutralisierten Staat;also der Trennung der Institutionen von Politik, Wirt-schaft, Wissenschaft und Erziehung von kirchlichen Vorga-ben und Einflüssen» (Gabriel 2000, 11).

Zweitens die Individualisierung des Religiösen: InSachen Religion erscheint heute tendenziell «jede(r) einSonderfall» geworden zu sein (Dubach/Campiche 1993),ein «religiöser Komponist», der sich seine Religion/Religio-sität individuell zusammenstellt. Das auf die institutionali-sierte Religion konzentrierte Modell religiöser Erfahrungverliert seine Integrationskraft. Religion nimmt eine stärkersubjektive, erlebnis- und erfahrungsbezogene Form an. Mitdem Trend zur Individualisierung des Religiösen korrelierteine Dynamisierung des Marktes von Weltdeutungen undLebensstilen, Symbolen und Ritualen.

Drittens das Modell einer zivilgesellschaftlichen,öffentlichen Repräsentanz von Religion (J. Casanova 1996,206ff.): Die Zivilgesellschaft ist auf im Individuellen wur-zelnde sozio-moralische Ressourcen und kulturelle Tradi-tionen angewiesen, die ein Interesse und eine Wertorien-tierung am Gemeinwohl, an Gerechtigkeit, Solidarität undgutem Leben hervorbringen. Religiöse Traditionen bildeneine wichtige Quelle der zivilisatorischen Moral, derHumanitas einer Gesellschaft. «Dank der ihnen zurVerfügung stehenden religiösen Sprache und Symboliksind sie in besonderem Masse in der Lage, Erfahrungen desgesellschaftlichen Leidens artikulierbar und in der zivilge-sellschaftlichen Öffentlichkeit hörbar zu machen» (Gabriel2000, 25). Voraussetzung dafür ist die Fähigkeit zu einemdialogischen Kommunikationsstil, der allein den Werte-haushalt einer pluralen Gesellschaft politisch gesprächsfä-hig zu halten vermag. Zur «Produktidentität» der Kirchegehört wesentlich eine Spiritualität, die Solidarität freisetzt(Paul Michael Zulehner).

Religion und Markt, Erlebnis-gesellschaft und City-Religiosität

Matthias Mettner

Einführung

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Gegensätzliche Trends zur Lage der Religion

Welcher These auch immer man zustimmt: DasPhänomen «Religion» besitzt heute in der Schweiz undanderen modernen Gesellschaften keine klaren Konturenmehr. Diverse und gegensätzliche Trends bestimmen ihrErscheinungsbild: bunte Beliebigkeit und bornierter Fun-damentalismus, «Patchwork-Religiosität» und Sonderge-meinschaften mit sektiererischer Vereinnahmung, Erleb-nismarkt und Kommerz, säuerlicher Moralismus und poli-tisch reaktionäre Botschaften. All dies dicht beieinanderoder kombiniert und potenziert; wie im Fall der FreikircheInternational Christian Fellowship (ICF), dessen «Senior-Pastor» den Leuten bei einem der ICF-typischen «religiö-sen Events» stolz verkündete: «Wir stehen MusicStar innichts nach» - jener Castingshow von SF DRS, bei derSponsoring und Merchandising mit bislang unbekannterSkrupellosigkeit betrieben und die Sehnsüchte vielerJugend-licher und junger Erwachsener nach Aufmerksam-keit und Starkult benutzt wurden. Und wenn der «Senior-Pastor» der ICF dem Publikum zuruft, das sich in der sogenannten Cele-brationhall versammelt hat: «Ihr seid einegeile, mega-coole Supergruppe», dann frage ich mich: Woleben wir eigentlich?

«Wir halten den Himmel offen» – Der Werbespruchder Lufthansa, ein Beispiel für das Religiöse in derWerbung, wirkt da fast rührend, auch wenn er reklamiert,was ursprünglich Programm von Kirche und Religion war.Wie auch immer, ob man die Stichworte zur religiösenLandschaft heute teilt oder nicht, die Verunsicherung desPersonals der etablierten Kirchen ist tiefer sitzend. IhrSelbstverständnis ist angesichts des gesellschaftlichenRelevanzverlustes der organisierten Religionen schwer er-schüttert. Boshaft brachte der Berliner Journalist ChristianBommarius eine weit verbreitete Haltung auf den Punkt:Die Öffentlichkeit behandle die Kirchen mit Nachsicht,«gleichmütig, aber freundlich, wie den senilen Alten, des-sen Gebrabbel am Tisch niemanden erschreckt, aber auchnur selten amüsiert». Eine boshafte Einschätzung, die ichübrigens nicht teile, die aber zu denken gibt.

Die verschärfte Ökonomisierung unsererGesellschaftsverhältnisse

Die Industriebevölkerungen sind gekennzeichnetdurch die Neugier auf neue Erlebnis- und Erfahrungs-welten, die Sehnsucht nach dem Wunderbaren undGeheimnisvollen, nach Spiritualität und Mystik, die Suchenach Transzendenz in den individuellen und gesellschaftli-chen Kontingenzerfahrungen wie zum Beispiel Krankheit,Einsamkeit, Arbeitslosigkeit, berufliche oder familiäre

Überforderung, Umweltkatastrophen. Der Bedarf an Ich-Vergewisserung und Selbst-Verortung, Identität und Sinn,Motivation und Orientierung ist gewaltig.

«Man kann nicht mehr leben von Eisschränken, vonPolitik, von Bilanzen und Kreuzworträtseln. Man kann esnicht mehr. Man kann nicht mehr leben ohne Poesie, ohneFarbe, ohne Liebe.» Dieser Satz vonAntoine de Saint Exupery,angesichts der Kommerzialisierung aller Lebensverhält-nisse im Prozess der Moderne formuliert, würde heuteetwas modernisiert und übersetzt wohl lauten: «Man kannnicht mehr leben von Natel, Internet, von Politik, von DowJones, Nasdaq und PC Games. Man kann es nicht mehr.»Die Rede ist hier also von der zunehmenden Ökonomisie-rung unserer Gesellschaftsverhältnisse, die eine Auflösungüberlieferter Lebensformen zur Folge hat, ohne die es einauf Empathie und Vertrauen basierendes Zusammenlebennicht geben kann. «Die Sprache des Marktes dringt heutein alle Poren ein und presst alle zwischenmenschlichen Be-ziehungen in das Schema der selbstbezogenen Orientierungan je eigene Präferenzen» (Jürgen Habermas 2001). Ange-sichts dieser allgegenwärtigen Marktmentalität, angesichtssozialer, ökonomischer, ökologischer und anderer Krisen-prozesse, aber auch angesichts der Tatsache, dass wir gesell-schaftlich und kulturell in einer Zeit zerstörter, verbrauchterUtopien, in einer Zeit entschlossener Visionsverkümme-rung leben, suchen immer mehrMenschen Trost, Beruhigung,Zerstreuung und Hilfe auf dem Markt der Sinnstiftung,Religiositäten und Weltanschauungen (vgl. Berger 1994).

Die Autorinnen und Autoren dieses Buches setzensich kritisch mit christlichen Trendgemeinschaften ausein-ander. Das heisst aber gerade nicht, dass sie die Sehnsüchteund Hoffnungen, Bedürfnisse undWünsche der mehr oderweniger jungen Menschen nicht ernstnehmen, sondern imGegenteil. Jede Art der Denunzierung jugendlicher Religio-sität als oberflächlich, diffus, anarchistisch, gottlos verbietetsich angesichts der Lebenswünsche und Erfahrungen, dieJugendliche heute in der Dienstleistungs-, Informations-undMarktgesellschaft machen: Erfahrungen der Kommerzia-lisierung der Gefühlswelten, der Reduzierung und Zerstö-rung ihres sozialen und ökologischen Lebensraumes,Erfahrungen von Gewalt, Krieg und Armut, Macht undOhnmacht.

Vor allem aber teilen junge Erwachsene die Erfah-rung der übergrossen Mehrheit der Bevölkerung. DieMenschen der Erlebnisgesellschaft (Schulze 1992) sind miteiner Überfülle an Möglichkeiten konfrontiert. Das vielfäl-tige Angebot an Lebensmöglichkeiten ist keineswegs ein-fach ein Vergnügen, sondern zunächst einmal ein Problem.Die Frage «Was will ich eigentlich?» ist das zentrale Thema

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des modernen Individualismus. Die Antwort laute, schreibtGerhard Schulze in seinem originellen Entwurf einer«Kultursoziologie der Gegenwart»: 'Erlebe dein Leben!'.Häufig auf die Formel der Werbeindustrie verkürzt, dielängst in die Alltagssprache eingegangen ist: «Alles mussSpass machen».

Erlebnisgesellschaft und City-Religiosität

Die Erlebnisqualität muss stimmen. Wo nichts pas-siert, da bleibt auf Dauer auch die religiöse Kundschaft aus.Dem Supermarkt der Religionen, der Vielfalt undFarbigkeit religiöser Angebote entspricht die City. Sie istder bevorzugte Ort, an dem man «die frommeWare feilbie-tet». «City Religion» nennt Hans-Joachim Höhn den neuenreligiösen Markt, der sich flexibel der städtischen Umge-bung anpasst. «In seiner Struktur und in seinem Sortimententspricht er den typischen Merkmalen der City, die einSpiegel des modernen Bewusstseins und der Erlebnis-gesellschaft ist.» (Höhn 1998)

Bruchlos fügen sich die religiösen Angebote in ihrengrossstädtischen Kontext ein: «Hier wie dort herrscht eineungeheure Dynamik im Hervorbringen von Waren undLeistungen. Es dominieren Individualismus und Pluralis-mus, wenn es um Werte und Überzeugungen geht.Offenheit und Unverbindlichkeit bestimmen die Kommu-nikationsabläufe. Moden und Konjunkturen, Innovationenund Nostalgien wechseln einander beständig ab. Die Citygibt sich multifunktional. Sie bietet ein Forum derUnterhaltung und der Information, der Reklame und derSelbstdarstellung, der Kommunikation und des Warenver-kehrs. Die City lebt von ihrer Farbigkeit, man lernt hierimmer wieder das Neueste kennen. Darum muss sich dasWarenangebot ständig ändern.» (Höhn 1998)

In der City regieren Zeit und Geld, Mobilität undFast-Food-Mentalitäten. Religiöse Erlebniswelten allerorten.Die Beiträge des vorliegenden Buches sind Analysen vonTrendgemeinschaften in jenem Segment religiöser Erleb-niskultur, die keineswegs nur nett, trendig, harmlos undmarktgängig sind, sondern häufig in vielfältige Abhängig-keiten und Vereinnahmungen führen.

Gründe für die Verführbarkeit durch autoritäreGruppierungen

Wie aber ist zu erklären, dass Menschen für funda-mentalistische, autoritäre und in der Tendenz totalitäreIdeologien und Gruppierungen verführbar sind? Was bringtMenschen dazu, Anschluss an vereinnahmende Gruppen,neue religiöse Bewegungen und fundamentalistische

Gruppierungen zu suchen? Welche individuellen undgesellschaftlichen Faktoren begünstigen die Anfälligkeit fürfundamentalistische Weltdeutungsmuster und Mentalitäten,für Sekten und pseudoreligiöse Kulte?

Neben individuellen Ursachen erkennen Sozial-psychologen gesamtgesellschaftlich den Verlust stabiler,sicherer Milieus in der Kindheit und Jugend durch diestrukturellen Individualisierungs- und Beschleunigungs-prozesse moderner Gesellschaften. Immer stärker erodiertjenes Orientierung und Sicherheit vermittelnde Milieu, dasder Schriftsteller Günter de Bruyn in seiner Autobio-graphie «Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin» als«Familien-Katholizismus» bezeichnet: «Die Sicherheit, derich das Glück meiner frühen Kindheit verdanke, basiertneben der Liebe der Eltern zu uns und zueinander auch aufeinem Familien-Katholizismus, der unser Leben in diefesten Regeln von Tisch- und Abendgebet, von sonntägli-chem Kirchenbesuch und fleischlosen Feiertagen zwängte,sonst aber von Person zu Person individuell gefärbt war.Meinem Vater, der diese Rituale überliefert hatte, waren siezu selbstverständlich, als dass er viel Wesens von ihnengemacht hätte; er befolgte sie, ohne Eifer dabei zu zeigen,und war sich immer im klaren darüber, dass die Kirche (...)zwar Gehorsam verlangt, aber die Vollkommenheit vonSündern mit einkalkuliert. Er gab mir den Schutzengel mit,der mich auf der Strasse und im Dunkeln behütete und derAngst vor der Zukunft zu wachsen verbot. Er machte dasWeihnachtsfest zum Höhepunkt des Jahres und jedenSonntag zum Festtag, dessen einziger Fehler war, dass inihm die Zeit schneller als sonst verging. (...) Die Toleranzinnerhalb unserer Familie wurde ermöglicht durch einGewebe traditioneller Regeln. Vom täglichen Morgen- undAbendgebet über die Gestaltung der Sonntage bis hin zumHöhepunkt des Familienjahres, der Weihnachtsfeier, warenwir in Rituale eingebettet, die nicht als Zwänge empfundenwurden, sondern als Sicherheit. Sie bildeten den festenRahmen, in dem die Individualitäten sich entwickelnkonnten, relativ frei, wenn auch durch ein Gesetzessystemgebunden, das dafür sorgte, dass die Eigenart des andernauch geachtet wurde und der Stärkere nicht denLebensraum beschnitt.» (de Bruyn 1992).

Immer wieder kehrt de Bruyn in seiner Autobio-graphie in die Sicherheit und das Glück seiner frühenKindheit zurück, in seine von Glaube und Liebe erwärmteFamilie, in der man Toleranz lebte und in Rituale einge-bettet war, in ein Gesetzessystem, das den Individualitäten,der Entfaltung der individuellen Lebenskräfte doch ihrenPlatz, ihren Raum gab. Dieser «Familien-Katholizismus»ist eingedenk der Elemente von Zwang und Gewalt inweitgehend geschlossenen Milieus, die häufig damit ver-

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bunden waren, nicht nostalgisch zu romantisieren.Aber Günter de Bruyn, dessen Autobiographie durch-

gängig durch seine «Aversion gegen verordnete Denk-weisen», seinen Widerspruch gegen «Dressurversuche amMenschen» und gegen «Konvertiten-Eifer», gegen totalitä-re Ängste und lebenszerstörende Mächte qualifiziert ist,schildert meines Erachtens die einzig mögliche Art undWeise der Rede von religiöser Sicherheit im Lebensalltagdes einzelnen, die das Evangelium der hebräischen Bibelund des Neuen Testaments nicht pervertiert, sondern dieEntwicklung eines menschenverträglichen Gottesbildes inder religiösen Biographie fördert.

Nervöse, bekehrungsanfällige Identitäten

Der amerikanische Sozialwissenschaftler Peter Berger(Berger et al 1995) beschreibt die strukturelle Ursache fürdie fundamentalistische Verführbarkeit heutiger Menschenwie folgt: In die moderne Kultur und Gesellschaft ist einefortwährende Identitäts- und Orientierungskrise des ein-zelnen Menschen quasi programmiert. Infolge der ständigsich verändernden Welt, der beschleunigten Zeit und derzunehmenden Pluralisierung der Lebenswelten, der unter-schiedlichen Lebensformen und Lebensentwürfe, der ethi-schen Orientierungsrahmen und Glaubenssysteme, derstetig gesteigerten weltanschaulichen und religiösen«Warenproduktion», dem allgegenwärtigen Prinzip vonAngebot und Nachfrage, gelangt der Mensch heute zumeistnur noch zu einer brüchigen, nervösen Identität. Derhauptsächliche Lebenshalt des Individuums ist ein «sub-jektives Reich der Identität». Alle Gewissheit und Sicher-heit, deren er im Leben, Denken und Handeln bedarf, musser zuerst und zuletzt aus sich selber schöpfen. Der einzelneist aber zu solch einer Leistung aus eigener Kraft kaum inder Lage. Deshalb ist er «in besonderem Masse offen undunabgeschlossen, differenziert und labil, verunsichert undreflexiv, das heisst in seiner Unsicherheit dauernd auf sichselbst zurückgezogen». Die Sozialforscher nennen das«strukturelle Individualisierung». Die Chance zu Selbst-bestimmung, Selbstdenken und Selbsthandeln – jenseitsvon Vorurteilen, Tabus, Konventionen und strukturellenAutoritäten – war noch nie derart gross. Die Entfaltungaller Lebensmöglichkeiten setzt aber jene Ich-Stärke,Selbstgewissheit und Orientierungssicherheit voraus, diegerade von vielen Menschen «lebenslänglich» nicht odernur ansatzweise hergestellt werden kann. Damit wächst dieGefahr der verzweifelten Regression in Pseudogewissheitenund tröstende Fiktionen. Das Individuum wird im höch-sten Masse bekehrungsanfällig.

Der Fundamentalismus in den Religionen, in denKirchen scheint dem Bedürfnis nach tragfähigem Lebens-

fundament, nach Sicherheit und Stabilität, nach einfachenAntworten auf immer komplexere Lebens- und Gesell-schaftsfragen Rechnung zu tragen. Das fundamentalisti-sche Heilsangebot stösst auf nervöse, bekehrungsanfälligeMenschen. Das Gruppenmitglied tauscht mit alldem sozu-sagen seine Autonomie, Individualität und Kritikfähigkeitein gegen ein künftigen Zweifeln systematisch entzogenesAngebot von Sinn, Geborgenheit, Eindeutigkeit, Vertraut-heit, Gewissheit und Heil. Dass fundamentalistischeWeltdeutungsmuster und Mentalitäten ein Komplex zyni-scher Lebenslügen sind, weiss jeder, der am eigenen Leib,an der eigenen Seele damit zu tun hatte. Gruppierungenmit vereinnahmender Tendenz verachten die Lebensfragenund Lebenswünsche der Menschen. Sie vermitteln keineSicherheit, sondern beschädigen die individuell gewachseneSicherheit bzw. psychische Stabilität, um sich ihrerAnhänger zu bemächtigen.

Literatur

Berger, Peter L. 1994: Sehnsucht nach Sinn. Glauben in einerZeit der Leichtgläubigkeit. Frankfurt am Main. Campus.

Berger, Peter L./Berger, Brigitte/Kellner, Hansfried. 1995:Das Unbehagen in der Mordernität. Frankfurt am Main.Campus.

Bruyn de, Günter. 1992: Zwischenbilanz. Eine Jugend inBerlin. Frankfurt am Main. S. Fischer.

Dubach, Alfred/Campiche, Roland J. 1993: Jede(r) einSonderfall? Religion in der Schweiz. Zürich/Basel. NZNBuchverlag/F. Reinhardt.

Gabriel, Karl. 2000: Zwischen Säkularisierung, Individuali-sierung und Entprivatisierung. Zur Widersprüchlichkeitder religiösen Lage heute. In: Walf, Knut (Hrsg.): Erosion.Zur Veränderung des religiösen Bewusstseins. Luzern.Edition Exodus.

Habermas, Jürgen. 2001: Glauben und Wissen. Friedens-preisrede 2001. In: Ders. 2003: Zeitdiagnosen. Zwölf Essays.Frankfurt am Main. Suhrkamp. 249 – 262.

Höhn, Hans-Joachim. 1998: Zerstreuungen. Religion zwi-schen Sinnsuche und Erlebnismarkt. Düsseldorf. Patmos.

Hofmeister, Klaus/Bauerochse, Lothar (Hrsg.). 1999: DieZukunft der Religion. Spurensuche an der Schwelle zum21. Jahrhundert. Würzburg. Echter.

Schulze, Gerhard. 1992: Erlebnisgesellschaft. Kulturso-

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1. Einleitung

Wer heute aufmerksam in die Welt schaut, kann«Religion» - oder vorsichtiger gesagt: Zitate des Religiösen- überall entdecken. Das Hollywood-Kino produziertKriminalfilme über die sieben Todsünden («Seven»), eineaktuelle Werbung für Speiseeis verspricht mit demselbenThema «Wollust» oder «Faulheit» beim Genuss eines Eis‘.Die pop-kulturellen Zuschnitte der heutigen Jugendkulturund der Rockmusik sind voll von religiösen Anklängen undThemen. Seriöse Untersuchungen belegen, «dass Religionin den Texten von Popmusikern ein fester Bestandteilgeworden ist» (Hurth 2003, 389). Hier finde sich «eineMischung aus fernöstlicher Religiosität, privaten Symbolenund Teilen christlicher Symbolik» (ebd 390). Zugleich wirdin der Deutung dieser Phänomene jenes Schema eingesetzt,das sich auch in der wissenschaftlichen Religionssoziologiein jüngster Zeit grosser Beliebtheit erfreut: Es wird zwi-schen Kirchlichkeit und Religiosität unterschieden, zwi-schen den dogmatischen Deutungsangeboten der institu-tionalisierten Kirchen einerseits und einer frei flottieren-den religiösen Suchbewegung andererseits. Diese Pop-Religiosität sei Ausdruck eines experimentellen, individua-listischen und institutionsfernen Glaubenslebens, das sichin den Kirchen nicht mehr aufgehoben wisse.

Wer vor dreissig oder vierzig Jahren eine solcheVision als Zukunftsperspektive vorausgesagt hätte, wärevon der etablierten Soziologie nur müde belächelt worden.Soziolog(inn)en hätten milde darauf hingewiesen, dass dieReligion in ihrer ganzen Breite den endgültigen Rückzugangetreten habe, dass die Menschen massenhaft aus denKirchen austreten würden, dass die Kirchgemeinden hoff-nungslos überaltert seien und dass die Religion jeglichenEinfluss auf die das Leben der Menschen bestimmendenLebensbereiche wie Politik und Wissenschaft verlorenhabe.

Und ist diese Perspektive nicht auch nach wie vorberechtigt? Werden in den dominanten Lebensbereichender Wirtschaft, der Politik, des Rechts und der TechnikEntscheidungen in irgendeiner Form noch unter religiösenGesichtspunkten kontrolliert? Hat Religion ihren Einflussim Alltagsleben der Familien und der Schulen, der Vereine

und der Freizeitgestaltung nicht so gut wie gänzlich aufge-ben müssen? Und können die alternativen und synkretisti-schen Suchbewegungen diese massiven Verluste der christ-lichen Kirchen in unserem Kulturkreis wirklich ausglei-chen oder gar ersetzen?

Ich möchte versuchen, ein wenig Licht in diesedurchaus widersprüchliche und vielleicht unübersichtlicheLage der Religion in unseren westlichen modernenGesellschaften zu bringen; ein wenig aufzuklären, warumund ob überhaupt wir es hierzulande ebenfalls mit einer«Renaissance des Religiösen» zu tun haben und in welchenkulturellen Formen religiöse Phänomene heute beobachtetwerden können. Dazu greife ich vor allem auf Ergebnisseeiniger empirischer Untersuchungen zurück, die in einereher wissenschaftlichen Weise die religiöse Landschaft inder Schweiz zu erforschen versucht haben.

Damit komme ich zuerst zu einem kleinen Vergleichhinsichtlich der Gläubigkeit der Menschen in West-deutschland, in Österreich und der Schweiz. Im Vergleichder drei Länder finden wir in Westdeutschland am meisten«Nichtgläubige», welche den Aussagen «Ich glaube nicht anGott» und «Ich weiss nicht, ob es einen Gott gibt» mehroder weniger zustimmen. In der Schweiz finden wir diehöchste Prozentzahl derjenigen, die von sich sagen: «Ichglaube nicht an einen persönlichen Gott, aber ich glaube,dass es irgendeine höhere geistige Macht gibt». Ziemlichausgeglichen sind die «Gläubigen», also Personen, die mitUnsicherheit und mit Zweifeln doch an Gott glauben. Undschliesslich findet sich in Österreich der höchste Anteil vonMenschen, die sagen: «Ich weiss, dass es Gott wirklich gibtund habe daran keinen Zweifel».

Mit Blick auf dieses Ergebnis stellt sich vor allemeine wichtige Frage: Was bedeutet die Aussage «Es gibtirgendeine höhere geistige Macht»?

Wenn es sich hier um eine Art Schwundstufe deschristlichen Gottesglaubens handeln würde, dann könntenwir eine Zweiteilung der Bevölkerungen beobachten ineinen mehr oder weniger «säkularisierten» Teil und ineinen mehr oder weniger «gläubigen» Teil. In diesem Sinnbilden «Gläubige» und «Gottgläubige» zusammengefasst in

Religion im Trend?!

Zitate des Religiösen und Unübersichtlichkeit der Religion

Michael Krüggeler

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Westdeutschland und in der Schweiz je 52% und in Öster-reich 60% der Bevölkerungen.

Wenn es sich dagegen um eine individualisierteAlternative zum christlichen Gottesglauben handeln würde,dann hätten wir es in der Gegenwart mit einem echten reli-giösen Pluralismus zu tun, in dem die Kirchen nicht mehrüber das Monopol zur Bestimmung von Religion verfügenwürden. Zugleich wird in diesem Vergleich deutlich, dassneben dem Trend zu einer möglicherweise alternativenReligion ein beträchtlicher Anteil der Bevölkerungen sichgleichwohl als «ungläubig», zumindest im Sinne des christ-lich-kirchlichen Gottesglaubens versteht (15-25%).

2. Pluralisierung, Individualisierung undErlebniskultur

Was wir seit vielen Jahren erleben, ist die Auflösungeiner engen Verbindung von gesellschaftlichen Werteneinerseits mit dem Monopol christlich-kirchlich institutio-nalisierter Glaubensmuster andererseits. Vor diesemgeschichtlichen Hintergrund wird heute zum einen derCharakter des kulturellen Pluralismus von Weltanschau-ungen, Ideologien und Religionen wieder deutlicher her-vorgehoben. Die moderne Gesellschaft produziert eineFülle von möglichen Weltsichten und Weltanschauungen,die in modernen Gesellschaften den Bereich der Kultur vonvorneherein multiperspektivisch konstituieren. In diesemkulturellen Pluralismus können auch Religion undReligionen (wieder) eingebaut werden.

Zum anderen kommt es mit der Auflösung der kon-fessionellen Sozialmilieus auch zu einer weiter reichendenIndividualisierung der Stellung des Menschen. Das moderneIndividuum erfährt sich in seinem alltäglichen Leben voreine Vielzahl unterschiedlicher und sogar widersprüchli-cher Handlungsanforderungen gestellt. Daraus entstehtnicht nur der Anspruch auf individuelle Handlungsauto-nomie, sondern auch eine individuellen Identitätsbildungwird nötig, die sich aus der je individuellen Kombinationunterschiedlicher Handlungsvorgaben speist. Die moderneMobilität bringt es mit sich, dass der einzelneMensch immerweniger auf gewohnheitsmässige Bindungen, auf einenfesten Platz in sozialen Milieus und auf unhinterfragte Tra-ditionen setzen kann. Das moderne Individuum ist für seineSelbstbeschreibung auf sich selbst verwiesen.

An dieser Stelle verorten nun viele Religionsforscherden eigentlichen und neuen Stellenwert der Religion:Religion konzentriere sich auf das, was die moderne Gesell-schaft offen und unbestimmt lässt: auf die Bestimmung der

Identität und Individualität von Einzelpersonen. ReligiösePhänomene gewinnen ihren Stellenwert damit im Zusam-menhang mit individueller, biographischer Selbstthema-tisierung. Diese religiöse Individualisierung umfasst imwesentlichen zwei Dimensionen:(1) Zum einen beinhaltet religiöse Individualisierungdie Privatisierung des religiösen Entscheidens. Religionwird zu einer Sache jedes einzelnen. Bei ihrer Entscheidungfür oder gegen (kirchliche) Religion kann die Person eineAuswahl aus dem weltreligiösen und weltanschaulichenPluralismus treffen.(2) Zum anderen kommt es zu einer eigentlichen Inti-misierung des Religiösen, mit der das individuelle Selbstzugleich zum zentralen Gegenstand religiöser Sinnbildungwird.

Die Analyse der modernen Individualisierung wirdnoch ergänzt und vertieft durch Hinweise auf die besondereErlebnisorientierung der heutigen Menschen. Die Theorieder «Erlebnisgesellschaft» von Gerhard Schulze (1992) gehtvon dem Bedeutungswandel aus, den materielle Gütererhalten, sobald sie im Überfluss vorhanden sind. DasKriterium dafür, was ich wähle, ist nun nicht mehr die zuerwartende Wirkung auf die Aussenwelt, sondern dieunmittelbare Wirkung auf das Subjekt selber, auf seinErleben: «Innenorientierte Lebensauffassungen, die dasSubjekt selber ins Zentrum des Denkens und Handelnsstellen, haben aussenorientierte Lebensauffassungen ver-drängt». (Schulze 1992, 35)

Dabei entsteht ein neues Problem: Woher weiss icheigentlich, dass mein Erleben wirklich schön und befriedi-gend verlaufen ist? Wenn das Subjekt auf sein eigenesErleben reflektieren muss, dann ist die eigene Innerlichkeitzu wankelmütig und unzuverlässig, um über die Qualitätdes Erlebten zuverlässig Auskunft zu geben. Also muss auchder erlebnisorientierte Mensch wieder auf externe, kollek-tive Schemata zurückgreifen, um sein Erleben bewerten zukönnen: «Die reflexive Grundhaltung des erlebnisorien-tierten Menschen verunsichert ihn und erzeugt eineBereitschaft, kollektive Vorgaben zu übernehmen» (ebd.).Nach Schulze sind seit den 80er Jahren neue soziale Milieusentstanden, welche die Menschen mit bestimmten alltags-ästhetischen Schemata ausstatten und so ihre Erlebnis-rationalität erneut kollektiv absichern.

Für unseren Zusammenhang ist nun vor alleminteressant, dass mit der Privatisierung und Individualisie-rung der Religion auch das religiöse Verhalten und Erlebender Menschen dieser Tendenz zur Erlebnisorientierungzugeordnet werden kann. Auch im Zentrum des religiösenErlebens steht jetzt die eigene Befindlichkeit, auch Religion

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übernimmt den vorherrschenden Erlebensmodus derSelbstthematisierung und gerade in der Religion wird bei-spielsweise der eigene Körper zu einem ganz neuen Toposreligiöser Erfahrung. Interessant ist dann die zusätzlicheFrage, ob es der Religion ebenfalls gelingt, eigene sozialeMilieus auszubilden, in denen die Menschenmit vorwiegendreligiösen Schemata für die Orientierung ihrer Lebens-führung ausgestattet werden.

3. Religion in der Schweiz

3.1. «Jede/r ein Sonderfall?»

Diese Überlegungen zum jüngsten Wandel derReligion bilden auch den Hintergrund für zwei grosseBevölkerungsumfragen in der Schweiz zum Thema «Reli-gion, Konfession und Kultur» (Dubach, Campiche 1993;Stolz 2001). In beiden Umfragen wurde für die Fragedanach, was die Schweizerinnen und Schweizer «glauben» -als eine zentrale Dimension von Religion - ein mehrdimen-sionales Raster entworfen. Die befragten Frauen undMänner konnten nicht nur zu christlich-kirchlichen, son-dern auch zu humanistisch-weltanschaulichen und insbe-sondere zu «neureligiösen» Orientierungsangeboten aus-führlich Stellung nehmen.

Das Ergebnis bereits der ersten Studie, die zu Beginnder neunziger Jahre unter dem Titel «Jede/r ein Sonder-fall?» veröffentlicht wurde, bringt Hinweise auf einen reli-giösen Pluralismus in der Schweiz: Schweizerinnen undSchweizer formulieren die Sprache ihres Glaubens zuerst ineiner explizit kirchlich-christlichen Form, indem sie etwaglauben, dass es «einen Gott gibt, der sich in Jesus Christuszu erkennen gegeben hat» (1993: 73%). In einer weitereneigenen Dimension bündeln sich Aussagen zu einer religiö-sen Deutung des Todes - «Der Tod ist der Übergang zueiner anderen Existenz» (45%) sowie «Es gibt eine Reinkar-nation der Seele in einem anderen Leben» (29%) -, die vonden kirchlichen Aussagen relativ unabhängig sind.Schliesslich lässt sich eine dritte Dimension herausfiltern,in der sich die Befragten unabhängig in «neureligiösen»Glaubensmustern artikulieren, etwa anhand der Aussage«Die höhere Macht, das ist der ewige Kreislauf zwischenMensch, Natur und Kosmos» (47%). In diesem pluralenBild erweist sich allerdings die Dimension des christlich-kirchlichen Glaubens als die am deutlichsten hervortreten-de und als profilierteste Sprache des religiösen Glaubens.

Zehn Jahre später wurden den Schweizerinnen undSchweizern dieselben Fragen mit den weitgehend identi-schen Aussagen noch einmal zur Stellungnahme vorlegt.

Es zeigt sich im Ergebnis, dass die Struktur eines mehrdi-mensionalen Glaubenspluralismus in der Schweiz mit dreiunterschiedlichen Glaubensdimensionen nahezu identischreproduziert werden konnte. Man könnte auch sagen:Wenn man in dieser «offenen» Form nach dem religiösenGlauben fragt, so ergibt sich - zumindest für die Schweiz -im Ergebnis wiederholt ein mehrdimensionales und nichtnur christlich-kirchliches Muster dessen, was die Menschen«glauben». Allerdings ist in diesen zehn Jahren ein gewich-tiger Unterschied zu verzeichnen: Das Ausmass derZustimmung zur christlichen Religiosität hat in den zehnJahren signifikant abgenommen, während die Zustimmungzu einer immanenten Religiosität stark zugenommen hat.Diese dritte Dimension der jetzt so genannten «immanen-ten Religiosität» wird durch die beiden Aussagen repräsen-tiert «Was man ‘Gott’ nennt, ist nichts anderes als dasWertvolle im Menschen» (54%) sowie «Die höhere Macht- das ist der ewige Kreislauf zwischen Mensch, Natur undKosmos» (79%). Die zweite Dimension einer transzenden-ten Deutung des Todes hat sich über die Zeit hin nicht ver-ändert.

«Es ist» - so die Interpretation der zweiten Studie -«mithin möglich, dass ein fortschreitender, auf individuel-le Religiosität bezogener Säkularisierungsprozess im Gangist, in welchem klar strukturierte christliche Religiositätdurch diffusere immanente Vorstellungen ersetzt wird.»(Stolz 2001, 74). In der ersten Befragung wurde dieseTendenz hin zu einer diffusen Religiosität als Ausdruck undMerkmal der Situation einer religiösen Individualisierunginterpretiert (Dubach, Campiche 1993, 93ff.). Was ist nunder vorherrschende Trend im Feld der Religion? Deutlichist der Rückgang des von den christlichen Kirchen reprä-sentierten Glaubenssystems. Die Alternative dazu istjedoch nicht sehr deutlich und durch Umfragen auch nurschwer zu erfassen. Im alltäglichen Sprachgebrauch behilftman sich daher mit dem Begriff «Spiritualität», um eineneue experimentelle Suchbewegung von der traditionelldogmatischen «Religion» der Kirchen abzugrenzen.

Über die Vorstellungen dessen, was die Schweizer-innen und Schweizer glauben, hinaus erweist sich das per-sönliche Gebet als die häufigste Form religiöser Praxis inder Schweiz. Während am Ende der 90erJahre etwa dreiViertel der Befragten angeben, selten oder nie zur Kirche zugehen, beten heute rund 40% täglich oder fast täglich, 70%beten mindestens einmal im Monat. Die Praxis des tägli-chen Gebets findet sich am häufigsten unter Freikirch-lichen (93%). Bei Katholiken und Reformierten sind esjeweils ca. 40% und unter den Konfessions- oder Religions-losen beten ebenfalls noch 21% fast täglich. In dieserhäufigen Praxis zeigt sich, «dass ein ‘Bedürfnis’ nach

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Kontakt mit der Transzendenz, dem Nichtverfügbaren,Unkontrollierbaren bei einem grossen Teil der Bevölkerungvorliegt. Insofern haben wir es auch in der modernenGesellschaft mit einem ‘religiösen Potential’ zu tun, welchesreligiöse Unternehmer ansprechen könnten. Andererseitsist zu bedenken, dass Beten in gewisser Weise ‘kostengün-stig’ ist und möglicherweise daher so oft vorkommt. Mankann es schnell tun, wo immer man ist, und es hat auf jedenFall keine negativen Nebenwirkungen» (Stolz 2001, 12).

3.2. Religion als Lebensstil

Jede Religion möchte auf das Alltagsleben derMenschen Einfluss nehmen, auf die Gestaltung ihrerBeziehungen in Familie, Politik und Beruf. Das Thema derethischen Implikationen der Religion, ihrer Wirkungen aufdie Lebensführung und der Beziehung zwischen Religionund Werten ist also ein klassisches Thema sowohl derReligion selbst wie auch ihrer soziologischen Beobachtung(vgl. zu diesem ganzen Komplex SPI 2001).

Rückblickend ist nicht zu übersehen, dass diemoderne Industriegesellschaft des 19. und 20. Jahrhun-derts in der Schweiz wie in anderen Ländern Westeuropasdurch das Neben- und Gegeneinander von zwei religiösenKonfessionskulturen geprägt wurde: Ein antimodernerKatholizismus konnte grosse Teile der Bevölkerung in einsozialmoralisches Milieu integrieren, während die prote-stantisch-reformierten Bevölkerungsteile sich zumeist alsTräger ökonomischer und kultureller Modernisierungerwiesen. Nach neueren Studien wird der Einfluss derReligion heute jedoch kaum mehr über die grossenKonfessionskulturen vermittelt, also über den Unterschiedzwischen einem katholisch-konservativen und einemreformiert-liberalen Sozialmilieu.

Heutige religiöse Milieus werden repräsentiertdurch katholische und reformierte regelmässig Praktizie-rende, durch Freikirchen und religiöse Sondertraditionenwie z.B. Neuapostolen oder Zeugen Jehovas. Diesen Milieusist vor allem eins gemeinsam: traditionelle bürgerlicheFamilienwerte werden hoch geschätzt. In ihrem Lebensstildominiert das Leitbild der bürgerlichen Familie mit seinenausgeprägten Geschlechterrollenunterschieden, mit demWert der Unauflöslichkeit der Ehe und der Ablehnung desSchwangerschaftsabbruchs. Mit diesen Familienwertengrenzen sich heutige religiöse Milieus von ihrer gesell-schaftlichen Umwelt ab.

Die religiösen Milieus unterscheiden sich aber auchuntereinander. Ein volkskirchlich geprägtes katholischesMilieu grenzt sich weniger von der Mehrheit der Schweizer

Bevölkerung ab, etwa hinsichtlich der Wertschätzung einerpersönlichen Autonomie. Und während reformiert-frei-kirchliche und apokryphe religiöse Milieus sich in ihrerFamilienkultur deutlich von der Mehrheit abgrenzen, sosind sie sich mit ihrer kritischen Beurteilung der gesell-schaftlichen Umwelt von Parteien und Interessenver-bänden mit den Konfessionslosen eher einig als mit demkatholischen Milieu. Die Grenzen zwischen religiösenMilieus und ihrer sozialen Umwelt sind also fliessend.

Man kann die unterschiedlichen Lebensstile in derSchweiz daher auch nicht auf einer einfachen Linie «religiösversus säkular» abbilden. Grundsätzlich sind es vor allemevangelikal oder durch religiöse Sondertraditionen geprägtereligiöse Milieus, die ihre Werte und ihre sozialen Kontakteunter dem zentralen Aspekt der Religion organisieren.

3.3. Solidarität und Religion

Ebenfalls am Ende der 90er Jahre wurde in derSchweiz eine Studie durchgeführt, die sich aber nicht aufdie Auswertung eines Fragebogens mit standardisiertenAntwortvorgaben stützt. Hier wurden Gruppendiskussio-nen interpretiert, in denen sich Menschen in Gruppen freiund ungezwungen über ihre solidarische Praxis äussertenund, wenn sie wollten, auch die Rolle der Religion themati-sieren konnten. Es geht in dieser Studie um die Frage,warum sich Menschen für sich und andere in Gruppen zugegenseitiger Unterstützung zusammenschliessen und welcheRolle die Religion in diesem solidarischen Handeln spielt.

Auf der Basis einer qualitativen Analyse von zwölfSolidaritätsgruppen in der Deutschschweiz haben wir dreiTypen herausgefiltert, die jeweils ein eigenes Verhältnis vonReligion und Solidarität darstellen (vgl. Krüggeler u.a. 2002):

(1) Der «Milieutyp» stellt Gruppen dar, in denen dersolidarische Einsatz ganz auf der Zugehörigkeit zu

einem (frei-)kirchlichen Milieu beruht. Solidarität ist hiervon christlichem Gedankengut durchdrungen und wird vorallem mit den Mitgliedern der eigenen Konfession undReligion (z.B. in der Dritten Welt) ausgeübt. Der «Milieu-typ» macht deutlich, wie wichtig soziale Bindungen, sozialerKontakt und die gegenseitige Abstützung religiös-werthafterÜberzeugungen für die Religion sind. Nur in mehr oderweniger abgegrenzten sozialen Milieus lassen sich «Werteund tief sitzende weltbildkonstitutive Überzeugungen»(Joas 2003, 10) auf lange Sicht aufrecht erhalten. Das zeigtsich gegenwärtig vor allem in den sozial begrenzten Milieusvon Freikirchen, religiösen Sondertraditionen und neuenReligiösen Bewegungen.

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(2) Im «Funktionstyp» versammeln sich Gruppen, die inihrem solidarischen Handeln zunächst auf Religion

verzichten. Denn religiös unterschiedliche Meinungenkönnten die sachlichen Ziele der Gruppen (Bewältigungeiner Krankheit, von Arbeitslosigkeit etc.) in Gefahr brin-gen. Privat können die Mitglieder dieser Gruppen aberdurchaus von religiösen Motiven getragen sein. Bemer-kenswert ist daher, dass Religion und Kirchen in der Um-welt dieser Gruppen eine bedeutsame Rolle spielen: sei es,dass die Gruppen sich auffallend häufig in kirchlichenRäumlichkeiten treffen, sei es, dass sich viele ihrer Mitgliederprivat durch eine hohe kirchliche Bindung und eine ent-sprechende religiöse Motivation auszeichnen. Religion undKirchen können also auch dort eine gesellschaftliche Rollespielen, wo sie nicht direkt und unmittelbar sichtbar werden.

(3) Im «Identitätstyp» sind Menschen solidarisch, umdas eigene Schicksal zu bewältigen und sich selbst zu

verändern (z.B. bei Alkoholabhängigkeit). Dabei kannReligion eine Rolle spielen, wenn sie eine Hilfe als Beitragzur persönlichen Veränderung leisten kann. Religion wirdals Suchprozess eingesetzt und nicht als kollektive Selbst-verständlichkeit. Die Gruppen des Identitätstyps machendeutlich, dass auch die prekären Probleme der heutigenIdentitätsbildung in neuen solidarischen Formen bearbei-tet werden können. Religion ist dabei allerdings nichtanders denn als Suchprozess präsent, aber auch als solchebedarf sie eines sozialen Fundus an vorhandenen religiösenDeutungsangeboten und an symbolischer Kultur.

Die Studie zum Thema «Solidarität und Religion» hatgezeigt, dass und wie verschiedene Formen der Verknüpfungvon Solidarität und Religion in der heutigen Schweizneben- und miteinander existieren. Vor allem der «Identi-tätstyp» verweist dabei auf Elemente der gegenwärtigenErlebniskultur - allerdings in dem Sinn, dass u.a. religiöseErlebnisse hier eingesetzt werden, um gerade die Brüche,die Probleme und ein mögliches Scheitern der Prozesse derIndividualisierung aufzufangen. Die Erlebniskultur mussalso nicht nur als eine «Spasskultur» angesehen werden.

4. Schluss: Religion im Trend?!

Auch in der Schweiz gibt es also so etwas wie einenTrend zu einer alternativen Religion oder, aus der Sicht derMenschen selbst, einer «undogmatischen Spiritualität».Auf der anderen Seite gibt es aber auch massive Verlusteunserer hochkulturellen Kirchlichkeit. Religion ist heuteflexibel, flüssig und entdogmatisiert worden, aber sie istdamit zugleich privatisiert und ohne grossen Einfluss aufzentrale Lebensbereiche, die unser Leben bestimmen. Die

Wahl der eigenen Religion hat kaum mehr Einfluss auf denZugang zu anderen wichtigen Lebensbereichen.

Man darf also auch eine gewisse Skepsis gegenüberdem «Megatrend Spiritualität» äussern, wie er von sogenannten Trendforschern ausgerufen wird. Aber selbstwenn Religion weniger im Trend wäre als vielfach behaup-tet, wird sich die Religion an die Trends der Lebensstile, andie Trends des Erlebnismarktes und auch an die exaltier-testen Formen individualisierter Selbstdarstellung anpassen.Zugleich werden Religion und Spiritualität auch von dengrossen Problemen und Brüchen der individualisiertenLebensführung beeinflusst, welche die Menschen mit denunterschiedlichsten Spielarten religiöser Selbstverortungzu bewältigen versuchen. Religion spielt sich immer mittenim Leben der Menschen ab, beeinflusst von Moden unddem Zeitgeist - auch wenn die seriöse Religion immer eineDistanz zum Zeitgeist wahren muss, um ihren spezifischenVerweis auf Transzendenz aufrecht erhalten zu können.

Literatur

Dubach Alfred, Campiche Roland J. (Hg.) 1993.Jede(r)eine Sonderfall? Religion in der Schweiz. Ergebnisse einerRepräsentativbefragung. Zürich/Basel. NZN Buchverlag/Friedrich Reinhardt Verlag.

Hurth Elisabeth. 2003. Pop-Religiosität, in: InternationaleKatholische Zeitschrift Communio 32, 389-397.

Joas Hans. 2003. Einleitung, in: ders. (Hg.), Was sind reli-giöse Überzeugungen? Göttingen. Vandenhoeck undRuprecht.

Krüggeler Michael, Büker Markus, Dubach Alfred, EigelWalter, Englberger Thomas, Friemel Susanne, Voll Peter.2002. Solidarität und Religion. Was bewegt Menschen inSolidaritätsgruppen? Zürich. NZN Buchverlag.

Schulze Gerhard. 1992. Erlebnisgesellschaft. Kultursozio-logie der Gegenwart. Frankfurt am Main. Campus.

Schweizerisches Pastoralsoziologisches Institut (Hg.).2001. Lebenswerte. Religion und Lebensführung in derSchweiz. Zürich. NZN Buchverlag.

Stolz Jörg. 2001. Individuelle Religiosität, Kirchenbindungund Einstellungen zu den Kirchen im Kanton Zürich undin der Schweiz. Ein Bericht zuhanden des Evangelisch-reformierten Kirchenrates des Kantons Zürich. o.O.

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Schriftenreihe infoSekta 09/0416

1. Von der Zucht zur Wucht

1.1. Freikirche – ein schwieriger Begriff

Der Titel dieses Beitrags ist eine Hypothese, die aufBeobachtungen und nicht auf empirischen Studien basiert.Mir geht es im Folgenden darum, eine falsche Hypothesezu widerlegen, die empirisch nicht belegt ist, sich aber hart-näckig hält: kirchlicher Erfolg auf der einen, Stagnation aufder anderen Seite. Das bringen viele Journalisten schnellauf die Schiene erfolgreiche Freikirche versus serbelndeLandeskirche. Ich meine aber: Traditionelle Freikirchenstagnieren genauso wie die Grosskirchen, während das frei-kirchliche Erlebnismilieu boomt.

Die Differenzierung will sagen: Pauschale Aussagenüber Trends in Freikirchen sind mit Vorsicht zu geniessen.Erstens ist die Szene zu vielfältig. «Freikirche» besagt nur,dass es sich bei der Gemeinschaft nicht um eine öffentlich-rechtlich anerkannte, sondern um eine privatrechtlichorganisierte Kirche handelt, die finanziell und spirituellvon der Motivation ihrer Anhänger lebt. Zudem sind diemeisten Freikirchen kongregationalistisch strukturiert,weisen also keine übergeordnete Strukturen ausser einemlockeren Bündnissystem auf. Aber nicht nur die Unter-schiede zwischen den einzelnen Freikirchen sind erheblich:die Ausprägung der Frömmigkeit, (beispielsweise bei denBaptisten oder Methodisten,) differiert von Gemeinde zuGemeinde. Es ist auch schwierig, zuverlässige Angabenüber Mitgliederzahlen zu bekommen. Wer prüft die Infor-mationen? Sind sie vertrauenswürdig?

Trotz Schwierigkeiten, mit dem Begriff «Freikirche»einen gemeinsamen Inhalt zu verbinden, gibt es einenwichtigen gemeinsamen Aspekt im Unterschied zu denGrosskirchen. Freikirchen sind Freiwilligkeitskirchen. Daswirkt sich positiv auf die Mitgliedschaftsmotivation aus.Wer dabei ist, gehört dazu, wer dazu gehört, ist engagiert.Die Verbindlichkeit ist hoch. Freikirchliche Christen sindtendenziell exklusiv in ihrer Orientierung und Anhänger inihrer Organisation. Fragen wir nach dem Wachstum allerKirchen, fällt auf, dass die Grosskirchen tatsächlichschrumpfen, teilsorts dramatisch schnell wie die Gletscherund Firnfelder im Sommer 2003, andernorts etwas verlang-

samt. Es ist nicht ganz einfach, die Faktoren, die für diesenRückzug mitverantwortlich sind, zu einem verlässlichenSzenario zu verknüpfen. Was für Basel-Stadt gilt, muss imEmmental noch nicht gelten, was im Württembergischennoch Geltung hat, ist im Badischen schon längst passé.Wagen wir trotzdem eine globale Aussage: Es gibt einenoffensichtlichen Zusammenhang zwischen Modernisie-rung, Urbanisierung und Entinstitutionalisierung, von demdie Freiwilligenkirchen nicht im selben Masse betroffensind wie die Grosskirchen.

Wie verhält es sich nun mit den Freikirchen? Mankönnte annehmen, sie boomen alle im Zeitalter der Orien–tierungslosigkeit, profitieren also von der Modernisierung,Urbanisierung und Entinstitutionalisierung. Grund zu die-ser Annahme gibt weniger die Rechtsform als die vorherr-schende religiöse Orientierung und Bindungskraft derGlaubensgemeinschaften. Sie stellt den Raum für jene Ant–worten bereit, in dem – wie es in der Ankündigung zurTagung formuliert ist – Antworten auf Einsamkeitsgefühleund Kontaktarmut gegeben werden. Ist also das exklusivchristliche Orientierungsmuster und/oder rigide Moral dasRezept für erfolgreiche Mitgliederrekrutierung?

1.2. Geschichtliche Wurzeln unterschiedlicherFreikirchen

Nein. Exklusive Orientierung und enge Gemein-schaft sind kein Erfolgsrezept per se. Es wachsen nicht alleFreikirchen, sondern nur bestimmte, eben die Trendge-meinschaften. Ich halte es für sinnvoll, einen innerfrei-kirchlichen Vergleich zu machen und von unterschiedli-chen kulturellen Settings zu sprechen die nicht zwingendmit der Rechtsform zu tun haben. Deshalb folgt nun eineknappe Skizze zum geschichtlichen Hintergrund derFreikirchen.

Historisch liegt der Anfang bei der Absetzungs-bewegung der Reformatoren von der katholischen Mutter-kirche und der Opposition gegen den linken Flügel derReformation. Von diesem linken Flügel der Reformation,der Täuferbewegung, sind Gruppen und Kleinkirchen zuunterscheiden, die aus den pietistischen und neupietisti-schen Erweckungsbewegungen im 17., 18. und 19.

Von der Zucht zur Wucht

Die Stagnation traditioneller Freikirchen und der Boomdes freikirchlichen Erlebnismilieus

Ralph Kunz

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Von der Zucht zur Wucht 17

Jahrhundert hervorgegangen sind. Darunter ist etwa dieMethodistische Kirche zu zählen, die heute in vielerleiHinsicht volkskirchliche Züge trägt. Anders die bekannteHeilsarmee, die zwar dieselben historischen Wurzeln in derenglischen Heiligungsbewegung hat, sich aber schon äus-serlich als Freikirche gebärdet. Das Beispiel der Heilsarmee,die in der Bevölkerung hohes Ansehen geniesst, widerlegtauch den pauschalen Sektenverdacht, der gegenüberFreikirchen geäussert wird. Auf den Hügeln und zwischenEcken des Emmentals, im zerklüfteten Zürcher Oberland,im Baselbiet oder dem Berner Oberland konnten ander-seits freikirchliche Kulturen entstehen, die sich stärker überSonderaspekte aufbauten. Wer von Spielsucht und Alkoholgerettet werden konnte – ein grosses Problem in den ver-armten Voralpenregionen –, wurde Mitglied eines evange-lischen Brüdervereins, in welchem eine enge Stützgemein-schaft den Bekehrten und seine Familie vor dem Rückfallin weltliche Sünde schützte. All diesen historischenFreikirchen ist gemeinsam – und das ist m.E. für dasVerständnis der gegenwärtigen Situation entscheidend –,dass ihre gottesdienstliche Praxis mit einem Minimum anSinnlichkeit auskommt. Sakramentale Frömmigkeit spieltin der Regel keine Rolle, die Gottesdienste sind wortzen-triert. Mehr oder minder zeichnen sich diese Freikirchendadurch aus, dass sie auf eine Gesinnungsethik, eine rigideSexualmoral und einen strengen Biblizismus beharren.Viele traditionelle Freikirchen sind sowohl ästhetisch alsauch ethisch strammer reformiert als die evangelisch-reformierten Kirchen.

1.3. Freikirchliche Zucht und freikirchliche Wucht

Wie attraktiv sind nun diese Gemeinden? Wächstihr Mitgliederkreis? Die Antwort lautet wiederum: Nein.Vieles weist darauf hin, dass dieser Typus Freikirche grosseSchwierigkeiten hat, neue Mitglieder zu rekrutieren.Abgesehen vom biologischen Wachstum, das allerdingsbeträchtlich sein kann, haben diese Gemeinden keinenZuwachs. Ein Grund dafür mag das schlechte Image sein.Denn obwohl die historischen Freikirchen aus ganz unter-schiedlichen Hintergründen entstanden sind, haben vorallem die neupietistischen «Stündeler» ein relativ einheitli-ches Klischee geprägt: Der «Frömmler» ist tendenziell fana-tisch, altmodisch, weltabgewandt und gesetzlich. Genaudieses Klischee trifft nun aber auf ICF oder Basilea oder dieFriedenskirche gerade nicht zu. Ein Beispiel zur Veran-schaulichung: Kulturell sind die Versammlung des Evan-gelischen Brüdervereins in Ried bei Adelboden und dieGospelparty in Zürich zwei verschiedene Welten. Aus derSicht eines altmodischen Freikirchlers ist ICF ganz und garmodisch und weltlich, denn äusserlich ist nichts auffälligfromm, kein besonderer Kleider- oder Sprachcode, man

trägt casual und spricht Slang wie in der weltlichenJugendszene. Wer zur ICF-Gospelparty geht, muss sichweder umziehen noch umstellen. Die beiden Frömmig-keitsmilieus unterscheiden sich also sichtbar. Am einen Ortwird die moderne Erlebniskultur verdammt, am anderenOrt wird sie christianisiert. Die Hauptverbindung ist un-sichtbar: es handelt sich an beiden Orten um evangelikalgeprägte christliche Religion ausserhalb der verfasstenKirche. Synkretismus und Okkultismus werden von beidenabgelehnt, gegenüber der universitären Theologie herrschteine kritische Haltung. In sozial- undmoralethischen Fragenist man sich im Grossen und Ganzen einig: Sex vor der Eheist Tabu, Drogen sind schlecht, Homophilie ist Krankheit.Mit Nuancen wird im Adelbodner Tal und in Zürich das-selbe geglaubt – allerdings in unterschiedlicher Verpackung.

1.4. Welche Szene boomt?

Die Verpackung macht's aus. In der neuen Unüber-sichtlichkeit hat das Eindeutige einen Bonus. Aber klar pro-filierte Positionen sind nur dann attraktiv, wenn sie auchpeppig und poppig daher kommen. Exklusive Glaubens-muster entwickeln ihre Anziehungskraft hauptsächlich imrichtigen Design. Werbeleute wissen das schon lange. DerSoziologe Gerhard Schulze hat diese Verschiebung zurÄsthetisierung der Lebenswelt bereits Anfang der 90erJahre in seinem Buch «Erlebnisgesellschaft» beschrieben.

Generell von einem Boom der Freikirchen oder desEvangelikalismus oder charismatischer Frömmigkeit zusprechen, ist demnach falsch bzw. undifferenziert. Wäh-rend in der voralpinen evangelischen Brüdervereinskulturpraktisch keine Verjüngung mehr stattfindet und dieseGemeinschaften lediglich biologisch wachsen, rekrutierendie urbanen Jugendkirchen eine neue Klientel. Ein beacht-licher Anteil des Wachstums ist jedoch auf innerevangelikaleVerschiebungen zurückzuführen. Die modisch-jugendlicheFreikirchen-Szene in Bern, Zürich und Winterthur zog vorallem in der Startphase Jugendliche aus anderen Freikir-chen notabene evangelikaler und charismatischer Prägungan. Wo zu viele Berührungsängste mit der christlichenRap-, Soft-, Hardrock- oder Hipphoppszene bestehen, ver-lassen die Jungfrommen ihre angestammten Heimatkir-chen. Ich schliesse aus dem Phänomen der innerfreikirch-lichen Mobilität, dass für Erlebnistouristen nicht diegeschlossenen Systeme und engen moralischen Normenattraktiv sind, sondern die Aussicht auf eine Steigerung desreligiösen Erlebnisgehalts. Das Happening birgt die Kraft.

Die evangelikalen Trendkirchen decken ein bestimm-tes Segment des religiösen Marktes ab. Das Angebot iststark auf die Lebens- und Freizeitgewohnheiten ihrer

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Kundschaft zugeschnitten. Im Unterschied zu denGrosskirchen, welche einen Kultur- und Öffentlichkeits-auftrag wie Radio DRS wahrnehmen müssen, sind die pri-vaten Anbieter flexibler. Sie können eine Sparte bedienenund deshalb auf Bedürfnislagen ihrer Klientel reagieren.Vor allem wenn es darum geht, neue Kunden zu werben,haben sie den Vorteil, das Design jeweils dem Geschmack-und Stilempfinden der jüngsten Generation anpassen zukönnen. Vor dreissig Jahren gab es eine evangelikale«Teestübli-Szene». Damals waren verwaschene Pulloverund Sandalen in. Man war als junger Christ tendenziell einWeltverbesserer. Ich vermute, dass die gegenwärtigenTrendgemeinden mit diesem Evangelikalismus herzlichwenig zu tun haben. Sie sind erfolgreich, weil sie sich nichtalternativ stylen. Deshalb ist hier auch mit Risiken eineskurzfristigen, auf Mode getrimmten und stromlinienför-migen Marketings zu rechnen. Einiges von dem, was fürJugendliche angeboten wird, hat die Kennzeichen einerreligiösen Fastfood-Kultur: hohe Reize und wenigNachhaltigkeit. Darauf komme ich später noch einmalzurück.

2. Erfolgsstory des christlichen Fundamen-talismus auf dem Erlebnismarkt

2.1. Coming out

Den zweiten Teil meines Beitrags möchte ich miteinem Coming out eröffnen: ich gehörte selber einmal zumInternational Christian Fellowship.Mein Geständnis hat denNachteil, dass manmir vielleicht nicht mehr zutraut, kritischüber ICF zu referieren oder – noch schlimmer – vermutet,dass ein Ex-Mitglied überkritisch über seine problematischeVergangenheit spricht. Ich nehme dies in Kauf.

1990 brauchte ich einen Tapetenwechsel und stu-dierte ein Jahr in Amerika. Ich entschied mich für dasFuller Seminary in Pasadena, absolvierte aber kein eigentli-ches akademisches Programm, sondern suchte mir dieinteressantesten Veranstaltungen aus dem Lehrangebotheraus. Neben dem Studium engagierte ich mich in einerhispanischen Pfingstgemeinde in Downtown LA. Fürchristliche Pilger, die eine Tour ins Heilige Land machten,war Los Angeles Anfang der 90er Jahre ein Muss. Die USAwaren und sind ein reicher religiöser Garten, Los Angeleswar und ist das Treibhaus. Und so lernte ich während mei-nes Aufenthaltes einen Pilger aus der Schweiz kennen,Heinz Strupler, ein dynamischer, energiegeladener undkreativer religiöser Unternehmer. Strupler bereiste Ameri-ka, um auf neue Ideen zu kommen. New Life, seine alteUnternehmung, hatte an Schwung verloren. Auf seiner

Reise faszinierten ihn drei Kirchen und regten ihn zu neuenIdeen an. Zwei davon haben ihren Ursprung in LosAngeles: Robert Schulers Programm Hour of Power unddie Vineyard Movement in Anaheim. Und weil einer derExponenten von Vineyard einen Lehrauftrag am FullerSeminary hatte, besuchte Strupler Pasadena. Die dritte die-ser Erfolgskirchen war freilich keine kalifornische Pflanze.Bill Hybels Willow Creek begann den Aufstieg in denVororten von Chigago, sozusagen zwischen Bible belt undGrossstadt. Theologisch unterscheiden sich die drei Kirchenziemlich stark. Vineyard ist charismatisch, Schulers Hourof Power-Theologie ist beeinflusst von Vincent Peales posi-tivem Denken, und Bill Hybels ist ein durchschnittlicheramerikanischer Evangelikaler, wenig interessiert an spekta-kulären Geisterfahrungen, konservativ in den Inhalten undinnovativ in der Verpackung. Auch Strupler war eher skep-tisch gegenüber der charismatischen Frömmigkeit – zuwild, zu unkontrolliert, zu gefährlich. Und das bereits vorToronto. Schuler und Hybel beigeisterten ihn.

Von Willow Creek lernte Strupler das Schlüsselwort«seeker-oriented worship». Das Erfolgsrezept: Ein Gottes–dienst, der auf die Kultur der spirituell suchendenMenschen zugeschnitten ist. Das Credo: Menschen, denenman das Evangelium näher bringt, soll nicht zugemutetwerden, in ein kulturelles Sondermilieu überzutreten. Odermuss man Orgel mögen, damit man Christ sein darf? 1991kam ich in die Schweiz zurück. Ich spielte Keyboard, nichtOrgel, und suchte eine Stelle. Strupler war in derZwischenzeit nicht untätig, er gründete ICF. Die Idee desProjektes: ein kleines Zürcher Willow Creek mit einem klardefinierten Zielpublikum. ICF soll eine Gemeinde fürAusländer werden, die christliche Gemeinschaft suchen,also ein International Christian Fellowship. Denn inZürich, so analysierte Strupler, gibt es diesbezüglich einmarkantes Unterangebot. Das hat mich angesprochen, undich machte mit.

ICF war von Anfang an ein Erfolg. Eine Gemeinde,in der englisch und deutsch gesprochen wird, in die manleicht hinein kommt, die international – der zweitePrediger war ein Inder –, die modern, informell und dochverbindlich ist, konservativ in den Inhalten und innovativin der Verpackung. Evangelikaler Mainstream, nichtsExtremes, keine Experimente. In dieser Phase meines kur-zen Engagements als Klavierspieler stand das ICF in seinenAnfängen. Die Stimmung war extrem locker, die ganzeSache übersichtlich. Die Gottesdienste in der St. Anna-Kapelle waren gut besucht.

Strupler verliess das ICF. Er startete ein neuesProjekt, eine Schule für Gemeindeentwicklung. Heute ist er

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Vertreter für Schulers «Hour of Power». Und wie hat sichICF weiter entwickelt? Die neuen Leiter haben den Nameninteressanterweise beibehalten. Vielleicht weil das Kürzelbereits zu einem Markenzeichen geworden ist? Tatsache ist,dass ICF nicht mehr ist, was es ursprünglich hätte sein sol-len. Es sind zwar immer mehr Personen dazu gestossen,aber nicht in erster Linie englisch sprechende Ausländer,sondern Teenager und junge Erwachsene, die in ihrenHeimatgemeinden nicht auf ihre Rechnung gekommensind. ICF entwickelte eine regelrechte Sogwirkung. Viel-leicht hat dieser Boom damit zu tun, dass nicht mehr ichdas Keyboard bediente?

2.2. Religionswissenschaftliche Einordnung –populäre Religion?

Es lohnt sich nicht, meinen Beitrag zur Entstehungder Trendgemeinde noch weiter zu verfolgen. Den Hinweisauf die amerikanischen Hintergründe halte ich hingegenfür wichtig, um das Phänomen der Trendgemeinden besserzu verstehen. Tatsache ist, dass der erfolgreiche Import reli-giöser Marktstrategien aus den USA keinen zürcherischen,schweizerischen oder europäischen Einzelfall darstellt, son-dern weltweit beobachtet werden kann. Der Einfluss alssolcher ist auch nicht neu, aber er hat an Intensität zuge-nommen. Ich denke insbesonders an die boomendenPfingstkirchen in Chile, Brasilien, Argentinien, Nigeria,Ghana und Südkorea. Dabei sind zeitliche Schwankungenund lokale Differenzen zu beachten, auf die ich hier nichtnäher eingehen kann. Beschränken wir uns auf ICF als eineleicht modifizierte Version des Willow Creek-Modells.Dieses Modell scheint sich in Deutschland (z.B. in derAndreasgemeinde in Niederhöchstedt) und der Schweiz zubewähren. Weshalb? Für die Analyse halte ich es für sinn-voll, sich auf das zentrale Produkt, den Gottesdienst, zukonzentrieren und dabei die religionswissenschaftlicheund theologische Perspektive auseinander zu halten. Denndie Frage nach dem Erfolg der Trendgemeinschaften hatmit ihrer Show zu tun. Bei den ICF-Gottesdiensten fürjunge Menschen sticht die Nähe zur Pop-Kultur sofort insAuge. Dabei wäre es falsch, das Populäre mit profaner odersäkularer Kultur gleichzusetzen. Die Konturen verwischen.Gerade weil man heute in allen kulturellen Bereichen aufReligion stösst, in der Werbung und in Madonna-Songs,verbietet sich ein solches Verständnis von populärer Kultur.Ein Indiz dafür ist das Auftauchen der populärenReligiosität. Ihr Profil zu kennen, ist hilfreich, wenn vomVerhältnis des Gottesdienstes zur Pop-Kultur die Rede ist.

Der Berliner Religionssoziologe Hubert Knoblauchstellt die These auf, dass es sich bei populärer Religion umFormen von Religiosität handle, die auf Markt und Medien

angewiesen sind. Für ihre Ausbreitung sind diese zwei,nicht voneinander trennbaren Entwicklungen verantwort-lich: Erstens ein religiöser Markt, «auf dem die verschie-densten Inhalte der historisch gewachsenen Religionenangeboten werden und der entsprechende angebotsorien-tierte Sozialformen annimmt. Die zweite Quelle ist in derVeränderung der religiösen Kommunikation zu erblicken,die auf den Möglichkeiten der Entwicklung von Medienaufbaut» (1). Populäre Religion ist also die massenkulturel-le Sozialform der Religion (2). Sie ähnelt dem, was alsVolksfrömmigkeit oder in Anlehnung an den romanischenSprachgebrauch auch als populäre Religiosität bezeichnetwird (3). Auch Pop-Religion und Medienreligiositätbezeichnen verwandte Phänomene, sie schränken aber dieReichweite der populären Religion jeweils auf bestimmteAusschnitte ein. Wie Knoblauch anhand von drei Beispie–len – der Electronic Church, der neureligiösen Bearbeitungdes Todes und den Papstbesuchen – aufzeigt, hat dasAuftreten der populären Religion in der Spätmoderne mitstrukturellen Veränderungen der religiösen Kommuni–kation, der gesteigerten Medialisierung und Marktorien–tierung zu tun (4). Knoblauchs Definitionsversuch istnatürlich keine hinreichende Erklärung für das Phänomender Trendgemeinschaften. Das Modell ‚populäre Religion‘macht aber auf Rahmenbedingungen aufmerksam, die fürden Erfolg von ICF entscheidend sind. Es ist das erhöhteTempo und die grössere Prägkraft der kulturellen Soziali–sation. Medien und Markt sind die Hebel einer Erlebnis–kultur, in der sich vor allem Jugendliche bewegen. Nur voneiner Multiplikation oder milieuorientierten Ausdifferen–zierung im Bereich der religiösen Praxis zu sprechen, wäredeshalb unpräzise. Medialisierung und Ökonomisierunghaben auch einen Coca-Cola- und McDonald-Effekt. WerErfolg haben will, muss populär sein, wer populär bleibenwill, muss den Geschmacksdurchschnitt treffen.

2.3. Theologische Einordnung – ritualtheoretischeErwägungen

Aber dieser Geschmack enthält ein paar gefährlicheVerstärker. Im Glutamat der attraktiven Multimediashowist eine grosse Portion Fundamentalismus enthalten. Dasshier Risiken und Nebenwirkungen zu erwarten sind, daraufweist bereits der Titel der Tagung. Auf diese Gefahrenwerde ich jetzt nicht eingehen, weil das andere Referententun. Ich möchte beim Faszinosum der Gospelshows blei-ben. Die Shows sind offensichtlich eine Wucht. Und dasmacht sie für die Vertreter der traditionellen Liturgie zumTremendum.Wenn solche Gospelshows auf dem religiösenMarkt besser ankommen, wächst natürlich der Wunsch,dieses Rezept zu übernehmen, freilich ohne fundamentali-stische Geschmacksverstärker. Ist das überhaupt möglich?

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Kann man einen Gottesdienst, der so leichtfüssig daherkommt, auch mit theologischem Tiefgang kombinieren?

Mats Staub, der aus theaterwissenschaftlicherPerspektive einen konventionellen Predigtgottesdienst miteinem ICF-Multimediagottesdienst verglichen hat, ver-neint diese Frage. Er kommt zum Schluss, dass ein multi-mediales religiöses Spektakel immer mit plakativenAussagen und simplen Botschaften einher geht. Ich binnicht sicher, ob das stimmt, finde aber Staubs Beobach-tungen erhellend. Staub beschreibt in seiner Arbeit denVeranstaltungsraum, die Schwellenphase des Rituals, d.h.das Geschehen im Zeitraum vor Beginn des Gottesdienstesund die Grundstruktur des Gottesdienstes. Ich beschränkemich auf den letzten Punkt, weil die Unterschiede zwischender traditionellen und post-traditionellen Religionskulturhier am deutlichsten werden. Diese Unterschiede, davonbin ich überzeugt, werden falsch interpretiert, wenn mansie auf die Unterscheidungen «Freikirche – Landeskirche»oder «evangelikal - nicht-evangelikal» reduziert.

Wo liegt der Unterschied? Prediger, Moderatorenund Musiker bewegen sich im Multimediagottesdienst freiauf der ganzen Bühne. Und es ist in der Tat eine Bühne. Biszu 20 Akteure treten innerhalb einer Show auf. Begrüssung,Gebet, Videoclip, Anbetung, Theater, Predigt, Interviewund Sologesang sind die Elemente. Die einzelnen Aktebesitzen eine ganz unterschiedliche Erlebnisintensität,richten sich aber alle nach dem Thema. Säkulare Vorbilderdieser Inszenierungsform sind Talkshow und Popkonzert.Die Moderatoren führen durch den Anlass und preisen diejeweils nächsten Akte an. Das permanente Anpreisen ist einauffälliges Merkmal der ICF-Gottesdienste. «Dabei unter-scheiden sich die Ankündigungen und Kommentare inWortwahl und Begeisterungsgrad kaum voneinander undvermitteln durchwegs dieselbe Botschaft: es wird super, esist gewaltig, es war krass» (481). Die Begeisterung auf derBühne und die lockere Atmosphäre unter den Zuschauernlässt leicht vergessen, dass es um eine ernste Angelegenheit,um die Errettung geht. Das drohende Verderben blitztimmer wieder auf, bleibt aber im Hintergrund.Bedrohliches wird harmlos im leichten Unterhaltungstondargestellt (540).

Ganz anders die reformierte Predigtliturgie. Siekennt in der Regel einen einzigen, eigens kostümiertenHauptakteur, der sich während des Gottesdienstes zweck-gerichtet und unauffällig bewegt. Der Höhepunkt desRituals ist eine anspruchsvolle Rede, in der die Schrift aus-gelegt wird. Alles ist ernst, in gehaltenem und gehobenemTon. Die Gefahr der Gottverlassenheit wird theologischbewältigt. Während also in der Predigt im Fraumünster

durch Erörtertung widersprüchlicher Aussagen dieKomplexität der Botschaft erhöht wird, versucht derPrediger im ICF Komplexität zu reduzieren, Widersprüchezu zähmen und aufkommende Ängste durch gute Laune inSchach zu halten. Komplexität wird auf eine einfacheProblemlösungsstrategie reduziert. Die Bibel wird nichtausgelegt, sie wird angewandt. Sie erscheint nicht als Buch,sondern wird als Beleg für die Wahrheit der Lösung an dieLeinwand projiziert. Das Fazit Staubs aus dem Vergleichder beiden Gottesdienste: «Die Gegenüberstellung vonFraumünster und ICF führt somit zu dem bemerkenswer-ten Befund, dass beide Gottesdienste eine paradoxeKonstruktion von Inhalt und Form aufweisen: Im Frau-münster wird mit einer rigiden Form ein ‚offener‘ Inhalt zuvermitteln versucht - im ICF mit einer ‚offenen‘ Form einrigider Inhalt.» (533).

Wie gesagt halte ich diese Überlegungen für interes-sant, aber für kurzschlüssig. Denn der erfolgreicheSchulterschluss zwischen Fundamentalismus und populä-rer Erlebniskultur ist zwar auffällig, aber nicht zwingend.Ob Politik oder Wirtschaft, Sport oder Kultur: Die Frage,wie unterhaltsam Informationen verkleidet werden, wieamüsant eine Botschaft inszeniert und präsentiert werdendarf, hängt immer auch mit der Frage zusammen, wie starkeine Thematik vereinfacht werden kann. Es geht umWirksamkeit und Wahrheit. Die Packung ist bestimmend.Wie man im Medienzeitalter das Evangelium inszenierensoll, wird Christen aller Couleur in Zukunft intensivbeschäftigen. Um diese Diskussion sachgerecht zu führen,sind Berührungsängste und Anbiederungsversuche mit derPopularkultur gleichermassen zu vermeiden. Wer populärsein will, muss den Mut haben, gewisse Dinge zu verein-fachen. Aber Elementarisierung heisst nicht zwingendSimplifizierung, Konzentration heisst nicht zwingendReduktion, Anschaulichkeit nicht zwingend Plakativität.Wenn ich darum diese gemeinsame Herausforderung allerKirchen und Gruppen in den Vordergrund rücke, geschiehtdas mit der Absicht, Nebenwirkungen und Risiken nichtnur in der theologischen Beschränktheit zu suchen, sonderneben auch im unkritischen Umgang mit den Medien, denkulturellen Kräften in unserer Gesellschaft und denKommunikationstechniken. Die unkritische Haltung istdann gefährlich, wenn die Popularkultur zu schnell inglobo verteufelt oder ‘auf Teufel komm raus’ missionarischbesetzt wird.

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2.4. Was kann man von der ICF lernen?

Was kann die Kirche von der ICF lernen? ICF-Exponenten werden sich hüten, ihre Vereinfachungs-strategie zu verlassen und damit genau das aufzugeben, wassie in den Augen vieler als bekennende Christen auszeich-net. Sie haben eine klare Botschaft, die sie erfolgreich «ver-markten» können: die Bibel hat doch Recht, Jesus istimmer die Lösung, kein Sex vor der Ehe, und Homosexua-lität ist Sünde etc. ICF wird behaupten, man müsse, wennman an die Massen der Jugendlichen gelangen will, Farbebekennen, Profil zeigen und die Dinge beim Namen nen-nen. Hier auf Aufklärung, theologische Vernunft oder eineDifferenzierung in ethischen Fragen zu hoffen, halte ich füreinen frommen Wunsch.

Dennoch, ICF ist in theologischer und religiöserHinsicht weniger extrem als beispielsweise charismatischeTrendgemeinden. Was hier geboten wird, ist religiösbetrachtet biederer Durchschnitt, unspektakulärer Main-stream-Evangelikalismus. Das gilt auch für die Sexual-moral. Sie ist konservativ. Die Mehrheit der weltweitenChristen ist genauso konservativ. Aus diesen Gründen wäreich mit dem Attribut «sektiererisch» höchst zurückhaltend,selbst hinsichtlich G12. Ich finde es auch gefährlich, zuschnell und zu pauschal von Fundamentalismus zu spre-chen und einen Begriff zu verwenden, der zum Passe-partout für alles Extreme und Totalitäre geworden ist. Fürdie Auseinandersetzung mit Trendgemeinschaften wie ICFsind solche Schubladisierungen genauso wenig hilfreichwie «landeskirchlich» und «freikirchlich». Erstens verpasstman auf diese Weise die kulturelle Dimension desPhänomens, zweitens treibt man den Teufel mit demBeelzebub aus. Denn wir dürfen die kritisch theologischeAuseinandersetzung nicht abkürzen. Die pathologisch ver-engte Gemeinschaft und die ideologisch reduzierteTheologie sind virulente Gefahren der christlichenFrömmigkeit. Wir haben mit diesen Gefahren auch in denLandeskirchen zu tun. Mir gefällt deshalb die Idee des«Sekten-Thermometers». Soziale Verengung und ideologi-sche Erhitzung sind eine graduelle Angelegenheit. Manmüsste dann aber konsequenterweise auch die Kälte in denGemeinschaften und die Gleichgültigkeit messen.

Ich will mit diesen Relativierungen ICF nicht ver-harmlosen. ICF hat Erfolg und will weiterhin erfolgreichsein. ICF-Pressesprecher Linder spricht in der Reformier-ten Presse vom strategischen Ziel einer Verzehnfachung derBesucher. Das ist, wenn man Nebenwirkungen und Risikendes Wachstums berücksichtigt, nicht harmlos, sondern –freundlich ausgedruckt – höchst zwiespältig. Die Erfolgs-absicht bietet einerseits einen gewissen Schutz vor religiösen

Entgleisungen. Denn der richtige Durchschnitt bleibt einentscheidender Faktor für das Wachstum. Man experimen-tiert nicht mit scharfem Curry, wenn man mit Ketchupmehr Erfolg hat. Wenn weiterhin Wachstum angesagt ist,muss auch Transparenz in den empfindlichsten Gebietender öffentlichen Meinung herrschen: Geld, Macht undSexualität. Andererseits ist es der Erfolg, der den Trend-gemeinden auch zu schaffen machen wird. Der Presse-sprecher gibt zu: «Wir sind zwar ein effizienter Pflug imReinbringen von Leuten, aber es springen noch zu vielenach einiger Zeit wieder ab.» Der ICF als religiöser Durch–lauferhitzer? Mich interessiert das Schicksal dieserErkalteten und Abgesprungenen.

Eingedenk der Chancen und Risiken sei zumSchluss die Gretchenfrage gestellt: Sollen die Grosskirchendas Erfolgsrezept der Gospelshow übernehmen? Antwort:Warum nicht. Es geschieht ja bereits, hier und dort sogarmit studierten Theologen an der Front. Die Grosskirchenwären allerdings schlecht beraten, wenn sie in ihrer Analyseder religiösen Situation den Kurzschluss machen, dass mannur wuchtig und züchtig sein muss, um Erfolg zu haben.Das mag kurzfristig der Fall sein. Aber ist es nachhaltig?Um ein Bild des Apostel Paulus‘ aufzunehmen: Trend-gemeinschaften geben Milch zu trinken. Das Ziel wäre festeSpeise (1 Kor 3:1). Worin besteht diese feste Nahrung?

Ich will die Richtung eines nachhaltigen und festi-genden Glaubens mit Fragen aufzeigen: Wie kann manheute sein Christsein wach, mündig und kritisch leben? Wolernt man, mit den Widersprüchen, Widerständen undBrüchen in der eigenen Biographie umzugehen? Hätten dieGrosskirchen eine Gemeindekultur, in der man diesenzweiten und dritten Schritt in der Glaubensentwicklungeinüben kann, könnten sie als echte Alternative zu denTrendgemeinschaften auftreten. Das geschieht, soweit icherkennen kann, erst in Ansätzen. Wenn der Erfolg von ICFbewirkt, dass man in den Grosskirchen die Arbeit an einerlebendigen Glaubenskultur intensiviert, wäre das einehöchst willkommene Nebenwirkung.

3. Zusammenfassung

1. Exklusive Orientierung und enge Gemeinschaft sindkein Erfolgsrezept per se.

2. Klar profilierte Positionen sind nur dann attraktiv,wenn sie auch peppig und poppig daher kommen.

3. Viele traditionelle Freikirchen, die sowohl ästhetischals auch ethisch strammer reformiert sind als die

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evangelisch-reformierten Kirchen, haben Rekrutie-rungsprobleme.

4. Der Erfolg der Trendgemeinschaften hat mit ihrerShow zu tun. Die Nähe zum jugendlichen Lifestyleund zur populären Kultur ist attraktiv.

5. Medialisierung und Ökonomisierung sind dieRahmenbedingungen dieses Erfolgs, sie haben aucheinen McDonald-Effekt. Wer populär bleiben will,muss den Geschmacksdurchschnitt treffen.

6. Im Fraumünster wird mit einer rigiden Form ein«offener» Inhalt zu vermitteln versucht - im ICFhingegen mit einer «offenen» Form ein rigider Inhalt.

7. Wichtig ist, dass hier nicht zu schnell falsche Alter–nativen konstruiert werden: Elementarisierungheisst nicht zwingend Simplifizierung und Konzen-tration nicht zwingend Reduktion und Anschau-lichkeit nicht zwingend Plakativität.

8. Für die Diskussion über ICF ist gut zu sehen, dasshier evangelikaler Mainstream geboten wird. ICF istkeine fundamentalistische Sekte. Man soll ICF nichtdämonisieren.

9. Aber auch nicht verharmlosen! Genaues Hinsehenund Lernen heisst die Devise. Denn um längerfristigErfolg zu haben, reicht es nicht, wuchtig und züchtigzu sein. Die Alternative zur ICF-Strategie heisstnachhaltiges Wachstum.

10. Wenn der Erfolg von ICF bewirkt, dass man in denGrosskirchen die Arbeit an einer lebendigen undnachhaltigen Glaubenskultur intensiviert, wäre daseine höchst willkommene Nebenwirkung.

4. Literatur

(1) Hubert Knoblauch (2000): Populäre Religion. Markt,Medien und die Popularisierung der Religion.In: ZdR 8, 143-161, 145.

(2) Thomas Luckmann (1988): Die massenkulturelleSozialform der Religion. In: Hans-Georg Soeffner(Hg). Kultur und Alltag. Sonderband c der ‚SozialenWelt‘. Göttingen. 37-48.

(3) Knoblauch, a.a.O.146(4) Knoblauch, a.a.O., 152ff(5) Mats Staub (2002): Prediger und Showmaster Gottes, in

KotteAndreas (Hg.),Theater derNähe,Zürich. 427-550.

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Schriftenreihe infoSekta 09/04 23

Die ICF gibt sich als eine der erfolgreichsten Frei-kirchen der Schweiz. Mit ihren Mulitmedia-Gottesdienstenund ihrer Orientierung an der Jugendkultur zählt sie zuden «christlichen Trendgemeinden», die die Landeskirchenzunehmend unter Druck setzen und deren Zeitmässigkeitin Fragen stellen. ICF steht für «International ChristianFellowship». Mit dem Konzept einer «lebendigen Kirche»versucht sie, offen und trendig aufzutreten, und stösstdamit vor allem bei Jugendlichen auf grosse Resonanz. Gleich-zeitig handelt es sich bei der ICF um diejenige Gruppe, zuder infoSekta im letzten Jahr am meisten Anfragen bearbei-tete. Besorgte Eltern berichten über eine zunehmende Ent-fremdung ihrer Kindern, die so schlecht zum medial ver-mittelten Bild einer «modernen Kirche» passt. Die ICF istinsofern Anlass dieser Tagung, weil diese Mischung zwi-schen vordergründiger Offenheit und verstecktem Funda-mentalismus, die auf dem Erlebnismarkt so überzeugenderscheint, zum Denken anregt. Ich werde im Folgendenaufzeigen, weshalb diese Gemeinschaft trotz oder geradewegen ihres funkelnden und attraktiven Äusseren als pro-blematisch einzuordnen ist. Meine Darstellung wird sich inzwei Teile gliedern. Im ersten Teil werde ich einigeInformationen zur Geschichte, Organisation und Ausrich-tung der ICF vermitteln und im zweiten Teil auf den Aspektder marktförmigen Inszenierung zu sprechen kommen.Mit ihrem trendigen Erscheinen erfüllt die ICF alle Anfor-derungen, um sich auf dem «Erlebnismarkt» behauptenund sich gegen konkurrierende Religionsanbieter durch-setzen zu können. Es wird sich allerdings zeigen, dass dasmoderne Auftreten und das Versprechen auf «Gotteser-fahrungen» alleine nicht ausreichen, um den Erfolg der ICFzu erklären. Trotz ihres jugendkonformen Auftretens warauch die ICF von grosser Fluktuation betroffen und dazugezwungen, Massnahmen zugunsten einer erhöhtenVerbindlichkeit zu treffen. Ich werde zeigen, dass dieseMassnahmen leibsozialisatorisch wirken. Durch sie erhal-ten die Gläubigen Anleitung zu einem «richtigen Empfin-den» und zur «richtigen Gotteserfahrung» und verinnerli-chen damit die Lehre im eigenen Empfinden. Die Be-schränkungen der marktförmigen Inszenierung werden sodurchbrochen und die Mitglieder in die Gemeinschaftsozialisiert. Anhand der beiden Elemente der marktförmi-gen «Inszenierung» und den leibsozialisatorischen Mass-nahmen lässt sich das Doppelgesicht der ICF zwischen

Modernität und Fundamentalismus besonders pointiertaufzeigen.

1. Die Organisation und Ausrichtung der ICF

1.1. Geschichte und Grösse

Die ICF wurde im Jahre 1990 von Heinz Strupler alsdenominationsübergreifender Gottesdienst ins Lebengerufen. Sechs Jahre später übernahmen Leo Bigger undMatthias Bölsterli die Leitung und organisierten die ICFneu als feste Kirchgemeinde. Von Beginn an verfolgtenBigger und Bölsterli eine radikale Wachstumsstrategie,womit sich die ICF der von Amerika und der dritten Weltkommenden «Gemeindeaufbaubewegung» zuordnen lässt.Ihrer Lehre nach ist die ICF evangelikal ausgerichtet, inte-griert jedoch flexibel auch erfolgversprechende charismati-sche Elemente wie Geisttaufe oder die Gabenlehre, um aufmöglichst viele Personen attraktiv zu wirken. Die Strategiezeitigt Erfolg: Derzeit veranstaltet die ICF in Zürichwöchentlich sechs Gottesdienste, die auf verschiedeneAltersgruppen ausgerichtet sind und nach eigenen Anga-ben insgesamt von rund 2500 Menschen besucht werden.Seit kurzem hat sie ihren Sitz in einer Räumlichkeit imMaagareal am Zürcher Escher-Wyss-Platz, für die siemonatlich 50'000.- Franken Miete zahlt und für derenUmbau sie weitere drei Millionen Franken investierte.

1.2. Organisation und Hierarchie

Die ICF ist als Verein eingetragen und in zehnGeschäftsbereichen organisiert. Drei Geschäftsbereicheumfassen Gottesdienstangebote und Freizeitaktivitäten fürspezifische Altersgruppen: der «Chinderexpress» für Kinderbis zu zwölf Jahren, der «Youth Planet» für Jugendlichezwischen dreizehn und neunzehn Jahren und der «Zwänzger»für die Altersgruppe von zwanzig bis fünfundzwanzigJahren. Besonders zu erwähnen ist auch der Geschäfts-bereich «ICF unlimited», ein eigener Verein unter derLeitung der icf-zürich, der die Gründung von weiterenGemeinden zum Ziel hat und unter anderem Pastoren-Schulungen anbietet. Die ICF verfügt derzeit über rund 25Partnergemeinden in anderen Städten, die ebenfalls unter

Das Doppelgesicht der «International Christian Fellowship» ICF

Marktförmige Inszenierung undleibsozialisatorische Massnahmen

Sonja Friess

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dem Namen ICF laufen, jedoch rechtlich eigenständigorganisiert sind. Die Gesamtleitung, das generationsüber-greifende Angebot wie bspw. die Seelsorge und derHauptgottesdienst für alle Altersgruppen, der GenX, liegenin der Verantwortung von Leo Bigger und MatthiasBölsterli. Sie sind die treibende Kräfte der ICF und besitzendie definitive Entscheidungsbefugnis im siebenköpfigenLeitungsteam. Zusammen mit Bruno Bigger und DanielLinder bilden sie den Vorstand der ICF, zu viert sind siezudem die einzigen Vereinsmitglieder, die die ICF besitzt.Die Gottesdienstbesucher sind demgemäss formal keineMitglieder der ICF und werden auch nicht als solche be-zeichnet, was zu einigen sprachlichen Schwierigkeiten führt.Die ICF selbst spricht von «Personen, die sich der ICFzugehörig fühlen».

Finanziert wird die ICF über Spenden jener Sich-Zugehörig-Fühlenden, die den «Zehnten», das heisst zehnProzent ihres Einkommens an die ICF abliefern. FürSonderausgaben wie den Umbau im Maag-Areal werdenzusätzliche Sammlungen gestartet und von den Gläubigen«Commitments» abverlangt, womit Zugeständnisse undEinschränkungen in der Lebensführung gemeint sind. Fürden Umbau verzichteten bspw. einige Gläubige auf Alkoholund Fleisch, andere zogen in Wohngemeinschaften zusam-men und übertrugen das so gesparte Geld der ICF, wie einEhemaliger berichtete. Nach eigenen Angaben gelang es derICF, in nur rund neun Monaten mehr als eine Million Fran-ken zu sammeln. Auch die Umbauarbeiten wurden haupt-sächlich von den Gläubigen geleistet, den wie die finanzielleBeteiligung ist auch das Engagement in der Gemeinde vor-ausgesetzt.

1.3. Gemeindeaufbau

Die Gläubigen sind nicht nur durch Aktivitäten derGesamtkirche und die Teilnahme an den Gottesdiensten indie Kirchgemeinde eingebunden. Bereits unter HeinzStrupler begannen sich einige Gläubigen in kleinen Gruppenvon rund zwölf Personen zusammenzuschliessen und imprivaten Rahmen zu treffen, um religiöse und ethischeFragen zu diskutieren. Unter Leo Bigger und Matthias Bölsterliwurden diese eher lockeren, unverbindlichen Zusammen-schlüsse institutionalisiert und zentralisiert. Der Ablauf unddie Inhalte der Treffen wurden seit der Einführung des «Work-shopsmodells» im Jahre 1996 zunehmend vorgeschrieben.Vorläufiger Abschluss dieser Entwicklung bildete dieReorganisation der Gemeinde im Jahre 2002. Vorbild dazulieferte das «g/12-Modell» der kolumbianischen Gemeindevon César Castellanos, mit dem die Gemeindestrukturnochmals strikter gefasst und eine «Vereinheitlichung zueiner ganzen Kirche» vollzogen werden sollte.

Das Konzept des g/12-Modells wird vom Leben Jesuabgeleitet. Wie sich dieser Jünger suchte, um sie zu unter-richten und auszusenden, sei auch jeder ICFler dazu beru-fen, seinen Glauben zu vertiefen und das Gelernte weiter-zuvermitteln. Dies vollzieht sich mittels der Bildung von sog.g/12-Gruppen, die von einer Mentorin bzw. einem Mentorgeleitet rund zwölf Personen umfassen. Der Kern derGemeinde bilden die geschlechtsspezifisch getrenntenGruppen um Leo Bigger und seiner Frau Susanne, in derThemen lanciert und Weisungen erlassen werden. DieTeilnehmenden bzw. Jünger dieser inneren Gruppen ver-mitteln daraufhin die Leitsätze in weitere g/12-Gruppen,die von Ihnen als Mentorinnen und Mentoren betreut wer-den und deren Jünger wiederum eigene Gruppen unterhal-ten. Die Lehre wird so sternförmig nach aussen getragen,bis dass die ganze Gemeinde dieselbe Schulung erhaltenhat. Die Gläubigen nehmen damit jeweils an einerGruppen als Jünger teil und sind zugleich dazu beauftragt,ihrerseits eine Gruppe zu gründen und zu betreuen. DieICF bestärkt mit dem g/12-Modell ihr Engagement imGemeindeaufbau und bindet die Gläubigen in eineStrategie ein, die in vier Punkten darlegt ist: 1. Gewinnen,2. Festigen, 3. Trainieren und 4. Beauftragen. In vierBüchern mit entsprechenden Titeln erläutert die ICF diePunkte im einzelnen und leitet die Gläubigen mit konkre-ten Schritten zu deren Umsetzung an. Die g/12-Gruppensollen der Unterstützung dienen Diskussionsforen sein, indenen die Einzelnen die Umsetzung der Glaubenssätze inihrer Lebenspraxis besprechen. Schwierigkeiten undProbleme werden offengelegt und «actionssteps» definiert,mit denen die Ziele erreicht und Probleme überwundenwerden sollten.

1.4. Glaubensinhalte

Ihrer evangelikalen Ausrichtung entsprechend giltdie Bibel in der ICF als inspiriertes Wort Gottes. Mit Hilfedes Heiligen Geists lasse sich die Bibel «entschlüsseln» undfür alltägliche Fragestellungen nutzbar machen. DasHören auf Gott wird damit zum zentralen Bestandteil derreligiösen Erfahrung und Glaubensauslegung. Die ICFerhebt den Anspruch, die biblischen Aussagen prägnanter,klarer und schärfer zu formulieren als andere Kirchen undderen fundamentalen Positionen zu vermitteln. Es erstauntdaher wenig, dass die ICF ein streng dualistisches Weltbildvertritt, in dem das Leben mit Gott scharf vom sündigenLeben ohne Gott abgegrenzt wird. «Neutrale Zonen gibt esnicht in deinem Leben als Christ. Entweder beeinflusst dichGott oder der Satan» (Bigger & Bölsterli, 2003b. 137).Durch die Bekehrung, so verspricht die ICF, entkommeman diesem bösen, von Satan beeinflussten Bereich undfinde zu seiner wahren Identität. Besondere Aufmerksamkeit

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erhalten auch die von Gott verliehenen Gaben, zu derenErmittlung die ICF eigens einen Gabentest einsetzt.

1.5. Problemfelder

Einige erwähnte Aspekte wären nun kritisch zubeleuchten und einige Fragen an die Verantwortlichen derICF zu richten. Indem die ICF ihr vorrangiges Ziel imGemeindeaufbau setzt, besteht die Gefahr, dass dieEinzelnen diesem Bestreben untergeordnet werden. Wieein Ehemaliger berichtet, entscheiden bspw. nicht dieInteressen oder Gaben, sondern vor allem das Aussehen derGläubigen darüber, wie sie in der Kirche eingesetzt werden.Menschen, die von den Leitenden als unvorteilhaft wirkendwahrgenommen werden, kämen kaum zu einem Auftritt inden Gottesdiensten. Des Weiteren führt die Vorstellung,dass die Umwelt von Satan beeinflusst wird und man sichvon dieser hüten muss, viele Gläubige in die Isolation vonder Aussenwelt. Der Kontakt zu nichtgläubigen Familien-angehörigen und Freunden wird schwierig und der Aus-stieg aus der ICF erschwert. Es ist zudem fraglich, ob dieSpendentätigkeit und das Engagement in der Gemeindewirklich auf Freiwilligkeit basieren. Indem in den Predig-ten gelegentlich darauf hingewiesen wird, dass «Gott allessieht», wird ein subtiler Druck auf den Gläubigen ausge-übt. Nicht zuletzt wurde mit dem g/12-Modell ein zusätz-liches Instrument der Einheit und Kontrolle eingeführt, dasproblematische Einbindungs- und Abhängigkeitsprozessefördern und verstärken kann.

Die erwähnten Aspekte sind problematisch, inso-fern die ICF bis in das Empfinden der Menschen einzu-dringen vermag, ihren Ideen dort umfassende Gültigkeiterlangen und die Gläubigen vereinnahmen. Solche Ein-griffe stehen aber in einem seltsamen Kontrast zum nach-frageorientierten Auftreten der ICF und zu der Integrationerfolgversprechenden charismatischen Anteilen in derLehre. Ich möchte nun auf diese sich vordergründig wider-sprechenden Punkte näher eingehen.

2. Das Doppelgesicht der ICF

Aus der einst kleinen Gottesdienstgemeinde ist innur acht Jahren eine straff organisierte Kirchengemeindegeworden, die über ein Millionenbudget verfügt und wei-terhin zu wachsen scheint. Wie ist dieser Erfolg zu erklären?Vieles spricht dafür, dass die Inszenierung und das Auf-treten als moderne, trendige Kirche massgeblich dafür ver-antwortlich sind. Die Multimedia-Gottesdienste und dasbreite Freizeitangebot wie Surfen oder Snowboard-Lagersind den Ansprüchen Jugendlicher angepasst. Die ICF bie-

tet den Gläubigen zudem die Gelegenheit, an den Gottes-diensten als Schauspielerinnen, als Musiker oder Sängeraufzutreten. Auch Menschen mit Erfahrung im Webdesign,in der Animation oder Kinderbetreuung kommen zumEinsatz. Kaum ein Trend, der in der ICF keine Ent-sprechung fände. Damit erfüllt die ICF alle Vorgaben einerKirche in der Erlebnisgesellschaft.

2.1. Exkurs: die Erlebnisgesellschaft

Die These der «Erlebnisgesellschaft» basiert auf derAnnahme, dass der ökonomische und technische Wandelneue sozio-kulturelle Muster mit sich bringt. Das Indivi-duum wird zunehmend aus traditionellen Orientierungs-mustern freigesetzt. Es bieten sich ihm neue, sich konkur-rierende Alternativen zur Wahl an. In dieser Situation ent-steht eine neue Rationalität des Wählens und Handelns, diesich zunehmend am subjektiven Empfinden bzw. an derAussicht orientiert, positive Erfahrungen zu machen undSpass zu haben. Der «Erlebnisnutzen» steht im Zentrumder Wahl. Auf der Suche nach dem ultimativen Erlebnisgreift das Individuum auf einen Markt der Ästhetisierungund Inszenierung zurück, auf dem derjenige Anbieter zuüberzeugen vermag, der sein Produkt am besten in Szenesetzt und das Versprechen auf eine unvergleichliche Erfah-rung authentisch vermittelt. Das Individuum konsumiertdamit Sinn und Kultur vom Markt und unterwirft seineLebensführung zunehmend den darin geltendenStandards.

Von den Veränderungen in den sozio-kulturellenOrientierungsmuster sind auch die Kirchen betroffen. Siewerden durch neue religiöse Anbieter konkurriert, die sichan der Nachfrage orientieren. Es entsteht ein Markt derSinnsuche, wodurch sich religiöse Anbieter zwischen indi-vidualisierten Lebenswelten und den Marktanforderungenbewegen und die Inhalte und Zielperspektiven der Erleb-nisgesellschaft übernehmen. Um die Gunst der Gläubigenwerben sie mit dem Versprechen auf «Gotteserfahrung»und Zugang zu individuellen Gaben, ihre Attraktivitäterhöhen sie mittels religiösen Inszenierungen und Events.Die Ausrichtung auf das Erleben und die Ueberhöhung desIndividuums scheinen damit Einzug in das religiöse Milieuzu halten.

2.2. Die Inszenierung und Ästhetisierung in der ICF

Auf vielerlei Arten bestätigt der Erfolg der ICF dieThese der Erlebnisgesellschaft. «Wir stehen Music Star inkeiner Weise nach» war die provokante Aussage von LeoBigger im Zischtigsclub vom 24. Februar 2004. Damitspricht er einerseits die Inszenierung als Event, andererseits

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aber auch professionellen Strategien der Vermarktung an.Dass sich die ICF an solchen Kriterien orientiert, zeigensich bspw. an den aufwändigen gestalteten Gottesdienst-flyers oder an dem für Werbezwecke produzierten DVD«Church for a New Generation: exciting, inspiring andmoving», in dem die ICF zehn Minuten lang äusserst pro-fessionell angepriesen wird. Die Gottesdienste entsprechenden Anforderungen eines Events. Mit Musik, Theater-einlagen und Erlebnisberichten wird für Abwechslunggesorgt und die Zuschauer werden zum Mitsingen, Mit-tanzen und Mitlachen angehalten. Auf der Bühne wird lok-ker agiert und gescherzt, so dass man nicht umhin kommt,die Exponenten sympathisch zu finden. Die Predigt ist kurzund eingänglich. Lässt man sich auf Gott ein, dann findetman Glück und Sinn im Leben, so die Botschaft. Erfahrenkönne man dies unmittelbar, indem man an der Gemein-schaft teilhabe. Im Mittelpunkt der Show steht damit dieGotteserfahrung, die die Authentizität der Botschaft bestä-tigen soll. Gefördert werden sie durch die Inszenierungemotionaler Zustände wie Ekstasen und Ergriffenheit. Sokommt es schon mal vor, dass Leo Bigger begleitet vonmystischen Keybordklängen auf die Knie sinkt und zu einer«Prophezeiung» anhebt. Bei meinem letzten Gottes-dienstbesuch richtete er sie an eine Person im Publikum,die angeblich die ICF an jenem Tag zum ersten Mal besuch-te und mit Ängste und Zweifel kämpfte. Wenn sie jedoch –so der Rat von Leo Bigger - ganz auf sich selbst höre, würdeauch sie zu Gott finden, nach dem sie sich eigentlich sehne.Solche direkten Ansprachen wirken beindruckend undwerden von vielen Gottesdienstbesuchenden als einZeichen für das Wirken des Heiligen Geistes erfahren.

Das professionelle Auftreten der Pastorinnen undPastoren ist das Resultat einer sorgfältigen rhetorischenSchulung. Eine solche erhalten bereits auch die Teil-nehmenden einer g/12-Gruppe. So ist bspw. die Selbst-verständlichkeit, mit der über die Bekehrung gesprochenwird, sorgfältig eingeübt. In einem kurzen Statement wirddas Leben vor der Bekehrung klar vom neuen «Leben mitGott» abgegrenzt. Dieses so genannte «Zwei-Minuten-Zeugnis» ist Teil der g/12-Strategie und soll dazu dienen,weitere Gläubige zu gewinnen. Das Zeugnis wird vonjedem Gläubigen vorbereitet und auswendig lernt, um esjederzeit vortragen zu können.

Was unterscheidet nun den Gottesdienst der ICFvon einem professionellen Event? Ist der Gottesdienst eineArt «Music Star», durch den marktförmige religiöseErfahrungen ermöglicht werden und der Glauben inmoderner Form präsentiert wird, wie uns Leo Bigger weis-zumachen versucht? Die These der Erlebnisgesellschaftwird selbst von der ICF gerne bestätigt: die Menschen fin-

den aus eigenem Antrieb zur ICF und erfahren dort aneigenem Leibe, wie es ist, mit Gott zu leben. Natürlichhaben sie dann auch keinen Grund mehr, die ICF zu verlas-sen oder an den vermittelten Inhalten zu zweifeln. Die vonder ICF gebotenen «Gotteserfahrungen» waren allerdingsdoch nicht ganz ausreichend, um die Gläubigen in der ICFzu halten. War die erste Begeisterung verpufft, distanzier-ten sich vielen Gläubige wieder von der ICF. Mit derEinführung des g/12 Modells versuchte die ICF, dieserTendenz entgegenzuwirken. Denn letztlich hat die ICF eineklare Vorstellung davon, wie Gott zu erfahren ist und wel-ches Fühlen, Denken und Handeln einer solchen Erfahrungfolgen. Die Gotteserfahrung ist damit nicht dem Einzelnenüberlassen. Es lohnt sich hier, die Perspektive zu wechselnund einen Blick auf das Erleben der Personen zu werfen.Wie kann Gott eigentlich «erlebt» werden?

2.3. Exkurs: Das leiblich-affektive Empfinden

In einer phänomenologischen Perspektive, wie siebspw. von Gugutzer (2001; 2002) vertreten wird, kann das«Gotteserlebnis» als leiblich-affektive Empfindung be-schreiben werden. In solchen Empfindungen vereinigensich affektive Momente mit bestimmten körperlichenZuständen undWahrnehmungen. Solche Erfahrungen sindfür Menschen von zentraler Bedeutung, weil sie durch sieWissen darüber erhalten, was wirklich ist. Denn erst durchdie Erfahrung wird die Welt zur Gewissheit, zum tatsäch-lich Existierenden. Die leiblich-affektiven Empfindungensind jedoch zugleich abhängig von Wissensbeständen. Umeinen Lufthauch als solchen zu identifizieren und ihn vonanderen Berührungen abzugrenzen, ist ein Ahnung davonnötig, wie sich ein Lufthauch anfühlt. Leiblich-affektiveEmpfindungen sind nicht möglich, ohne über kulturelleWissensbestände zu verfügen, gleichzeitig machen sie dieseWissensbestände als Erfahrungen evident. Dies gilt auchfür religiöse Erfahrungen. Sie vermitteln dem MenschenGewissheit von der Existenz eines Nicht-Alltäglichen, einesHeiligen und Allmächtigen und setzen den Menschen mitdieser Wirklichkeit in Verbindung. Das dabei aufkommen-de Gefühl wird oft als feierlich, zärtlich, überwältigend,absolut und alles umfassend bezeichnet. Es handelt sich umein ozeanischen Weitegefühl, indem sich das Individuumverliert und gleichzeitig selbst bewusst wird.

Die Gotteserfahrung ist aber ebenfalls von bestimm-ten Wissensbeständen geprägt, mit deren Hilfe der erfah-rende Mensch bestimmte Empfindung als «Gotteser-fahrung» typisiert. Der Kontext spielt dabei eine zentraleRolle, indem Situationen definiert werden, in denen«Gotteserfahrungen» möglich sind und solche, in denen sieunpassend sind, bzw. unmöglich auftreten können.

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Ähnliche Empfindungen werden damit je nach Situationanderes gedeutet.

Um Gott zu erleben, braucht es alsoWissen darüber,wie sich Gott anfühlt und in welchen Situation ein solchesGefühl eintreten kann. Aus den Aussagen und Schriften derICF lassen sich nun klare Vorstellungen herleiten, wie sichGott erfahren lässt und welche Wirkungen eine solcheErfahrung nach sich zieht. Solche Vorstellungen werdenden Gläubigen in den g/12 Gruppen vermittelt undgestützt von der Gruppe ins leibliche Empfinden zu über-setzen versucht. Ist die Lehre erst verinnerlicht, wird siedurch die Erfahrung evident und zur sinnlichenGewissheit. Die Richtigkeit der Lehre wird durch das eige-ne Erleben bestätigt. Eine solche Schulung kann nachGugutzer (2002) als «Leibsozialisation» bezeichnet werden,mit der die These der Erlebnisgesellschaft kritisch ergänztwerden soll. Ich werde im Folgenden darlegen, welcheErfahrungen die ICF den Gläubigen verspricht und wie dieNormen des richtigen Empfindens vermittelt werden.

2.4 Versprechen und leibsozialisatorischeMassnahmen

Vorrangiges Ziel der ICF ist es, Menschen in eineBeziehung zu Gott zu führen. Demnach kommt dieGotteserfahrung häufig zur Sprache und ist meist mit demZusatz «krass» oder «brutal» kommentiert. Nach Biggerund Bölsterli (2003b) ist Gott pure Liebe, die jedem offen-steht, der sich entschliesst, diese anzunehmen und zu erwi-dern. Und weiter: «Durch deine Entscheidung für Jesusbist du in eine persönliche Beziehung zu Gott getreten. Duhast dadurch anerkannt, dass du Jesus als deinen Erlöserbrauchst. In deinem Leben ohne Jesus hast du selber aufdem Thron deines Lebens gesessen. Jesus möchte abersowohl dein Erlöser als auch dein Herr sein. Dies bedeutet,dass er in all deinen Lebensbereichen die erste Stelle ein-nehmen und dein ganzes Leben führen möchte» (ebd, 19).Es zeichnet sich damit ab, dass das Versprechen eines mitLiebe überfluteten Lebens eng mit der Verpflichtung zurUnterordnung und mit der Übernahme einer «richtigen»Einstellung verbunden ist.

Welche «Gotteserfahrungen» verspricht die ICF nunden Gläubigen und welche Folgen haben diese Erfahrun-gen deren Leben? Gemäss der ICF verändert die Beziehungzu Gott das Leben der Bekehrenden um 180 Grad. DieSünde habe Gewalt über den Menschen verloren und manerhalte Erlösung von allen Verfehlungen. Die ICF ver-spricht, dass der Heilige Geist von den Gläubigen Besitznimmt, ihnen Liebe, Freude,Weisheit, Hoffnung und inne-ren Frieden schenkt und sie mit der unnatürlichen Kraft

Gottes erfüllt. Diese zeige sich dem Einzelnen insbesonde-re darin, dass er «mit Vollmacht und Autorität beten kann,so dass konkrete Auswirkungen erlebt werden» (ebd., 23).Mit Beten oder in hartnäckigen Fällen auch Fasten könnengemäss Bigger und Bölsterli (2003a) Leute bekehrt oder garvon Krankheiten geheilt werden. Dass dem so ist und dassMenschen dies auch tatsächlich erleben, bestätigenErlebnisberichte während der Gottesdienste. Bei meinemGottesdienstbesuch bezeugten zwei Personen solcheErlebnisse. Das Versprechen ist damit nicht bloss eineMetapher, sondern eine erlebbare Wirklichkeit. In einemgewissen Sinne handelt es sich dabei um das Versprechender Allmacht. Denn Gott sei unlimitiert und wer glaube,dem gelänge alles.

Die Inbesitznahme durch den Heiligen Geist istgemäss der ICF mit bestimmten Haltungen und Hand-lungen im Leben verbunden:

• Auf Gott hören, um das Richtige zu entscheiden.• Das Herz prüfen und beichten, um weiterhin mit

Gott in Kontakt zu bleiben.• Zeit für die Kirche investieren, um Jesus zu dienen.• An einer g/12-Gruppe teilnehmen, um den Glauben

zu trainieren.• Den Zehnten abgeben, um es Gott gleichzutun, der

alles schenkt.• Mission betreiben, um Menschen zu erretten.

Werden diese Anleitungen nicht umgesetzt, kanndies als Zeichen für die Abwesenheit von Gott verstandenwerden. Denn die Gläubigen sollten durch Gefühle wieLiebe, Dankbarkeit, Sehnsucht nach Gott und dem Strebennach Weiterentwicklung geleitet werden. Mit der Defini-tion von solchen «richtigen» Empfindungen legitimiert dieICF zahlreiche Forderungen, die mehr als fraglich sind.

Wie begründet es die ICF nun, wenn trotz der über-natürlichen Kraft des Heiligen Geistes diese Aufgaben zurBelastung werden? Wenn sich trotz allen Bemühungenkeine Glücksempfindung einstellen will? «Wenn du Jesusum Vergebung gebeten hast und doch keinen innerenFrieden findest, ist es vielleicht nötig, dass du etwas inOrdnung bringen musst» (ebd. 20). Unzufriedenheit,Zweifel und Misserfolg werden damit auf eine angeblicheUnzulänglichkeit und eine falsche Haltung der Gläubigenabgeschoben. Diese steht gemäss der ICF im direktenZusammenhang mit dem Wirken böser Mächte, indem siederen Wirken ermöglicht, bzw. bereits eine Inbesitznahmedurch solche anzeigt. Die ICF definiert verschiedeneWirkungsbereiche und Einfallstore:

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• «aktiv: Sünden (z.B. Lügen, Hass, Ehebruch...),okkulte Praktiken, Gegenstände

• passiv: Weihung, Fluch, Vererbung, Missbrauch,traumatische Erlebnisse

• Emotionen (Angst, Eifersucht, Unvergebenheit...)• Gedanken (Zweifel, Unglaube, Kompromisse...)• Zunge (Lügen, Gotteslästerung...)• Sex (Ehebruch, Pornographie, Homosexualität...)• Sucht (Alkohol, Drogen, Essen...)• Körper (verschiedene Krankheiten & Gebrechen).»

(ICF, 2003b)

Was kann nun der Gläubige tun, um sich vor sol-chen negativen Impulsen, Gedanken und Praktiken zubewahren? Das Kapitel «Wie überwinde ich die Feinde mei-nes neuen Lebens?» im Buches «g/12. Festige» gibt Antwort:

• «Sei radikal und kompromisslos in deinem Lebenals Christ!

• Pflege jeden Tag die Beziehung mit Gott!• Umgib dich mit guten Freunden!• Achte auf deine Augen!• Achte auf deinen Mund!• Überwinde im Namen Jesu!»

(Bigger & Bölsterli, 2003b, 97-99)

Mit solchen Anweisungen benennt und kategori-siert die ICF klar zulässige und unzulässige Empfindungenund betreibt damit Leibsozialisation, wie sie oben beschrie-ben wurde. Sie lenkt die Wahrnehmung und Aufmerksam-keit und greift tief in die Lebenswelt der Gläubigen ein.Durch die Kontrolle über Augen und Mund soll das Bösezwar ausgeblendet werden, gerät aber gerade dadurch dau-ernd in den Fokus der Erfahrung. Satan wird zu einer ste-ten Bedrohung, wodurch das dualistische Weltbild der ICFumfassende Gültigkeit im Leben der Gläubigen erhält. Diemögliche Erfahrung der Allmacht ist durchbrochen vonder möglichen Inbesitznahme durch Satan: Alles wasgelingt, ist gottgewollt und in der Gemeinschaft verankert.Alles was misslingt, wird individualisiert. Eine solcheLeibsozialisation kann bei den Gläubigen schwere Ängstenund Schuldgefühle auslösen.

Die «richtige» Haltung dient auch der Hierarchi-sierung der Gemeinde. So legitimiert sich das Leitungsteamder ICF durch besondere Gaben und einen besonderenZugang zu Gott. Die g/12-Gruppen bilden im Folgendeneinen guten Rahmen, um die Rangordnung zu etablierenund die Lehre in den Empfindungen der Gläubigen zu ver-ankern. Indem sich die Einzelnen in den Gruppen öffnenund ihre Probleme darlegen, entsteht eine diffuse Mischungzwischen Empathie, freundschaftlichem Vertrauen und

sozialer Kontrolle. Besonders heftige Verstösse werden nachoben weiter gemeldet und haben Gespräche mit höhergestellten Verantwortlichen zur Folge.

3. Schlussworte

Ich habe in meinem Beitrag die Inszenierung undÄesthetisierung in der ICF thematisiert und diese Aspekteum die leiblich-affektive Empfindungen ergänzt. Obschondie ICF vordergründig durch ihr trendiges Auftreten undmit dem Versprechen auf «Gotteserfahrung» zu überzeugenversucht, vollziehen sich im Hintergrund subtile Prozesse,mit denen die Menschen in die Gemeinschaft eingebundenwerden. Die ICF überlässt die religiöse Erfahrung nichtdem Einzelnen. Mittels den g/12-Gruppen und einem dualenWeltbild wird versucht, den Mitgliedern ein Leben «wieGott es will» näher zu bringen. Damit lässt sich das Doppel-gesicht der ICF besonders gut aufzeigen: mit der marktför-migen Inszenierung versucht sie, junge Menschen zugewinnen, deren Wahrnehmungen und Empfindungen imweiteren sorgfältig geschult werden. LeibsozialisatorischeMassnahmen sind diffuse Prozesse. Die Verinnerlichungvon der Lehren geht einher mit der Erfahrungen von derenRichtigkeit, wodurch sich die Lehre legitimiert. Damit gehtallerdings vergessen, dass es sich um eine ursprünglich vonder ICF konstituierte Realität handelt. Schuld und Schamwerden in den Gläubigen festgesetzt und in deren leibli-chen Empfindungen eingeschrieben. Allerdings verfügendie Menschen bereits über Lebenerfahrungen, wenn sie indie Welt der ICF eintreten. Leiblich-affektive Umerziehungfunktioniert nur innerhalb bestimmter Grenzen undbraucht eine gewisse Bereitschaft von Seiten der Gläubigen.Genauso wie leibliche Empfindungen Gewissheit über dieRichtigkeit des Weltbildes vermitteln, können sie auch zurGewissheit führen, dass dieses eben doch nicht zutrifft. Somachen die Menschen vielfältige und einanderwidersprechen-de Erfahrungen in ihren Leben. Dennochplädiere ich dafür, dass die ICF ihre Verantwortung ver-stärkt wahrnimmt. Leibsozialisatorische Massnahmen soll-ten reflektiert und kritisch hinterfragt werden. Vielleichtgelänge es so, Menschen vor sehr schmerzhaftenErfahrungen zu bewahren.

4. Bibliographie

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SFDRS. «Trendy und fromm: Junge suchen Gott».Zischtigsclub zum Thema vom 24. Februar 2004.

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Schriftenreihe infoSekta 09/0430

Die neuen christlichen Bewegungen kommen demZeitgeist entgegen, ohne in ihm aufzugehen. Sie passen sichäusserlich den technischen Möglichkeiten der Moderne anund suchen gleichzeitig inhaltlich dem seelischen Defizitder technisch-wissenschaftlichen Welt entgegen zu wirken.Um diese Dynamik zu verstehen, kann es hilfreich sein,einen Blick zurück zu werfen und die Folgen der technisch-wissenschaftlichen Revolution auf das Selbstverständnisder Menschen zu studieren.

1. Von der Seele zum Gehirn

Die Vorstellung einer Seele spielt in der abendländi-schen Geistesgeschichte eine herausragende Rolle. Somacht die Seele nach der Auffassung von Platon undAristoteles die Lebendigkeit des Menschen und andererLebewesen aus. Aristoteles schreibt z.B. in «de anima»: «DieSeele macht uns leben, fühlen und denken.» Sie ist –modern ausgedrückt – das Organisationsprinzip desLebendigen. Diese Vorstellung hat nicht nur tiefe Spuren inPhilosophie, Theologie und Medizin hinterlassen. Sie hatauch das Alltagsverständnis der abendländischen Menschengeprägt. Noch Descartes widmet eines seiner Hauptwerke«den Leidenschaften der Seele». Doch beginnt mitDescartes auch der Abschied vom jüdisch-christlichgeprägten Leibverständnis, das Seele und Körper umfasst.Während die Seele immer mehr zum rational vorgestelltenGeist und schliesslich verkürzt zur blossen Kognition, zumerkennenden Organ wird, reduziert sich gleichzeitig derLeib (durch Aufgabe des Beseeltseins) zum rein materiellenKörper.

Damit kommt der Höhenflug der Seele zu einemEnde. Heute scheint die Seele ausgespielt zu haben. So istim wissenschaftlichen Diskurs kaum mehr von der Seeledie Rede. Auch Psychologie und Psychiatrie, die ihrenNamen von der griechischen Bezeichnung für Seele(Psyche) herleiten, sind weitgehend «seelenlose» Wissen-schaften geworden. Sie werden nicht mehr im wörtlichenSinne als Seelenlehre und Seelenheilkunde verstanden,sondern immer häufiger als angewandte Neurowissen-schaften – als Wissenschaften des Gehirns - definiert. DieAbkehr von der Seele ist zum einen darin begründet, dass

der Begriff historisch vieldeutig ist und heute unterIdeologieverdacht steht. Zum andern wird der Begriff mitSubjektivität, d.h. fehlender Objektivität, gleichgesetzt.Auch liess sich nie eine seelische Substanz feststellen - odergar ein «Psychon», wie noch John Eccles postulierte, der1963 den Nobelpreis für hirnphysiologische Forschungenerhielt.

Die Abwendung von der Seele in Psychologie undPsychiatrie ist insofern konsequent, als beide Disziplinenzunehmend um eine Objektivierung ihrer Aussagenbemüht sind. Dadurch werden sie gezwungen, sich dembeobachtbaren Körper und seinem Verhalten zuzuwendenund das seelische Erleben in den Hintergrund treten zu las-sen.

2. Erlebniskultur als Gegenbewegung

Der Mensch ist aber nicht nur ein Homo sapiens,sondern auch ein Homo sentiens. Es geht ihm nicht nurum Erkennen und Funktionieren, sondern auch umEmpfinden, Fühlen und Handeln, kurz um das, was frühermit seelisch bedingter Lebendigkeit gemeint war. Dies zeigtsich gerade in unserer technisch-wissenschaftlich gepräg-ten Zeit. Je mehr der Mensch mit biologischen Verfahrendurchsichtig gemacht und mit physiologischen und mole-kularbiologischen Daten verrechnet werden kann, destodeutlicher macht sich ein eigentlicher Hunger nach seeli-schem Erleben bemerkbar. So wird nicht nur im Kino undFernsehen Spannung gesucht, sondern immer häufigerauch das eigene Leben als Selbstexperiment inszeniert. Umsich intensiver zu spüren, wird der Körper z.B. im Sport biszur Grenze herausgefordert. Wer hätte sich früher vorstel-len können, dass sich Menschen freiwillig an einem Seil 100Meter in die Tiefe stürzen, in Kanus Wildbäche hinunter-preschen, Hausmauern erklettern oder sich durch Laden-diebstähle einen «Kick» holen? Von Manipulationen ameigenen Körper über gewagte Auftritte in der Öffentlichkeitbis zum Gebrauch stimulierender Drogen wird allesMögliche eingesetzt, um sich besser zu spüren.

Der Erlebnishunger des modernen Menschen ist nichtnur Symptom einer Gesellschaft, für die Wohlbefinden,

Erlebniskultur als Gegenbewegung zur vorherrschendenRationalisierung

Die Seele ist tot.Es lebe das Seelische!

Daniel Hell

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ja Spass das höchste Gut ist. Er ist auch als Gegenreaktionauf die Technisierung und Rationalisierung des modernenLebens zu verstehen. Auf die Abschaffung der Seele und aufdie Abstrahierung bzw. Digitalisierung des Körpers folgtder verzweifelte Versuch vieler Menschen, sich vermehrtleib-seelisch zu spüren. Statt wie eine Maschine zu funktio-nieren, möchten sie in Thrill oder Meditation sich selbererfahren.

Auf Grund der Beobachtung, dass Menschen einebestimmte Intensität ihres Erlebens benötigen, um sichwohl zu fühlen, ist neuerdings eine sog. Risikokompensa-tionshypothese entwickelt worden. Sie besagt, dass derMensch ein abenteuerliches Risiko sucht, wenn er sichsinnlich unterfordert fühlt. Ist der Alltag zu informell oderzu stark materiell abgesichert, neigt der Mensch dazu,gezielt Gefahren einzugehen, um einen Thrill zu erfahren.

Dieser gesuchte Thrill entspricht einem leib-seeli-schen Erleben, in dem durch körperliche Stimulation undseelisch erfahrene Gefahr ein Gemisch aus Angst und Lustentsteht. Der Hunger nach intensivem Erleben nach dem«Kick» kommt nicht von ungefähr. Die Berauschung undkünstliche Intensivierung des Lebens droht zum Lebensstilzu werden, wenn der Mensch – nach Peter Sloterdijk –nicht auch Räume in sich spürt, von denen die Physiknichts weiss. Schon Sören Kirkegaard hat 1849 davongesprochen, dass Menschen verzweifelt sich selbst suchen,wörtlich «verzweifelt man selbst sein wollen», wenn sie in(oder ausser) sich keinen tragenden Grund mehr ahnen.Wo herkunftsorientierte Sicherheiten fallen und traditio-nelle Riten an Einfluss verlieren, ergreifen Menschen andereund neue Wege, um sich selbst zu spüren. Die Provokationvon Angst, Lust und Schmerz mittels unterschiedlichsterEvents tritt an die Stelle einer nach innen orientiertenSuche, die auch in die Stille hört.

Diese Art der Selbstsuche erscheint charakteristischfür eine Zeit, die durch Mobilität und Flexibilität gekenn-zeichnet ist und in der Kontinuität und Treue keine prä-genden Werte mehr sind.

3. Der Zwiespalt des spätmodernen Menschen

Das moderne Individuum erlebt sich zwiespältig. Auf dereinen Seite verfügt es über technische Hilfsmittel und übersoziale Annehmlichkeiten, die früheren Generationen nochunvorstellbar waren. Auf der andern Seite ist der moderneMensch mit raschen und tiefgreifenden Veränderungenkonfrontiert, die ihn ein fest verwurzeltes Leben nach tra-ditionellem Muster fast unerreichbar machen. Besonders

herausfordernd ist die Doppelbödigkeit von zunehmen-dem Autonomieanspruch und wachsender Fremdab-hängigkeit. Einerseits wachsen in einer pluralistischen undindividualistischen Gesellschaft die Wahlmöglichkeitenund damit der Druck, eigene Entscheidungen zu treffen.Anderseits verlangt die globale Entwicklung eine ständiggrössere Anpassungsleistung an technische und organisa-torische Anforderungen. Man vergleiche nur die Freiheitdes frühen Wanderers oder Reiters mit den modernenRegelungen im Strassen- oder gar Luftverkehr. Je mehr dieWelt zum Dorf wird, desto mehr werden im modernenLeben Anpassungsleistungen an organisatorische Notwen-digkeiten erforderlich. Wo früher in einem kleinen Dorfkonkret fassbare Willkür geherrscht haben mag, herrschenheute in der Weltgemeinschaft abstrakte Regeln, denenorganisatorische und politische Überlegungen zu Grundeliegen. Auch das moderne Weltverständnis basiert immermehr auf Gesetzmässigkeiten, sei es in physikalischer, psy-chologischer oder soziologischer Hinsicht. Der technischeFortschritt der Moderne ist in erster Linie ein Triumphnaturwissenschaftlich hergeleiteter Gesetze. Mit dieserRegelhaftigkeit gilt es umzugehen. Nicht nur Ethik undRecht, auch der Selbstanspruch des modernen Subjektsfordern Eigenverantwortlichkeit und Willensentscheide.Naturgesetzliche Heteronomie und individuelle Autono-mie sind vommodernen Menschen in Einklang zu bringen.Dies drückt sich auch in der aktuellen gesellschaftlichenErwartung aus, dass der Mensch vor allem flexibel undteamfähig zu sein habe. Flexibilität setzt schnelle und ent-schiedene Anpassung an äussere, zum Gesetz erhobeneVerhältnisse voraus. Teamfähigkeit verlangt eine feineAbstimmung zwischen individueller Autonomie und zwi-schenmenschlicher Abhängigkeit.

Besonders eindrücklich hat der Soziologe RichardSennett die Folgen beschrieben, die die technisch-wissen-schaftliche Revolution und der tiefgehende sozioökonomi-sche Strukturwandel auf die Lebensführung und dieLebenseinstellung moderner Bürgerinnen und Bürger hat.Diese Folgen sind in den letzten Jahrzehnten zuerst in denUSA, dann auch in Europa durch die Politik desNeoliberalismus noch extrem gesteigert worden. In seinemBuch «Der flexible Mensch» (mit dem treffenden engli-schen Titel: The corrosion of character) legt Sennett amBeispiel der USA empirisches Material vor, das belegt, wiegrundlegend sich der Lebensentwurf moderner Menschenin den westlichen Industrienationen in den letzten 25Jahren verändert hat.

Sennett beobachtet, wie sich die klassische Berufs-laufbahn – die wie eine geradlinige Wagenspur (franz.carrière) das Arbeitsleben geprägt hat – in kurzfristige

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berufliche Engagements auflöst und wie die ehemals mehroder weniger festen familiären und freundschaftlichenVerbindungen immer stärker auseinanderdriften. Gleich-zeitig beschreibt er, wie der Arbeits- und Wohnort an hei-matlicher Bedeutung verliert. Die berufliche Anstellungwird zu einem vorübergehenden und meist kurzfristigenUnternehmen. Begrenzte Arbeitsprojekte werden immerhäufiger ohne längerfristige Perspektive eingegangen. An-stelle von Kontinuität oder Loyalität gegenüber Beruf undKollegenschaft sind Flexibilität, Teamfähigkeit und schnel-le Auffassungsgabe gefordert. Diese Eigenschaften erlaubenes, kurzfristige Ziele effizient zu verfolgen und sich flexibeleiner sich schnell verändernden Ökonomie anzupassen.

4. Die psychische Deregulierung undFlexibilisierung an einem Beispiel

Sennett illustriert seine Thesen mit statistischem Materialund besonders eindrücklich mit Fallbeispielen, wie demje-nigen von Enrico als Vertreter der Nachkriegsgenerationund seinem Sohn Rico, der die jüngere Generation derheute 25-40 Jährigen repräsentiert. Enrico war in den 50er-Jahren aus Italien in die USA eingewandert und hatte sichden amerikanischen Traum erfüllt, mit Putzarbeit das Geldfür ein Haus zusammenzusparen, das er sich schliesslich ineinem Vorort von Boston kaufen konnte. Solange er mitseinen Nachbarn zusammenlebte, war er ein ruhiger,unauffälliger Bürger. «Kam er jedoch in seine alte italieni-sche Umgebung zurück, so genoss er als jemand, der esdraussen zu etwas gebracht hatte, sehr viel mehr Aufmerk-samkeit». Er war ein angesehener, engagierter Familien-vater, der jeden Sonntag zur Messe ging. Sein Leben schienberechenbar. Er mass seinen Erfolg an den verschiedenenVerbesserungen und Anschaffungen, die er an seinemHolzhaus anbringen konnte. Mit 40 Jahren wusste er schongenau, wann er in Rente gehen und über wie viel Geld erdann verfügen würde. «Um seine Zeit nutzbringend anzu-legen, brauchte Enrico das, was Max Weber ein «Gehäuse»genannt hat, eine Art bürokratische Struktur, welche denZeitablauf regeln lässt. «In Enricos Fall stellten das ansDienstalter geknüpfte Lohnsystem seiner Gewerkschaftund die Regelung seiner staatlichen Pension dieses Gerüstdar ... Er formte sich eine klare Lebensgeschichte, innerhalbderer sich seine Erfahrung materiell und psychisch ansam-melte; so wurde ihm sein Leben als lineare Erzählungverständlich.»1

Ganz anders sein Sohn Rico, der den Wunsch seinesVaters nach sozialem Aufstieg erfüllte hat und einConsulting-Büro führt. Rico verachtet Leute, die wie seinVater «Dienst nach Vorschrift» machen und den Schutz

einer Bürokratie suchen. «Statt dessen ist er der Überzeu-gung, man müsse offen für Veränderungen sein undRisiken eingehen.»2 Rico hat die Business-School in NewYork absolviert und dort eine Kommilitonin geheiratet.Seit dem Abschluss hat er als Berater in verschiedenenFirmen in Los Angeles, Chicago und Missouri gearbeitet,bevor er sich – nach einer schmerzhaften Entlassung – selb-ständig machte. In vierzehn Arbeitsjahren ist Rico viermalumgezogen. Er versucht über elektronische Kommuni-kationsmittel jenes Gemeinschaftsgefühl herzustellen, daser von zu Hause kennt, doch findet er die Online-Kommunikation kurz und gehetzt. «Die Flüchtigkeit vonFreundschaft und örtlicher Gemeinschaft ist der Hinter-grund für die tiefste von Ricos Sorgen, seine Familie.»3

Während er sich mit der nötigen Flexibilität beruflicherfolgreich durchschlagen kann, tauchen Fragen für Ricovor allem auf, wenn es um die Erziehung seiner Kindergeht. Wie können seine Kinder zu sich selber finden, wennsie ständig wechselnde Bezugspersonen haben und allepaar Jahre Wohnort und Schule wechseln? Wie können sieVertrauen zu sich und andern entwickeln, wenn dieKonstanz fehlt? Das Motto «nichts Langfristiges» das sichberuflich für Rico auszahlt, erscheint ihm ein verhängnis-volles Rezept für die Entwicklung von Vertrauen undSelbstsicherheit bei seinen Kindern. Würde seine Arbeits-moral «Bleibe in Bewegung, geh keine Bindungen ein undbringe keine Opfer» auf die Familie übertragen, so hättedas katastrophale Folgen. «Wie kann ein Mensch in einerGesellschaft, die aus Episoden und Fragmenten besteht,seine Identität und Lebensgeschichte zu einer Erzählungbündeln. Die Bedingungen der neuen Wirtschaftsordnungbefördern vielmehr eine Erfahrung, die in der Zeit von Ortzu Ort und von Tätigkeit zu Tätigkeit driftet.»4

Richard Sennett schliesst aus Ricos Dilemma, dassder kurzfristig agierende Kapitalismus besonders jeneCharaktereigenschaften bedroht, die Menschen aneinanderbinden und dem Einzelnen ein stabiles Selbstgefühl ver-mitteln. Wichtiger als Technisierung und Globalisierungsei die Auswirkung der durch die neueWirtschaft geforder-ten Flexibilität, «die das Gefühlsleben des Menschen aus-serhalb des Arbeitsplatzes am tiefsten berührt.»5 Oder inden einfachen Worten Ricos: «Du kannst Dir nicht vorstel-len, wie dumm ich mir vorkomme, wenn ich meinenKindern etwas über Verpflichtungen erzähle. Es ist für sieeine abstrakte Tugend, sie sehen sie nirgendwo.»6

5. Religiöse Erlebnissuche

Solche Menschen, wie sie Sennett am Beispiel Ricos schil-dert, sind auch in der Schweiz – und besonders wohl in der

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amerikanischsten Stadt dieses Landes, in Zürich – zu fin-den. Es ist kaum überraschend, dass die hiesigen Ricosnach Lösungen suchen, die sich schon in den USA aufge-drängt haben. Im kirchlich-religiösen Raum richtet sichdas Interesse in erster Linie auf Angebote, die sinnlicherlebbar sind. Sie sollen aber nicht nur den Tastsinn befrie-digen, sondern auch religiöse Grundbedürfnisse stillen,allerdings nicht so, dass die Sinnerfahrung durch zuvielReflexion oder gar Dogmatik getrübt wird.

Dem modernen Trend des religiösen oder spirituel-len Haltsuchens liegt ein spürbares Verlangen nach tiefe-rem Selbsterleben und nach Sinnfindung zu Grunde.Dieser Seelenhunger wird aber zunächst auf eine Weise zubefriedigen gesucht, die der flexiblen und mobilenLebensführung entspricht. Dadurch droht eine gewisseOberflächlichkeit. Wer gewohnt ist, seine Bedürfnisse raschzu sättigen und schnelle Anpassungsleistungen zu erbrin-gen, wird auch im religiösen Erlebensbereich eher auf sti-mulierende Events setzen. Unverbindliche Teilnahme anGrossanlässen dürfte ihm oder ihr leichter fallen, als dasverbindliche Integriertwerden in eine strukturierte Gemein-schaft. Wenn sich Menschen wie Rico einer Gruppeanschliessen, dürfte es für sie leichter sein, sich entspre-chend den herrschenden Markt- und Marketinggesetzennach einem Label bzw. einen Trendsetter zu richten, als sichfür eine Gemeinschaft zu erwärmen, die auf geschichtli-chen Erfahrungen basiert und eine komplexe Leitungs-struktur hat.

Es scheint mir eine hohe Kunst zu sein, das echteAnliegen vieler moderner Menschen nach Sinnhaftigkeitund religiösem Erleben aufzugreifen, ohne bei der punktu-ellen Befriedigung stehen zu bleiben. Die Gefahr unmittel-barer religiöser Sinnsättigung sehe ich weniger darin, dassKirchen und Gemeinschaften diesen Bedürfnissen entge-genkommen, als darin, dass sie sie nur kurzfristig zu befrie-digen vermögen, auch weil sie beim Event-Charakter ihrerAngebote stehen bleiben und Fast-Food anbieten. Dannsind die Reiz und Befriedigung suchenden Menschengezwungen, nach einer gewissen Zeit, wenn das Angebotzur Gewohnheit wird, weiter zu ziehen, um neue Thrill-Erfahrungen zu machen.

Wie aber kann es den Kirchen gelingen, ein sinn-lich-sinnhaftes Angebot zu machen, ohne Konsum orien-tierte Menschen einfach auf ein Produkt – und sei diesesein religiöses Bewusstsein – zu verpflichten, sondern sieeinzubeziehen in einen schöpferischen Prozess, an dem sieteilhaben und den sie mitverantworten? Diese Frage stelleich, weil sie mich auch für mein eigenes Fachgebietbeschäftigt. Die Psychiatrie hat z.Zt. Zulauf, auch weil sie

Produkte anbietet, die das Leben erleichtern und die z.T.eine Arbeitsleistung oder eine Genussfähigkeit ermögli-chen, die in leicht depressivem oder ängstlichem Zustandnicht zu haben wären. Mit diesen Angeboten lässt sich aberweder vermeiden, dass psychisches Leiden nicht mehr auf-tritt, noch lässt sich gar eine tiefer liegende Unzufrieden-heit mit dem Leben beseitigen.

Auch für die Psychiatrie und Psychotherapie bleibtdie Herausforderung bestehen, den um Identität undSinnhaftigkeit ringenden Menschen einen inneren seeli-schen Raum zugänglich zu machen, in dem sie sich bei sichselbst fühlen können. Um das zu erreichen, genügt es nicht,Hilfe suchende Menschen als Träger von spezifischenkrankhaften Störungen zu behandeln. Medikamentöse undVerhaltenstherapien können zwar eine wichtige Hilfe sein,aktuelle Not zu mildern. Auch können sie bei schwererkrankten Menschen die Voraussetzung schaffen, dass sichdiese mit den sie bedrängenden Fragen besser auseinander-setzen können.

Diese psychotechnischen Verfahren vermögen aberdas leibseelische Suchen der einzelnen Menschen weder zubefriedigen noch zu ersetzen. Erst eine tragende Beziehun-gen bzw. eine Begegnung von Ich und Du kann diesesSuchen unterstützen. Dies erfordert Therapeutinnen undTherapeuten, die Anteil nehmen am persönlichen Erlebenihrer Patienten und Klientinnen und in der therapeuti-schen Beziehung eine Art Resonanzraum für das seelischeErleben zur Verfügung stellen.

Die heutige Eventkultur ist nicht einfach schlecht zumachen. Sie zeigt auf, dass Menschen einen Hunger nachSeelischem haben. Sie wird aber zur Gefahr, wenn sie dazudient, der Unzufriedenheit den Stachel zu nehmen – odermit andern Worten: Wenn «Brot und Spiele» als «Opiumdes Volkes» angeboten wird, um nötige Reformen zu ver-meiden.

6. Das Leiden als Aufschrei

Als Psychiater und Psychotherapeut habe ich dieErfahrung gemacht, dass seelische Probleme auch einSpiegel der Gesellschaft sind. Sie spiegeln gesellschaftlicheEntwicklungen aber nicht nur wider. Sie stellen sie auch inFrage. Seelisches Leiden ist nicht bloss eine lineare Folgeder sozialen oder körperlichen Umstände. Es ist auchProtest und Aufschrei und damit potentieller Ausgangs-punkt einer Gegenbewegung, die sich mit der Anpassungan das äussere Geschehen nicht begnügt.

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Die Seele ist tot. Es lebe das Seelische!34

So haben in der Geschichte des Denkens Menschendas leidvolle Erleben immer auch als Kristallisationspunktfür eine individuelle Geschichte, die sich vom blossensozialen oder biologischen Geschehen emanzipiert, ver-standen. Auch in den modernen Ausgestaltungen psychi-scher Leidensformen ist einWiderspruch zum Bestehendenauszumachen. Da der Einspruch aber die aktuellen Verhält-nisse aufnimmt und sie z.T. karikierend betont, kann dasWiderständige des seelischen Leidens übersehen werden.

So ist das moderne Aufkommen einer Persönlich-keitsproblematik, die hauptsächlich durch Instabilität undIdentitätsmangel charakterisiert ist und wegen eines zeit-weisen Verlustes der Ich-Grenzen Borderline-Störung7

genannt wird, nicht nur als Folge einer Epoche zu sehen,die kaum mehr einheitliche Wertvorstellungen und immerweniger stabile Familienverhältnisse kennt. Sie kann auchals Versuch verstanden werden, trotz biographischerBrüche und sozialer Uneinheitlichkeit durch Intensivie-rung der momentanen Erlebnisse und Beziehungen sichwenigstens vorübergehend als einheitliche Person zu spü-ren und dadurch der drohenden Leere bzw. der biographi-schen Geschichtslosigkeit zu entgehen.

Am deutlichsten verweist die Zunahme der Behand-lungsfälle von Depressionen, die zu den häufigsten, leid-vollsten und kostspieligsten Krankheiten unserer Zeitgeworden sind, auf eine widerständische Autonomie desseelischen Erlebens. Während Wirtschaft und Wissenschaftauf einen rationalen Austausch von Informationseinheitendrängen und der globale Handel eine möglichst bindungs-arme Abwicklung von Sachgeschäften fördert (weil familiäreoder nationale Gefühlsbindungen dem grenzenlosenHandel nur hinderlich scheinen), drückt das depressiveGeschehen zwar Gefühllosigkeit aus, doch setzt das Leidenan dieser Gefühllosigkeit gerade einen Erlebenshunger voraus.

Es scheint das Paradoxon unserer Zeit zu sein, dassin unserem rationalen Zeitalter nicht etwa kognitive bzw.geistige Störungen im Vordergrund stehen, sondernGemütsveränderungen wie die Depression zum postmo-dernen Störungsbild par exellence geworden sind. ImLeiden an der depressiven Leere drückt sich eine Sehnsuchtaus, die weder mit Informationen noch mit Fiktionen zustillen ist. Der technischen und virtuellen Welt, die letztlichempfindungslos ist, wird ein schmerzhaftes Bewusstseinum die eigene Gefühlseinschränkung entgegengesetzt. Derzeitgemässen Beschleunigung antwortet das depressiveGeschehen mit einer Behinderung der Leistungsfähigkeitbzw. mit einer Verlangsamung vieler mentaler Funktionen,die zur Ausführung von Aufgaben nötig sind. Ist es ange-sichts dieser Situation überraschend, dass die depressive

Not zum Hauptfeind einer auf Flexibilität und Mobilitätsetzenden Gesellschaft geworden ist? Kaum eine andereStörung trifft den Nerv unseres Zeitgeistes so schmerzlichwie die depressive Blockade. Sie behindert die immerrascher geforderte berufliche und private Anpassung undfordert den Einzelnen auf, einen Zwischenhalt einzuschalten.

Die Situation erinnert an eine bekannte afrikanischeFabel. Sie handelt von einem weissen Forscher, der seineafrikanischen Träger von Tag zu Tag mit zusätzlichenLohnzahlungen antreibt, schneller zu gehen, um ihnrascher zu seinem Ziele zu führen. Am fünften Tag lassensich jedoch die Träger nicht mehr zum Weitergehen bewe-gen. Nach dem Grund ihrer Verweigerung gefragt, gebensie zur Antwort: «Wir sind so schnell gegangen, dass wirnicht mehr recht wissen, was wir tun. Darum warten wir,bis unsere Seele uns eingeholt hat.»

AnmerkungEine vertiefte Auseinandersetzung und detaillierte

Literaturangaben finden sich in D. Hell: «Seelenhunger –Der fühlende Mensch und die Wissenschaften vom Leben»,2. Auflage, Huber Bern 2003.

Richard Senett. 1998. Der flexible Mensch. Berlin. VerlagBerlin.(1) S. 16f(2) S. 19(3) S. 23(4) S. 31(5) S. 29(6) S. 29(7) Die Weltgesundheitsbehörde bezeichnet seit 1991

als emotionale instabile Persönlichkeit vom BoderlineTypus eine meist anhaltende Problematik mit emotionalerInstabilität und unklarem Selbstbild. «Die Neigung zuintensiven, aber unbeständigen Beziehungen kann zu wie-derholten emotionalen Krisen führen mit Suiziddrohun-gen oder selbstschädigenden Handlungen.» (WHO 1991)

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Auch wenn infoSekta zum Christlichen ZentrumBuchegg CZB bedeutend weniger Anfragen als zur medien-präsenten ICF erhält, ist das CZB doch immer wiederGegenstand von Beratungsfällen. Daher beginne ich mitein paar generellen Ausführungen zu für Pfingstgemein-schaften charakteristischen Phänomenen wie das«Sprechen in Zungen» und das «Ruhen im Geist». Danachwerden Lehre, Angebot und Zielgruppe des CZB vorge-stellt. Zum Abschluss möchte ich einige problematischeAspekte des CZB aufzeigen, weil die versprochene «Freiheitdurch Jesus» für eine Reihe von Personen schliesslich zurseelischen Abhängigkeit im christlichen Glaubenskorsettführen kann.

1. «In Zungen sprechen» –Das Charakteristische von pfingstlerisch-charismatischen Gemeinschaften

Seit ihrer Entstehung als Erneuerungsbewegung amAnfang des 20. Jahrhunderts hat sich die Pfingstbewegungwirkungsvoll ausgebreitet - weltweit gehören rund 600Millionen Menschen pfingstlerischen und charismatischenGemeinschaften an (Schmid & Schmid, 2003, 117). Auchwenn die Pfingstbewegung vielschichtig ist und sich dieeinzelnen Pfingstgemeinden hinsichtlich der Gewichtungvon Lebens- und Glaubensaspekten unterscheiden, beste-hen eine Reihe Gemeinsamkeiten. Grundlegendes Erlebnisder Pfingstgläubigen ist die Bekehrung oder Wiedergeburt.Neben den fundamentalen Lehren der Erlösung und derErwartung der baldigen Wiederkunft Christi – wobei dieEndzeit bei den Pfingstlern nicht so stark betont wird wiez.B. bei den Zeugen Jehovas oder dem MissionswerkMitternachtsruf – stellt das pfingstlerisch-charismatischeChristentum das Wirken des Heiligen Geistes in denMittelpunkt der Frömmigkeit. Die auffälligsten Formenund Praktiken pfingstlerischer Frömmigkeit sind die sogenannten Gnadengaben des Geistes (Charismen) wieZungenreden, Ruhen im Geist, Prophetie und Heilung. DerGlaube der Pfingstler kann als fundamentalistisch bezeich-net werden, im Sinne der Überzeugung der Unfehlbarkeitder ganzen Heiligen Schrift. Pfingstlerisch-charismatischeFrömmigkeit ist - anders als der Pietismus - stark aufsErleben bezogen, sie ist emotional, enthemmend und

intensiv und passt daher gut zum heutigen Zeitgeist. Fürden Pfingstgläubigen ist nur ein wahrer Christ, wer dieGeistestaufe erhalten hat. Wer Jesus als seinen Erlöserannimmt, öffnet sich dem Heiligen Geist wie ein Gefässund wird von ihm erfüllt. Die Taufe im Geist wird vomPfingstler als Erfahrung göttlicher Gnade erlebt. DieTraditionskirchen sind nach Ansicht der Pfingstler auf hal-ber Strecke zwischen Ostern und Pfingsten stehen geblie-ben.

In Zungen sprechen

Das «in Zungen sprechen», eine Aneinanderreihungvon Silben im tranceartigen Zustand, ist für den Pfingstlerder sichtbare Beweis dafür, dass der Gläubige vom HeiligenGeist ergriffen ist oder sogar von ihm in Besitz genommenwurde. Er hat die Geisttaufe empfangen. «In Zungen spre-chen» wird auch als Befähigung und als Geistesgabe ange-sehen. Ein Beispiel dafür, wie sich «in Zungen sprechen»anhören kann, ist:

Bosche, bosche, meinoVeine bine momoLana-lana meinaBischta-butta Taina!Dutta-kaaada!(Roy, 1985, 20)

Echte Offenbarung oder schlichte Projektion? Hier pralltdie Welt der bekehrten Pfingstler auf diejenige der aussen-stehenden Angehörigen, was natürlich entsprechendeKonflikte nach sich zieht. Dieses Phänomen, das für dieBetroffenen mit Gefühlen des Glücks und der Zufrieden-heit einher geht, wirkt auf Aussenstehende befremdend.Für das Phänomen sind drei Erklärungsvarianten denkbar:

(1) Es wirkt tatsächlich der Heilige Geist.(2) Es handelt sich zwar um Suggestion, aber darin ist

schlussendlich der Heilige Geist wirksam.(3) Alles ist das Resultat von (Auto)Suggestion oder Hyp-

nose – ein aussergewähnlicher Bewusstseinszustandaufgrund sozial- oder massenpsychologischer Prozesse.

Schriftenreihe infoSekta 09/04 35

Ergriffen vom Heiligen Geist

Christliches Zentrum Buchegg - CZB

Susanne Schaaf

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Christliches Zentrum Buchegg - CZB36

Neben sozialpsychologischen und gruppendynami-schen Erklärungen existieren auch tiefenpsychologischeAuslegungsmodelle. Der Psychoanalytiker Roy beispiels-weise ist der Ansicht, dass Zungenreden ein Ausdruck desUnbewussten sein kann, Ausdruck einer Regression in dieKindheit. Zungenreden würde dann ähnlich wie der Traumoder wie therapeutisches Malen als Bestandteil oder Mitteldes Selbstheilungsprozesses aufgefasst. Der PsychiaterSpörri bezeichnet das Zungenreden als archetypische Kom-munikationsform, die der Entspannung dient, und ziehteine Parallele zur Funktion des künstlerischen Ausdruckes.Diffuse Phänomene wie das Zungenreden eignen sichbesonders gut für Projektionen subjektiver Inhalte, unter-stützt durch eine entsprechende Gruppendynamik.

Ruhen im Geist

Ein weiteres auffälliges Phämonen im Zusammen-hang mit dem angeblichen Wirken des Heiligen Geistes istdas so genannte «Ruhen im Geist», das in pfingstlerisch-charismatischen Bewegungen ebenfalls als Zeichen derGeisterfüllung gedeutet wird. «Ruhen im Geist» bedeutetdabei ein Eintauchen in eine Art Trancestand. Die Dauerdes Ruhens kann sich über wenige Sekunden bis zuStunden erstrecken. Das Ruhen kann sowohl ein momen-tanes Glücksgefühl erzeugen als auch eine lebensverän-dernde Wirkung nach sich ziehen. Das folgende Zitat illu-striert das Erleben einer Betroffenen:

Eine Klosterfrau berichtet: «In den Exerzitien, wäh-rend der stillen Anbetung vor dem Allerheiligsten, erfuhrich das ‚Ruhen im Geist‘ erstmals. Ohne Handauflegen undpersönliches Gebet durch eine Drittperson. (...) Ich sass aufeinem kleinen Gebetsschemel. Plötzlich war es, als würdeich in ein Magnetfeld hineingenommen. Durch tiefe Atem-züge versuchte ich, dem entgegenzuwirken. Aber es halfnichts. Von dieser gewaltigen Kraft überwältigt, sackte ichkraftlos zusammen. Eine Mitschwester hielt mich, damitich nicht auf den Boden fiel.... Und dann war es, als ob ichmit dem Körper an einer Starkstromleitung angeschlossenwäre. Tiefer Friede breitete sich in mir aus» (Roy, 1985, 33).

Pfingstgläubige sind davon überzeugt, dass sich imRuhen das direkte Eingreifen Gottes durch den HeiligenGeist zeigt. Ein kritisch psychologischer Ansatz sieht darinwiederum hauptsächlich das Ergebnis von Suggestiv-methoden und Gruppenprozessen.

Ein weiteres Merkmal pfingstlerischer Frömmigkeitist die Heilung durch das Gebet. Zentrale Figur in diesemZusammenhang ist der ehemalige Baptistenprediger WilliamMarrion Branham, der an Grossanlässen Menschen von

angeblichen Sünden und Krankheiten heilte und nachseinem Tod zum Vorbild für viele Pfingstler wurde. DiePfingstler glauben, dass der Teufel persönlich existiert unddie Gläubigen von ihrer Beziehung zu Gott wieder abzu-bringen versucht. Angeblich sind Krankheits-, Lügen-,Unzucht- oder Ehescheidungsdämonen aktiv amWerk. DieGrenze zwischen Krankheit und Besessenheit wird alsfliessend betrachtet. In den meisten Fällen lehnen Pfingst-ler ärztliche Hilfe in letzter Konsequenz jedoch nicht ab.

2. Das christliche Zentrum Buchegg –Lehre, Angebot, Zielgruppe

Das Christliche Zentrum Buchegg/PfingstmissionZürich befindet sich an der Hofwiesenstrasse 143 in 8057Zürich. Das CZB gehört der Schweizerischen Pfingst-misson SPM an, die wiederum dem Verband evangelischerFreikirchen angeschlossen ist.

Um eine historische Verankerung bemüht, führt dasCZB seine Anfänge in der Selbstdarstellung www.czb.ch aufdie geistliche Erweckungsbewegung 1906 in Nordamerikazurück. Schon ein Jahr später bildete sich ein kleiner Kreisvon Pfingstfreunden in Zürich. Unter der Leitung vonPastor Richard Ruff traf sich die Gemeinschaft in den 30erJahren regelmässig im Saal des Kaufhauses St. Annahof.1938 berief Pastor Karl Schneider die Gemeinde in Zürichein und leitete sie bis zu seinem Tod 1967. Pastor EmilHartmann übernahm nach Schneiders Tod die Leitung bis1980. Danach folgte Werner Kniesel als leitender Pastor.1980 fand auch der erste Gottesdienst im ZentrumBuchegg statt, wie CZB ausführt.

Die Lehre

Den Hintergrund der Lehre fasst das CZB auf seinerWebsite kurz und bündig zusammen:«Gott hat den Menschen mit einem freien Willen geschaf-fen, damit er sich selber für oder gegen Gott entscheidenkönnte. (...) Als er vor die Entscheidung gestellt wurde,griff er nach der verbotenen Frucht und zerbrach die lie-bende Gemeinschaft mit Gott. (...) Von diesem Tag an bisheute lebt der Mensch mit der Last seiner Sünde undSchuld, mit Krankheit, Leid und schliesslich mit dem Tod.(...) Die vielen Religionen sind ein Beweis für die ungestill-te Suche des Menschen, führen aber nicht zum Ziel. (...)Gott litt unsagbar darunter, dass sich der Mensch von Ihmabgewandt hatte. Er ging uns nach und sandte Seinen Sohnin diese Welt zu unserer Rettung. (...) Nun bietet Gottjedem Menschen Vergebung und Versöhnung an. Er willuns in Seine Gemeinschaft aufnehmen. (...) glauben wir an

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seine Erlösung, löscht Er unsere Schuld restlos aus. Mit derAblehnung schliessen wir uns von Gottes Herrlichkeit aus.Wir werden dann für unsere Schuld selber gerichtet. (...)Als Beweis unseres Herzensglaubens lassen wir uns taufen.(...) Dadurch werden wir zu wirklich neuen Menschen.Wirerfahren eine innere Neugeburt. Die Schuld ist weg und wirsind in Gottes Gemeinschaft aufgenommen.»

Um diesen Weg zu gehen, muss der Mensch nachAnsicht des CZB seinen Hochmut überwinden und sichvollumfänglich Gott hingeben. Der leitenden PastorWerner Kniesel vertritt sein eigenwilliges Verständnis vonder Selbstverantwortung des Menschen wie folgt: «Wennwir Gott gehorchen, wird das für uns zum Segen sein.Wenn wir die Dinge aber in unsere Hand nehmen, werdensie früher oder später für uns selber zum Verhängnis»(Predigt, 2004). Der Mensch bete Gott an, so Kniesel, bindesich aber gleichzeitig auch an andere Menschen und beteKarriere und Ruhm an. Obwohl die Bibel sich eindeutigüber Sexualität, Ehe und Unzucht äussere, glaube derMensch, er könne seine eigenen Ideen einfliessen lassenund argumentiert, dass man heute in einer modernen Zeitlebe. Wenn der Mensch Gottes Wort nehme und seineneigenen Vorstellungen anpasse, gerate er auf Irrwege. NichtSegen kommt auf die Hochmütigen, sondern ein Fluch.«Gott sucht Gehorsam in unserem Leben und dass wir inAbhängigkeit zu Ihm leben, und dass ER die Entschei-dungen in unserem Leben trifft, denn dann wird unserLeben recht geführt werden.» Abhängigkeit von Jesus istfür Werner Kniesel keine Bedrohung oder Beschneidungder Autonomie des einzelnen Menschen, sondern imGegenteil eine Befreiung des Menschen. Das CZB vertritthier das für Bekehrungsgruppen charakteristische Strebennach einer Einheitskultur und den Anti-Modernismusgegenüber einer modernen Gesellschaft, die sich ja geradedurch die Vielgestalt von Sinnantworten auszeichnet. Dapfingstlerische Gemeinschaften davon überzeugt sind, dasssie die besseren Antworten auf Lebensfragen und die besse-re moralische Lebenspraxis besitzen, ist Mission ein wich-tiges Mittel der Ausbreitung, insbesondere über Gemeinde-neugründungen.

Wie geht das CZB mit schwierigen Lebenssituatio-nen um, wie werden für den Betroffenen Lösungen gesucht?Wenn es beispielsweise um die Beziehung zu «Nicht-Gläubigen» geht, predigt Kniesel auf die Bibel Bezug neh-mend, dass Pfingstgläubige als Gotteskinder keine ehelicheBeziehung mit Ungläubigen eingehen sollen. Deshalb sei essinnlos, wenn ein Gläubiger darüber betet, mit einerungläubigen Person zusammenzukommen. Die gepredig-ten Vorgaben dienen als Anleitung für die sozialenKontakte. Immer wieder wird dabei betont, wie wichtig der

Gehorsam ist. Die Geschichte der Ersten Gemeinde soll dieFolgen von Ungehorsam illustrieren: Es geschah plötzlich,dass jemand aus der Gemeinde diesen Gehorsam unter-brach und die Hingabe vortäuschte. Gott griff ein, führtKniesel weiter aus, und zeigte der Gemeinde, dass es sonicht sein solle. Die Bibel sage, als Ananias und Saphira totumfielen, kam erneut die Furcht Gottes auf die ganzeGemeinde, und sie lebten wieder in Abhängigkeit undHingabe an den Herrn. «Wir sollen uns das zu Herzen neh-men und uns alle dahin führen lassen, dass wir in eine tiefeAbhängigkeit zu Jesus Christus kommen und bereit sind,unseren eigenen Ideen, Ansichten, Meinungen und An-schauungen abzusagen und uns auf Gott und Seinen Willenauszurichten. Dann werden wir im Sieg leben. Gott suchtGehorsam.»(www.czb.ch). Die Aufgabe des CZB bestehtdarin, den Gläubigen den Rahmen zu bieten, wo sie Gehor-sam lernen bzw. zum Gehorsam erzogen werden können.

Angebote für verschiedene Zielgruppen

Das CZB bietet Aktivitäten für verschiedene Alters-gruppen an. Auch hier geht es wie bei der ICF um einejugend- oder zielgruppengerechte Einbettung der Mis-sionsbestrebungen durch Out door-Aktivitäten oder Tanz-anlässe. Dabei bedient sich das CZB der Showelementenicht in demselben Ausmass, wie es bei der ICF der Fall ist.

Auszug aus: www.czb.ch/wir/index.htm Bereiche:

Kids (0-11)Out Door, Dance, Sport

Wir möchten mit Out Door, Dance und Sport allenKindern die Gelegenheit geben, Freundschaften mit ande-ren Kindern zu pflegen, Verbindlichkeiten und Treue zuüben, indem sie persönliche Gaben und Interessen in dasReich Gottes einbringen.

Teens (12-15)Lehrdienst, Royal Rangers, Events

Den Teenagern wollen wir im Lehrdienst und in denRoyal Rangers helfen, ihr gewonnenes Vertrauen zu ihremErlöser Jesus Christus auch in den schwierigen Zeiten derPubertät beizubehalten und zu festigen.

Jugi (15-23) Junge Erwachsene

Wir wollen gemeinsam lernen, miteinander unterdem Worte Gottes zu leben. In unseren Programmen undFreizeiten möchten wir die Beziehung zum Vater, zu JesusChristus, zum Hlg Geist und untereinander fördern. (...)

Christliches Zentrum Buchegg - CZB 37

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Christliches Zentrum Buchegg - CZB38

Die Gaben und Interessen, die Gott in unsere Leben hin-eingelegt hat, sollen gefördert und füreinander eingesetztwerden.

ErwachseneHauszellen

Mit dem Begriff Zelle ist eine biologische Zellegemeint. Sie wächst, entwickelt sich und wenn sie dazu reifist, teilt sie sich (6-15 Personen). Anbetung, Wortbetrach-tung und Fürbitte sind Schwerpunkte.

EhepaareEhepaar-Zellen

Aufbereitung von geeigneten Ehethemen, Organi-sation und Durchführung vonWochenenden für Ehepaare.

Latinos

Senioren (60+)Seniorenzelle, Seniorenturnen, Seniorenessen,Seniorenwanderung

Gemeinsame Anbetungszeit, nachher Austauschund Gebet in kleineren Gesprächgruppen

Workshop Evangelisation

LiFe-SeminareLeben in der Fülle entdecken

Männer(z) Morge

In der gemeinsamen Diskussion und durch dasStudium der Bibel überdenken wir unsere Situation.

Auf der Website stehen sämtliche Predigten seit Winter2003 zur Verfügung.

3. Problematische Aspekte des CZB

Die Ausführungen lassen vermuten, dass es zwi-schen engagierten Pfingstgläubigen und deren Angehöri-gen zu Schwierigkeiten kommt. Die Anfragen, welcheinfoSekta in diesem Zusammenhang erhält, stammenmehrheitlich von Angehörigen, welche mit der Persön-lichkeitsveränderung des Bekehrten konfrontiert sind, diesie nicht einordnen können und denen sie mit Befremdungund Ohnmacht gegenüberstehen: die Bekehrten seien sehreuphorisch, die Antworten der Betroffenen in Diskussionen

und Auseinandersetzungen erschöpfen sich in Bibelzitatenund konservativen Stereotypen, die bekehrte Person ent-fremde sich immer stärker von der Familie und früherenFreunden, ziehe sich zurück, gebe den Job auf, um dasLeben als Wiedergeborener dem CZB zu widmen. Fernersorgen sich Ehepartner, weil der bekehrte Partner dieminderjährigen Kinder zu den Veranstaltungen mitnehmeund sie so den Gruppenprozessen und der Ideenwelt aus-setze. Die bekehrte Person, so wird des Weiteren beobachtet,reagiere panisch auf den Gedanken, die Gemeinschaftverlassen zu müssen.

Es ist klar, dass der Mensch in seiner Entwicklungimmer wieder ungewöhnliche Wege einschlägt, die seinUmfeld nicht nachvollziehen kann, sich ausgeschlossenoder bedroht fühlt. Die Besonderheit bei Veränderungen inVerbindung mit fundamentalistischen christlichen Gemein-schaften ist, dass Ideologie, Struktur und Dynamik derGruppe die Veränderungen eindeutig und standardisiertvorgeben. Auch wenn nicht alle Gläubigen gleich starkinvolviert sind und meine Ausführungen deshalb nicht aufalle Gläubigen gleichermassen zutreffen, möchte ich meinenBeitrag mit dem Hinweis auf folgende drei ausgewählteproblematische Aspekte schliessen:

Schwarz-Weiss-Denken

Die Schwarz-Weiss-Auffassung hinsichtlich Selbst-und Weltbild liegt im Konzept des CZB begründet. Derausschliessende Glaube an die absolute Wahrheit des eige-nen Systems führt zur Ansicht, viele Religionen hätten dieSuche des Menschen nach wahrer Beheimatung nicht wirk-lich gestillt. Die Geistestaufe wird als Norm christlichenLebens betont. Ein Leben ohne die Erfahrung der Geistes-taufe wird als defizitär, bedauerns- und bekehrenswertangesehen. Die Lebensgestaltung wird konsequent aufdiese dualistische Sichtweise reduziert.

Anpassung bis zur Selbstaufgabe

Aufgrund der eindeutigen Anforderungen, was einwahrer Christ ist und wie sich gottgefälliges Leben gestal-ten muss, wird der gesamte Lebensbereich der Gläubigenbestimmt. Dies erfordert von den einzelnen Mitgliederneine grosse Anpassungsleistung, die mit Orientierungshilfe,Halt oder Nestwärme entgolten wird. Die Betroffenen lau-fen Gefahr, ihre Autonomie und die eigene Persönlichkeitzu verlieren bzw. in ihrer persönlichen Entwicklung zu sta-gnieren. Es kann zu psychischer Abhängigkeit kommen –ein Leben ausserhalb der Gemeinschaft wird undenkbar.

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Möglicher Missbrauch von Sehnsucht und Idealismus

Verunsicherte und suchende Menschen finden inder Gemeinschaft eine Ersatzfamilie. Sie merken nicht, dassihr Engagement von Menschen mit religiös verbrämtemGeltungstrieb ausgenutzt werden kann. Die Schwierigkeitenzeigen sich in Erfahrungsberichten ehemaliger Mitglieder,die sich zwischen Selbstüberschätzung, Selbstaufgabe undSchuldgefühlen auf die Suche nach ihrer Identität machen.

Literatur

Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Baden-Würt-temberg ACK (Hg). (2004). Neue Heilsversprechen.Religiöse und weltanschauliche Tendenzen heute. Stuttgart.

Hollenweger, Walter J. (1997): Charismatisch-pfingstleri-sches Christentum. Herkunft, Situation, ÖkumenischeChancen. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht.

Referat für Weltanschauung (Hg).(1991): Pfingstbewe-gung. Wurzeln – Formen – Inhalte. Stellungsnahme. Nr, 62der Werkmappe «Sekten, religiöse Sondergemeinschaften,Weltanschauungen». Arbeitsgemeinschaft der österreichi-schen Seelsorgeämter. Wien

Rey, Karl Guido. (1985): Gotteserlebnisse im Schnellverfah-ren. Suggestion als Gefahr und Charisma. München: Kösel.

Schmid, Georg & Schmid, Georg Otto (Hg). (2003):Kirchen, Sekten, Religionen. Religiöse Gemeinschaften,weltanschauliche Gruppierungen und Psycho-Organisa-tionen im deutschen Sprachraum. Siebte, überarb. und erg.Auflage. Zürich: Theologischer Verlag.

Selbstdarstellung des CZB: www.czb.ch

Predigt vom 18. April 2004. Hauptgedanken von WernerKniesel zum Thema «Gott erwartet Gehorsam». www.czb.ch/medien/predigten

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Schriftenreihe infoSekta 09/0440

Neben der Event-orientierten Grossgemeinde undder familiären Kleinkirche ist es die ethnische Gemein-schaft, die das dritte Erfolgsmodell im Bereich evangelikal-charismatischen Christentums in Europa darstellt. AlsOrganisation, die vor allem aus Angehörigen derselbenNationalität und/oder Sprache besteht, scheint die ethni-sche Gemeinschaft auf den ersten Blick die Anforderungenan eine schichtspezifische Gemeindebildung zu erfüllen,wie sie von charismatischen Gemeindewachstums-Theo-retikern gefordert wird. Ein stärker einigendes Band als diegleiche Herkunft von Immigranten ist kaum denkbar,kulturelle Einheitlichkeit ist nirgendwo leichter zu verwirk-lichen. Ebenso ist eine Ähnlichkeit der biographischenErfahrungen garantiert. Auf den zweiten Blick erweist sichdie ethnische Gemeinde aber als eine Übersteigerung derschichtspezifischen Gemeindebildung. Eine volksbezogeneGemeinde widerspricht dem Universalismus des NeuenTestaments, das nicht mehr Juden und Griechen kennt,sondern vielmehr eine Gemeinde für alle Menschen fordert.So wird gerade für evangelikal-charismatisches Denken,welches ja in besonderer Weise dem Neuen Testament ver-pflichtet sein will, die ethnische Gemeinde zum erfolgrei-chen theologischen Unding, welches an seiner Intentionvorbei praktiziert oder an seiner Praxis vorbei intendierenmuss: Die ethnische Gemeinde findet Anhängerinnen undAnhänger in der eigenen Ethnie, muss aber missionarischstets auch auf alle anderen Menschen ausgerichtet bleiben- auch wenn de facto jede Möglichkeit zur erfolgreichenIntegration einer grösseren Anzahl von Menschen andererSprache und/oder kultureller Prägung fehlt. Die theologischeUndenkbarkeit einer ethnischen Gemeinde bedingt natür-lich auch, dass niemand eine solche Gemeinschaft begrün-det. Sie entsteht vielmehr aus einer in ihrem Herkunftsland«normalen» Gemeinde, die dort meist diverse Schichtenanspricht. Die Ableger im Ausland vermögen hingegennicht, die Gesamtheit der Bevölkerung zu erreichen, son-dern sprechen nur die Emigranten aus dem Herkunftslandder Gemeinde an. Eine ethnische Gemeinde ist entstanden,obwohl die ursprüngliche Absicht eine ganz andere war,nämlich die Missionierung der gesamten Bevölkerung desGastlandes.

Wiedermissionierung Europas

Handelt es sich beim Herkunftsland der ethnischenGruppe um eines, welches in vergangenen Jahrhundertenvom Gastland her missioniert wurde, kann sich heute dasBild einer Art Rück- oder Wiedermissionierung ergeben.Dies gilt für die Lighthouse Chapel International aus Accrain Ghana in besonderer Weise, weil die verschiedenenMissionsrichtungen in der Familiengeschichte des GründersDag Heward-Mills exemplarisch repräsentiert werden. DagHeward-Mills ist der Sohn eines ghanaischen Anwaltes undeiner Schweizerin, deren Eltern für die Basler Mission inGhana tätig waren. Deren Enkel gründete nun die ersteAussenstation seiner bereits Mitte der 80er-Jahre entstan-denen Gemeinde im Jahr 1992 in der Schweiz. Die erklärteAbsicht war, das entchristlichte Europa wieder zu missio-nieren. In seiner bewusst plakativen Sprache stellt DagHeward-Mills fest, dass sich das Bild des Missionars gewan-delt habe:

«Whenever we think of missionaries we think ofWhite people coming to save the unreached and uncivilisedBlack races. We imagine pious White missionaries goingthrough the sweltering tropical jungles to reach savages inremote villages. However, all this has changed! There arenot as many savages in remote villages as there were fourhundred years ago. Today, it is the White people who needto be reached. It is the White people living in rich andaffluent cities who have no knowledge of God ... The cloudof ignorance and spiritual backwardness has shifted to thewestern nations of the world» (Heward-Mills, 2001, S. 52).

Oder noch etwas drastischer: «The spiritually alive sectionsof the world have shifted from Europe to the poorer andmore deprived parts of the world. Today, Europe is the seatof Satan, with most people on that continent being atheistsor non-believers. There is now a great need for us to reachout to such parts of the world. ... It looks as though theresponsibility of spreading the Gospel has shifted fromWhites to men of colour»(ebd).

Von den Kirchen in Europa und insbesondere vondenjenigen in der Schweiz erwartet Dag Heward-Mills hin-gegen nicht mehr viel:

Beispiel einer so genannten ethnischen Freikirche

Lighthouse Chapel International LCI

Georg Otto Schmid

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«Spiritual death has placed its icy hands on the churches ofEurope. Church buildings that seated hundreds of ardentworshippers every Sunday, today receive less than fifteenold men and women.... Many churches meet every twoweeks instead of every week. On Sunday mornings, theyoung people are recovering from hangovers and thedebauchery of the night before. They have no time orknowledge of God. In Switzerland for instance, many of thepastors do not believe in God. They are often state em-ployees who have a job to do» (a.a.O., S. 52f).

Nach Ansicht von Dag Heward-Mills ist das ModellLandeskirche gescheitert, wobei das Modell von ihm offen-sichtlich nicht ganz richtig verstanden wurde - die Präsenzanderer Freikirchen in der Schweiz scheint Heward-Millskeine Erwähnung wert. Nun soll das Rezept zur Wieder-verchristlichung der Gesellschaft helfen, welches bereits inGhana zum Erfolg führte: Das Mega-Church-Konzept derLighthouse Chapel International.

Die familiäre Mega-Church

Während die Lighthouse Chapel International,abgekürzt LCI, in der Schweiz bisher eine ethnische Ge-meinschaft geblieben ist, repräsentiert sie in ihrem Mutter-land die beiden anderen erfolgreichen Modelle evangelikal-charismatischen Gemeindebaus: die Event-orientierteGrossgemeinde und die familiäre Kleingruppe. «Largeenough to include you, and small enough to know you»(The Mega Church, S. 175), lautet das Motto Dag Heward-Mills' bezüglich der Gemeindegrösse. Möglichst gross solldie einzelne Gemeinde sein und Grossveranstaltungenermöglichen, aber zusätzlich aus Kleingruppen bestehen,welche dem Mitglied familiären Halt geben: «Smaller sub-divisions within the church allow for better pastoral care,which eventually leads to church growth. Questions thatcannot be asked in a large Sunday service can be addressedin the small groups. The small groups become the familyunits to which church members belong» (ebd.). Dassfamiliäre, freundschaftliche Einbindung in eine Gemeindeunerlässlich ist, erkennt Heward-Mills wie jeder zeitge-nössische Gemeindewachstums-Theoretiker: «People stayin a church because of relationships they have in thechurch. It is the duty of the pastor to create interaction bet-ween members of the church» (a.a.O. S. 131). Aus diesemGrund ist es für Gemeindeleiter wünschbar, dass Mit-glieder ihren Freundeskreis und auch ihren Partner aus dereigenen Gemeinde rekrutieren, obwohl aus evangelikal-charismatischer Sicht einer Ehe mit einem Mitglied eineranderer Gemeinde grundsätzlich nichts im Wege steht.Hier spricht Dag Heward-Mills einen Gedanken deutlichaus, den manch anderer freikirchlicher Pastor sich bloss

denken mag, viele Freikirchen ihn aber als unangebrachtzurückweisen würden: «I repeatedly tell my church mem-bers that the person they want to marry can be found wit-hin our congregation. ... Of course, it is not a sin to marryfrom outside your own church. Many people in my churchdo that! All I am saying is that I encourage my churchmembers to intermarry. Anytime one of our 'daughters', inwhom we have invested, is married and taken to anotherchurch, we lose a church member» (a.a.O., S. 133). Ebensosind Freundschaften innerhalb der Gemeinde zu pflegen.Kontakt zu Aussenstehenden schränkt Heward-Mills aufsNotwendige ein. Notwendig sind die missionarischenBemühungen: «Sometimes people will accuse us of stickingto ourselves and not interacting with outsiders. However,that is not our intention at all! Our intention is also tointeract with outsiders in order to win souls. But make sureyou encourage your church members to have their friendsfrom within the church. If your church members friendsare within the church, they will have two reasons forcoming to church. Firstly, they will come for spiritual nou-rishment. Secondly, they will come to meet with theirfriends. You can easily lose members whose friends aremainly people outside the church» (a.a.O., S. 134).

Diese Umsicht bezüglich der Sozialkontakte derMitglieder reicht aber zur Errichtung einer Mega Churchnicht aus. Entscheidend sind für Dag Heward-Mills dieBezugspunkte 'Evangelisation' und 'Mission'. «The visionof Lighthouse Chapel International is one of soul winningand church planting» (a.a.O., S. 97), hält er programma-tisch fest und: «Soul winning is the main task of Light-house Chapel International» (a.a.O., S. 24). Dass der LCIhier eine entscheidende Rolle zukommen kann, steht fürHeward-Mills ausser Frage: «We must have the attitudethat the salvation of the whole world depends on us»(a.a.O., S. 31). Umgesetzt wird diese Betonung der Evange-lisation z.B. dadurch, dass Heward-Mills in jedem Gottes-dienst, egal welchem Zweck er dient, zur Bekehrung auf-ruft: «Salvation altar calls are compulsory in every servicewe have. I make altar calls at all weddings and funerals»(The Mega Church, S. 161).

Für das Wachstum der Gemeinde ist aber auch dierichtige Einstellung entscheidend: «If you want yourchurch to grow, tell the members that they are part of agood church. Speak positively about the other pastors inthe church. Do not criticize the pastors of the church. Thatis why we call the Lighthouse Chapel International TheMega Church. I am aware that this worries some people. Itis just our faith confession! We know we have a long way togo. We know that we are still learning. But we believe thatwe have a Mega ministry with a Mega impact in a lost and

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dying world» (a.a.O., S. 127f). Das Stichwort der «faithconfession» weist darauf hin, dass hier die Grenze zur sogenannten Wort-des-Glaubens-Lehre überschritten ist.

Die Wort-des-Glaubens-Lehre

Die Wort-des-Glaubens-Lehre, entstanden in den60er-Jahren in den USA, geht davon aus, dass einem inGlauben gesprochenen Wort Schöpferkraft zukommt, sodass ein gläubiger Mensch dadurch im Grunde erreichenkann, was er will. Hintergrund ist die Weltanschauung desso genannten Neugeist, welcher von der Herrschaft desGeistes über die Materie ausgeht. Bekannte Vertreterinhierfür ist beispielsweise die Christian Science. In abge-schwächter Form tritt die Idee in Gestalt der Lehre vompositiven Bekenntnis auf. Als gewissermassen charismati-sche Variante des Positiven Denkens geht sie davon aus,dass bekenntnishafte Sätze durch Wiederholung irgend-wann zu Realität werden können. Dag Heward-Mills istbeidem gegenüber aufgeschlossen. Dass der Wort-des-Glaubens-Vordenker Kenneth Hagin für ihn wichtigwurde, räumt Heward-Mills öfter ein, meist indem erbetont, wie stark er durch das Anhören von HaginsKassetten geprägt worden sei. Positives Bekenntnis übtHeward-Mills oft, z.B. führt er das Wachstum seiner Kircheu.a. auch auf positives Bekennen zurück: «I recall walkingup and down the streets adjacent to the canteen we hadrented for our church services. I spoke to the street and said'Be filled with cars.' I spoke to the empty benches and said'Be filled with members'. Today there are countless num-bers of cars and members in our church» (a.a.O. S. 17).Konsequenterweise kann Heward-Mills dieses Vorgehenund das damit verbundene erhöhte Selbstvertrauen auchanderen Pastoren empfehlen:

«You are no ordinary person! You are a champion!You are a true champion! You can win! God is strengthe-ning your right hand to conquer the enemy! Do not beafraid from today, the devil is the one who is frightened!Rise up and speak over the church you are pastoring! Speakto the empty chairs and tell them to be filled! You areanointed! You are full and not empty» (Heward-Mills,1999a, S. 56). All dies Bekennen macht aber - hier unter-scheidet sich Heward-Mills von den schrillen Gestalten derWort-des-Glaubens-Lehre - die irdischen Methoden zurErreichung des Ziels nicht unnötig. Vielmehr soll alleszusammen wirken: «Command your intelligence torespond to your confessions! Command your decisions toline up to the positive claims you are making! You can win!You are indeed a successful person» (a.a.O., S. 56). Dies giltz.B. bei Bekenntnissen zu Wohlstand: «If you make a claimto prosperity, you must courageously go to work. You must

work very hard (a.a.O., S. 62)». Ähnliches sagt der ausgebil-dete Arzt Dag Heward-Mills zu Bekenntnissen betreffendHeilung: «If you need to take medicine in order to stayalive, then take it. But keep confessing the Word» (a.a.O., S.61) - dies im scharfen Gegensatz zu radikalen Wort-des-Glaubens-Lehrern, welche die Inanspruchnahme ärztlicherHilfe als ein mangelndes Vertrauen auf Gott deutet. Auchlehnt Dag Heward-Mills die Vorstellung ab, dass das Wortdes Gläubigen aus dessen eigener Autorität heraus wirkt. Essei immer Gott, welcher auf ein Bekenntnis antworte unddieses realisiere - oder eben nicht realisiere. So findetHeward-Mills auch eine Erklärung auf die Frage, weshalbbestimmte Bekenntnisse schlicht nie funktionieren: «Godwill not back foolish and childish claims. Your earthly fat-her would take no notice of you if you claimed certainunrealistic and impractical things. If you spend time con-fessing foolish imaginations, even the devil will take nonotice of you! You are NOT the Queen of England so thereis no use for you to spend time confessing that!» (a.a.O., S. 56)

Demgegenüber scheint positives Bekennen für DagHeward-Mills eher eine Frage der Einstellung zu sein.Durch Bekennen wird eine der Lebenssituation gegenüberförderliche innere Haltung eingeübt z.B. bei den Bekennt-nissen, die Dag Heward-Mills unzufriedenen verheiratetenPaaren vorschlägt:

«- Marriage is not a curse to me, it's a blessing to me!-Being married is a good thing!- I enjoy being married!- I am happily married!...- My wife is a true help to my life!- My husband is dedicated to me. He has no time or eyesfor other women. I am a princess and a queen to my hus-band. My husband does whatever I want him to do becau-se he loves me... » ( a.a.O., S. 72).

Auch folgendes Bekenntnis funktioniert wohl eherdank einer veränderten Sichtweise als aufgrund des über-natürlichen Service': «Declare over your old car: you arenew and a blessing to me» (a.a.O., S. 56).

«This is Europe, you can't do that here!»

In der Schweiz war der Lighthouse Chapel in denletzten zwölf Jahren seit Gründung der ersten Gemeindedurch Dag Heward-Mills einiger Erfolg beschieden. DieZürcher Gemeinde, die sich in einem Industriebau an derBirgistrasse 7 in Wallisellen trifft, führt sonntags jeweilszwei Gottesdienste durch, die von insgesamt rund 400Personen besucht werden. Lokale Gruppen existieren in

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den Städten Baden, Basel, Bern, Biel, Genf, Lausanne,Luzern, Neuchâtel, Olten, St. Gallen und Winterthur. DasPublikum besteht fast ausschliesslich aus Personen, die ausWestafrika immigriert sind, hauptsächlich aus englisch-sprachig geprägten Ländern. Schweizerinnen und Schwei-zer finden fast ausschliesslich über ihre Rolle als Lebens-partner von Menschen aus Afrika zur LCI. Offensichtlichist die kulturelle Schranke für die LCI schwer zu über-schreiten. Deutlich wird diese Barriere etwa im autoritäts-betonten Denken der LCI: «A church needs a strong leaderto move it forward. Democracy and numerous committeesare not helpful when you need strong leadership»(Heward-Mills, 1999b, S. 16) oder in der Notwendigkeit,gegen den Glauben an Zauberei vorzugehen: «Every spell,enchantment or bewitchment that has been conjuredagainst me and my marriage will not succeed!» (Heward-Mills, 1999a, S. 76). «There is no charm from my home-town that can affect me. Every spell and enchantmentagainst me emanating from my village is overruled!»(a.a.O., S. 107). «My home is a no-fly zone for witches andwizards» (a.a.O., S. 164). Anschaulich wird hier, wie derpromovierte Arzt Dag Heward-Mills gegen Aberglaubenvorgeht. Auch in der Gemeinde in Wallisellen ist dasBemühen spürbar, westlichen Standards zu entsprechen,etwa wenn der Prediger der männlichen Zuhörerschaftzuruft «You can't beat your wife here, this is Europe, youcan't do that here.» So löblich das Engagement ist, seineNotwendigkeit zeigt, wie fern eine Inkulturation der LCI inder Schweiz noch ist.

Literatur/Quellen

Dag Heward-Mills (1999a): Name it! Claim it! Take it!!!,Dag's Tapes & Publications

ders. (1999b): Solomonic Success, Dag's Tapes & Publications

ders. (2001): Win the Lost at any cost, Parchment House

ders. ohne Jahresangabe. The Mega Church, The Anointingand the Strategies

Website der LCI: http://www.lighthousechapel.org

Website vonDagHeward-Mills: http://www.daghewardmills.org

Besuch bei der LCI Zürich an der Birgistrasse 7,Wallisellen,am 30. Mai 2004

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Die Internationale Evangelische Gemeinde mitStandort am Luggweg 9 in Zürich-Altstetten sorgt immerwieder einmal für Aufsehen in den Medien, sei es, weileines ihrer Mitglieder - ein Profispieler beim FussballclubGrasshoppers - bei Spielen ein T-Shirt mit bekenntnishaf-tem Aufdruck zeigt, sei es, weil eine grössere Personen-gruppe der Gemeinde diese bedruckten T-Shirts jeweilsanlässlich der Zürcher Street Parade trägt. Dieser Eventdient somit als Plattform für die missionarischenBemühungen, wird aber durchaus auch als Werbeanlass fürdie Gemeinschaft genutzt.

Gründer der Bewegung der Internationalen Evan-gelischen Gemeinden ist Pastor Marco Antonio RodriguesPeixoto von der Comunidade Evangélica Internacional daZona Sul in Rio de Janeiro. Spezielles Anliegen von Peixotound seiner Gemeinde ist die so genannte geistliche Krieg-führung, eine innerhalb des charismatischen Christentumsrecht verbreitete, aber auch umstrittene Vorstellung. DasKonzept geht davon aus, dass einzelne Orte oderOrtschaften von einzelnen Dämonen beherrscht werden,welche die Menschen der jeweiligen Gebiete zur Sünde ver-führen und vom charismatischen Christentum abhalten.Die Macht dieser Dämonen muss durch Gebete - mancheAutoren sprechen von einem eigentlichen «Kampfgebet»-,aber auch durch Märsche und Proklamationen derHerrschaft Jesu gebrochen werden. Erst dann kann dieMissionierung der Bevölkerung erfolgreich sein. Peixotound seine frühen Mitstreiter, zu welchen auch der Leiterder Zürcher Gemeinde Renato de V. Souza gehört, setztendieses Konzept in Rio de Janeiro um, im Rahmen vonMärschen und Kundgebungen an der Copacabana und ins-besondere am Karneval von Rio. Da die Vorstellung dergeistlichen Kriegführung mit ihrem ausgeprägten Dämo-nenglauben dem in Brasilien verbreiteten Geisterglaubennicht schlecht entspricht, fand und findet die Bewegungdort durchaus Anhänger. 1994 begann Peixoto mit derGründung von Gemeinden im Ausland.

Im Jahr 1997 zog Renato Souza zusammen mit seinerFrau Lausir in die Schweiz, wo sie gemeinsam die Inter-nationale Evangelische Gemeinde Zürich begründeten,welche seit 1998 am Luggweg domiziliert ist. In den folgen-den Jahren wurden Aussenstationen in St. Gallen und Chur

sowie im deutschen Konstanz gegründet. Die Gottesdiensteder Aussenstationen finden zumeist werktags statt, so dasssie ebenfalls von der Familie Souza betreut werden können.Die Betonung der Familie ist sehr deutlich: Renato undLausir Souza predigen, die beiden Töchter machen Musik,führen das Sekretariat und den Buchladen. Der Sohn befin-det sich zur Zeit in der Ausbildung zum Prediger. DieGemeinde kann dementsprechend als Ausweitung der FamilieSouza beschrieben werden. Manche Aktivitäten wie bei-spielsweise ein gemeinsamer Grilltag am Pfingstmontag inder Badeanstalt Dietlikon (Lausir Souza in der Einladungam Vorabend: «Die Männer werden Fussball spielen, dieFrauen sprechen miteinander, und wir können euch besserkennen lernen») passen viel eher zu einer Familie als zueiner Gemeinde.

Deutlich ist auch das grosse Selbstbewusstsein derSouzas. Bis vor kurzem liessen sie die Wirksamkeit ihresTuns auf der Website der Gemeinschaft (www.evangeli-schegemeinde.ch) folgendermassen beschreiben (sic):«Geschichte des Pastors: Pastor Renato dem V. Souza istinternational bekannt. Er ist ein Mann, der eine Generationdurch ein stärkendes Wort und mit Glauben geführt hat.Als Prediger und Konferenzleiter hat er in verschiedenenLändern die Botschaft des Glaubens mit Mut und Kühn-heit der aktuellen Kirche bekannt gemacht. Er ist Präsidentder Evangelischen Gemeinde Zürich, die sich in einer stra-tegischen Position in Zürich befindet. ... Gründer vondiversen Kirchen in Brasilien und Europa, als Evangelistund Prediger bekannt, Pastor Renato immer von seinerFrau Lausir begeleitet, die ausgebildete Pastorin ist undMutter von drei Kindern...»

Als eine ihrer Besonderheiten nennt die Inter-nationale Evangelische Gemeinde den Stellenwert derMusik. Auf der Website als Ziel formuliert: «Mit feinsterMusik den Allmächtigen loben!» Ein Besuch eines Gottes-dienstes macht offenbar, dass das Wort «fein» im Zusam-menhang mit Musik nicht zwingend auf die Lautstärke zubeziehen ist. Vielmehr scheint Gotteslob nach Meinung derGemeinde laut sein zu müssen.

Die geistlichen Krieger an der Street Parade

Internationale EvangelischeGemeinde IEG, Zürich

Georg Otto Schmid

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Auffällig im Gottesdienst, welcher nur von einemTeil der 400 Mitglieder im Raum Zürich besucht wird, istder direktive Ton der Souzas, insbesondere von RenatoSouza. Die praktisch durchgängig im Fortissimo gehaltenePredigt wird durch allerlei Regieanweisungen bezüglichgemeinsamer Wiederholung von Kernaussagen unterbro-chen. Mag dies auch mnemotechnisch gemeint sein, demAussenstehenden erscheint das Verfahren als eine rechtunfaire Erschleichung aktiver Zustimmung zum Gesagten,denn dieses muss gegenüber den Anwesenden persönlichwiederholt werden. Ebenso wird vorgegeben, wann welcheArme in welcher Richtung auszustrecken sind und wannman sich aus den Sitzen zu erheben hat. Insgesamt wirktdieses Vorgehen recht manipulativ, zumindest insofern,dass abwartendes, distanziertes Dabeisein nicht möglich ist.

Die Ziele der Gemeinde fasst eine Celene auf derWebsite der IEG zusammen: «Wenn du ein glücklichesLeben haben willst und eine gesegnete Familie, dann sinddas die Waffen, die du brauchen kannst:- Nimm Jesus als Herrn und Retter deines Lebens an!- Liess die Bibel und gehorche- Bette ohne aufzugeben, immer im Namen Jesus- Habe viel Glauben- Komm zur Kirche»Der regelmässige Besuch der Veranstaltungen wird auchvom Pastorenehepaar angemahnt.

Am Pfingstgottesdienst ereiferte sich Lausir Souzadarüber, dass zahlreiche Gemeindeglieder fehlten, manchehätten sich nicht einmal abgemeldet, was natürlich nichtakzeptabel sei. Es wird erwartet, dass sich die Gemeinde-glieder abmelden, wenn sie zum Gottesdienst verhindertsind - ein weiteres Zeichen dafür, dass die Bindung derMitglieder ans Pastorenehepaar das in Freikirchen üblicheMass übersteigt.

In der seelsorgerlichen Praxis der IEG zeigen sichEinflüsse der Wort-des-Glaubens-Lehre, die davon aus-geht, dass ein Wort, das im Glauben gesprochen wird,Realitäten schaffen bzw. sie verändern kann. So berichteteein Gemeindeglied: «An einem Donnerstag abend habenPastor Renato, Pastorin Lausir und die Gemeinde mit mirzusammen im Namen Jesu der Lungenentzündung undderen Folgen befohlen, den Körper meiner Mutter zu ver-lassen...». Renato Souza weist in diesem Zusammenhangdarauf hin, wie falsch doch katholische Menschen betenwürden, weil sie Gott um eine Sache bitten, statt diese vonihm zu fordern.

Deutlich wird an dem Treffen auch der ausgeprägteDämonenglaube der Gemeinde. Ein Mitglied, das Sucht-probleme hatte, berichtete: «Da waren auch zwei Dämo-nen. Sie brachten mich dazu, zu trinken und Drogen zunehmen. Ich weiss das, weil ich mich nie erinnern konnte,was ich getan hatte, wenn ich getrunken hatte. In demMoment, als der Pastor für mich betete, kam der HeiligeGeist über mich, und die Dämonen mussten sofort gehen.»Eine Art Exorzismus sollen auch die Aktivitäten derGemeinde an der Zürcher Street Parade darstellen, auchwenn man die Lehren der geistlichen Kriegführung in derSchweiz nicht so eindeutig ausbreitet, wie es in Brasiliender Fall ist. Gegenüber Daniel Gerber von jesus.ch wirdSouza aber deutlich: «Die Street Parade ist ein Werk desTeufels. Ein Altar, den er sich erhoben hat, um das Leben zuvernichten und die Leute. Damit sie keinen Ausweg haben.(...) Es gibt auch einen Fürst in der Schweiz, und der regiertauch über die Street Parade. Aber wenn die Kirche auf dieStrasse geht und sich zeigt als Licht, dann wird dem Fürstdie Macht genommen, und die Street Parade verliert ihrenegative Wirkung.» Mit dem Fürsten ist der für Zürichzuständige Dämon gemeint.

Seit nunmehr drei Jahren versucht die Interna-tionale Evangelische Gemeinde, die Street Parade Satanund seinem Fürsten zu entreissen und sie auf diese Weisenach und nach zur Jesus-Parade werden zu lassen. Mittelhierzu ist der Auftritt als «Samba Gospler» mit Musik undGesang, aber vor allem auch mit Transparenten und T-Shirts mit proklamativen Aufdrucken wie «Jesus liebt dich»oder - vielleicht als Folge eines Übersetzungsproblems -«Jesus ist mein Geliebter». Die Zahl der Teilnehmendenstieg dabei kontinuierlich an.Waren es an der Street Parade2002 noch 60 Gemeindeglieder, stieg diese Zahl 2003 auf200 und 2004 gar auf 700 Personen an, wovon 400 direktaus dem Umfeld der Internationalen Evangelischen Ge-meinde stammten, die übrigen Teilnehmenden aus anderenFreikirchen.

Fürs nächste Jahr ist eine Teilnahme mit zwei Love-Mobiles geplant, ein Ansinnen, das die Veranstalter ausgutem (Verbot weltanschaulicher Werbung generell an derParade) und schlechtem Grund («Null Toleranz denIntoleranten» - hier zeichnet sich gewissermassen ein clashof fundamentalisms ab) zurückzuweisen gedenken. Dassdie Auftritte an der Street Parade der Gemeinde Mitgliederzuträgt, räumt die IEG selber ein, auch wenn die Zahlenbisher nicht berauschend sind. Renato Souza meinte zuDaniel Gerber von jesus.ch: «Hier in der Kirche haben wirmindestens fünf Leute, die durch die Street Parade zu unskamen und geblieben sind.»

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Nicht wirklich gelungen ist die Inkulturation derGemeinde. Renato de Souza spricht auch nach siebenJahren Aufenthalt in der Schweiz nur wenig Deutsch undmuss sich in den Gottesdiensten, aber auch bei Interviewsübersetzen lassen. Die daraus folgende Betonung derportugiesischen Sprache bewirkt denn auch, dass Men-schen aus portugiesisch-sprachigen Ländern wie Brasilien,Portugal und Angola unter den Mitgliedern der Gemeindegehäuft anzutreffen sind. Der Anteil Personen deutscherMuttersprache liegt nach meinem Augenschein deutlichunter 50%. Ein Hinweis auf die noch wenig gelungeneInkulturation ist auch die Sprachgestalt derWebsite, wie siesich bis vor kurzem präsentierte. Als Ziele der Gemeindewurde u.a. genannt (sic):

«Vision der lokalen Kirche:- Predigen vom Evangelium an alle Personen in allen

Sprachen- Restaurierte Familien- An alle Mitglieder die Bibel lehren- Musik in bezug auf das Haus Gottes- Restaurieren von chemisch abhängigen Personen.»

(Anm. d. Red.: Zum Zeitpunkt der Drucklegung war dieRubrik «Wer wird sind» auf der Website www.evangeli-schegemeinde.ch/jesus.html under construction)

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1. Grundsätzliches zum VerhältnisKirche und Jugend

Das Verhältnis Jugend und Kirche ist massiv gestört.Gerade mal 15% der Jugendlichen werden von den Kirchenerreicht. An dieser Tatsache ändert auch der grosse Erfolgdes nationalen Jugendtreffens in Bern oder verschiedenerWeltjugendtreffen nichts.

Umfragen bestätigen: Jugendliche sind spirituell,glauben an einen Gott. Ihre Suche geht jedoch weitgehendan den grossen Kirchen vorbei (Patchwork-Religiosität).Eine Umfrage im Kanton Zürich kommt zum Ergebnis,dass die Altersgruppe der jungen Erwachsenen (Jugend-liche zwischen 18 und 30 Jahren) in den Pfarreien faktischfehlen.

2. Jugendkirche ein neuer Wegin der Jugendpastoral

2.1. Was ist eine Jugendkirche?

Der Begriff Jugendkirche kann leicht zu falschenVorstellungen und dadurch zu Missverständnissen führen.Eines der grössten Missverständnisse liegt in der Vorstel-lung, dass mit dem Projekt Jugendkirche separate Pfarrei-strukturen für Jugendliche und junge Erwachsene gemeintseien, welche zukünftig die pfarreiliche Jugendarbeit ersetzenund überflüssig machen. Darum geht es jedoch nicht.Richtig ist, dass es weder «das Modell» von Jugendkirchenoch «die Jugendkirche» als solche(s) gibt. Der BegriffJugendkirche beschreibt eine Vielzahl unterschiedlicherinnovativer Projekte der Jugendpastoral. Gemeinsames Zielall dieser Projekte ist es, Jugendlichen und jungen Erwach-senen wieder einen Zugang zum christlichen Glauben undzur Kirche zu ermöglichen. Sie wollen mithelfen, neueKommunikationswege zwischen Jugend und Kirche zuerschliessen. Hauptzielgruppe von Jugendkircheprojektensind in erster Linie eher kirchenferne Jugendliche undjunge Erwachsene, die nicht mehr in den Pfarreien beheimatetsind. Eine Jugendkirche darf, will und muss mit der Pfarreivor Ort nicht in Konkurrenz treten, sondern ergänztbewusst das jugendpastorale Angebot in den Gemeinden.

Gleichzeitig übernimmt sie durch diese Ergänzung auchImpulsfunktion für das örtliche und regionale Angebot.

Im deutschsprachigen Raum entwickelte sich in denletzten Jahren eine Grosszahl von Modellen und Projekten.1

Bei vielen Jugendkirchen-Projekten steht das Angebot desKirchenraumes als kultureller sowie religiöser Erlebnis-und Erfahrungsraum im Zentrum. Anderen Vorhabendient als Raumangebot ein Zelt oder ein Fabrikgebäude,das sowohl als Gottesdienstraum als auch als Veranstal-tungsraum genutzt wird. Und wieder andere Projekte stel-len den Kirchenraum bewusst nicht ins Zentrum. Nebendem spirituell geprägten Raum gibt es noch Veranstal-tungs-, Begegnungs-, aber auch Infrastrukturräume (Café,Werkräume, Büroräume.)

Die Ausrichtung der Arbeit der Jugendkirchen-Projekte machte die verschiedenen Vollzugsweisen vonKirche erfahrbar. Neben den liturgischen Erfahrungs-feldern sollen die Möglichkeiten des diakonisch orientier-ten sozialen Handelns ebenso wie gemeinschaftsbildendeAngebote entwickelt werden. Die inhaltliche und prakti-sche Ausgestaltung liegt wesentlich bei denen, welche dieAngebote nutzen und die in geeigneter Weise für eineMitarbeit gewonnen werden können, sowie bei den Part-nern, die sich an der Gestaltung dieser jugendpastoralenProjekte beteiligen.

2.2. Braucht es eine Jugendkirche?

Die aktuelle jugendpastorale Situation in derSchweiz lässt keinen Zweifel aufkommen, dass das Verhält-nis «Jugend und Kirche» massiv gestört ist. Es handelt sichum eine handfeste Krise. Diese Krise ist keinesfalls nur einjugendpastorales Phänomen, sondern beschreibt auch dasVerhältnis zwischen Erwachsenen und der Kirche. Tatsacheist, dass die Kirchen mit ihren Angeboten nur noch einenkleinen Teil der Jugendgeneration erreichen, nämlichmaximal 10-15%. Gegenüber der überwältigend Mehrheitvon 85-90% hat die Kirche nicht nur einen Auftrag, son-dern sollte auch ein echtes Interesse haben.

Die derzeitige gemeinde- und verbandsorientierteJugendarbeit braucht deshalb eine Ergänzung, um auchandere Jugendgruppen, Szenen und Milieus zu erreichen.

Vorstellung des Projektes Jugendkirche der katholischen Kirche

Jugendkirche: Sozialer undspiritueller Erfahrungsort

Markus Holzmann

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Das Angebot muss lebendiger, bunter, vielfältiger, offensi-ver, ja vielleicht auch provokativer werden, um bei kirchen-fernen Jugendlichen auf Aufmerksamkeit zu stossen. Einejugend- und zukunftsorientierte Seelsorge braucht ein-ladende, offene, gestaltbare Orte, die das Interesse anJugendlichen erfahrbar und spürbar werden lassen. DasProjekt Jugendkirche stellt deshalb eine ganz besondereHerausforderung und vor allem auch eine grosse Chance dar.2

Eine Jugendkirche im Kanton Zürich soll zu einerneuen Erfahrung von Kirche und christlichem Leben fürJugendliche und junge Erwachsene führen. Sie darf jedochnicht losgelöst von bereits vorhandenen kirchlichen Ein-richtungen sein, sondern muss in intensiver Beziehung mitder kantonalen Jugendseelsorge stehen, mit den Jugend-verbänden, aber auch mit der Schul-, Lehrlings- und Stu-dentenseelsorge, insbesondere auch mit den katholischenSchulen. Es macht Sinn, das Projekt Jugendkirche zentraloder in urbanen Quartieren in der Stadt Zürich anzusiedeln:Jugendlichen soll man dort begegnen, wo sich Jugend-kultur geballt entwickelt und entfaltet. Die Stadt Zürichbildet geographisch das Zentrum im Grossraum Zürich.Auch wird der Stadt Zürich als grösste Stadt in der Schweizvon den Jugendlichen ein Eventcharakter zugesprochen.

2.3. Event und Jugendkirche3

Will eine Jugendkirche Jugendliche ausserhalb deskirchlichen Milieus erreichen, braucht sie die Möglichkeitdes niederschwelligen und punktuellen Kontaktes, umdiese Jugendlichen überhaupt einmal mit Kirche in Berüh-rung zu bringen. Es braucht Veranstaltungen, die Ausser-gewöhnliches präsentieren und öffentliche Aufmerk-samkeit schaffen. Solche Veranstaltungen werden als Eventbezeichnet. Events kombinieren Ereignisse, Orte undPersonen in einer Weise, dass die Kombination überrascht,dass sie aussergewöhnlich ist, Aufmerksamkeit erregt undattraktiv erscheint. Für eine Jugendkirche ist dies ein wich-tiges Thema, weil sie sich immer wieder fragen muss, wieweit sich Elemente und Aktivitäten wie HipHop, Techno,Sprayen, Skaten, Klettern, Tanzen usw. integrieren lassen,damit Kirche und Gottesdienst zum Ort des Ausserge-wöhnlichen werden, ohne dabei anbiedernd und ober-flächlich zu werden. Ein Event unterbricht und durchbrichtden Alltag. Das schafft Platz für Reflexion, macht offen fürNeues, intensiviert Erlebnisse und lässt einen Raum entstehen,der Transzendenz erahnen lässt.

Mit eventartigen Veranstaltungen baut die Jugend-kirche ein Image auf, das Innovation und Dynamik ver-spricht. So sind Events neben ihrer Wirkung über Kirchen-grenzen hinaus als Kristallisations- und Höhepunkte auch

für das Stammpublikum bedeutsam. Glaube und Kircheleben wesentlich auch von einer emotionalen Beziehung.Glaubensvollzug ist ohne Betroffenheit und ohne Begeiste-rung kaum denkbar.

Der Grad, auf dem man mit Event-Veranstaltungenin einer Jugendkirche schreitet, ist jedoch schmal. Eventsdürfen nicht die alleinige Veranstaltungsform darstellen,sondern müssen Bestandteil eines Gesamtkonzeptes sein.Jugendkirche darf nicht zu einer kirchlichen Eventagenturwerden, wo Veranstaltungsprofis für Jugendliche «religiöseStrohfeuer» abbrennen, wo die alleinigen Erfolgskriteriendie Zahl der Teilnehmenden, das spektakuläre und ausserge-wöhnliche Erlebnis und die öffentliche Aufmerksamkeit sind.

3. Eine Katholische Jugendkircheim Kanton Zürich

Grundlage kirchlicher Jugendarbeit ist die im Jahr2001 verabschiedete Magna Charta der Jugendarbeit in derdeutschsprachigen Schweiz. Mit einem diakonischenVerständnis ist die Jugendarbeit Dienst der Kirche an derJugend. Das primäre Ziel ist die Begleitung bei derSubjektwerdung. Es geht dabei «um die individuelle,soziale, gesellschaftliche und religiöse Entfaltung undSelbstverwirklichung des Jugendlichen: der freie, kontakt-fähige, engagierte, kritische, selbst- und verantwortungs-bewusste Mensch.» (Synode 72 St. Fallen)

Eine Besonderheit der kirchlichen Jugendarbeit istdie mystagogische Begleitung der religiösen Identitätsfin-dung und die Anregung von religiöser Entwicklung. Dermystagogische Zugang nimmt die Tatsache ernst, dass Gottbei den Jugendlichen immer schon vor den kirchlichenJugendarbeitenden ist.

3.1. Jugendkirche: ein sozialer und spirituellerBegegnungsort für Jugendlicheund junge Erwachsene

Vorstellung

Im Mittelpunkt steht der Jugendliche mit seinenBedürfnissen. Neben religiös-spirituellen Erfahrungen sol-len Jugendliche vor allem die Erfahrung von Gemeinschaftund die Möglichkeit von zweckfreien Begegnungen mitein-ander machen können. Ausser Jugendgottesdiensten sindverschiedene Formen von religiös-spirituellen sowie jugend-kulturellen Veranstaltungen möglich wie Theater-, Musi-cal- und Konzertprojekte. Ein- bis zweimal pro Jahr findetein grösserer religiös-spiritueller Event statt. Zusätzlich

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Jugendkirche: Sozialer und spiritueller Erfahrungsort 49

gibt es regelmässig meditative Angebote. Die Jugendkirchebietet einen Treffpunkt mit festen und regelmässigen Öff-nungszeiten. Die Freizeitangebote und Kurse bedingen einegrosse Präsenzzeit der Angestellten. Das Szenario hat eineklare diakonische Ausrichtung. Jugendliche erhalten dieGelegenheit, sich in sozialen Projekten zu engagieren.

Zielgruppe

Jugendliche und junge Erwachsene bis 25 Jahren mitSchwerpunkt kirchenferne junge Erwachsene.

Primärziele

• Jugendliche/junge Erwachsene machen neue Erfah-rungen mit ihrem Leben, ihrem Glauben und derGemeinschaft der Kirche. Jugendliche/junge Erwach-sene erfahren ihren altersspezifischen Bedürfnissenentsprechend einen Zugang zu ihrer Spiritualität.

• Es gibt Räume, in denen sich Jugendliche/junge Er-wachsene begegnen und Gemeinschaft erleben können.

• Die Jugendkirche ist ein Raum zum Experimen-tieren und steht einer Vielfalt von Angeboten offen.

• Die Angebote richten sich an der Lebenswirklichkeitvon Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus.

• Das Angebot ist regelmässig und fortlaufend, so-wohl im Bereich Spiritualität als auch im Freizeit-und Jugendkulturbereich.

• Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen bringenihre Themen, Fragen, Bedürfnisse und Ideen aktiv ein.

Voraussetzungen

Angebote• Liturgische Angebote, Gottesdienste auch mit

Eventcharakter, Meditationen• Begegnungsort für Jugendliche und junge Erwachsene• Zeitlich begrenzte Projekte (Theater, Musical ...)• Angebote aus dem Bereich Religion und Spiritua-

lität, z.B. Glaubenskurs• Jugendkulturelle Angebote• Beratung in Lebensfragen

Die Jugendkirche bietet regelmässige Jugendgottes-dienste ohne Eventcharakter sowie meditative Angeboteund regelmässige Freizeit- und Kulturangebote und Kurse.Ein- bis zweimal pro Jahr findet ein grösserer religiös-spiri-tueller Event statt.

Infrastruktur• Geeigneter Raum für liturgische Anlässe und gege-

benenfalls für Events• Verschiedene grosse und kleine Räume, in denen

sich die Jugendlichen treffen und aufhalten können• Arbeitsräume für die Angestellten.• Die Einrichtung soll jugendästhetisch und funktional

sein (keine feste Bestuhlung)• Idealerweise gibt es einen Garten oder Umschwung

für sportliche Betätigung

Ideal ist ein Ort, z.B. eine Kirche oder ein Pfarrei-zentrum, der ausschliesslich den Jugendlichen zur Verfü-gung steht. Es ist auch möglich, dass die Jugendkirche einerPfarrei angeschlossen ist und mit ihr Räume und Infra-struktur teilt. Allerdings müssen die Räume jugendgerechtsein. Auch ein gewisser Freiraum ist wichtig. Denkbar sindeine Fabrikhalle, ein Schiff oder ein Zirkuszelt. Zur Infra-struktur gehört auch fest installierte moderne Technik.

Personal: Insgesamt sollen mindestens 250 Stellen-prozente zur Verfügung stehen: TheologIn, Jugendarbeiter-In, Soziokulturelle AnimatorIn mit 200 Stellenprozenten.Je nach Projekt Fachpersonen wie z.B. MusikerIn, Künst-lerIn (50 Stellenprozente).

Vernetzung

Die Jugendkirche ist weitgehend selbständig. EineVernetzung mit Pfarreien, Schulen, Jugendseelsorge, mitder Katechetischen Arbeitsstelle, Mittelschulseelsorge,Lehrlingsseelsorge, StudentInnenseelsorge und mit ande-ren Kirchen ist anzustreben.

Institutionsbezug

Der religiös-spirituelle und diakonische Bezug stehtim Mittelpunkt, ebenso das Erleben von Gemeinschaft. Derkirchliche Bezug ist sichtbar, steht aber nicht imVordergrund.

Trägerschaft

Kantonalkirche

Finanzen

Mindestens 250 Prozent Personalkosten für Theo-logInnen, JugendarbeiterInnen, Soziokulturelle Animator-Innen, KünstlerInnen.

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3.2. Mögliche Auswirkungen des Projektes

Spiritueller und sozialer Erfahrungsort

Religiös interessierte Jugendliche/junge Erwachsenekönnen auf unterschiedliche Art und Weise religiös-spiri-tuelle Erfahrungen machen. Die Spiritualität des Alltagshat einen grossen Stellenwert. Aber auch Jugendliche/jungeErwachsene, die sich eher als kirchenfern bzw. liturgischdesinteressiert sehen, finden hier einen Ort, wo sie mit ihrenFragen und Themen willkommen sind. Die Lebenssitua-tion der Jugendlichen/jungen Erwachsene wird ernstgenommen.

Zielgruppe

Eine grosse Stärke besteht darin, dass vor allemjunge Leute angesprochen werden, die gemäss der Pfarrei-umfrage der Jugendseelsorge Zürich aus dem Jahr 2002, amwenigsten in den Pfarreien integriert sind. Aufgrund dieserklar definierten Zielgruppe ist bereits eine wichtige Voraus-setzung gegeben, dass Jugendkirche sich als Ergänzung undnicht als Konkurrenz zur pfarreilichen Jugendarbeit versteht.

Ressourcen

Damit qualitativ gute Jugendarbeit geleistet werdenkann, ist es wichtig, dass die Jugendkirche mit regionalenund kantonalen Stellen wie z.B. mit der JugendseelsorgeZürich zusammenarbeitet. Dadurch werden wertvolleRessourcen und Synergien gewonnen.

Strukturen

Der grosse Freiraum und die religiös-spirituelle unddiakonische Ausrichtung kennzeichnen die grossen Stär-ken dieses Szenarios. Damit diese Stärken nicht zurSchwäche werden, braucht es klare und transparenteStrukturen (u.a. Klärung der inhaltlichen Verantwortlich-keit), klare und eindeutige Definition der Zielgruppen undein entsprechendes Raumangebot.

Profil

Die Hauptschwierigkeit besteht darin, einen gesun-den Ausgleich zwischen Event und Alltag und zwischen spi-rituellen und profanen Angeboten zu finden. Gelingt dasnicht, besteht die Gefahr der Profillosigkeit. Die Jugend-kirche muss sich deshalb immer wieder dem Anspruch stel-len, ein Ort zu sein, wo religiöse und spirituelle Erfahrun-gen gemacht werden können.

Diakonie

Das Szenario hat einen diakonischen Charakter.Darin liegt einerseits eine grosse Stärke, andererseits kannes auch zu einer Schwäche werden, dann wenn Jugendlicheaus sogenannten Randgruppen unkontrolliert die Jugend-kirche und deren Angebote zu stark prägen. Es muss des-halb ein klares diakonisches Konzept erarbeitet werden, woauch ehrlich und offen die Grenzen des diakonischenEngagements einer Jugendkirche aufgezeigt werden.

Zugang zur Kirche

Positive Erfahrungen mit der Jugendkirche ermögli-chen heutigen Jugendlichen in späteren Lebensphasen einenZugang zur Kirche.

Pfarreiliche und verbandliche Jugendarbeit

Eine erfolgreiche Jugendkirche motiviert, inspiriertund ermutigt die pfarreiliche und verbandliche Jugend-arbeit, so dass die Jugendarbeit der Pfarreien vor Ort wichtigeImpulse erhält und davon für ihre eigene Arbeit profitiert.

Signalwirkung

Die Kirche im Kanton Zürich wird aufgrund derpositiven Erfahrungen mit Jugendlichen/jungen Erwachse-nen ermutigt, vermehrt innovative spirituelle Projekte füreher kirchenkritische und kirchenferne Erwachsene anzu-bieten.

Ökumene

Die Jugendkirchen der reformierten und katholischenKirchen bieten in Zukunft viele gemeinsame Aktivitätenan. Sie nutzen erfolgreich die Synergien und fördern dieZusammenarbeit der Kirchen.

Abschliessend möchten ich den verstorbenenAachener Bischof Klaus Hemmerle zitieren. Er fasst dieAufgabe und das Ziel von heutiger kirchlicher Jugendarbeitprägnant zusammen: «Es geht heute weniger darum, dieJugendlichen zu Jesus Christus zu führen, als vielmehrdarum, sich von Jesus Christus zu den Jugendlichen führenzu lassen.» Die Jugendkirchen-Projekte greifen diesenAuftrag auf, nehmen ihn ernst und «wagen den Sprung inskalte Wasser, dabei erzeugen sie Bewegung, Wellen, ja bis-weilen sogar (positive) Unruhe in dem viel zu oft so ruhigund gemächlich dahin fliessenden Strom unserer Kirche»4.

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Literatur

www.jugendseelsorge.ch

Deutschschweizerische Fachstelle für kirchliche Kinder-und Jugendarbeit (Hrsg.) (2001): Jugend und Religion.Neue Perspektiven für die religiöse Begleitung und Bildungvon Jugendlichen in kirchlichen Handlungsfeldern. Zürich

Hobelsberger Hans, Stams Elisa, Heck Oliver, Wohlharn,Bernd (Hrsg.) (2003): Experiment Jugendkirche. Event undSpiritualität. Kevelear.

Gebhardt Winfried, Hitzler Ronald, Pfadenhauer Michaela(Hrsg.) (2000): Events, Soziologie des Aussergewöhnlichen.Opladen.

Anmerkungen

(1) Ein sehr anschaulicher Wegweiser durch die aktuelleLandschaft von Jungendkirchen findet sich bei ElisaStams in: Experiment Jugendkirche, S. 145-185. ElisaStams unterscheidet fünf Kategorien von Jugend-kirchen-Projekten, welche im deutschsprachigenRaum in den letzten drei Jahren entstanden sind.

(2) Vgl. hierzu Hans Hobelsberger.(3) Die nachfolgenden Erläuterungen orientieren sich

vorwiegend an dem Artikel von Hans Hobelsberger,Experiment Jugendkirche et al. 2003. a.a.O, S.21-34.

(4) Oliver Heck, Toleranz ist gefragt, in: HobelsbergerHans et al. 2003. a.a.O. S. 113.

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Schriftenreihe infoSekta 09/045252

streetchurch

Am 9. Mai 2004 startete die evangelisch-reformierteJugendkirche Zürich mit ihrem ersten offiziellen Gottes-dienst im Zürcher Eventlokal Kanzlei. streetchurch heisstdas Pilotprojekt, das parallel zu einem weiteren Jugend-kirchenprojekt in Winterthur von den beiden reformiertenStadtverbänden und von der landeskirchlichen Synode bisEnde 2006 bewilligt wurde. Das operative Leitungsteam inZürich unter der Leitung von Markus Giger hatte bereitsacht Monate vor dem offiziellen Start seine Arbeit aufge-nommen. Die Vorbereitungsphase war wichtig für dasProjekt - sollte doch eine Jugendkirche aus dem Nichts ausdem Boden gestampft werden. Es war eine intensive Zeitder Konzeption und Vorbereitung, der Rekrutierung vonfreiwilligen Helfern und ersten kircheninternen Probe-events. Mit dem offiziellen Start trat das Projekt in eineneue Phase - eine Phase der öffentlichen Kritik und desExperimentierens: Da war der Party-Gottesdienst imKanzlei mit der Baldingerschwester Lorena als Talk-Gast.Es folgte ein Gottesdienst mit anschliessender Live-Über-tragung des EM-Spiels Schweiz-Kroatien, und im Hinblickauf das Zürifäscht plant die streetchurch die Präsenz derevangelisch-reformierten Jugendkirche gemeinsam mit derkatholischen Jugendseelsorge in einem Zelt. Am Sonntagmorgen schliesslich findet auf der Bühne des Hiphop-Festivals am Zürifest dann der Gottesdienst unterMitwirkung von Zürcher Rappern und der Gospelgruppevon Junior Robinson aus England statt.

Ein Schritt hinein in die Erlebnisweltjunger Menschen

Das neue Gottesdienstangebot der reformiertenKirche symbolisiert einen Schritt hinein in die Erlebnisweltjunger Menschen. Mit der streetchurch will die Kirche dieProbleme und Nöte der Jugendlichen aufnehmen, aberauch ihre Sprache und ihr Lebensgefühl, um ihnen aufgleicher Ebene eine Orientierung am christlichen Glaubenanzubieten. Die Jugendlichen sollen ernst genommen wer-den und mit der streetchurch eine eigene Stimme erhalten.Hier sollen sie gemeinsam mit anderen ihren Alltag reflek-tieren und ein Stück weit auch praktische Begleitung erfahren.

Da Musik eine wichtige Rolle im Leben jungerMenschen spielt, wird sie auch in der streetchurch einenhohen Stellenwert haben. Musikalisch setzt das Leitungs-team auf Black Music (Rap, R&B und Gospel). EngeBeziehungen sind zur Zürcher Hiphop-Szene geknüpftworden. Einige Exponenten dieser Szene gehören zumKernteam der streetchurch und haben das Projekt vonAnfang an mitgeprägt. Auch von den Beziehungen zurRapschule vom NetZ4, für die sich der streetchurch-LeiterMarkus Giger seit Jahren engagiert, profitiert die street-church. So helfen nun die Rapper vom NetZ4, die Gottes-dienste der streetchurch mitzugestalten.

Als längerfristige Aufgabe hat sich das Leitungsteamzum Ziel gesetzt, mit dem Aufbau von Begleitprojekten diesoziale Kompetenz der Jugendlichen zu fördern. Die street-church will Plattformen schaffen, wo Jugendliche einengelebten Glauben mit gesellschaftsrelevanten Auswirkun-gen erfahren können.

streetchurch - in Kürze

Ausgangslage

• Jugendliche sind mit Nöten und Krisen konfrontiert• Jugendliche stellen Sinn- und Lebensfragen• Der Glaube beschäftigt Jugendliche• Das Evangelium vermittelt Identität und Orientierung• Gemeinschaft in der Kirche vermag Jugendliche zu

stärken• Jugendliche lassen sich durch die bestehenden gottes-

dienstlichen Angebote kaum mehr ansprechen

Die Reaktion der evangelisch-reformierten Kirche

• Kreditbewilligung der beiden reformierten Stadt-verbände Zürich und Winterthur für je ein Jugend-kirchenprojekt in den beiden grössten Städten desKantons

• Zürcher Synode: Beteiligung der Kantonalkirche zuje einem Drittel an beiden Projekten

Offizieller Start der evangelisch-reformierten Jugendkirche Zürich

Angelika von Lerber

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streetchurch 53

Der Projektauftrag

• Gestaltung jugendnaher Gottesdienste in den beidenStädten Zürich und Winterthur

• Zwei Pilotprojekte (2003-2006)• Projektteams mit je 120 Stellenprozenten• Projektbudgets von je Fr. 240’000.-

Lokale Verankerung der Projekte Zürich und Winterthur

Aus diesem Grund ergeben sich unterschiedliche Teambe-setzung, unterschiedliche Projekte und Konzepte undunterschiedliche Eigendynamik

Das Zürcher Projekt trägt den Namen streetchurch

Der Name streetchurch entstand aus einem Brain-storming mit dem Freiwilligenteam der ersten Stunde. DerName gibt den Geist des Projektes wieder: in der street-church werden die Kirchenmauern durchlässig gestaltet. DieKirche macht den Schritt auf die Strasse, und die Strassewird in die Kirche geholt.

Die streetchurch setzt sich folgende Ziele

• Sie ist eine Kirche für Jugendliche ab 16 Jahren• Sie ist eine Kirche mitten in der Lebenswelt der ak-

tuellen Jugendkulturen• Sie setzt sich zielgruppengerecht mit dem christlichen

Glauben auseinander• Seelsorgerische und sozial-diakonische Begleitung der

Jugendlichen• Suchtprävention

Die Haltungen und Werte der streetchurch

• einladend• mündig und engagiert• ganzheitlich und versöhnend• professionell und basisorientiert• ergänzend und ergänzungsbedürftig• selbstkritisch

Das Motto auf einen Nenner gebracht:offen - engagiert - versöhnend

Offen: Es gibt keine Bedingungen, um dabei zu sein. Jede/rJugendliche ist willkommen. Genauso frei wie er herein-kommt, soll jeder zur Tür hinausgehen können.

Engagiert: Wir wollen keine Konsumkirche sein. Die Jugend-lichen sollen sich einbringenund ihreKirche selbermitgestalten.

Versöhnend: Jugendliche erfahren Ausgrenzung in ihremAlltag oder grenzen selber andere aus. Die streetchurch willechte Begegnungen ermöglichen. Wir wollen ein StückVersöhnung leben. Versöhnung in der Horizontale, aberauch in der Vertikale.

Die Begegnung zwischen Jesus und der Frau amBrunnen als Leitidee

Jesus antwortete ihr: «Wenn du wüsstest, was Gott dirgeben will und wer dich hier um Wasser bittet, würdest dumich um das Wasser bitten, das du zum Leben brauchst.Und ich würde es dir geben.» aus Johannes 4

Jesus hat die Frau auf etwas Besseres, Höheres hingewiesen.Er hat sie dabei weder belehrt noch bedrängt, sondern istihr auf gleicher Ebene echt begegnet: «Wenn du wüsstest…»

Der streetchurch Gottesdienst

• Warm Up: Ein DJ legt Platten auf.• Rap, R&B oder Gospel: Konzertblock, in dem die

Jugendlichen sich selber mit ihren Rhymes einbrin-gen können

• Special Guest: Interview zumThema desGottesdienstes• Message: Die Kurzpredigt zum Thema• Response: Möglichkeit (z.B. ein symbolischer Akt, ein

gemeinsam gesprochenes Gebet), um auf das Gehörtezu reagieren

• Prayer & Blessing: Der Segen vom Pfarrer oder voneinem externen Gast

• Chillout: Herumhängen, Gespräche, Kontaktmög-lichkeit

Die streetchurch Gottesdienste 2004

9. Mai Offizieller Startschuss im Kanzlei13. Juni Gottesdienst mit EM-Live Übertragung

im Kanzlei2.-4. Juli streetchurch-Zelt am Zürifäscht4. Juli Brunch und Gottesdienst am Zürifäscht

(mit der katholischen Jugendseelsorge)26. September Eröffnungsgottesdienst im St. Jakob17. Oktober Gottesdienst im St. Jakob21. November Gottesdienst mit Jugendlichen aus

Bogotà in Zusammenarbeit mit HEKS

Die Begleitangebote

Ganzheitliche Wahrnehmung der körperlichen, seelischenund geistlichen Bedürfnisse der Jugendlichen in Workshopsund Einzelbegleitung.

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streetchurch54

Die streetchurch Party

• echte Alternative zur üblichen Partyszene• Zusammenarbeit mit Eventveranstalter• professionelle Party mit Top-DJs• kein Alkoholausschank, Rauchverbot

Das Freiwilligenteam

• Wir bauen auf freiwillig Mitarbeitende in den Berei--

chen Musik, Technik und Begleitung.• Wir motivieren Jugendliche zur aktiven Mitarbeit

gemäss ihren Begabungen.• Wir pflegen Kontakte zu professionellen Personen

aus der Musik- und Jugendszene und binden diesein unser Projekt ein.

Vernetzung nach aussen

• Kontakte und Nutzung von Synergien mit hiphop.ch,Rapschule vom NetZ4, Roundabout

• Bühne frei für Jugendliche ohne Glaubenserfahrung• EM-Live-Übertragung• Präsenz am Zürifäscht• Gewaltspräventionsprojekt anZürcherGZs und Schulen

Herausforderungen: Wo wir heute stehen

• Hohe Ziele versus beschränkte Ressourcen• Projekt statt Kirche: es fehlt die Gemeindebasis• Freiwilligenteam muss im Moment nur liefern,

fehlende Betreuung• Anziehungspunkt für Sozialfälle und Jugendliche

mit Schwierigkeiten, die ungenügend betreut werdenkönnen

Zukunftsträume und mögliche Lösungsansätze

• Ein Begegnungszentrum für Jugendliche, wo sie ganz-heitlich betreut werden können

• Eine gesicherte Mitarbeiterbasis• Stärkere Vernetzung mit den lokalen Kirchgemeinden

Schlusszitat

Ohne Träume verhungern Visionen.Ohne Visionen finden sich keine Ziele.Ohne Ziele gibt man auf, bevor man angefangen hat.(W. Pechtl)

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Sonja Friesslic.phil; Sozialarbeiterin und Religionswissenschaft-

lerin; Mitarbeiterin von infoSekta/Fachstelle für Sektenfragen.

Daniel HellProf. Dr. med.; Ordinarius für Klinische Psychiatrie

und Klinischer Direktor an der Psychiatrischen Universi-tätsklinik Zürich. Buchpublikationen u.a.: Welchen Sinnmacht Depression? Ein integrativer Ansatz (10. Auflage2004); Die Sprache der Seele verstehen. Die Wüstenväterals Therapeuten (5. Auflage 2004); Seelenhunger. Derfühlende Mensch und die Wissenschaften vom Leben(2. Auflage 2003).

Markus HolzmannDipl. Theologe; Stv. Stellenleiter der Jugendseelsorge

Zürich/Kath. Arbeitsstelle für Jugendarbeit und Jugend-beratung; Schwerpunkte u.a.: Jugendpastoral, ProjektJugendkirche; Mitverfasser des Schlussberichtes der Projekt-gruppe Jugendkirche im Kanton Zürich (2003).

Michael KrüggelerDr. theol.; Projektleiter am Schweizerischen Pasto-

ralsoziologischen Institut SPI, St. Gallen; Mitarbeit anverschiedenen empirischen Studien zur Religion in derSchweiz; Vorstand Forschungskomitee «Religionssoziologie»der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie; zahlreichePublikationen, u.a.: Deinstitutionalisierung der Kirchen-religion. Religiöse Orientierungen in der Schweiz (2001).

Ralph KunzProf. Dr. theol.; Professor für Praktische Theologie

am Theologischen Seminar der Universität Zürich;Forschungsschwerpunkte: Interreligiöser Unterricht,Gemeindeaufbau, Liturgik und Homiletik; Publikationen,u.a.: Gottesdienst evangelisch reformiert; Der christlicheGottesdienst als religiöse Inszenierung.

Angela von LerberEidg. dipl. PR-Beraterin BR/SPRGmit eigener Agentur.

Kommunikationsverantwortliche für die evang.-ref. Jugend-kirche Zürich (www.streetchurch.ch). Langjährige Erfah-rung in Marketing und Kommunikation in Wirtschaft,Kultur und Non-Profit-Organisationen.

Matthias MettnerSozialwissenschaftler (Soziologie, PolitischeWissen-

schaften, Wirtschaft) und Theologie; Mitglied der Leitungund Studienleiter der Paulus-Akademie Zürich; verant-wortlich u.a. für die Themenschwerpunkte ‚InterreligiösesGespräch’, ‚Sekten, Psychogruppen, vereinnahmende Bewe-gungen’, ‚Palliative Care, medizinische Ethik und Fragender Gesundheitspolitik’; Co-Präsident von infoSekta/Fachstelle für Sektenfragen; zahlreiche Publikationen zumedizinisch-ethischen, gerontologischen und theologischenFragen.

Georg Otto SchmidReligionswissenschaftler und Theologe; Mitarbeiter

der Evangelischen Informationsstelle Kirchen – Sekten –Religionen; www.relinfo.ch; Mitverfasser des Nachschlage-werkes «Kirchen, Sekten, Religionen. Religiöse Gemein-schaften, weltanschauliche Gruppierungen und Psycho-Or-ganisationen im deutschen Sprachraum» (2003).

Susanne SchaafLic. phil.; Psychologin; Mitbegründerin und

Geschäftsleitung infoSekta/Fachstelle für Sektenfragen,Zürich/www.infosekta.ch; Forschungsleitung am Institutfür Suchtforschung ISF Zürich mit Schwerpunkten statio-näre Suchttherapie und Qualitätssicherung. Publikationenu.a. zusammen mit Dieter Sträuli die Tagebuch-Erzählung«Sekten» für Jugendliche (1999, sjw).

Schriftenreihe infoSekta 09/04 55

Autorinnen und Autoren

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Schriftenreihe infoSekta 09/0456

Wer wird sind

infoSekta ist eine Fachstelle für Fragen im Zusam-menhang mit «Sekten» und verwandten Phänomenen. DerVerein wurde im Frühjahr 1990 unter Federführung desSozialamtes der Stadt Zürich gegründet und ist breit abge-stützt auf Fachleute aus den Bereichen Recht, Psychologie,Soziologie, Psychiatrie, Sozial- und Jugendarbeit, Erwach-senenbildung, Religionswissenschaften und Medien.

infoSekta informiert und berät Personen, die direktoder indirekt mit dieser Thematik konfrontiert werden.Die Fachstelle wahrt die Interessen und den Persönlich-keitsschutz des Ratsuchenden. infoSekta ist konfessionellunabhängig, was bei dieser Thematik für viele Betroffenebesonders wichtig ist.

Was wir wollen

Ziel von infoSekta ist es, Transparenz zu problema-tischen Gruppen und deren Wirken zu schaffen. DieEinschätzung einer Gruppe stützt sich auf kritische Ana-lysen, Erfahrungen von Betroffenen und das Selbstver-ständnis der Gruppe. Die Religionsfreiheit ist durch diegeltende Rechtsordnung geschützt, die Gesetze müssenauch von den besagten Gruppen eingehalten werden. Wodies nicht geschieht oder manipulative, unfaire Mittel ein-gesetzt werden, ist Kritik erlaubt und notwendig.

Warum es uns braucht

Sekten sind ein soziales Phänomen. Die Ursachenund Auswirkungen sind vielschichtig und komplex. Vordem Hintergrund einer sich immer rascher wandelndenGesellschaft, deren Dynamik für den Einzelnen schwierigzu durchschauen ist, werden Sekten und unseriöseAnbieter in Zukunft zunehmend auf dem Markt derLebenshilfe und Sinnstiftung aktiv sein. An dieser Stellesind Fachkompetenz und Konsumentenschutz gefragt.

Was wir bieten

infoSekta engagiert sich in den Bereichen Informa-tion, Beratung, Prävention und Öffentlichkeitsarbeit sowieFortbildung. Unabhängige, fundierte und aktuelle Infor-mation ist uns wichtig. Betroffene und Angehörige,Fachleute und Interessierte finden bei uns Gehör.Wir klärenauf, sensibilisieren für Risiken und Gefahren. Gerne sendenwir Ihnen unsere ausführliche Angebotsliste.

Wie Sie uns erreichen

telefonischTelefon 044 454 80 80

Dienstag 17.00–19.00hDonnerstag 9.00–11.00h

schriftlichinfoSekta, Postfach, 8055 Zürich

Telefax 044 454 80 82E-Mail [email protected]

persönlich (nach Vereinbarung)infoSekta, Birmensdorferstr. 421, 8055 ZürichTram 14 ab Zürich HauptbahnhofRichtung Triemli, Haltstelle Schaufelbergstrasse

infoSekta - Fachstelle für Sekten- und Kultfragen

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ISBN 3-9522971-0-0

«Die heutige Erlebniskultur zeigt,dass Menschen einen Hungernach Seelischem haben. Sie wirdaber zur Gefahr, wenn siedazu dient, der Unzufriedenheitden Stachel zu nehmen.»

Daniel Hell