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Alemannia Aachen im Dritten Reich RENÉ ROHRKAMP INGO DELOIE spielt längst nicht mehr.“ Und Salomon

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Alemannia Aachen im Dritten Reich

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Anfang der 1930er Jahre begeisterten Max Salomon und Reinhold Münzenberg die Fans am Aachener Tivoli. Nationalspieler Münzenberg wurde im Dritten Reich zum größten Fußballstar der Kaiserstadt; der Jude Max Salomon suchte vergeblich Zuflucht im benachbarten Ausland und starb 1942 auf dem Weg nach Auschwitz. Erstmals wird die Geschichte der Aachener Alemannia in der NS-Zeit ausführlich geschildert und die Schicksale ihrer jüdischen Mitglieder sowie die Rolle ihrer Funktionäre im Zuge der Gleichschaltung nachgezeichnet.

ISBN 978-3-7307-0391-5VERLAG DIE WERKSTATT

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René Rohrkamp und Ingo Deloie

„Und Salomon spielt längst nicht mehr…“Alemannia Aachen im Dritten Reich

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VERLAG DIE WERKSTATT

René Rohrkamp und Ingo Deloie

„Und Salomon spielt längst nicht mehr…“

Alemannia Aachen im Dritten Reich

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Copyright © 2017 Verlag Die Werkstatt GmbHLotzestraße 22a, D-37083 Göttingenwww.werkstatt-verlag.deAlle Rechte vorbehalten.Satz und Gestaltung: Die Werkstatt Medienproduktion GmbH, GöttingenDruck und Bindung: CPI, Leck

ISBN 978-3-7307-0391-5

Mit Unterstützung von

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Inhalt„Spielt am Sonntag unser Fußballklub“ – ein Vorwort ................................................... 7

Einleitung ..........................................................................................................10

Forschungsstand und Fragestellung .........................................................................11

Quellen und Methode .............................................................................................. 20

Vom Hin- und Wegsehen ......................................................................................... 23

„Sie sollen nicht vergessen werden, solange es noch eine Alemannia gibt“: von der Vereinsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkrieges ..................................25

„Jeder muss lernen sich einzugliedern und seine Pflicht zu tun“: die Weimarer Zeit im Spiegel der Vereinszeitung .....................................................35

Der Stadionausbau und das Ende der Besatzungszeit .............................................. 43

Reinhold Münzenberg und Max Salomon ................................................................ 49

Anpassung durch Selbstaufgabe: Der Übergang in das Dritte Reich .............................56

Die Neuordnung des Sports im Dritten Reich ........................................................... 56

Tun, was verlangt wird: die Gleichschaltung der Alemannia ...................................... 66

Einflussreiche Repräsentanten der Aachener Nationalsozialisten in der Alemannia ........................................................ 70

Karl Molls überraschende Rückkehr an die Vereinsspitze .........................................77

Fanatiker, Mitläufer, Opportunisten, Alemannen: Sozialprofil der Vereinsmitglieder ........80

Beschreibung der Datenbasis .................................................................................. 80

Statistische Auswertung und Analyse ....................................................................... 83

Das Altersprofil .............................................................................................83

Mitgliedschaften in NS-Organisationen ............................................................84

Mitgliedschaften in NS-Organisationen in der Ehrenlistenstichprobe ....................86

Berufe ........................................................................................................ 87

Die räumliche Verteilung der Mitglieder auf das Stadtgebiet ...............................88

„Infolge der Zeitrichtung“: die Ausgrenzung der jüdischen Mitglieder ...........................90

„Wir müssen auf den Führer sehen, Kameraden!“: Propaganda und Politik im Alltag des Vereins .......................................................... 97

Alemannia Aachen und die Hitlerjugend (HJ): ein Exkurs ...................................... 106

Die Hitlerjugend in Aachen ..........................................................................106

Die Hitlerjugend und der Sport .....................................................................108

Erfolge und Niederlagen: die sportliche Entwicklung bis zum Kriegsbeginn und die Organisation des Spielbetriebs während des Zweiten Weltkrieges .............. 118

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„Der Pflicht bis zum Äußersten nachkommen“: der Zweite Weltkrieg .......................... 121

Präsident der Alemannia und Bürgermeister in Malmedy: Ferdinand Wiebecke ..... 125

Der alemannische Fußballsport im Zweiten Weltkrieg ..............................................131

Von den Rheinwiesen bis Auschwitz: biographische Skizzen .................................. 136

Entnazifizierung und sportlicher Neubeginn: die Nachkriegszeit ............................... 147

Die Entnazifizierungsverfahren ............................................................................... 153

Tradition verpflichtet: Schlussbetrachtungen ..........................................................165

Anhang ...........................................................................................................179

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„Spielt am Sonntag unser Fußballklub“ – ein Vorwort

Dieses Buch ist das Ergebnis einer langen Reise, die 2004 in einem RWTH-Büro mit der Frage begonnen hat, wie unser Verein, Alemannia Aachen, mit seinen jüdischen Mitgliedern umgegangen ist. Seit diesem Zeitpunkt begleitete uns unser Projekt über zehn Jahre lang – und wuchs sowohl konzeptionell als auch inhaltlich. Aber wie es bei solchen Projekten oft ist, es spielte angesichts vielfältiger familiärer und beruflicher Entwicklungen und in jeder Hinsicht wachsender Verpflichtungen immer ein wenig die zweite Geige. Umso mehr freuen wir uns, dass unsere Arbeit, die sicherlich an mancher Stelle Ausgangspunkt für weitere Forschungen sein kann, abgeschlossen ist.

Dieses Projekt hat uns persönlich in Archive nach Aachen, Berlin, Brüssel, Eupen, Freiburg/Breisgau und Köln geführt, mit einigen anderen haben wir schriftlich korre-spondiert. Und in der Zeit, in der die Alemannia 2004 ins DFB-Pokal-Finale ein- und durch Europa zog, 2006 in die Bundesliga hinaufstürmte, 2007 mit 34 Punkten, die sonst immer für den Klassenerhalt gereicht hatten, wieder in die gefühlte fußballerische Heimat, die Zweite Bundesliga abstieg, mit einer nominell starken Mannschaft 2012 den Gang in die Dritte Liga antreten musste und nach der kurz danach beginnenden ersten Insolvenz 2013 sogar in die Regionalliga abstürzte, eine zweite Insolvenz durchlebte, in all dieser Zeit gingen unsere Forschungen mal langsamer und mal schneller voran.

Auf diesem Weg haben uns viele Menschen begleitet und geholfen, bei denen wir uns bedanken wollen: Zuerst bei unseren Familien, die uns bei diesem Projekt immer unterstützt haben und dabei viele Stunden auf uns verzichten mussten!

Einer der ersten, der uns sofort half und der auch dafür gesorgt hatte, dass die Vereinszeitung bis heute existiert, war der damalige Archivar der Alemannia und mittlerweile leider verstorbene Willi Sieprath. Sein Nachfolger Lutz van Hasselt hat uns nicht weniger unterstützt und uns als wandelndes Alemannia-Lexikon auf ver-schiedene Zahlen, Daten und Fakten hingewiesen!

Die Alemannia selbst hat dem Projekt unter verschiedenen Geschäftsführungen – unser erstes Gespräch hatten wir noch mit Frithjof Kraemer – immer wohlwollend gegenübergestanden.

Die Familie Münzenberg hat sich bei mehreren Kontaktaufnahmen viel Zeit für uns genommen, bereitwillig Einblicke in die familiäre Sammlung gewährt und ihrer Nutzung freimütig zugestimmt, weshalb eine reichhaltige Bebilderung vorliegt.

Auch Michel Pfeiffer durften wir interviewen. Der Besuch bei ihm ist uns wegen seiner unnachahmlichen Art und seinem großen Herzen in guter Erinnerung geblieben!

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Neben Willi Sieprath sind noch einige weitere direkte und indirekte Zeitzeugen, mit denen wir in den letzten 13 Jahren gesprochen haben, inzwischen von uns gegangen:

Dem Ehepaar Neußl, das wir im August 2007 in seiner Wohnung in der Turpin-straße interviewen durften, danken wir für einen Nachmittag, den wir beide nicht vergessen haben und an den wir gerne zurückdenken. Danke für das „Cognäckschen“, Frau Neußl!

Leo Führen, bis zu seinem Tod Ehrenringträger der Alemannia, hat uns, auch wenn er in der für uns entscheidenden Zeit der Alemannia-Geschichte noch zu jung war, herzlich empfangen und bereitwillig Auskunft über sein Leben gegeben.

Dankenswerterweise hat auch der 2011 verstorbene Rolf Levy mit uns sein detail-reiches Wissen über die Alemannen aus seiner Haarener Familie geteilt.

Auch möchten wir den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der verschiedenen Archive und Gedenkstätten danken, die uns mit ihren Auskünften und Recherchen kenntnisreich unterstützt haben. Herausheben möchten wir Els Herrebout vom Staatsarchiv in Eupen (B) mit ihrem Team und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Stadtarchiv Aachen, vor allem Angelika Pauels und Friederike Tiedeken.

Gedankt sei auch unserem Freund Peter Quadflieg, der uns nicht nur mit seinem wissenschaftlichen Rat und seinem Interesse als Alemanne unterstützt hat, sondern uns auch tatkräftig bei der Sichtung von Massenakten half.

Prof. Dr. Paul Thomes vom Lehr- und Forschungsgebiet Wirtschafts-, Sozial- und Technologiegeschichte der RWTH Aachen hat mit seiner Personalpolitik dafür gesorgt, dass wir uns kennengelernt haben und das Projekt bereits früh wohlwollend begleitet. Seine aktuelle Doktorandin Lena Knops hat mit uns ihr Wissen über die Arisierungen in der Aachener Tuchindustrie geteilt und stand uns für einen kon-struktiven wissenschaftlichen Austausch zur Verfügung.

Hasan Güdücü, RWTH Aachen, danken wir für seine Kameraaufnahmen bei Zeitzeugeninterviews.

Hilfreiche Hinweise gab uns auch Prof. Dr. Dietfrid Krause-Vilmar von der Uni-versität Kassel.

Christoph Löhr hat uns wegen des Buches auch immer wieder angetippt und das Manuskript dankenswerterweise kritisch gelesen; Wolfram Esser hat sich selbstlos bereit erklärt, das Layout des Buchcovers beizusteuern, wodurch uns ein großer Stein vom Herzen gefallen ist!

Darüber hinaus sei gedankt: Manuela Wyler von jewishtraces.org, dem Gedenk-buchprojekt Aachen, Ulrich Flecken vom Stadtarchiv Stolberg, Martin Birmanns und Reiner Bimmermann für erhellende Auskünfte.

Für uns war es auch wichtig, einen Verlag zu finden, der dieses Buch in einer Weise herausgibt, die unser Engagement in angemessener Weise widerspiegelt: Der Verlag „Die Werkstatt“ mit Christoph Schottes hat sich schon nach der ersten Kon-

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taktaufnahme sehr um uns und das Buch bemüht. Hardy Grüne und Lorenz Knie-riem danken wir für das hervorragende Lektorat!

Georg Mölich vom LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte danken wir für das Interesse an diesem Projekt und die Unterstützung zur Finanzie-rung der Druckkosten.

Widmen möchten wir dieses Buch unseren Kindern: Louise, Stella und Sami! Vielleicht verstehen Sie irgendwann, wenn sie dieses Buch einmal in den Händen halten, warum unser Herz so sehr für diesen Verein schlägt und was uns dazu bewegt hat, einige Zeit unseres Lebens mit diesem Thema zu verbringen.

Und es wird mehr Zeit dazukommen, noch mehr Erlebnisse… im neuen Sta-dion an der Krefelder Straße, sehr gerne zusammen mit Euch, mit neuen Helden in Schwarz-Gelb, zwischen Hoffen und Bangen, Verzweiflung und Freude … die Hoff-nung stirbt ja bekanntlich zuletzt! So lange es noch eine Alemannia gibt – nur der TSV!

Im Dezember 2017

Ingo Deloie und René Rohrkamp

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„Sie sollen nicht vergessen werden, solange es noch eine Alemannia gibt“: von der Vereinsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkrieges

Die Gründung des FC Alemannia77 Aachen im Jahr 1900 durch 18 Schüler78 des Kaiser-Wilhelm-Gymnasiums, des Realgymnasiums und der Oberrealschule79 wird heute in den immer wieder erscheinenden Jubiläumsschriften und Chroniken eher beiläufig zur Kenntnis genommen.80 Doch ein näherer Blick lohnt sich, verrät er doch viel über den damaligen Stellenwert des Fußballs und die Gründung eines der später bedeutendsten Fußballvereine Westdeutschlands.81

Im Herbst 1899 hatte sich in den Mittelklassen des Realgymnasiums ein Fußball-klub gegründet, der den Namen „Aquisgranum“ annahm und auf dem Burtscheider Neumarkt seine ersten Spiele austrug. Zu dem Schülerverein stießen schnell verschie-dene Nichtschüler, und gemeinsam verließen sie bald Burtscheid als Spielstätte. Sie kickten nun auf dem Marienthaler Kasernenhof an der Franzstraße, wo sie auf den Fußballklub der Oberrealschule trafen. Zu Pfingsten 1900 gründeten die Angehörigen der beiden Schülermannschaften die sogenannte Schülerspielvereinigung, die unter Aufsicht einmal wöchentlich auf dem Kasernenhof trainierte. Dieser neue Verein hatte 25 Mitglieder, einer seiner Spielführer war das spätere Gründungsmitglied der Alemannia, Josef Emunds. Aus der Schülerspielvereinigung ging nur wenige Monate später die Alemannia hervor. Im Verlauf des Jahres 1900 wurde immer am Samstag-abend gespielt. Nachdem die Schulen lange Widerstand geleistet hatten, konnte das erste Wettspiel erst am 4. November 1900 ausgetragen werden. Gegen eine kombi-nierte Mannschaft aus Aachener TV und Aachener FC gewann die Schülermannschaft mit 12:1. Die Schüler hatten nun Blut geleckt. Um ungestört von der Einflussnahme der Schulen weitere Wettspiele austragen zu können, wurde die Verbindung zu jenen gelöst. Anfang Dezember 1900 nannte sich die Schülerspielvereinigung „Fußballclub Alemannia Aachen“. Der anfangs 18 Mitglieder zählende Verein nahm eine Satzung an, die auch die Aufnahme von Nichtschülern gestattete. Der erste Vorstand bestand aus Oktav Spennrath (1. Spielführer), Josef Emunds (2. Spielführer) und W. Ulmke (Kassierer).82

Die Gründungsmitglieder waren: F. Consten, W. Courté, N. Creutz, J. Emunds, C. Förster, Heckmanns, F. Jacobs, H. Kaatzer, M. Lösch, L. Müller, Schaffrath, O. Spenn-rath, von Streit, van Regteren, W. Ulmke, Voss, H. Wagner und J. Wollgarten. Der Jahresbeitrag betrug 3,60 Mark. Die erste Spielkleidung bestand aus weißen Hemden

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und Hosen, weil der damalige FC Aachen bereits die Stadtfarben trug. Das erste Spiel unter dem neuen Namen fand am 16. Dezember 1900 statt: Auf dem Gelände des Marienthaler Kasernenhofs trat erstmals eine Alemannia-Elf an, die den FC Dolhain mit 6:0 besiegte.83 Schon Mitte 1901 musste der Verein das Kasernengelände aller-dings verlassen. Einige Jahre spielte man im Zoologischen Garten auf dem Gelände des heutigen Westparks. Erst ab dem Frühjahr 1904, als der Klub seine Spielstätte vom Sportplatz im Zoologischen Garten zum Waldspielplatz bei Siegel verlegte, wurden die charakteristischen schwarz-gelb gestreiften Trikots sowie schwarze Hosen als Spiel-kleidung eingeführt. Auf dem Waldspielplatz setzte eine positive Entwicklung ein:

„Von nun an wohnte ein starkes, aufmerksames Publikum unseren Spielen bei, und mancher begeisterte Zuschauer ließ sich als Mitglied oder Spielfreund aufnehmen.“84

Fußballplatz am Aachener Stadtwald, vor 1910 (StAAC, Fotosammlung, XVIII.2).

Die Schülervereinigung von 1900: v. l. n. r., stehend: Bräuler, N. Creutz, Jacobs, Emonts, J. Wollgarten, Nellessen, Heck-manns, Josef Emunds, Peter Müller, K. Foerster, Bossen, Riechard, Wagner, Kassner, Gatzweiler; sitzend: Roolf, Loesch, Kaatzer.

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Im Frühjahr 1905 wurde die Jugendabteilung gegründet. Bis dem Verein 1925 das später als Tivoli bekannte Gelände85 an der Krefelder Straße von der Stadtverwaltung endgültig zugesprochen wurde,86 fanden auch auf folgenden Aachener Sportplätzen Spiele der Alemannia statt: Kasernenhof, Zoologischer Garten im Westpark, Wald-spielplatz, Neuenhof, Stolberger Straße, Martellerhof und Siegeler Platz.87

Die Gründungsmitglieder legten den Grundstein für die Vereinskultur der fol-genden 45 Jahre sowie für die Art und Weise, wie das Individuum als Teil der Gemein-schaft zum Sport und zum Vereinsleben stand. Und viele der Personen, die den Verein gegründet hatten, gehörten auch Anfang der 1930er-Jahre noch zu seiner Führungs-riege. Der soziokulturelle Hintergrund, dem die Vereinsmitglieder der ersten Stunde hauptsächlich entstammten, kann – ausgehend von ihrer Herkunft und ihren Aktivi-täten in den folgenden Jahren – nur als bürgerlich bzw. bildungsbürgerlich bezeichnet werden.88 Das deutsche Bürgertum machte zu Beginn des 20. Jahrhunderts insgesamt nur ca. 15 % der deutschen Bevölkerung aus. Zu ihm zählten neben „klassischen“ Bil-dungsbürgern und Unternehmern auch andere Selbständige, Händler, Handwerker, Angestellte und die Subalternbeamtenschaft.89 Die Bürgerlichkeit der Vereinsmit-glieder spricht aus vielen Artikeln der Vereinszeitung. Vor allem die Beschreibungen

Fußballplatz im Zoologischen Garten von Aachen, vor 1914 (StAAC, Fotosammlung, XIX).

Alemannia im Zoologischen Garten, 1902; obere Reihe: K. Foerster, Jansen, M. Breuer, L. Müller, H. Wollgarten, Krauß, Schuma-cher, Effer, Didillon; mittlere Reihe: F. Cons-ten, Courté, J. Wollgarten, Kalff, Wernerus, Lebrun, Bonten, Jacobs, K. Wesche; untere Reihe: Peter Müller, A. Wagner, O. Spenn-rath, Josef Emunds, F. Foerster, Blum.

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der verschiedenen Vereinsfeiern90 verdeutlichen den Stellenwert, den Kulturelles im Vereinsleben einnahm: Fester Bestandteil der Feiern waren Klaviervorträge ein-geladener Künstler oder Darbietungen von Vereinsmitgliedern, Reden, Tänze oder der Vortrag von oft auch selbst verfassten Gedichten und Liedern.91 Darüber hinaus führte die Alemannia eine kleine vereinseigene Bibliothek.92

In der bürgerlichen Mentalität hatten die Reichsgründung 1871 und die damit ver-bundenen Aufstiegsmöglichkeiten in Verwaltung und Bildungswesen einen hohen Iden-tifikationsgrad mit dem neuen deutschen Staat geschaffen.93 Dieses Verhältnis schuf eine traditionelle Staatsnähe im deutschen Bürgertum, die mit einem mehr oder weniger stark ausgeprägten neuhumanistischen Bildungsbewusstsein gepaart war, das Lernen als lebenslangen Prozess ansah.94 Hinzu trat die Überzeugung breiter bürgerlicher Kreise, dass ein gesunder Körper die Basis für psychische Gesundheit bilde. Es gab im deutschen Bürgertum zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine generell erhöhte Sensibilität für Sport-arten, die die Physis stärkten95 und am Leistungsprinzip ausgerichtet waren. In den bür-gerlichen Schichten des Kaiserreiches entstand eine größere Bereitschaft zur Ausübung englischer sports, die sich im Gegensatz zum deutschen Turnen nicht an politischen Zielen orientierten: „Englischer Sport förderte individuelle Eigenschaften, staffelte sich in verschiedene Leistungsklassen und verbuchte Rekorde – all dies galt für das Deutsche Turnen nicht.“96 Die frühe Gründung von Alemannia Aachen als reiner Fußballverein im traditionell dem Turnsport und dem Handball zugewandten Kaiserreich spiegelte somit gesellschaftliche Tendenzen wider. Die durch die Industrielle Revolution deutlich spür-barer gewordene Nähe zu den Niederlanden, Belgien, Frankreich und letztendlich auch England mag einen weiteren Beitrag zu einem relativ schnellen Transfer des neuen Sports bis in den äußersten Westen des Deutschen Reiches geleistet haben.

Die Vereinszeitung, die als vereinsinternes Kommunikationsmedium die Sprache der Alemannen sprach, ist ein Spiegel des gesellschaftlichen Milieus, aus dem der Großteil der Vereinsmitglieder vor dem Ersten Weltkrieg stammte. Die politische Grundhaltung derer, die den Verein prägten, wird schon in den frühesten überlie-ferten Ausgaben deutlich, in denen immer wieder über die Militärdienste einzelner Mitglieder berichtet wurde, die der Verein zu ihren Beförderungen97 beglück-wünschte.98 Neben diese Initiationen in ein von gesellschaftlichen Leistungen99 und Pflichten geprägtes Umfeld traten die bildungsbürgerlichen Meriten, die sich die Mitglieder durch ihre akademischen Abschlüsse verdienten. Auch diese Meldungen finden sich bereits früh.100 Angesichts der Tatsache, dass um die Jahrhundertwende nur ein bis zwei Prozent der Schüler ihr Abitur ablegten – in größeren Städten lag der Anteil allerdings höher – und das Bildungsbürgertum 70-80 % der Abiturienten stellte,101 ist es, um den Charakter des Vereins zu beschreiben, umso wichtiger, noch einmal festzuhalten, dass 1901/02 fünf Studenten und fünf Schüler höherer Bildungs-anstalten in der Ersten Mannschaft spielten:102 Der FC Alemannia war ein Verein der gesellschaftlichen Eliten bzw. ihrer Sprösslinge.

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So kann der Fußball zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei Alemannia Aachen als rundum bürgerliches Spiel verstanden werden. Dies war auch dahingehend bedeu-tend, weil es einer speziellen Ausrüstung bedurfte, die gekauft werden musste, sowie freier Zeit, die zum Training und für die Wettbewerbsspiele aufgewendet werden konnte. Ein lederner Fußball aus deutscher oder englischer Produktion kostete in den 1890er-Jahren zwischen acht und 20 Mark, ein Satz Sportkleidung, bestehend aus Trikot, Hose, Stutzen und Fußballstiefeln, ebenfalls ca. 20 Mark.103 Bei einem durchschnittlichen Facharbeiter-Wochenlohn von 30 bis 40 Mark war dies eine spürbare Ausgabe.104 Solche Kosten in Verbindung mit der Tatsache, dass es neben Angehörigen der bürgerlichen Schicht hauptsächlich Angestellte waren, die sich Ausgaben wie diese leisten konnten und zudem die notwendige Freizeit hatten, um dem Fußball nachzugehen,105 trafen eine gewisse gesellschaftliche Vorauswahl der Vereinsmitglieder. Der Verein selbst sagte zwar in bester bürgerlicher Haltung von sich, er stünde ausdrücklich Neumitgliedern aus allen gesellschaftlichen Schichten offen.106 Diese normative Aussage entsprach aber nicht seiner Handlungsweise bzw. der gesellschaftlichen Realität. Für sein Selbstverständnis spricht vielmehr ein Aufruf aus dem Jahr 1910, dass der Nachwuchs für den Verein doch in den höheren Lehran-stalten geworben werden solle.107 Alemannia Aachen war nun einmal ein bürgerlich geprägter Verein und lebte dies auch.

Am 3. Januar 1906 wurde der „Fußballclub Alemannia Aachen“108 auf der Grundlage von §21 des Bürgerlichen Gesetzbuches vom Königlichen Amtsgericht 5 in Aachen in das Vereinsregister aufgenommen. Hierzu hatte der Verein seine Sat-zungen, ein Mitgliederverzeichnis und einen Auszug aus dem Protokollbuch des Vereins vorgelegt, der nachwies, dass die Anmeldung durch den regulären Vereins-vorstand erfolgt war. Eingereicht hatte die Unterlagen der damalige Clubvorsitzende, Kurt Pfeiffer, am 7. Dezember 1905. Pfeiffer bat das Gericht auch um einen Termin, an dem der Vorstand, wie damals üblich, vor dem Amtsgericht erscheinen und die Ein-

Alemannia I im Jahre 1900; v. l. n. r., stehend: Wagner, Heckmanns, K. Foerster; kniend: Kaatzer, Schaffrath, J. Wollgarten; sitzend: van Regteren, Josef Emunds, O. Spennrath, Courté, von Streit.

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Anpassung durch Selbstaufgabe: Der Übergang in das Dritte Reich

Nachdem Adolf Hitler von Reichspräsident Paul von Hindenburg am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt worden war, gelang es der von ihm geführten National-sozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) in einem „Prozess der umfas-senden Machteroberung“256 den gesellschaftlichen Pluralismus der Weimarer Repu-blik vollständig aufzuheben. Diese Entwicklung erfasste auch den Sport. Die größte Dynamik ging dabei weniger von führenden Vertretern der NSDAP, sondern von den bürgerlichen Sportverbänden aus, zu denen auch der DFB und die ihm ange-schlossenen regionalen Verbände gehörten. In vorauseilendem Gehorsam suchten sie durch vermeintliche Zugeständnisse an das neue Regime ihre Existenz und eine gewisse Unabhängigkeit langfristig zu sichern. Viele Vereine sahen sich innerem und äußerem Druck ausgesetzt, der je nach Verbandszugehörigkeit variieren konnte. Oftmals blieben Handlungsspielräume im Umgang mit Mitgliedern, die zu den von den Nationalsozialisten verfolgten Minderheiten gehörten, und zur Wahrung größt-möglicher Eigenständigkeit ungenutzt. Wie der Verein Alemannia Aachen auf die neuen politischen und sportpolitischen Entwicklungen reagierte, wie er den Prozess der Gleichschaltung erlebte und wie er mit seinen jüdischen Mitgliedern umging, lässt sich nur dann richtig verstehen, wenn die Entwicklung auf der Vereinsebene mit dem Geschehen auf der Ebene der Verbände verknüpft wird, denen die Alemannia als Mitglied angehörte. Hierbei empfiehlt es sich, zunächst die Entwicklung in den jeweiligen Verbänden nachzuvollziehen, da die dort getroffenen Entscheidungen die nachgeordnete Entwicklung in den Vereinen maßgeblich beeinflussten.

Die Neuordnung des Sports im Dritten Reich

Der Pluralismus der Weimarer Gesellschaft lässt sich auch an der politisch, ideolo-gisch und konfessionell zersplitterten Sportbewegung dieser Zeit ablesen. Die Aus-grenzung der Arbeiter aus den bürgerlichen Sportvereinen257 und antisemitische Tendenzen innerhalb der Gesellschaft hatten bereits in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts eine Aufspaltung des Sportverbandswesens herbeigeführt, die bis in die Spätphase der Weimarer Republik fortdauerte und deren gesellschaftliche und politische Konfliktlinien widerspiegelte.

Zum organisierten Sport gehörten ca. 300 Verbände und 40.000 Vereine mit mehreren Millionen Mitgliedern. Einen einheitlichen Dachverband gab es nicht. In populären Sportarten wie Fußball organisierten die bürgerlichen und die Arbeiter-

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sportvereine jeweils eigene nationale Meisterschaften und Länderkämpfe.258 Kom-petenzstreitigkeiten und wechselseitige Abschottung, etwa durch das Verbot von Doppelmitgliedschaften, hatten alle Bestrebungen, das Sportverbandswesen auf Reichsebene zu zentralisieren, wiederholt scheitern lassen.

Die Mehrzahl der bürgerlich-national eingestellten Sportverbände war im Deut-schen Reichsausschuss für Leibesübungen (DRA) zusammengeschlossen. Dieser aus dem Deutschen Reichsausschuss für Olympische Spiele hervorgegangene Verband organisierte die ursprünglich als Ersatz für die Olympischen Spiele ins Leben gerufenen Deutschen Kampfspiele, die auch nach der 1928 erfolgten Rückkehr der deutschen Ath-leten in die olympische Familie weitergeführt wurden. Mit insgesamt 38 Leibesübungen treibenden Verbänden259 und rund sieben Millionen Mitgliedern war der DRA der mit Abstand wichtigste Sportdachverband im Deutschen Reich. In ihm waren die größten und bedeutendsten Sportverbände zusammengeschlossen: der Deutsche Fußball-Bund (DFB), die Deutsche Sportbehörde für Leichtathletik (DSB) und die Deutsche Turner-schaft (DT). Seit 1930 unterhielten sie zudem eine Arbeitsgemeinschaft, in der Zustän-digkeiten und Wettkampfverkehr abgestimmt werden sollten. Wegen der Querelen unter den Mitgliedsverbänden blieb der parlamentarisch organisierte DRA jedoch zeitlebens nie mehr als ein loser Zusammenschluss ohne Weisungsbefugnisse. Seinem Einfluss auf die Mitglieder, die ihre Streitigkeiten in den Dachverband hineintrugen,260 waren Grenzen gesetzt, die nicht zuletzt die Kraft zur Selbstbehauptung nach der natio-nalsozialistischen Machtübernahme deutlich einschränkten.

Neben den Vereinen und Verbänden der Arbeitersportbewegung gab es mit der katholischen Deutschen Jugendkraft (DJK) und dem evangelischen Eichenkreuz christlich ausgerichtete und darüber hinaus noch einige jüdische Sportdachverbände. Die Mehrheit der jüdischen Sportler war jedoch in den konfessionslosen bürgerlichen Vereinen organisiert.

Wie sich die neue Regierung die Integration der Leibesübungen in das nach und nach Konturen annehmende, auf Widerstände mit brutaler Gewalt reagierende nationalsozialistische Herrschaftssystem vorstellte, blieb in den ersten Monaten der Kanzlerschaft Adolf Hitlers offen. Das Reichsministerium des Innern, in dessen Zuständigkeit der Sport lag, hielt sich mit öffentlichen Äußerungen zurück. Die spär-lichen Aussagen Hitlers zum Thema Sport betrafen ganz allgemein dessen Platz in der nationalsozialistischen Weltanschauung, wobei er auf Gedankengut rekurrierte, das er bereits in seinem Buch „Mein Kampf “ dargelegt hatte. Am 16. März 1933 äußerte er sich anlässlich eines Empfangs von Vertretern des Organisationskomitees der XI. Olympischen Spiele von Berlin über die besondere Bedeutung, die Sport und Turnen für den Wiederaufbau der „Volkskraft“ und das nationale Empfinden besäßen.261 Dass die Leibesübungen einen militärischen und erzieherischen Auftrag erhalten sollten, war absehbar,262 nicht jedoch dessen Rahmen und welche Rolle den bürgerlichen und konfessionellen Sportverbänden dabei zugedacht war. Seit Reichspräsident Hinden-

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burg am 28. Februar 1933, nur einen Tag nach der Inbrandsetzung des Reichstages, die von der Weimarer Verfassung garantierten freiheitlichen Grundrechte durch den Erlass der „Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat“263 aufgehoben und den Nationalsozialisten eine unbarmherzige Verfolgung ihrer politischen Gegner ermög-licht hatte, waren bis Mitte März allein in Preußen unter der Mitwirkung von Hilfs-polizisten aus den Reihen von SA und SS mehr als 10.000 Oppositionelle verhaftet, gefoltert und in eilig errichtete Konzentrationslager verschleppt worden.264 Ein Vor-gang mit unmittelbaren Auswirkungen auf den organisierten Sport im Deutschen Reich, denn die brutale Jagd auf Kommunisten und Sozialdemokraten verschonte weder Verbände noch Vereine des Arbeitersports. Am 28. Februar / 1. März 1933 wurden die Büros der unter dem Einfluss der Kommunistischen Partei Deutsch-lands (KPD) stehenden „Kampfgemeinschaft für Rote Sporteinheit“ (KG Rotsport) geschlossen, ihr Besitz beschlagnahmt und ihr Zentralorgan Rot-Sport verboten. Am 23. März 1933 besetzten schließlich SA-Hundertschaften die Bundesschule des SPD-nahen Arbeiter-Turn- und Sportbundes (ATSB) in Leipzig. Zahlreiche Funktionäre des ATSB, dessen Vorsitzender die letzten halbwegs freien Reichstagswahlen am 5. März 1933 mutig zum „Kampf um Sein oder Nichtsein der Demokratie“ erklärt hatte, wurden verhaftet und die Konten des Verbandes gesperrt.265

Bis Ende April 1933 untersagten die Regierungen der Länder der KG Rot-sport und ihren Untergliederungen offiziell jegliche Betätigung. Dadurch wurden rund 4.000 Vereine mit mehr als 200.000 Sportlern stillgelegt.266 Mit dem offiziellen Verbot des ATSB am 30. April 1933 verloren dann noch einmal 738.048 Mitglieder in 6.886 Vereinen ihre sportliche Heimat.267 Den Schlussstrich unter die Geschichte des deutschen Arbeitersports setzte der Reichsminister des Innern, Wilhelm Frick. Sein Runderlass „Über den Neuaufbau der deutschen Sportorganisationen“ vom 27. Juni 1933 erklärte, dass der „Klassensport“ endgültig zu verschwinden habe. Es folgte die schrittweise Auflösung der Verbände und Vereine sowie die Beschlagnahmung ihrer Vermögen.268 Zu diesem Zeitpunkt waren zahlreiche Funktionäre und Aktive des Arbeitersports längst verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt,269 ein Teil der Arbeitersportbewegung somit bereits zerschlagen.

Nach den Reichstagswahlen vom 5. März 1933, die der NSDAP zwar nicht die gewünschte absolute Mehrheit, aber doch eine ausreichende plebiszitäre Zustim-mung verschafft hatten, wurden die letzte Zurückhaltung gegenüber den verblei-benden oppositionellen Kräften im Reich ebenso wie die eigenen Koalitionspartner in der Regierung fallengelassen.270 In einem Klima wachsender Unterdrückung und Verfolgung begann, was man die „nationalsozialistische Revolution von unten“ genannt hat:

„eine terroristisch-revolutionäre Bewegung […], die bald auf der ganzen Linie die der NSDAP durch die Regierungsbildung vom 30. Januar noch gezogene Machtgrenze durchbrach und

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die Entwicklung zur nationalsozialistischen Alleinherrschaft zunächst auf der Straße und in der Öffentlichkeit weitgehend usurpierte, ehe diese dann auch formell legalisiert wurde“.271

Die Stoßrichtung dieser Revolution zielte auf die unliebsamen Repräsentanten des alten Systems. Zu ihnen zählten neben den Spitzen der öffentlichen Verwaltung die leitenden Funktionäre in lokal, regional und reichsweit operierenden Wirtschafts-, Wissenschafts- und Kulturverbänden, die nach Meinung örtlicher Partei- und SA-Führer aufgrund ihres parteipolitischen Hintergrundes oder ihrer jüdischen Her-kunft dem Aufbau eines nationalsozialistischen Staates im Wege standen. Durch den kombinierten Angriff der NS-Presse und der bereits in den Organen der privaten oder öffentlichen Körperschaften sitzenden Parteigenossen der NSDAP wurden diese alten Eliten zumeist erfolgreich aus ihren Ämtern gedrängt und durch zuverlässige Nationalsozialisten ersetzt. Es sollte nicht lange dauern, bis sich auch die Repräsen-tanten des bürgerlichen Sports diesen revolutionären Kampfmitteln ausgesetzt sahen. In Köln musste beispielsweise Jakob Zündorf den Vorsitz über den bürgerlichen, die Interessen der Sportvereine gegenüber der Stadt Köln vertretenden „Zweckverband für Leibesübungen Groß-Köln“ niederlegen, nachdem ihm die Stadtverwaltung unter Führung des nationalsozialistischen Stadtdirektors Lohmann272 im Anschluss an eine Diffamierungskampagne Anfang April das Vertrauen entzogen hatte.273

Die Geschwindigkeit, mit der einflussreiche Verbände und Interessenvertre-tungen aus Politik, Wirtschaft und Sport dem nationalsozialistischen Ansturm erlagen, vor allem aber die zunehmende Unruhe an der eigenen Basis setzte den Vor-stand des DRA unter immer stärkeren Zugzwang. Er musste entscheiden, ob er der drohenden Auflösung mit energischem Widerstand entgegentreten oder durch frei-willige Zugeständnisse darauf bauen wollte, dass man ihn in die zu erwartende Neu-ordnung des öffentlichen Sports einbeziehen werde.274 Der von dem angesehenen Staatssekretär a. D. und IOC-Mitglied Theodor Lewald geführte Vorstand des DRA, dem auch der preußische Innenminister und Staatssekretär a. D. Alexander Domi-nicus von der Deutschen Turnerschaft (DT) sowie Kriminalkommissar Felix Linne-mann vom DFB angehörten, entschied sich für den zweiten Weg. In einer Ergeben-heitsadresse vom 25. März 1933 ließen sie die Regierung wissen, dass sich der DRA seit seiner Gründung als Hüter nationaler Traditionen verstand:

„Der DRA wird treu seiner Vergangenheit alle seine Kraft dafür einsetzen, dass dem gewal-tigen Strom nationaler Erneuerung […] alle Flüsse, Bäche und Quellen der großen Turn- und Sportbewegung zugeleitet werden zur Wahrung deutscher Jugendkraft, Stärkung nationaler Gesinnung, zur Erziehung eines wehrhaften Geschlechts.“275

Zudem beschlossen die Vorstände des DFB und der Deutschen Sportbehörde für Leichtathletik (DSB) als Beweis ihres guten Willens am 9. April neue Richtlinien für den Jugendsport, die den angeschlossenen Vereinen die Einführung der von den

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Nationalsozialisten geschätzten wehrsportlichen Übungen – Wandern, Marschieren in geschlossener Ordnung und Kleinkaliberschießen – an mindestens einem Sonntag im Monat auferlegten.276

Darüber hinaus versuchte Theodor Lewald die Absichten der Regierung auszu-loten. Sein Gesuch an den Staatssekretär der Reichskanzlei, der Reichskanzler möge in einem Telegramm an den DRA seine Auffassungen von der Bedeutung des Sports für das neue Deutschland darlegen, blieb jedoch ebenso ohne Resonanz wie die von ihm persönlich verfasste Einladung an Hitler zur außerordentlichen Hauptversamm-lung des DRA, die am 12. April 1933 in Berlin stattfand und über die Eingliederung der nationalen Turn- und Sportbewegung in das „neue Deutschland“ beraten sollte.277 Der Kicker beschrieb rückblickend die Spannung, welche die angegliederten Verbände des DRA inzwischen ergriffen hatte, aber auch deren Erwartung an den Dachverband:

„Eine Mitteilung jagt die andere. Alles spricht davon, daß der Deutsche Reichsausschuß für Leibesübungen […] bereits seit Wochen Verhandlungen mit der Regierung über die künftige Gestaltung führt. […] Wirtschaftliche Vereinigungen und Berufsverbände schalten sich gleich mit den Wünschen des Staates. […] Ist es ein Wunder, daß bei all denen, die irgendwie am Sport und Turnen beteiligt sind, allmählich die Spannung aufs höchste steigt? Was verhandelt der DRA, wie steht die Regierung zu ihm, wie zur künftigen Gestaltung des Sportes? Gerüchte um den zu ernennenden Reichssportkommissar für das Sportwesen kursieren.“278

Inzwischen verdichteten sich die Hinweise, dass der bürgerliche Sportdachverband in den Zukunftsplänen der Nationalsozialisten keine Rolle mehr spielen würde. Die Reichs-regierung gab dem Vorstand des DRA in aller Heimlichkeit zu verstehen, dass sie von der kommenden Hauptversammlung nicht nur den Rücktritt des „Halbjuden“ Lewald, sondern auch den Verzicht auf die Neuwahl eines neuen Vorsitzenden erwarte.279 Es ist sehr unwahrscheinlich, dass im DRA, der sich seit seiner Gründung stets als staats-treue Organisation gezeigt hatte, der nötige Wille vorhanden war, dieser Einmischung in seine inneren Angelegenheiten entschlossen entgegenzutreten. Zwar hätte er als Dach-verband der größten Sportbewegung im Deutschen Reich, der über sieben Millionen Vereinsmitglieder vertrat, durchaus ein bedeutsamer Faktor sein können. Jedoch schei-terte der Versuch, die Mitglieder zu einer „geschlossenen Haltung“ zu bringen, an der losen Verbandsstruktur, die dem Vorstand keine Mittel in die Hand gab, die internen Querelen wirksam zu unterdrücken.280 Der dramatische Appell des Generalsekretärs des DRA, Carl Diem, die anstehende Hauptversammlung zu einer „Kundgebung des Willens der im DRA zusammengeschlossenen vaterländischen Turn- und Sportver-bände zum neuen Staat“ zu nutzen281 und dem DRA so das Überleben zu sichern, zeigte keine Wirkung. Im Gegenteil: Die Hauptversammlung offenbarte in aller Deutlichkeit, dass sich der Verband bereits im Stadium innerer Auflösung befand. So glänzte die DT, die wenige Tage zuvor ihren demokratisch gesinnten Ersten Vorsitzenden Alexander Dominicus durch den Antisemiten Erich Neuendorff ersetzt hatte,282 durch Abwesen-

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heit, womit einer der einflussreichsten und größtes Prestige genießenden Verbände öffentlich sein Desinteresse am Fortbestand des DRA bekundete.

Die Versammlung selbst wurde von erheblichen Turbulenzen erschüttert, die der Kicker und die nationalsozialistische Presse auf das mangelnde Bekenntnis des Vor-stands zum neuen Staat zurückführten.283 Die Teilnehmer hätten sich, so der Kicker, mehr erhofft als den ohnehin erwarteten freiwilligen Rücktritt des Ersten Vorsitzenden Theodor Lewald, mehr als das inzwischen übliche Huldigungstelegramm an Hitler, mehr als eine zur Annahme vorgelegte Entschließung, wonach sich der DRA zwar aus-drücklich zur nationalen Erhebung und wehrhaften Erziehung der deutschen Jugend bekannte, gleichzeitig jedoch den Wunsch nach freiwilliger Ausübung und Selbstver-waltung der Leibesübungen deutlich machte. Dass einzelne Teilnehmer viel weiter zu gehen gewillt waren, zeigte der Antrag des Reichstagsmitglieds Emil Irrgang, der vom DRA die Bereitschaft verlangte, „[…] sich den Anordnungen der Regierung in Form und Inhalt bedingungslos zu unterwerfen“284, wie es die Deutsche Turnerschaft längst getan hatte. Diese hatte nicht nur einen neuen Vorsitzenden gewählt, sondern auch den sogenannten „Arierparagraphen“ eingeführt, eine Satzungsänderung beschlossen und die Wehrhaftigkeit ausdrücklich als Ziel turnerischer Aktivität bezeichnet.285

Dass die zwischenzeitliche Unruhe von einer Gruppe SA-Männer unter der Füh-rung Carl Krümmels mit scharfen Angriffen auf Theodor Lewald gezielt geschürt wurde,286 verschweigen die Berichte. Krümmel, ein Sportlehrer der Heeresschule für Leibesübungen in Wünsdorf, galt nach umlaufenden Gerüchten als aussichtsreichster Kandidat für das von der Regierung geplante neue Amt des Reichssportkommis-sars.287 Demgemäß war er nicht daran interessiert, dass der „größte Sportverband der Welt“288 die von Carl Diem gewünschte „Bereinigung der Verhältnisse“ aus eigener Kraft bewerkstelligte und sich so eine bessere Ausgangsposition für Verhandlungen mit der Reichsregierung verschaffte. Dass die Versammlung nicht über den Ent-schluss hinauskam, eine Kommission mit dem DFB-Vorsitzenden Felix Linnemann, dem Vorsitzenden des Deutschen Ruderverbandes (DRV), Heinrich Pauli, dem DT-Vorsitzenden Erich Neuendorff und einem Vertrauensmann der Parteileitung der NSDAP zu Verhandlungen mit der Regierung zu ermächtigen,289 wurde sowohl von der nationalsozialistischen Presse als auch vom Kicker als totales Versagen der Selbst-verwaltung des DRA bewertet.290 Nur eine Woche später formulierte der Westdeut-sche Beobachter bereits den Abgesang auf die parlamentarisch ausgerichteten Ver-bandsstrukturen der bürgerlichen Sportbewegung:

„Bleibt die beabsichtigte Gleichschaltung des Sports […] dem sportlichen Parlamentarismus überlassen, wird es bestimmt ein Windei. […] Nach wie vor ergeht man sich in hemmungs-losem Parlamentarismus mit endlosen Wiederholungen von Selbstverständlichkeiten bis zur lächerlichsten Konsequenz. […] Im nationalsozialistischen Staate gibt es nur eine Gleich-schaltung des Sportes und seiner Verbände, und das ist die des Führerprinzips auf national-

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sozialistischer Grundlage, Gleichschaltung im Sinne der Zusammenfassung gleicher Sport-arten in einem Verbande. […] Wer diesem nationalsozialistischen Endzweck nicht zustrebt, verschwinde möglichst schnell und unauffällig.“291

Am 28. April 1933 ernannte das Reichsministerium des Innern erwartungsgemäß einen Reichssportkommissar. Man entschied sich für den auf dem Gebiet der Leibes-übungen völlig unerfahrenen SA-Gruppenführer Hans von Tschammer und Osten.292 Der neue mächtigste Mann des deutschen Sports plante, die Tätigkeit des nach parla-mentarischen Grundsätzen arbeitenden DRA zu beenden und durch ein System der „politischen Leibesübungen“ zu ersetzen.293

Nur zwei Tage nach der Ernennung Tschammers wurde der sozialdemokrati-sche Arbeiter-Turn- und Sportbund (ATSB) offiziell verboten,294 dessen Leipziger Bundesschule bereits einen Monat zuvor, am Vorabend des sogenannten Ermächti-gungsgesetzes (24.3.1933), besetzt worden war. Damit war der ernsthafte Versuch der sozialdemokratischen Sportverbände, sich durch weitreichende Zugeständnisse mit den neuen Machthabern zu arrangieren, auf der ganzen Linie gescheitert. Ihr Dach-verband, die Zentralkommission für Sport- und Körperpflege, kam der Zerschlagung durch Selbstauflösung zuvor und übertrug ihr Vermögen dem neuen Reichssport-kommissar. Die ihr angeschlossenen Vereine und Verbände wurden im April/Mai 1933 abgewickelt. Das auf 25-50 Millionen Mark geschätzte Vermögen der Verbände wurde liquidiert und den Gemeinden und Sportorganisationen übertragen, das Ver-mögen der einzelnen Vereine von den jeweiligen Regierungspräsidenten beschlag-nahmt und eingezogen.295

Nach der Liquidation der Arbeitersportbewegung konnte Tschammer die Gleichschaltung des bürgerlichen Sports ins Auge fassen. Anlässlich einer Führer-besprechung von DFB und DSB am 17. Mai 1933 nannte er wichtige Punkte seines Programms, wonach übertriebene und selbständige Eingriffe in den Turn- und Sport-betrieb unterbleiben, gleichartige und selbständige Sportzweige zusammengefasst und nach dem Führerprinzip umgestaltet werden sollten.296

Sein weiteres Vorgehen wurde ihm durch den Opportunismus von Seiten der führenden Repräsentanten der bürgerlichen Verbände erheblich erleichtert, die eifer-süchtig nach mehr Kompetenzen für die eigenen Verbände strebten und Tschammer daher mitunter weiter entgegenkamen, als es seinen ursprünglichen Absichten ent-sprach. Anfang Mai schlug ihm der Führer der DT, Erich Neuendorff, vor, den DRA aufzulösen und den „patriotischen Gesinnungsverband“ der DT als Zentralverband des deutschen Sports und dritte Kraft neben SA und Stahlhelm in die nationale Front einzureihen. Auch der DFB-Vorsitzende Linnemann sprach sich für eine Auflösung des DRA aus, versuchte Tschammer jedoch von einer rein fachlichen Gliederung des Sports zu überzeugen.297 Dabei liebäugelte er mit dem Gedanken, den DFB als allei-nigen Dachverband des deutschen Fußballs zu erhalten.298

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Nachdem Linnemann als Vertreter des Fußballs, Pauli als Vertreter des Ruderver-bandes und Neuendorff als Vertreter der Turnerschaft am 10. Mai 1933 an den frisch-gebackenen Reichssportkommissar mit der Bitte herangetreten waren, den DRA auf-zulösen, konnte der vom vorauseilenden Gehorsam der drei Sportführer angenehm überraschte Tschammer die Zentralisierung des Sportverbandswesens vorantreiben, ohne die Auflösung des Verbands dekretieren zu müssen.299 Am 24. Mai 1933 gab er die „Richtlinien zur Neuordnung des Sports“ bekannt.300 Die bürgerlichen Sportver-eine blieben demnach als Träger des Sports erhalten. Allerdings wurden die ehemals nahezu 300 Verbände des DRA auf lediglich 15 Fachverbände reduziert. Jeder ein-zelne dieser Fachverbände erhielt das Recht, die nationalen Meisterschaften der von ihm repräsentierten Sportarten exklusiv auszurichten.

In allen Fachverbänden war das sogenannte Führerprinzip einzuführen. Zu ihrer Lenkung wurde der „Reichsführerring“ konstituiert, in dem unter Leitung Tscham-mers die von ihm selbst zu bestimmenden 15 Führer der neuen Fachverbände zusam-mentraten. Unterhalb der Fachverbandsebene wurden 15 Gaue geschaffen, die der politischen Einteilung des Reiches entsprachen und sich ihrerseits in Bezirke und Kreise gliederten.301 Die staatliche Aufsicht über die in allen Gauen ausgeübten Lei-besübungen führten die „Beauftragten des Reichssportführers“ bei den Regierungen der Länder, den Regierungspräsidenten und Kreisen. Sie hatten in erster Linie darauf zu achten, dass „an der Spitze der Turn- und Sportvereine geeignete Führer“302 standen.

Diese Übergangslösung ging mit der Gründung des Deutschen Reichsbundes für Leibesübungen (DRL) am 30. Januar 1934 zu Ende. Im neuen DRL waren nunmehr 21 Fachämter angesiedelt, die im Wesentlichen den alten Fachverbänden entsprachen.303 Die von Linnemann vorgeschlagene fachbezogene Gliederung des Sports, die den einzelnen Fachverbänden eine gewisse Selbständigkeit beließ, hatte sich einstweilen durchgesetzt. Auch die Deutsche Turnerschaft, die Neuendorff 1933 in die Führer-schaft Tschammers gegeben hatte, musste sich in diese Entwicklung fügen. In den folgenden Jahren wurde sie schrittweise aufgelöst und in die verschiedenen Fach-ämter des DRL überführt.304

Der DFB gehörte nicht zuletzt wegen der tragenden Rolle seines Vorsitzenden Felix Linnemann zu den Nutznießern dieser Entwicklung. Zum einen blieben seine Strukturen erhalten, zum anderen stieg er zum konkurrenzlosen Zentralverband des deutschen Fußballs auf, dessen Verwaltung sich in der Weimarer Zeit insgesamt sieben Verbände geteilt hatten.305 Darüber hinaus war die Gefahr der Einführung des Berufs-spielertums, für die sich vor allem die süddeutschen Mitgliedsverbände des DFB gegen den Willen des Vorstandes eingesetzt hatten, endgültig gebannt. Sogar die Bezeich-nung Deutscher Fußball-Bund blieb für das Fachamt Fußball bis 1936 in Kraft.306

Neben dem DFB blieben auch seine sämtlichen Vereine in ihrer Substanz intakt. Tschammer schonte zunächst die Vereins- und Verbandsstrukturen der bürgerli-

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chen Sportbewegung, während die Arbeitersportbewegung gänzlich zerschlagen und die konfessionellen Sportverbände durch die Richtlinien des Reichssport-kommissars vom 24. Mai 1933 in der Ausübung ihrer sportlichen Tätigkeit stark behindert wurden. Eigene nationale Meisterschaften auszurichten, war Letzteren nicht mehr möglich, da sie nicht den 15 im „Reichsführerring“ vertretenen Fach-verbänden angehörten. Die schrittweise Aushöhlung endete mit ihrer Überfüh-rung in die Hitlerjugend. Nach der Ermordung des Verbandsleiters der katholi-schen Deutschen Jugendkraft (DJK) am 23. Juli 1935 verbot man den DJK-Vereinen durch Polizeiverordnung jede sportliche Betätigung. Ihr Vermögen wurde von der Gestapo beschlagnahmt.307

Der Erhalt der bürgerlichen Vereine war jedoch nicht allein der Überredungs-kunst Linnemanns zu verdanken. Auch handfeste Interessen sprachen hierfür. In der NSDAP hatten sich im März 1933 durchaus Stimmen erhoben, die sich für die Einglie-derung des bürgerlichen Sports in die SA ausgesprochen hatten. Diese Überlegungen wurden jedoch fallengelassen, um im Ausland nicht den Verdacht einer paramilitäri-schen Ausrichtung des deutschen Sports zu wecken, die als Umgehung der Versailler Friedensbestimmungen hätte interpretiert werden können. Des Weiteren hätte die Integration so vieler Sportler in die SA das ohnehin vorhandene Missbehagen der Reichswehr gegenüber dieser Parteitruppe, die ihr den Rang als erste Waffenträgerin der Nation streitig zu machen drohte, weiter verstärkt. Der entscheidende Grund, warum Tschammer die bürgerlichen Vereine nicht nur fortbestehen ließ, sondern sie sogar ausdrücklich vor der Einmischung lokaler Behörden oder NS-Gliederungen in Schutz nahm, waren jedoch die kommenden Olympischen Spiele, die 1936 in Berlin stattfinden sollten. Hiermit waren sportliche und propagandistische Ziele verknüpft, die nicht gefährdet werden sollten.308 Um einen reibungslosen Ablauf der Spiele und ein hohes Niveau der deutschen Mannschaft zu gewährleisten, war Tschammer auf die Unterstützung und Mitarbeit der erfahrenen bürgerlichen Sportfunktionäre drin-gend angewiesen. Hierfür nahm er zumindest vorläufig in Kauf, dass die Erhaltung der bürgerlichen Sportorganisationen mit dem Anspruch einer totalitären Bewegung, die innerhalb eines halben Jahres den gesellschaftlichen Pluralismus der Weimarer Republik in allen anderen Bereichen weitgehend beseitigte,309 eigentlich nicht zu ver-einbaren war.

Tschammer wollte eine baldige organisatorische Einbindung des Sportdachver-bandes in das NS-System, um die Selbständigkeit der Sportverbände und der ihnen angeschlossenen Vereine nicht durch eine „feindliche Übernahme“ zu gefährden. Dieser Bitte des Reichssportführers sollte Hitler jedoch erst entsprechen, nachdem er am Festzug des ersten Deutschen Turn- und Sportfestes in Breslau im Juli 1938 teil-genommen hatte, dessen Teilnehmer, darunter viele Sudetendeutsche, dem Diktator einen begeisterten Empfang bereiteten. Am 21. Dezember desselben Jahres wurde der DRL zu einer von der Partei betreuten NS-Organisation: dem Nationalsozialisti-

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schen Reichsbund für Leibesübungen (NSRL) umgestaltet. Erst jetzt wurden „Arier-paragraphen“ verpflichtend und die Sportgeographie an die Gaustruktur der Partei angepasst.310

Den Richtlinien des Reichssportkommissars vom 24. Mai 1933 zur Neuordnung des Sports, die von den Fachverbänden die Aufgabe ihrer parlamentarischen Ord-nung zugunsten des Führerprinzips verlangten, war der Westdeutsche Spielverband (WSV), einer der sieben Mitgliederverbände des DFB, in vorauseilendem Gehorsam zuvorgekommen. Bereits auf seiner Wahlversammlung vom 13. Mai 1933311 hatten die Delegierten durch einstimmigen Beschluss das Führerprinzip eingeführt und ebenso einstimmig Dr. Josef Klein, einen demokratiefeindlichen und antisemitischen Nationalsozialisten, zum neuen Verbandsführer bestimmt.312 Damit war die Gleich-schaltung des WSV offiziell und ohne Widerstände eingeleitet. Sie sei, ließ der schei-dende Vorsitzende Constant Jersch in seiner Abschiedsrede wissen, für den Verband ohnehin nur Formsache.313 Der neue Verbandsführer Klein wurde in seiner Antritts-rede noch deutlicher: Eine Gleichschaltung des WSV sei eigentlich überflüssig, da in dem Verband nie demokratische Strömungen zutage getreten seien, die eine „Reform an Haupt und Gliedern“ erforderlich machten.314 Auch in der „Arierfrage“ bezog Klein klar Stellung: Man würde radikal vorgehen, die neuen grün-weißen315 Meister in den einzelnen Sportarten müssten „Deutsche“ sein.316

Durch die Einführung des Führerprinzips und die damit einhergehenden Sat-zungsänderungen war Klein nunmehr ermächtigt, alle weiteren Entscheidungen für die Gleichschaltung des WSV und seiner Mitglieder vollkommen unabhängig zu treffen.317 Er sollte von diesem Recht zügig Gebrauch machen. Bereits kurze Zeit später erließ er genaue Bestimmungen, wie die Gleichschaltung der angeschlossenen Vereine durchzuführen sei. Diese sollten ihre Satzungen bis zum 15. Juni 1933 am Führerprinzip ausrichten. Die Wahl der neuen Vereinsführer und Kassenprüfer sollte durch die Hauptversammlungen der Vereine erfolgen. Die Wahl des jeweiligen Ver-einsführers müsse zwar vom Verbandsführer bestätigt werden, dieses Bestätigungs-recht delegierte Klein jedoch an die Bezirksführer.318

Die neu gewählten Vereinsführer wurden ermächtigt, ihre Mitarbeiter zu berufen, Arbeitsausschüsse zu benennen und in allen Angelegenheiten des Vereins im Rahmen der Satzung künftig allein zu entscheiden. Die Entscheidungskompetenzen in den Vereinen wurden also in den Händen der Vereinsführer konzentriert. Sie erhielten weitreichende autoritäre Leitungsbefugnisse auf Kosten der Mitbestimmungsrechte der Mitglieder. Die Verantwortlichkeiten der Mitgliederversammlungen wurden auf die Wahl der Vereinsführer beschränkt.

Von den Vorgängen beim WSV war der Verein Alemannia Aachen als Mitglied des Verbandes unmittelbar betroffen. Wie die weitere Entwicklung zeigt, waren die verantwortlichen Vereinsfunktionäre gewillt, sich den Anordnungen des neuen Ver-bandsführers Klein widerstandslos zu fügen.

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Von den Rheinwiesen bis Auschwitz: biographische Skizzen

Wie der Lebensweg einzelner Vereinsmitglieder, z. B. des „Internationalen“ Reinhold Münzenberg und des Juden Max Salomon, im Zweiten Weltkrieg verlief, wird im Folgenden nachgezeichnet.

Reinhold Münzenberg, der seit Kriegsbeginn bei der Luftwaffe eingesetzt war, scheint in seinem Soldatenleben von seinem Status als Nationalspieler profitiert zu haben.681 Er diente bei verschiedenen Flakdienststellen in der Heimat682 und spielte bei seinen Heimaturlauben – und hierin unterschied er sich nicht von seinen Mann-schaftskameraden, die z. B. als Infanteristen an der Front dienten – wie vor Kriegs-ausbruch in der Ersten Mannschaft der Alemannia. Im Gegensatz zu seinen früheren Mitspielern, die in ganz Europa verstreut waren, hatte er die Möglichkeit, sich wei-terhin regelmäßig auf höchstem sportlichem Niveau zu betätigen und sich so fuß-ballerisch fit zu halten. Münzenberg spielte nach Kriegsbeginn im Dezember 1939 drei Spiele für den VfL Neckarau (Mannheim) und wahrscheinlich im ersten Halbjahr 1941 auch bei Eintracht Braunschweig.683 Er spielte ab Anfang 1942 beim größten Verein an seinem damaligen Stationierungsort, Werder Bremen.684 Mit dessen Mann-schaft, in der u. a. auch der ehemalige Schalker Hans Tibulski, der Bruder von Otto Tibulski, stand, wurde er im Mai 1942 Niedersachsenmeister. Ab September 1942 schnürte er dann für den Luftwaffensportverein (LSV) Hamburg seine Stiefel.685 Als Spieler dieser Mannschaft erreichte er 1943/44 seine einzigen nationalen Endspiele, die jedoch beide verloren gingen.

Das erste davon war das Finale um den Tschammer-Pokal am 31. Oktober 1943, also nur ein knappes Jahr nach der Gründung des LSV Hamburg, in Stuttgart. Dort mussten sich die Luftwaffensportler um Münzenberg dem First Vienna FC aus Wien mit 2:3 nach Verlängerung geschlagen geben.686 Wahrscheinlich war Münzenberg

Collage zur Mannschaft des LSV Hamburg, die im Finale des Tschammer-Pokals verlor, 1943.

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in allen Pokalspielen mit von der Partie. Im Viertelfinale, bei einem 4:2-Sieg vor 10.000 Zuschauern bei Holstein Kiel, stand er als Verteidiger in der Startelf und „[…] zeigte ebenfalls, daß er noch längst nicht zum ‚alten Eisen‘ gehört“687. Im Halbfinale vor 24.000 Zuschauern besiegte die Hamburger Militärmannschaft vor heimischer Kulisse den Deutschen Meister und Favoriten Dresdner SC mit 2:1:

„[Der immer noch eiserne Münzenberg] sorgte mit einem verwandelten Foulelfmeter für die Vorentscheidung: Münzenberg i st Vol l strecker [Hervorhebung im Original; d.  A.], kanoniert ein.“688

In der deutschen Meisterschaftsendrunde 1943/44 erreichte der Luftwaffen-SV das Endspiel in Berlin, wo dem Dresdner SC am 18. Juni 1944689 mit 4:0 die Revanche für das verlorene Halbfinale im Tschammer-Pokal gelang. Danach wurde es in der Sport-berichterstattung ruhig um den Sportler Münzenberg. Im September 1944, der Krieg hatte sich mittlerweile auf deutsches Territorium verlagert, musste der Luftwaffen-SV Hamburg auf Weisung der Heeresleitung den Spielbetrieb einstellen.

Im März 1945 war Münzenberg mit seiner Flakeinheit bei der Verteidigung der Brücke von Remagen eingesetzt, wenig später geriet er in Kriegsgefangenschaft, die er in den Lagern auf den Rheinwiesen verbrachte.690 Als seine Identität nach einigen Wochen bekannt wurde, durfte er jüngere Gefangene betreuen.

Was Reinhold Münzenberg damals über das Schicksal seines langjährigen Mann-schaftskameraden Max Salomon wusste, ist nicht bekannt. Als Münzenberg 1944 um

Passfoto von Robert Salomon aus seiner belgischen Ausländerakte, ca. 1938 (© Generalstaatsarchiv Brüssel. Individuelle Ausländerakte A1333147).

Passfoto von Max Salomon aus seiner belgischen Aus-länderakte, ca. 1938 (© Generalstaatsarchiv Brüssel. Individuelle Ausländerakte A152437).

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die Deutsche Meisterschaft spielte, waren Max Salomon und dessen Bruder Robert bereits tot. Ihr Schicksal verdeutlicht anschaulich die verschiedenen Stufen der Ver-folgung, welche die jüdische Bevölkerung in den Jahren der Nazi-Herrschaft erleiden musste, beginnend mit Diskriminierung über Verarmung bis hin zur Ermordung.

Anfang November 1934 zog Max Salomon offenbar in die im niederländischen Vaals, Julianastraat Nr. 4, gelegene Wohnung seines Bruders Robert.691 Dies mag damit zusammengehangen haben, dass Robert sich bereits Mitte September desselben Jahres nach Brüssel begeben hatte,692 um sich dort im Gastronomiegewerbe eine neue Existenz aufzubauen. Zu diesem Zweck hatte er sich zunächst mit einer größeren Investition am Restaurant „Slave“ beteiligt, das dem bei den belgischen Behörden in zweifelhaftem Ruf stehenden Russen Paul Aksakow gehörte.693 Diese Geschäftsbezie-hung scheint sich ungünstig für Robert Salomon entwickelt zu haben, denn sie endete mit einem finanziellen Verlust; die Rede ist von über 120.000 Francs.694 Danach leitete er die im Stadtteil Ixelles, Rue de Stassart 23, gelegene und zusammen mit einem Belgier namens De Greef betriebene Nachtbar „Kasak“, die ihr Publikum an den Wochenenden mit Cabaret-Tänzen anlockte. Die Bar wurde gleichzeitig Salomons belgische Meldeadresse.695 Im Frühjahr 1935 hat sein Bruder Max ihn dort besucht, offenbar noch ohne die Absicht, sich ebenfalls hier niederzulassen.696 Robert sollte es indes nicht gelingen, sich in Belgien geschäftlich zu etablieren.

Die Geschäftsverbindung mit Aksakow hatte Robert Salomon nicht nur erheb-liches Geld gekostet, sondern ihn auch in den Fokus der belgischen Polizei- und Verwaltungsbehörden gerückt.697 Mit der Begründung, dass er es vor der Aufnahme seiner geschäftlichen Beziehungen versäumt habe, für eine langfristig gültige Auf-enthalts- und Arbeitserlaubnis zu sorgen, musste er am 1. Juli 1935 auf Druck der belgischen Behörden in die Niederlande ausreisen,698 woran auch die zwischenzeit-liche Inanspruchnahme eines Rechtsbeistandes und mehrere Leumundszeugnisse nichts zu ändern vermochten.699 Dies hielt ihn aber nicht davon ab, noch am selben Tag wieder einzureisen, nachdem er sich im belgischen Konsulat der Stadt Maas-tricht ein Visum für weitere Geschäftsreisen mit einer Laufzeit von zwölf Monaten hatte ausstellen lassen. Nach seiner Rückkehr bezog er ein Quartier in Schaerbeek, Avenue Rogier.700 Doch der Vorgang wiederholte sich. Diesmal vergingen immerhin fünf Tage bis zu seiner Rückkehr, nachdem er am 25. Oktober 1935 Belgien erneut hatte verlassen müssen.701

Allerdings begann die belgische Kriminalpolizei kurz darauf gegen ihn zu ermit-teln, weil er verdächtigt wurde, mit Rauschmitteln zu handeln.702 Eine erste Unter-suchung ergab, dass Salomon von seinem niederländischen Wohnsitz in Vaals aus in regelmäßigen Abständen von mehreren Wochen entweder mit seinem Auto, einem Fabrikat der Marke Chevrolet, oder mit der Eisenbahn nach Brüssel reiste, sich dort stets in denselben Hotels einquartierte und mit Devisen handelte. Außerdem nahm man an, dass sein Bruder Max in Deutschland ebenfalls wegen Devisenhandels eine

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Haftstrafe verbüßte.703 Weiterführende Ermittlungen, in deren Verlauf die Kriminal-polizei Robert Salomons Hotelzimmer durchsuchte und Auskünfte bei den nieder-ländischen und deutschen Behörden einholte, blieben ohne Ergebnis, weshalb die belgischen Behörden die Anschuldigungen schließlich fallen ließ. Die letzte Quelle, die über Robert Salomons Aktivitäten in Belgien berichtet, ist ein Schreiben der bel-gischen Kriminalpolizei vom 30. Mai 1936, das die Ergebnisse seiner Vernehmung an das dortige Justizministerium weiterleitete. Hieraus geht hervor, dass er 1933 zunächst im niederländischen Vaals Zuflucht gesucht und seitdem von seinen Erspar-nissen gelebt hatte. Ziel seiner monatlichen Reisen nach Brüssel sei es, dort neue Geschäftskontakte zu knüpfen, die ihm ein finanzielles Auskommen ermöglichen sollten.704 Nach dieser Vernehmung verliert sich zunächst seine Spur.

Aus der Befragung Robert Salomons und den Auskünften deutscher Stellen war den belgischen Behörden inzwischen bekannt, dass sie sich über den Grund der Haftstrafe seines Bruders Max in Deutschland gründlich geirrt hatten. Max Salomon

Bericht über den Prozess gegen Max Salomon wegen sogenannter Rassenschande; Echo der Gegenwart, 28.11.1935.

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war zwischen 1933 und 1935 immer wieder in die Aachener Thomashofstraße 15 zurückgekehrt, wo seine Mutter lebte. In seiner Heimatstadt erfuhr er im Oktober desselben Jahres am eigenen Leib, was es bedeutete, im Deutschen Reich nur noch ein Mensch zweiter Klasse zu sein. In Vaals hatte Max Salomon eine junge Frau kennen-gelernt, mit der er kurze Zeit später in Aachen eine Nacht in einem Hotel verbrachte. Bei einer Razzia wurde er von der Polizei verhaftet und später vom Aachener Land-gericht wegen des Verstoßes gegen die sogenannten Nürnberger Rassengesetze zu fünf Monaten Zuchthaus verurteilt. Es war das erste Urteil auf Grundlage der neuen Gesetzgebung in Aachen.705

Wie die Polizei Kenntnis von seiner Affäre erhalten hatte, lässt sich nicht rekons-truieren. Dass dieses Erlebnis Salomons Entschluss begründete, Deutschland für immer zu verlassen, ist vorstellbar, wenngleich ebenfalls kaum zu beweisen. Im Juli 1936, wenige Wochen nach seiner Haftentlassung, ließ er sich jedenfalls im belgi-schen Konsulat der Stadt Maastricht ein Visum für mehrere Geschäftsreisen nach Belgien mit einer Gültigkeit von zwölf Monaten ausstellen.706 Allerdings war dem Konsulat die Ausstellung eines solchen Visums nicht erlaubt; es hätte eine Gültigkeit von höchstens 15 Tagen haben dürfen. Bei einer Kontrolle des Visums durch die bel-gischen Behörden fiel dieser Fehler auf, das Visum verlor seine Gültigkeit.707

Am 22. März 1937 wurde Max Salomon schließlich von der belgischen Krimi-nalpolizei als verdächtiger Ausländer festgehalten. Er war auf einer Verkehrsstraße kontrolliert worden und hatte weder reguläre Papiere noch konnte er einen festen Wohnsitz in Belgien und Mittel für seinen Unterhalt nachweisen. Er gab an, eine „Vergnügungsreise“ von unbestimmter Dauer zu unternehmen und lediglich über 2,70 Francs zu verfügen. Sein deutscher Pass enthielt ein belgisches Visum mit drei-monatiger Laufzeit, das ihm eine Einreise nach Belgien aber erst ab dem 1. Juli 1937 gestattete.708 Er hatte sich also eines Passvergehens schuldig gemacht. Nach seiner Vernehmung sollte er in die Verfügungsgewalt der für Landstreicherei zustän-digen Behörde überstellt werden. Es erscheint plausibel, dass dies aus rein formalen Gründen geschehen sollte, weil er keinen festen Wohnsitz nachweisen konnte und sich illegal im Land aufhielt. Die vorgesehene Überstellung unterblieb jedoch, da eine genauere Überprüfung seiner Person ergab, dass er sehr wohl genügend Geld mit sich führte, um seinen Bedarf an Nahrungsmitteln zu decken.709

Auch in den folgenden Jahren gelang es Max Salomon nicht, dauerhaft in Belgien Fuß zu fassen. Am 7. Oktober 1938 reiste er mit einem Visum erneut dort ein, diesmal in der Rue Louis Socqeut 51 in Schaerbeek Quartier nehmend,710 jenem Brüsseler Ortsteil also, in dem 1935 auch sein Bruder Robert zwischenzeitlich gewohnt hatte. Dass auch Robert sich jetzt wieder dort aufhielt, ist möglich, aber nicht nachweisbar. Am 17. Februar 1939 zog Max weiter in die Rue de Bordeaux im Stadtteil Saint-Gilles.711 Vielleicht ahnte er schon, dass gleichzeitig bereits seine erneute Abschie-bung organisiert wurde.712 Im Mai 1939 musste er Belgien auf behördlichen Druck

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abermals verlassen.713 Warum er bis zu diesem Zeitpunkt nicht auf der Grundlage geltender Vorschriften um eine Erlaubnis zur dauerhaften Ansiedlung in Belgien nachgesucht hatte, wird sich nie in Erfahrung bringen lassen.714 Auch seine nächsten Schritte bleiben unklar.

Als gesichert darf lediglich gelten, dass er mit dem Beginn des deutschen Westfeld-zuges, am 10. Mai 1940, von den belgischen Behörden verhaftet wurde.715 Man brachte ihn zunächst in das Camp de Concentration de Saint-Cyprien an der französischen Mittelmeerküste unweit der Pyrenäen, wo die französischen Behörden in den Jahren 1939/40 fast 90.000 Personen interniert hatten, in der Mehrzahl Mitglieder der Inter-nationalen Brigaden, die nach dem Sieg der Franquisten im Spanischen Bürgerkrieg aus Spanien geflohen waren. Im Mai 1940 wurden hier nun vor allem Internierte aus Belgien eingeliefert, die von der belgischen Verwaltung nach dem deutschen Überfall festgenommen und nach Frankreich gebracht worden waren. Der Zeitpunkt von Max Salomons Verhaftung erlaubt den Schluss, dass auch er zu dieser Gruppe zählte, weil er – Ironie der Geschichte – deutscher Staatsbürger war und daher wegen des Kriegs-zustandes als möglicher Staatsfeind Belgiens galt. Im Oktober 1940 verlegte man ihn in das Internierungslager Gurs.716 Hier herrschten katastrophale Zustände.717 Ob der frühere Alemannia-Stürmer danach noch einmal freikam und erst bei den ab Juli 1942 einsetzenden Verhaftungsaktionen der französischen Polizei in Vichy-Frankreich erneut festgenommen wurde oder ob er ununterbrochen in Gurs inhaftiert blieb, ist nicht bekannt, Letzteres ist jedoch anzunehmen. Die Verhaftungen im Juli 1942 bil-deten den Auftakt zur Ermordung der in Frankreich lebenden europäischen Juden.718 Über das ca. 20 Kilometer nordöstlich von Paris gelegene Sammellager Drancy719 wurden die bei dieser Verhaftungswelle Inhaftierten in die deutschen Vernichtungs-lager im Osten gebracht. Max Salomon wurde am 4. September 1942 mit Transport Nummer 28 aus dem Lager Gurs über das Lager Drancy nach Auschwitz deportiert.720

In diesem Deportationszug befanden sich ca. 1.000 Juden, darunter Salomon als einer von 295 Deutschen und insgesamt 400 Insassen des Lagers Gurs.721 Anfang Sep-tember 1942, als Reinhold Münzenberg kurz davor war, zur Mannschaft des Luftwaf-fen-SV Hamburg zu stoßen, packte Max Salomon das Gepäck, das er auf seiner letzten Reise mit sich führen durfte: zwei Paar Socken, zwei Hemden, zwei Paar Unterhosen, ein Handtuch, eine Tasse, einen Löffel und einige wenige andere Habseligkeiten.722 Ein großer Teil der Deportierten von Transport 28 musste den Zug im schlesischen Kosel, ca. 200 Kilometer westlich von Auschwitz, verlassen, wo man sie im Umfeld der Stadt als Zwangsarbeiter einsetzte. Auch Max Salomon zählte dazu. Wahrschein-lich wurde er für den Arbeitseinsatz bei der sog. Dienststelle Schmelt vorgesehen, die für den Zwangsarbeitereinsatz in Oberschlesien und im Sudetenland zuständig war. Zwischen dem 26. August und 9. November 1942 rekrutierte der sog. Sonderbeauf-tragte des Reichsführers SS für fremdvölkischen Arbeitseinsatz in Oberschlesien, SS-Brigadeführer Albrecht Schmelt, auf diese Weise 8.000 bis 10.000 Arbeiter.723

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Tradition verpflichtet: Schlussbetrachtungen

Sport treiben, ohne politische Diskussionen, ohne Rechtfertigungsdruck – vielleicht war es gerade das, was das Leben nach 1945 für viele Deutsche normalisierte. Nach und nach schlossen sich die bekannten Gesichter wieder zusammen, um den Verein wieder aufzubauen und ihm seinen alten Glanz zu verleihen, der für den größten Teil der Mitglieder mit dem Überfall auf Polen und der folgenden Zurückdrängung des Sports durch den Krieg, für einige aber bereits 1933 mit ihrer eigenen Zurückdrän-gung aus dem Verein verblasst war.

Doch guter Wille war offenbar bei beiden Gruppen vorhanden. Als Alemannia Aachen 1950 ihr 50-jähriges Bestehen feiern wollte und Vereinspräsident Karl Moll zu diesem Anlass auf einer Generalversammlung einen Vorbereitungsausschuss wählen ließ, gehörte diesem neben Wimmar Hennes, Leo Imbert und Fritz Vollmer auch Walter Cahen an.891 Eben jener Cahen, der mit seiner „arischen“ Ehefrau die Kriegszeit in Aachen überlebte und sich kurz vor der Befreiung der Stadt durch seine Flucht zu den US-amerikanischen Truppen seiner Deportation hatte ent-ziehen können.

Wie sich das Verhältnis untereinander gestaltete, darüber fehlen die Zeugnisse, und die Beteiligten sind lange tot. Der eigentlich protestantische Cahen, den die Nationalsozialisten zum Juden erklärt hatten, saß nun zwischen den Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft der Jahre 1933 bis 1945, die auch die der Bundesrepublik war und die ihren eigenen, rassisch konzipierten Vernichtungskrieg verloren hatte. Gesellschaftliche Kontinuitäten, die auch durch die Entnazifizierung nur kurz auf den Prüfstand geraten, nicht aber verhindert worden waren, prägten die deutsche Nach-kriegsgesellschaft. Zwar endete Walter Cahens offizielle Stigmatisierung zusammen mit dem Zweiten Weltkrieg, es ist aber nicht anzunehmen, dass die zwölf Jahre anti-semitische Agitation nicht auch bei Alemannia Aachen bestimmte Denk- und Deu-tungsmuster etabliert bzw. ab 1933 verstärkt und gesellschaftsfähig gemacht hatten.892 Politisch und rechtlich waren diese nun jedoch abgeschafft.

Generell stellt sich allerdings die Frage, für wen es nach 1945 wichtiger war, wieder dazuzugehören, die Trennung der Lebenswelten wieder aufzulösen. Was geschah mit den Ausgegrenzten, die trotz aller Verfolgung in ihre deutsche Heimat zurückkehrten und nicht in den Ländern blieben, die sie aufgenommen hatten? 1946 lebten von den 1.348 Juden, die 1933 in Aachen registriert gewesen waren, noch bzw. wieder ganze 50 in der Stadt. Alle anderen waren vertrieben oder tot.893 Damit hatten 3,7 % der Aachener jüdischen Gemeinde von 1933 Krieg und Verfolgung überlebt. Ihr Anteil an der örtlichen Stadtbevölkerung894 war von 0,83 % im Jahr 1933 auf 0,04 % gesunken. Um ein halbwegs normales Zusammenleben wieder zu ermöglichen, versuchten die meisten, die Ereignisse der letzten Jahre aus den persönlichen Beziehungen herauszu-

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halten. Die Rolle des Einzelnen zwischen 1933 und 1945 wurde tabuisiert, das waren von nun an die „dunklen Jahre“.

Während die einen wohl ein schlechtes Gewissen wegen ihrer Taten oder ihres vormaligen Glaubens an den Nationalsozialismus plagte, waren andere, wie bereits von 1933 bis 1945, zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um zu merken, was einem Teil ihrer Mitbürger und Vereinskameraden angetan worden war. Wieder andere wünschten sich, mit dieser Zeit nicht mehr konfrontiert zu werden, und gingen Ver-folgten, die überlebt hatten, aus dem Weg, hassten sie dafür, dass sie ihnen durch ihre alleinige Anwesenheit den Spiegel vorhielten. Sicher, es hatte im Nationalsozialismus auch Hilfe und Unterstützung auf persönlicher Ebene gegeben. Es kursieren einige wenige Geschichten, hauptsächlich in den Entnazifizierungsakten. Leider sind sie heute nicht mehr überprüfbar. Aber selbst, wenn sie alle stimmten: Dem TSV Ale-mannia Aachen und seinem Vorstand unter Karl Moll gelang 1933 keine öffentliche und aufrichtige, nicht einmal eine symbolische Geste, die ein Mindestmaß an Soli-darität mit den diffamierten Mitgliedern dokumentiert hätte. Die jüdischen Vereins-mitglieder wurden geräuschlos aufgegeben und entfernt. Ihrer wurde nicht offiziell gedacht, an sie wurde von Vereinsseite lange Jahre nicht erinnert.

Gerade das Familiäre jedoch hatte die Alemannia vor 1914, aber auch noch in der Zwischenkriegszeit ausgemacht. Neben dem Sport, der stets den zentralen Stel-lenwert im Verein einnahm, machten die kulturellen Aktivitäten sowie Feiern und Ausflüge das Vereinsleben bei der Alemannia zu etwas Besonderem. Das Schlagwort von der „Vereinsfamilie“ war hier keine leere Phrase, die Gemeinschaft lebte. Umso unverständlicher erscheint angesichts dessen die schnelle Bereitschaft des Klubs, 1933 einem halluzinierten politischen Druck nachzugeben.

Die Untersuchung der Vereinsmentalität anhand der Vereinszeitung hat für die Jahre vor 1933 Befunde geliefert, die ideologische Anknüpfungspunkte für den Natio-nalsozialismus sichtbar, den radikalen und sehr schnellen Bruch mit den jüdischen Vereinsmitgliedern im März/April 1933 jedoch nicht vorhersehbar gemacht haben. Bildungsbürgerlich geprägt, erlebten die meisten Alemannen den Ersten Weltkrieg und die Besetzung ihrer Heimat durch belgische Truppen als eine ihre Lebenswelt vernichtende Katastrophe. Die Niederlage von 1918 hatte ein Gefühl der nationalen Ohnmacht im Verein und in seinen Mitgliedern verankert. Das Spektrum der Äuße-rungen in der Vereinszeitung war breit und reichte von konservativ-liberalen Tönen bis hin zur völkisch verbrämten Beschwörung des „deutschen Jungen“.895 Auffallend rassistischen oder antisemitischen Äußerungen und Ausfällen begegnete der Leser jedoch vor und auch nach 1933 nicht.

Wie so oft lassen sich auch hier verallgemeinernde Aussagen über die politische Ausrichtung einer Organisation, in diesem Falle eines Sportvereins, nicht treffen. Im Verein gab es Vertreter verschiedener Denkrichtungen, die sich mal lauter und mal leiser zu Wort meldeten. Entscheidend für das, was dann folgte, war der Moment,

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als die Hitlerregierung eingesetzt wurde. Nach all dem gefühlten nationalen Leid, all der Zurücksetzung, dem als ungerecht empfundenen Versailler Vertrag und den wirtschaftlichen Schwierigkeiten wurde der Machtwechsel von einem Teil der Bevöl-kerung bzw. der Vereinsmitglieder als Befreiung und nationale Erlösung empfunden. Das Wort vom „Aufbruch“ machte die Runde, und der zunächst von den bürger-lichen Zeitungen als normaler Regierungswechsel aufgefasste und kommunizierte Machtantritt Hitlers wurde zur gefühlten „nationalen Erweckung“. Leider fehlen für genau diese Phase die Ausgaben der Vereinszeitung, sodass nicht mehr nachvollzogen werden kann, wie die Stimmung im Verein in diesen ersten Wochen der NS-Regie-rung war bzw. ob sie sich deutlich verändert hatte.

Fakt ist, dass ab dem 2. April 1933 ohne dokumentierte Widerstände bzw. Diskus-sionen zunächst der langjährige Stammspieler Max Salomon die Erste Mannschaft verließ, womöglich sogar aus ihr entfernt wurde, und in der Folge auch die weiteren jüdischen Vereinsmitglieder die Alemannia verließen bzw. hinausgedrängt wurden. Alle kollektiven Erlebnisse bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges, die zusammen durchlittene Kriegszeit, der als Schmach empfundene Friedensschluss von 1918, die harten Jahre der Besatzung, sportliche Erfolge, der Stadionbau, kurzum: die gemein-same 33-jährige Vergangenheit verbrannte in der Hitze der neu entfachten Flamme des nationalen Rausches. Dies, vielleicht verstärkt durch ein den bildungs- und groß-bürgerlichen Schichten eigenes Besitzstandsdenken, welches das eigene Fortkommen allzu leicht in den Mittelpunkt des individuellen Handelns setzte,896 scheint die Ent-scheidung innerhalb der Vereinsführung von Alemannia Aachen über das Schicksal der jüdischen Mitglieder enorm beschleunigt zu haben. Ob Bedenkenträger, die um die Zukunft des Vereins fürchteten, oder national Erhitzte 1933 in den Führungs-gremien die Stimme erhoben, kann nicht mehr nachvollzogen werden, das Ergebnis aber bleibt dasselbe: Ohne äußere Solidaritätsbekundung mussten sich jene, denen die NS-Ideologie die Rolle des nationalen Sündenbocks zugedacht hatte, von ihrem Sportverein verabschieden. Sie mussten dies tun, obwohl keine gesetzliche Grundlage dafür vorlag. Alemannia Aachen gehorchte vorauseilend.

Im Moment der sogenannten Gleichschaltung und der Phase der Machtetablie-rung – beides ging mit der Ausgrenzung der jüdischen Mitglieder einher – endeten die offiziellen Bindungen des Klubs zu den diffamierten Vereinskameraden. Wie in anderen Vereinen auch897 traten individuelle Bindungen an die Stelle der durch die Mitgliedschaft definierten Beziehungen zum sportlichen Geschehen. Die Verlage-rung in das Private widersprach keineswegs dem von der NS-Regierung Gewollten. Das Herausdrängen der Juden aus den öffentlichen Veranstaltungen der Mehrheits-gesellschaft bewirkte eine unweigerliche schleichende Entfremdung, die bei guten persönlichen Beziehungen sicherlich einige Zeit aufgehalten werden konnte. Doch mangelte es nun zunehmend an Schnittmengen, die Freundschaften und Bekannt-schaften mit Leben füllen konnten. Die Lebenswelten waren separiert. Konnte aus

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der Sicht Nicht-Diskriminierter die Auswanderung in den 1930er-Jahren sogar als wünschenswerte Verbesserung der Lebensumstände Verfolgter gewertet werden, wurden die Deportationen und Vernichtungen in einer Phase gestartet, als der staat-liche Referenzrahmen898 bereits so stark antisemitisch ausgeprägt war, dass diese Ereignisse für manche nur noch als eine weitere Maßnahme von vielen erscheinen konnten. Die physische Abwesenheit vollendete die gesellschaftliche.

Das Antizipieren des politisch Gewollten – zumindest glaubte das Aachener Prä-sidium offenbar im Frühjahr 1933, dass es ohnehin anstehende Maßnahmen lediglich vorwegnahm – ordnet Alemannia Aachen im Gleichschaltungsprozess jenen Vereinen zu, die nicht die verbindliche Regelung der sportlichen Belange durch die Nationalso-zialisten abwarteten, sondern Fakten schufen. Dabei ging der Aachener Vorstand mit dem schnellen Herausdrängen von Max Salomon und anderen jüdischen Vereins-mitgliedern jedoch weiter als andere Vereine wie z. B. Eintracht Frankfurt, die sich hauptsächlich darum sorgten, dass jüdische Spitzenfunktionäre politische Probleme bereiten könnten. Der Grund dafür waren Äußerungen des DFB, der Ende April 1933 verkündete, „Angehörige der jüdischen Rasse“ seien in führenden Positionen nicht mehr tragbar899, sowie ähnlich formulierte Äußerungen des Verbandsführers des WSV, Josef Klein (siehe hierzu S. 65 im vorliegenden Buch). Ähnlich wie Alemannia Aachen verhielten sich der 1. FC Nürnberg, der seine jüdischen Mitglieder mit Aus-nahme der Weltkriegsveteranen zum 1. Mai 1933 ausschloss, und die Spielvereini-gung Fürth, die durch eine Verlautbarung bis Juli 1933 einen Großteil ihrer jüdischen Mitglieder zum Austritt brachte. Es gab jedoch auch Vereine, die anders reagierten, die abwarteten oder zumindest offiziell ihr Bedauern über das Ausscheiden ihrer jüdischen Mitglieder bekundeten. Letzteres traf auf Tennis Borussia Berlin zu, Ers-teres auf den Karlsruher FV. Dieser riet seinem Ex-Nationalspieler Julius Hirsch bis zur offiziellen Regelung durch die Reichsregierung vom Vereinsaustritt ab.900

Die Vereinsführung der Alemannia verzichtete ohne objektive Not auf den vor-handenen Handlungsspielraum und signalisierte damit auch nach außen, dass sie den neuen politischen Weg selbst um den Preis, einen Teil der Vereinsgemeinschaft zu opfern, mitgehen würde. Leider sind keinerlei Aussagen überliefert, welche die Argumentationsmuster der Handelnden nachvollziehbar machen würden. Evident ist, dass die getroffenen Maßnahmen, ob beabsichtigt oder unbeabsichtigt, die o. a. Wirkung entfalteten.

Das Manövrieren des Vereins im nun schnell anlaufenden Gleichschaltungsprozess orientierte sich an den Vorgaben des Reichssportführers von Tschammer und Osten, lässt aber aufgrund der Abwahl Molls, der Wahl Essers‘ und dessen schneller Amts-niederlegung zugunsten Müllers901 offen, welche Strategie die Vereinsspitze wirklich verfolgte, zumal der Blick auf andere Klubs wie Schalke 04 zeigt, dass Vorsitzende auch ohne NSDAP-Mitgliedschaft die Vereinsführung behalten konnten.902 Im Herbst 1933 stand mit Peter Müller letztendlich ein langjähriges, in Aachen bekanntes NSDAP-Mit-

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glied an der Spitze der Alemannia. Die Umstellung auf das Führerprinzip war damit abgeschlossen, und die Wahl Müllers beseitigte alle politischen Angriffsflächen. Unklar bleibt, warum Moll die erste Wahl gegen Essers verlor. Die Analyse der zur Verfügung stehenden Quellen konnte die historische Distanz zu den Ereignissen nicht gänzlich auflösen. Die Indizien sprechen dafür, dass Moll zunächst der Kandidat war, der für die politische Nähe zur NSDAP stand und damit eine Existenz des Vereins in ruhigen Fahrwassern versprach. Essers, der letztlich siegreiche Gegenkandidat, wollte mit den alten Präsidiumsmitgliedern, die bereits unter Moll gearbeitet hatten, vielleicht sogar mit Moll selbst, die Geschicke des Vereins weiter lenken. Im Anschluss an die Wahl im Juni 1933 muss hinter den Kulissen Druck entstanden sein, von dem Essers und der Verein glaubten, ihm nicht standhalten zu können. Womöglich bedrängten Müller, der bereits Anfang 1933 in den Vorstand aufgerückt war, und Kriescher, der die Gleich-schaltung der Sportvereine in Aachen durchsetzte, den ersten „Vereinsführer“ der Ale-mannia, Hubert Essers. Dieser gab sein Amt jedenfalls nach nur sechs Wochen an Peter Müller ab, der im Dezember 1933 durch die Mitglieder einstimmig als Vereinsführer bestätigt wurde.903

Für die Machtstrukturen innerhalb des Klubs bedeutete die sogenannte Macht-ergreifung die Bildung einer neuen Vereinselite, die die alte Elite ergänzte, welche den Verein zum Teil noch mitgegründet oder in den 1920er-Jahren bereits führende Positionen übernommen hatte. Neben die Vereinsführer Essers und Müller traten Akteure, die die neue Zeit für sich zu nutzen wussten und sich exponierten. Dazu gehörten z. B. der in der Vereinszeitung lautsprechende Georg Bender, der mit seinen Verbindungen zur Aachener SS kokettierte, aber auch Mitglieder wie Adam Smeets oder Hans Kriescher.

Mit Ferdinand Wiebecke übernahm schließlich ein langjähriges Mitglied den Verein, das nicht zuletzt aufgrund seiner Position innerhalb der Stadtverwaltung und seiner Einbindung in die Aachener SS und NSDAP Ruhe für das Vereinsleben versprach. Auch nach seinem Weggang nach Malmedy blieb er offiziell weiter Ver-einsführer, was u. U. den alten Eliten – Emunds war nominell Wiebeckes Vertreter – ermöglichte, den Klub in ihrem Sinne zu führen. Aber auch hier schweigen die Quellen, und alle Annahmen bleiben spekulativ.

Die Verhaltensmuster der Funktionsträger erzeugen ein uneinheitliches Bild und stehen für das breite Handlungsspektrum, das auch unter dem totalitären NS-Regime vorhanden war und in seiner ganzen Bandbreite von überzeugter Bejahung bis zum aktiven Widerstand reichen konnte. Aktive Widerstandshandlungen lassen sich für die Funktionsträger von Alemannia Aachen nicht verzeichnen, doch erlauben die in den Entnazifizierungsverfahren gemachten Angaben, kontrastiert mit dem tatsächlich Geschehenen, eine Typologisierung ihrer Verhaltensweisen im Nationalsozialismus.

Dass das Handlungsspektrum nicht gänzlich ausgeschöpft wurde, verwundert angesichts der seit seinen Gründungstagen konservativen Grundausrichtung des Ver-

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Anfang der 1930er Jahre begeisterten Max Salomon und Reinhold Münzenberg die Fans am Aachener Tivoli. Nationalspieler Münzenberg wurde im Dritten Reich zum größten Fußballstar der Kaiserstadt; der Jude Max Salomon suchte vergeblich Zuflucht im benachbarten Ausland und starb 1942 auf dem Weg nach Auschwitz. Erstmals wird die Geschichte der Aachener Alemannia in der NS-Zeit ausführlich geschildert und die Schicksale ihrer jüdischen Mitglieder sowie die Rolle ihrer Funktionäre im Zuge der Gleichschaltung nachgezeichnet.

ISBN 978-3-7307-0391-5VERLAG DIE WERKSTATT