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Tim Renner & Gerd Leonhard Beitrag in „Die Welt“: Wacht auf, Verdammte dieser Erde: Mensch, Technologie und die Zukunft der Politik 11. August 2018 | Digitale Ethik | Künstliche Intelligenz | Politik | Tim und Gerd in den Medien Erschienen am 11.8.2018 in DIE WELT *Paywall | Von Tim Renner und Gerd Leonhard ENGLISH VERSION Wacht auf, Verdammte dieser Erde! Die Zukunft kommt. Sie kommt sogar sehr schnell. Zwar sehen wir noch keine Roboter auf der Straße, aber selbst die kleinsten Devices die wir mit uns führen, sind in der Regel schlauer als die Menschmaschinen aus der Zukunftsserie „Die Jetsons“, die wir als Kinder liebten. Wenn die Maschinen beginnen von anderen Maschinen zu lernen (sog. machine learning) dann geht es jedoch erst so richtig ab. Wir sind jetzt hier und heute am take-off Punkt einer exponentiellen technologischen Entwicklung: Auf 4 kommt 8, 16, 32 und so weiter. Aus dem netten „Wind of Change“ der 90er Jahre wird also ein gepflegter Tornado.

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Tim Renner & Gerd LeonhardBeitrag in „Die Welt“: Wachtauf, Verdammte dieser Erde:Mensch, Technologie und dieZukunft der Politik11. August 2018 | Digitale Ethik | Künstliche Intelligenz | Politik | Tim undGerd in den Medien

Erschienen am 11.8.2018 in DIE WELT *Paywall | Von Tim Renner und Gerd Leonhard

ENGLISH VERSION

Wacht auf, Verdammte dieser Erde!

Die Zukunft kommt. Sie kommt sogar sehr schnell. Zwar sehen wir nochkeine Roboter auf der Straße, aber selbst die kleinsten Devices die wir mituns führen, sind in der Regel schlauer als die Menschmaschinen aus derZukunftsserie „Die Jetsons“, die wir als Kinder liebten. Wenn dieMaschinen beginnen von anderen Maschinen zu lernen (sog. machinelearning) dann geht es jedoch erst so richtig ab. Wir sind jetzt hier undheute am take-off Punkt einer exponentiellen technologischenEntwicklung: Auf 4 kommt 8, 16, 32 und so weiter. Aus dem netten „Windof Change“ der 90er Jahre wird also ein gepflegter Tornado.

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Nichts gegen große Geschwindigkeit, ungünstig ist nur, wenn man dannniemanden hat der besonnen und mit Voraussicht lenkt. In der ‘MissionControl’ des technologischen Fortschritts sitzt keiner der von von unsautorisiert wäre. Zukunft wird momentan von Wissenschaftlern undgewinnorientierten Unternehmen gemacht. Und zwar ausschließlich:Worüber wir kommunizieren entscheiden Facebook, LinkedIn, Twitter undBaidu. Wie wir einander kennenlernen und uns verlieben: Tinder undParship. Apple, Google und Co beeinflussen wofür wir uns interessieren.Tesla, Uber, Waymo und Co lenken bald sogar unsere Autos. IBM arbeitetderweil an und mit Quantencomputern, deren kognitive Leistung demMenschen weit überlegen sein soll, wiederum Google mit dem MagentaProjekt an Künstlicher Kreativität. Diese Liste ließe sich beliebigfortsetzen…

Es ist wichtig zu verstehen, dass Technologie an sich weder gut noch böseist. Sie ist neutral, sie ist ein Tool. “Computer sind für Antworten da,Menschen für die Fragen” schreibt der „Wired“-Mitbegründer Kevin Kelly.Oder anders gesagt: Technologie hat keine Ethik – diese müssen wir schonselber hinzufügen! Aber sind Wissenschaft und Wirtschaft alleine in derLage? Sind sie dazu geschaffen eine ethische Instanz zu sein? Die Antwort

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lautet eindeutig „Nein“: Die Wissenschaft muss neugierig sein, denn ihrgeht es darum zu erforschen was alles möglich ist. Die Wirtschaft mussgierig nach Fortschritt sein, denn ihr geht es um Effizienz und damit ummaximierte Profite. Wissenschaft und Wirtschaft kann man keinenVorwurf machen. Die Zukunft im Sinne der gesamten Menschheit zudenken ist nicht wirklich Bestandteil ihrer Jobdescription.

Viele Menschen verstehen oder spüren das und wollen, dass die Zukunftpolitisch und gesellschaftlich mitgestaltet wird. Anders ist derkometenhafte Aufstieg der Piratenpartei in den Jahren 2011/12 kaum zuerklären. Die Piraten hatten wenig mehr zu bieten als Liquid Democracy,Bedingungsloses Grundeinkommen, Datenschutz und Protest gegen einantiquiertes Urheberrecht, so wie jede Menge parteiinternes Chaos. Sieerweckten aber den Eindruck durch sie würden Politik undZivilgesellschaft wieder in Sachen Zukunft mitreden. Man hoffte aufMenschen die quer-denken, hinterfragen und aufregen, so wie Künstlerund Philosophen. Man hoffte auf Politiker denen es um Sinn, Bedeutung,Ethik und Ästhetik geht. Die Piraten Partei konnte nicht liefern undverschwand. Der Wunsch blieb.

Was tun? Aufwachen wäre eine überaus probate Maßnahme. Aufwachenund sich einmischen müssten besonders die Politiker der progressivenParteien. Die Sozialdemokratie stand früher dafür neue, technologischeMöglichkeiten für sozialen und gesellschaftlichen Fortschritt nutzen zuwollen. Für diesen Zweck haben Lasalle und Bebel die Partei vor 155Jahren gegründet. Heute diskutiert man allen Ernstes in Ortsvereinen undKreisverbänden den Rückzug der Partei von Facebook – weil Facebookjetzt „nicht mehr zu vertrauen sei“ ist. Das ist zwar nicht ganz falsch, bleibtaber eine hilflose und konservative und somit genau die falsche Reaktion.Die Deutsche SPD ist kein Einzelfall: Der kollektive Absturz dereuropäischen Sozialdemokratie begründet sich darin, dass ihr keineAntwort auf den Technologischen Wandel gelingt. Andere progressiven,politischen Kräfte springen leider auch nicht in diese klaffende Lücke.

Diese aktuelle Arbeitsverweigerung und Perspektivlosigkeit der ehemals

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progressiven Parteien ist eine Gefahr für die Demokratie. Eine Zukunftgetrieben von Digitalisierung, Automatisierung, Virtualisierung undGlobalisierung macht Angst, wenn sie fernab der eigenen oder zumindesteiner politischen Einflussnahme liegt. Trotz Hochkonjunktur und sehrguter Beschäftigung werden deshalb populistische Parteien gewählt, weildie eine klare Haltung in Sachen Zukunft haben: Sie wollen sie verhindern.Parteien wie AfD, FPÖ, SVP suggerieren, man könne die Vergangenheitzurückbringen, statt die Zukunft zu gestalten. Dieses reaktionäreVersprechen bekämpft man aber nicht, in dem man auf Versprechen ganzverzichtet, sondern in dem man ein besseres Versprechen formuliert!

Deshalb brauchen wir Zukunftsbilder, welche uns neugierig undhoffnungsvoll nach vorne schauen lassen: Maschinen und intelligenteAlgorithmen könnten den Menschen zum Beispiel von viel ungeliebterArbeitbefreien – die Forschung spricht von bis zu 85%! Dabei geht es in ersterLinie um Routinearbeit, meist repetitive Tätigkeiten, die wir der KI undden Robotern zukünftig guten Gewissens überlassen können. Eingesichertes Einkommen vorausgesetzt können wir uns stattdessen anderenDingen (oder anderen Menschen) widmen und Arbeit leisten die unsereGesellschaft voran bringt.

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Aber es kommt noch besser: Vertical Farming und Fleisch aus dem Laborkönnen dazu beitragen, Hungersnot endgültig zu besiegen und Klimazielezumindest einzuhalten – vom Tierwohl mal ganz abgesehen… Der 3D-Drucker vermeidet unnötige Transportwege für Waren. Vieles, was man zubrauchen meint, wird man sich einfach zu Hause ausdrucken. Ressourcenliegen dadurch nicht in Lagern auf Halde. Und weil der Carsharing-Wagenautonom vor die Tür fährt, besitzt (bis auf Welt Chefredakteur Poschardt)kaum einer ein eigenes Auto mehr. Datenabgleich in der Cloud und dieKonvergenz von Biologie und Technologie wird Medizin einfacher unddeutlich günstiger und die Menschen weltweit gesünder machen.

Diese Geschichte glaubt aber kaum einer, solange sie nur im Silicon Valleyund in China erzählt wird. Hierzulande und in Hollywood Filmen ergehtman sich stattdessen lieber lustvoll in Armageddon Fantasien. Die damitartikulierte Angst entbehrt nicht der Grundlage: Die Gefahren desMissbrauchs von Daten und exponentiellen Technologien sind ohneZweifel groß. Deshalb ist eine Skepsis bezüglich einer rein positivenZukunftserzählung berechtigt. Was fehlt ist die Mischung aus Voraussicht,Optimismus und gesellschaftlicher, als auch politischer Steuerung. Dafürbräuchte es Politiker die mutig und skeptisch zugleich sind.

Man muss sich trauen groß, exponentiell und nicht linear zu denken damitdie Zukunft wieder inspiriert, damit sie wieder zu einem starkenVersprechen wird. Die Welt wird sich immer rascher und tiefer ändern; imRahmen von ‘business as usual’ also normaler Abläufen und Regulierungenwerden wir keine wichtigen Weichen stellen können. Es ist zum Beispielvöllig richtig wenn der Europaabgeordnete Jan Albrecht (Die Grünen)anspricht, dass „Daten das neue Öl sind“ und einen besseren Schutz

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fordert. Das Ergebnis ist dann aber eine klassische Regulierung namensDatenschutz Grundverordnung. Das kleine Bürokratiemonster führte zueiner noch nie da gewesenen Emailflut, statt zu echter Datensicherheit undTransparenz. Daten können noch immer unseren Rechtsraum verlassen.Wieso sorgen wir nicht dafür, dass Daten hier einen sicheren, staatlichkontrollierten Hafen finden und bestehen auf eine EU Cloud?

Solange der Hintergrund der meisten Politiker ein Studium der Politik-oder Rechtswissenschaft mit anschließender Anstellung in einemAbgeordnetenbüro und/oder mit zwischenzeitlichen Versorgungsjob ineiner Staats- oder parteinahen Institution ist, verlangen wir vielleicht auchzu viel von ihnen.

Damit sie Leitplanken für ein zukunftsorientiertes Handeln bekommenbräuchten wir einen europäisches „Digital Ethics Council“. In diesenRat müssten parteiübergreifend Wissenschaftler, Philosophen, Denker undKünstler berufen werden. Ständig sollte er die neuen Herausforderungenund Möglichkeiten diskutieren und erklären, welche sich im Rahmentechnologischer Entwicklung ergeben. Der Rat könnteHandlungsempfehlungen für Staaten, Regierungen, Politik und Wirtschaftveröffentlichen und damit der Diskussion Geschwindigkeit und Richtunggeben. Auf Basis seiner Arbeit könnte man auch globale Absprachenaufgleisen.

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Internationale Moratorien kennen wir ja bereits von Chemie- undAtomwaffen. Entstanden sind sie nachdem die Menschheit im Ersten undZweiten Weltkrieg verheerende Erfahrungen mit der jeweiligenTechnologien gemacht hat. Wir werden solche weltweiten Verträge auch inSachen künstliche Intelligenz und Gen-Technologie brauchen. Allerdingsdürfen wir diesmal nicht mehr abwarten bis es zu fatalen Vorfällen wieHiroshima gekommen ist: Die Entwicklung könnte nach einem solchenSündenfall speziell in diesen beiden Bereichen unumkehrbar sein – einesog. Intelligenz-Explosion von KI wäre nicht reversibel.

Bei anderen Massnahmen ist allerdings mit keinerlei Unterstützung seitensUSA und China zu rechnen. Aus deren Volkswirtschaften kommen letztlichdie großen, digitalen Player wie beispielsweisen Google, Facebook, Baidu,Alibaba und Tencent. Sie, genauso wie andere digitale Plattformen solltenfortlaufend ihre ‘License to operate’ verdienen müssen indem sie effektiveMassnahmen zum Schutz vor dem Missbrauch unserer Daten einführen.Es kann nicht sein das globale Unternehmen mit hunderten von Millionenoder sogar Milliarden von Usern weniger überwacht werden als öffentlicheMedien oder Banken. Ebensowenig macht es Sinn bei durchDigitalisierung sinkenden oder gar entfallenden GrenzkostenKonzerngewinne durch die Decke gehen zu lassen. Moderne Technologiebraucht moderne Systeme der Besteuerung.

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Die Zukunft kommt. Sie kommt sogar sehr schnell, und sie ist oft auchschon hier – wir haben sie nur noch nicht erkannt. Sie beinhaltet viel Guteswelches wir gemeinsam erleben und nutzen können. Funktionieren imSinne der Menschheit wird das nur indem wir uns einmischen, und dieZukunft aktiv gestalten. Funktionieren wird das nur in dem wir sagen wiewir leben wollen, und wer wir sein wollen; indem wir auch bereit sind zuträumen und zu kämpfen. Lasst uns Richtung Zukunft laufen. Wacht aufund kommt mit!

Gerd Leonhard / Tim Renner Zürich/Berlin 2.8.2018

Kontext: Das Buch von Gerd Leonhard: Technology vs Humanity (in 6Sprachen erhältlich)

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Extended Post on Gerd’s blog (English translation soon, as well)

Podcast mit Gerd und Tim