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Lehr-/Lernforschung REPORT 1|2006 Zeitschrift für Weiterbildungsforschung 29. Jahrgang

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Lehr-/Lernforschung

REPORT 1|2006Zeitschrift für Weiterbildungsforschung29. Jahrgang

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Impressum

REPORTZeitschrift für Weiterbildungsforschungwww.report-online.net

ISSN 0177-4166

29. Jahrgang 2006 – Heft 1/2006

Herausgebende Institution: Deutsches Institutfür Erwachsenenbildung e. V., Bonn

Verantwortlich Herausgebende: Ekkehard Nuissl(E.N.), Duisburg; Christiane Schiersmann (C.S.),Heidelberg; Horst Siebert (H.S.), Hannover

Heftherausgeber 1/2006:Ekkehard Nuissl

Beirat: Rolf Arnold, Kaiserslautern; MarthaFriedenthal-Haase, Jena; Philipp Gonon, Zürich;Elke Gruber, Klagenfurt; Anke Hanft, Oldenburg;Gabi Reinmann, Augsburg; Erhard Schlutz, Bre-men; Josef Schrader, Tübingen; Dieter Timmer-mann, Bielefeld; Jürgen Wittpoth, Bochum;Christine Zeuner, Flensburg

Wissenschaftliche Redaktion: Christiane JägerAssistenz: Kornelia Vogt-Fömpe (Manuskript-annahme/Rezensionen) und Christiane Barth(Lektorat)

Anschrift Redaktion und Herausgeber:Deutsches Institut für Erwachsenenbildung,Friedrich-Ebert-Allee 38, 53113 Bonn,Tel. 0228 3294-103, Fax 0228 3294-398,E-Mail [email protected]

Peer-Review-Verfahren: Alle Manuskripte wer-den in der Redaktion anonymisiert und nebenden drei Herausgebern zwei Gutachter/inne/nvorgelegt. Die Begutachtung erfolgt „doubleblind“ (siehe www.report-online.net/peer-review/verfahrensregeln.asp)

Manuskripte werden nur zur Alleinveröffentli-chung angenommen. Der Autor/die Autorin ver-sichert, über die urheberrechtlichen Nutzungs-rechte an seinem/ihrem Beitrag einschließlichaller Abbildungen allein verfügen zu könnenund keine Rechte Dritter zu verletzen. Mit derAnnahme des Manuskripts gehen die Rechte aufdie herausgebende Institution über. Für unver-langt eingesandte Manuskripte wird keine Ge-währ übernommen.

Wie gefällt Ihnen diese Veröffentlichung?Wenn Sie möchten, können Sie dem DIE unterwww.die-bonn.de ein Feedback zukommenlassen. Geben Sie einfach den Webkey 23/2901 ein. Von Ihrer Einschätzung profitierenkünftige Interessent/inn/en.

Recherche: Unter www.report-online.net kön-nen Sie Schwerpunktthemen der Einzelhefte undsämtliche seit 1989 im REPORT erschienene Ar-tikel und Rezensionen recherchieren. Einzelhef-te der Jahrgänge 1992 bis 2002 stehen zudemzum kostenlosen Download zur Verfügung.

Bibliografische Information der DeutschenBibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnetdiese Publikation in der Deutschen National-bibliografie; detaillierte bibliografische Datensind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Satz: Grafisches Büro Horst Engels, Bad Vilbel

Herstellung, Verlag und Vertrieb:W. Bertelsmann Verlag GmbH & Co. KGAuf dem Esch 4, 33619 BielefeldTel. 0521-91101-11, Fax 0521-91101-19E-Mail [email protected] www.wbv.de

Anzeigen: sales friendly, Bettina Roos,Maarweg 48, 53123 BonnTel. (02 28) 9 78 98-10, Fax (02 28) 9 78 98-20,E-Mail [email protected]

Erscheinungsweise: Vierteljährlich, jeweils imApril, Juli, Oktober und Dezember.

Bezugsbedingungen: Preis der Einzelhefte 12,90EUR; das Jahresabonnement (4 Ausgaben) kostet30,– EUR, für Studierende mit Nachweis 25,–EUR. Alle Preise jeweils zzgl. Versandkosten.Das Abonnement läuft bis auf Widerruf,zumindest jedoch für ein Kalenderjahr. DieKündigungsfrist beträgt sechs Wochen zumJahresende.

ISBN 3-7639-1921-XBest.-Nr. 23/2901

© 2006 DIEAlle Rechte, auch der Übersetzung, vorbehalten.Nachdruck und Reproduktion nur mit Genehmi-gung der herausgebenden Institution.

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REPORT 1/2006, 29. Jahrgang

Thema: Lehr-/Lernforschung

INHALT

Editorial ...................................................................................................................5

Beiträge zum Schwerpunktthema

Horst SiebertLernforschung – ein Rückblick ................................................................................ 9

Gerald A. StrakaVermitteln lerntheoretisch betrachtet .....................................................................15

Gertrud WolfDer Beziehungsaspekt in der Dozent-Teilnehmer-Beziehung als Ressourceund Determinante lebenslangen Lernens ..............................................................27

Rolf Arnold/Claudia Gómez TutorEmotionen in Lernprozessen Erwachsener .............................................................37

Florian H. MüllerInteresse und Lernen ..............................................................................................48

Monika Kil/Sina WagnerEntwicklungsarbeiten zum Fragebogen [OrTe]Ein Instrument zur Erfassung von Erwartungen an Lehre, Lernenund Organisation in der Weiterbildung .................................................................63

Rezensionen ..........................................................................................................75

Autorinnen und Autoren .......................................................................................95

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Heft Nr. Themenvorschau

2/06 Zuwanderung und MigrationGastherausgeberin: Veronika Fischer

3/06 Altenbildung – AlternsbildungVerantwortlicher Herausgeber: Horst Siebert

4/06 NetzwerkeVerantwortlicher Herausgeber: Ekkehard Nuissl

Bitte beachten Sie, dass alle Beiträge ein Peer-Review-Verfahren durchlaufen.Informationen zum Peer-Review-Verfahren finden Sie auf der Internetseite des REPORTs unterwww.report-online.net/peer-review/verfahrensregeln.asp

Weitere Informationen zu den Schwerpunktthemen finden Sie ebenfalls auf der Website unterwww.report-online.net/vorschau/themen.asp

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Editorial

Lehr-Lern-Forschung hat in den Erziehungswissenschaften in den letzten Jahren wiedereine stärkere Aufmerksamkeit gefunden. Ursächlich erkennbar ist dabei vor allem zwei-erlei: einerseits die heftige Debatte über die Leistungsfähigkeit des Bildungssystemsanlässlich der Ergebnisse der PISA-Studie, andererseits die neuen technischen Mög-lichkeiten der Neurowissenschaften, anhand Bild gebender Verfahren intrahumaneVorgänge bei Lernprozessen beobachten und nachweisen zu können. Verbunden da-mit sind auch andere Diskurse, so etwa die Auseinandersetzung mit der konstruktivis-tischen Position der individuellen Weltsicht oder der politisch-ökonomisch induzier-ten Diskussion um die Notwendigkeit selbstgesteuerten Lernens.

In der vorliegenden Ausgabe des REPORT werden neuere wissenschaftliche Arbeitenzu Lehr-Lern-Prozessen vorgestellt. Horst Siebert gibt zunächst einen Rückblick (undeinen Überblick) über den Stand der Forschung und resümiert, dass die Ausweitungder erwachsenenpädagogischen Forschung zwar die Bedeutung des Lernens unter-streicht, aber auch zu einer Erosion des Forschungsgegenstandes führen kann. GeraldA. Straka widmet sich dem Thema Lernen (unter dem pädagogisch induzierten Begriffdes „Vermittelns“) in lerntheoretischer Betrachtung. Er geht vom lernenden Subjekt ausund formuliert einen Rahmen für die Verbindung von Lehren und Lernen, indem er diemehrdimensionale Betrachtung der kognitiven, motivationalen und emotionalen Di-mension heranzieht. Dabei betont er auch, dass mit dem Begriff des Vermittelns nichtder Didaktikbegriff abgelöst werden soll. Gertrud Wolf behandelt die Beziehung zwi-schen Dozenten und Teilnehmern und verweist auf eine in der Erwachsenenbildungnoch wenig ausgeleuchtete Ressource von Lehr-Lern-Prozessen, die reflektierte Defi-nition der unterschiedlichen Rollen von Lehrenden und Lernenden. Dass dies zugleichauch eine Determinante der Lernweisen und (möglicherweise) der Lernergebnisse ist,deutet sie in ihren Analysen an, wobei sie dort einen Akzent auf die sozialen Bezie-hungen im Lebenslauf setzt. Dem in der erziehungswissenschaftlichen Forschung nachwie vor nur unsystematisch untersuchten Aspekt der Emotionen in Lernprozessen Er-wachsener gehen Rolf Arnold und Claudia Gómez Tutor in einer Sekundäranalysevorliegenden Materials nach. Die Emotionen der Lernenden scheinen in der erzie-hungswissenschaftlichen Betrachtung von Lehr-Lern-Prozessen so etwas wie die grö-ßere, unsichtbare Komponente des Eisbergs zu sein. Florian Müller beschäftigt sich mitdem Konzept des Interesses, das gerade in der erwachsenenpädagogischen Forschungvon je her eine wichtige Rolle spielte – Interesse als Wahlmotiv, als Lernbedingung, alsZiel, aber auch als abhängige Variable im Lernprozess. Schließlich stellen Monika Kilund Sina Wagner einen Fragenbogen vor, ein Instrument zur Erfassung von Erwartun-gen an Lehre, Lernen und Organisation in der Weiterbildung, gewissermaßen eineVorstufe erwartbarer empirischer Ergebnisse.

Mit den Themen der Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden, der Emotionen,des Interesses und der Erwartungen liegen insgesamt Arbeiten vor, die aktuell die Kern-

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Editorial

begriffe erwachsenenpädagogischer Forschungsarbeiten beleuchten. Vielfach regen dieBeiträge zu weiteren Forschungen an, stellen unbeantwortete Fragen und tragen damitzum fachwissenschaftlichen Diskurs bei, der Aufgabe der Zeitschrift REPORT ist.

Herausgeber und Redaktionsbeirat der Zeitschrift REPORT haben, eben mit Blick aufdiese Aufgabe, in den vergangenen zwei Jahren einen Umgestaltungsprozess der Zeit-schrift begonnen, die ihr nach wie vor bestehendes Ziel und Profil – der fachwissen-schaftliche Diskurs in Erwachsenen- und Weiterbildungsforschung – beibehält, abersich auf die veränderten Gegebenheiten einstellt. Man kann diese „Modernisierung“der Zeitschrift schon am äußeren Erscheinungsbild erkennen: Der Schriftzug „REPORT“erscheint als grafisches Element auf dem Deckblatt, der REPORT selbst heißt nunmehrim Untertitel „Zeitschrift für Weiterbildungsforschung“ statt, wie früher, „Literatur- undForschungsreport Weiterbildung“.

Die wichtigste Änderung im REPORT ist auf den ersten Blick nicht ersichtlich, auf denzweiten aber vermutlich doch: Nach langer Vorbereitungszeit ist der REPORT nun seitdem Jahrgang 2006 umgestellt zu einer „peer-reviewten“ Zeitschrift. Konkret bedeutetdies, dass alle Beiträge im REPORT, auch die angefragten, jeweils zwei externen Ex-pert/inn/en zur Begutachtung vorgelegt werden. Verfahrensregeln und Bewertungsbo-gen zum Peer-Review sind über das Online-Angebot der Zeitschrift unter www.report-online.net einsehbar. Das Verfahren der Begutachtung macht das Zustandekommenjeder einzelnen Nummer schwieriger und aufwändiger, sichert aber stärker als bisherdie Qualität der veröffentlichten Beiträge. Dadurch, dass Verbesserungsvorschläge undAnregungen der Gutachter/innen den Autor/inn/en rückgemeldet werden, trägt dieZeitschrift auch in diesem Sinne zu einer Verbesserung des wissenschaftlichen Diskur-ses bei.

Schließlich besteht eine weitere Neuerung gegenüber den letzten Jahren darin, dassalle vier Ausgaben des REPORT nunmehr in der Verantwortung der Herausgeber derZeitschrift und des herausgebenden Instituts liegen; die Verbindung mit der alljährli-chen Dokumentation der Fachtagung der DGfE als erstes Heft des jeweiligen Jahr-gangs wurde im Jahr 2005 beendet.

Auch wenn in dieser Nummer die entsprechende Rubrik nicht besetzt ist, so hat derREPORT – darauf sei nachdrücklich hingewiesen – mit dem „Forum“ nach wie voreine Rubrik, für die Beiträge unabhängig vom jeweiligen Schwerpunktthema einge-reicht werden können und auch sehr erwünscht sind. Wir bitten Sie, von dieser Mög-lichkeit ausgiebig Gebrauch zu machen!

Bonn/Duisburg, im Februar 2006

Ekkehard NuisslChristiane SchiersmannHorst Siebert

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BEITRÄGE ZUMSCHWERPUNKTTHEMA

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Horst Siebert

Lernforschung – ein Rückblick

Die Geschichte der empirischen Erforschung des Lernens Erwachsener lässt sich bis indie 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts zurückverfolgen. In diesem Beitrag werden eini-ge interpretative Lehr-Lernforschungen der Erwachsenenpädagogik in Erinnerung geru-fen. Es entsteht der Eindruck, dass das disziplinäre Gedächtnis der Wissenschaft der Er-wachsenenbildung unterentwickelt ist, da viele aufschlussreiche ältere Untersuchungenin Vergessenheit geraten zu sein scheinen. Bei neuen Forschungen wird meist wenig aufeine Anschlussfähigkeit und Kontinuität der Fragestellungen geachtet. Umso wichtigererscheint eine Historiographie der empirischen Erwachsenenbildungsforschung.

1. Lernen – ein unübersichtliches Feld

Ein gibt keine allgemeingültige Definition des Lernens. Es gibt so viele Begriffsbestim-mungen wie Lerntheorien und Lerntheoretiker/innen. Lernen ist ein allgemeines Erklä-rungsprinzip für – psychische und psychomotorische – Veränderungen. Die Kogniti-onspsychologie interessiert sich vor allem für die Veränderung des Denkens und derWissensaneignung, der Behaviorismus beobachtet manifeste Verhaltensänderungen,die Gehirnforschung definiert Lernen als Verstärkung von Synapsen und als Verknüp-fung neuronaler Netze, die Sozialpsychologie konzentriert sich auf die Veränderungvon Deutungen durch symbolische Interaktion, der Konstruktivismus interpretiert Ler-nen als Differenzierung von Wirklichkeitskonstrukten, die Pädagogik untersucht Ler-nen im Zusammenhang mit Lehre. Die Lernforschung misst keine Lernprozesse, son-dern Indikatoren, die auf mentale Aktivitäten verweisen, die als Lernen bezeichnetwerden. Ob jemand etwas gelernt hat, lässt sich meist erst in der zukünftigen Praxis, inder „back home Situation“ feststellen.

Wenn es schon schwierig ist, Lernprozesse zu dokumentieren, so ist es noch schwieri-ger, Lernfähigkeiten und Lernpotenziale zu messen. Trotz oder wegen dieser Unschär-fen ist der Lernbegriff zu einem Schlüsselbegriff geworden, der nicht nur Begriffe wieBildung und Erziehung abzulösen scheint, sondern auch Problemlösungsstrategienverspricht. Darauf verweist die inflationäre Verwendung von Begriffen wie „lebenslan-ges Lernen“, „Lerngesellschaft“, „lernende Organisation“ oder „lernende Region“.Wenn möglichst alle möglichst viel lernen, so wird signalisiert, wird alles gut.

Diese Botschaft hat immerhin dazu beigetragen, dass Weiterbildung in den vergange-nen Jahrzehnten zum größten Bildungssektor ausgebaut wurde. Außerdem hat die po-sitive Konnotation des Lernens das negative Selbstbild der Erwachsenen („Was Häns-chen nicht lernt ...“) korrigiert. Wolfgang Schulenberg stellte in den 1950er Jahren fest,dass Lernen nicht zum sozial erwünschten Rollenverhalten Erwachsener gehört (Schu-

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Beiträge

lenberg 1957, S. 156). Solche Rollenstereotypen wirken im Sinne einer selffulfillingprophecy: Wem die Gesellschaft keine Lernfortschritte mehr zutraut, der verliert seinSelbstvertrauen und reduziert seine Lernbemühungen. Auf diesen gesellschaftlichenRückkopplungsprozess hat bereits einer der ersten erwachsenenpädagogischen For-scher, Edward Thorndike (1928), hingewiesen.

Die klassische Frage „How do adults learn?“ ist von der empirischen Forschung immerschon optimistischer beantwortet worden als von der öffentlichen Meinung. Das Ne-gativbild des lernenden Erwachsenen beruht keineswegs (nur) auf Unkenntnis, son-dern hängt mit Machtinteressen zusammen: Wer ständig lernend sich bemüht, kann zueinem Unruhestifter werden, der die herrschenden Strukturen in Frage stellt. Auf diesesozialstrukturellen Zusammenhänge hat bereits Willy Strzelewicz (der 2005 100 Jahrealt geworden wäre) in den 1960er Jahren hingewiesen. Die Neigung, die LernfähigkeitErwachsener „nur biologistisch aufzufassen“, muss – so Strzelewicz – „selbst aus be-sonderen sozialhistorischen Wurzeln verstanden werden ... Wie überall, so bildeteauch hier die biologistische Begründung den ideologisch härtesten Kitt, um jede mitder ständischen Normenordnung in Konflikt stehende Bildungs- und Lernbemühungim Großen und Ganzen zu vermauern: Was von Natur so oder so ist, kann nicht geän-dert werden“ (Strzelewicz 1968, S. 33).

Damit hat die Lernforschung ihre politische Unschuld verloren. Wenn Lernen keinobjektives Faktum, sondern ein beobachtungsabhängiges Konstrukt ist, dann muss dieForschung ihre erkenntnisleitenden Interessen offen legen. Häufig werden Forschungs-ergebnisse verkürzt rezipiert und einseitig dargestellt – nicht selten mit problemati-schen Auswirkungen. So war in der Vergangenheit die Adoleszenz-Maximum-Kurveweit verbreitet, derzufolge die Lernfähigkeit vom dritten Lebensjahrzehnt an kontinu-ierlich abnimmt (vgl. Bobertag 1930 in: Schulenberg 1978, S. 51). Diese Defizitthesewird mit Forschungsergebnissen E. Thorndikes belegt, obwohl Thorndike darauf hin-weist, dass ein solcher Leistungsabfall allenfalls beim rein mechanischen Lernen undbeim Erwerb manueller Fertigkeiten zu beobachten ist. Ansonsten weist Thorndikenach, dass die biologischen Altersunterschiede oft geringer sind als Differenzen inner-halb einer Altersgruppe und dass altersbedingte Veränderungen durch Übung undMotivation kompensiert werden können (vgl. Bobertag 1930, S. 46).

So konzentrieren sich viele ältere Untersuchungen auf die nachlassende Speicherka-pazität des Gedächtnisses. Die Testaufgaben bestehen überwiegend aus „sinnfreiemMaterial“. Warum sollen Erwachsene, die den Kopf mit Alltagsproblemen „voll“ ha-ben, Forschenden den Gefallen tun, sich sinnlose Wörter zu merken? Hier ist an Cice-ro zu erinnern, der schon vor 2000 Jahren in „Cato maior – de senectute“ feststellte:

„Aber das Gedächtnis lässt nach. Das dürfte stimmen, wenn man es nicht übt, oder auch, wennman von Natur aus ein Schwachkopf ist ... Auch habe ich noch nie gehört, dass ein alter Mannden Platz vergessen hätte, an dem er einen Schatz vergraben hatte; alte Leute wissen alles, wo-rum sie sich Sorgen machen; anberaumte Gerichtstermine, ihre Schuldner und ihre Gläubiger ...Nur eifriges Interesse braucht weiterzuwirken, dann bleiben die Geisteskräfte im Alter erhalten“(Cicero 44 v. Chr./1983, S. 41 ff.).

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Siebert: Lernforschung – ein Rückblick

Cicero macht auf drei Faktoren aufmerksam, die das Lernen Erwachsener positiv be-einflussen:• Motivation,• Praxisrelevanz der Lerninhalte,• Übung.

Die moderne Forschung hat diese Annahmen zwar differenziert, aber doch im Kernbestätigt. So hat der DDR-Psychologe Hans Löwe 1970 eine „Einführung in die Lern-psychologie des Erwachsenenalters“ veröffentlicht, die in Westdeutschland relativ un-beachtet geblieben ist. Löwe gibt einen umfassenden Überblick über den damaligenStand der psychologischen Lernforschung, und er weist – theoretisch und empirisch –die Bedeutung von zwei Bedingungsfaktoren für Lernleistungen nach, nämlich Lern-aktivität und Lernmotivation. Löwe beruft sich auf Wygotski, Rubinstein, Leontjew,Galperin, Piaget, Hilgard u. a. und schlägt folgende Lerndefinition vor: Lernen ist „einaktives – und nicht rezeptives, ein personalmotiviertes – und nicht personindifferentes,ein sozial – und nicht endogen – determiniertes und ein hochgradig methodenabhän-giges Verhalten“ (Löwe 1970, S. 35). Löwe distanziert sich nachdrücklich von einerbiologistisch-individualistischen Betrachtung des Lernens. Was in seiner Übersichtallerdings zu kurz kommt, sind• die Biografieabhängigkeit des Lernens,• Prozesse des selbstgesteuerten Lernens,• Ergebnisse der Gehirnforschung und• milieu- und geschlechtsspezifische Unterschiede.

Lernen – und das ist eine triviale Feststellung – beinhaltet sehr unterschiedliche Aktivi-täten, vom Klavierspielen bis zur „Identitätsfindung“. In der Geschichte der erwachse-nenpädagogischen Lernforschung schlägt der Amerikaner Orville Brim (1966, deutsch1974) eine Klassifikation vor. Brim, der den Begriff „Erwachsenensozialisation“ ein-

führt, unterscheidet einerseits manifes-tes Verhalten und Werte, andererseitsKenntnisse, Fähigkeiten und Motivatio-nen, so dass folgende Matrix entsteht(vgl. Abb. 1):

Ich verzichte hier auf eine kritische Kom-mentierung der zugrunde liegendenstrukturfunktionalistischen Rollentheo-rie. Interessant ist seine folgende These:„Was die Veränderungen während des

Lebens betrifft, so lässt sich sagen, dass sich das Schwergewicht im Sozialisationspro-zess von der Motivation zu Fähigkeiten und Kenntnissen verlagert bzw. von Werten zuVerhalten ... Feld A stellt den normalen Fall von Erwachsenensozialisation dar“ (ebd.S. 27). Eine weitere These lautet, „dass der Inhalt von Erwachsenensozialisation weni-ger aus neuem Material besteht, als vielmehr aus einer Ansammlung und Synthese von

Abbildung 1: Klassifikation nach Brim

Verhalten

A

C

E

Werte

B

D

F

Kenntnisse

Fähigkeiten

Motivation

(Brim 1974, S. 26)

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Beiträge

Elementen aus dem Vorrat bereits erlernter Verhaltenskategorien“ (ebd. S. 30). Lernenim Erwachsenenalter ist also primär „Anschlusslernen“. Und eine dritte These betriffteinen lebensgeschichtlichen Wandel vom Idealismus zum Realismus: „Mit dem Er-wachsenwerden des Individuums stellt die Gesellschaft die Forderung, realistischer zuwerden und kindlichen Idealismus abzulegen“ (ebd. S. 30).

Es ist verwunderlich, dass diese brisanten Thesen in der deutschen Erwachsenenbil-dungsforschung weitgehend unbeachtet geblieben sind, dass nicht versucht wurde, sieempirisch zu verifizieren oder zu falsifizieren. Vielmehr scheint die Neigung zu beste-hen, mit der eigenen Forschung stets am Nullpunkt zu beginnen, und so zu tun, als gra-be man auf einem völlig unbeackerten Feld. Auffällig ist ferner die disziplinäre Selbstre-ferenzialität. Die meisten Lernpsychologen ignorieren die erwachsenenpädagogischeLiteratur. Die meisten Erwachsenenpädagogen nehmen die Neurowissenschaftenallenfalls zum Zweck der Abwehr zur Kenntnis. Interdisziplinäre Forschungsprojekte, indenen unterschiedliche Perspektiven verschränkt werden, sind mir kaum bekannt.

Ein Überblick über den Stand der kognitionswissenschaftlichen und neurowissenschaft-lichen Lernforschung kann hier nicht gegeben werden, gleichwohl sei auf die Über-blicksdarstellungen von Weinert/Mandel (1997), Stern (2005) sowie Roth (2003) hin-gewiesen.

2. Die erwachsenenpädagogische Perspektive

Erwachsenenbildungsforschung rekonstruiert die Lehr-Lernsituation, die „pädagogischeKommunikation“ (Kade/Seitter 2005, S. 47 ff.), die Passung (oder Nicht-Passung) derLehr- und Lernperspektiven unter Berücksichtigung der Lerninhalte. Bevorzugt werdendabei interpretative Methoden der teilnehmenden Beobachtung (inkl. audiovisuellenAufzeichnungen, wörtlichen Protokolle), oft kombiniert mit Teilnehmer- und Kurslei-terbefragungen.

Ich erinnere mich an ein Unterrichtsforschungsprojekt in den 1960er Jahren, das amWiderstand der „Beforschten“ gescheitert ist. Die „Forscher“ hatten ein Tonbandgerätim Seminarraum versteckt, das aber von Teilnehmenden entdeckt wurde. So war dasProjekt beendet, bevor es begonnen hatte. Manche kleinere, aber methodisch interes-sante Untersuchungen sind leider kaum rezipiert worden. Ein Beispiel: Hans Tietgenserstellte 1964 ein bemerkenswertes Gutachten zu der Frage „Warum kommen wenigIndustrie-Arbeiter in die Volkshochschule?“ (dieser Text wurde erst 1978 veröffentlichtin: Schulenberg 1978, S. 98). Tietgens erörtert Zusammenhänge zwischen Sprachco-des, Lernstilen und Weiterbildungsbeteiligung.

Daraufhin führt Heinz Christian Schalk in Österreich eine Studie über „Schichtspezifi-sche Sprachunterschiede bei Erwachsenen“ durch (Schalk/Tietgens 1978). Schalk wer-tet unterschiedliche Diskussionen aus, wobei er nicht nur schichtspezifische Differen-

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zen in Anlehnung an die Sprachcodetheorie von B. Bernstein analysiert, sondern auchdie bisher vernachlässigte Themenabhängigkeit des Sprachgebrauchs berücksichtigt.Vereinfacht gesagt: Die Elaboriertheit der Sprache – auch in Unterschichtgruppen –hängt nicht zuletzt von der Lebensnähe des Themas ab.

Einige komplexe Lehr-Lernforschungen sind:• BUVEP = Bildungsurlaubs-Versuchs- und Entwicklungsprogramm der Heidelber-

ger Arbeitsgruppe für empirische Bildungsforschung (Kejcz u. a. 1979). Durch eineAnalyse der Diskussionsverläufe wurde deutlich, dass (und wie) sozialwissenschaft-lich qualifizierte „Teamer/innen“ und Industriearbeiter/innen auf Grund unter-schiedlicher Referenzsysteme und Deutungsmuster argumentieren und eine Pas-sung nur scheinbar zustande kommt.

• In unserer Hannoveraner Studie über Lehr- und Lernverhalten in der Erwachse-nenbildung (Siebert/Gerl 1975) haben wir untersucht, ob eine Passung durch Par-tizipation, d. h. durch eine Verständigung über Lernziele und Lernmethoden ver-bessert wird. Ein Ergebnis war, dass sich lernungewohnte und unsichere Teilneh-mende durch solche Lernzieldiskussionen benachteiligt fühlen und eine Steue-rung durch die Kursleitung bevorzugen.

• Rolf Arnold und Ingeborg Schüßler haben ein „Tagesmütterseminar“ aufgezeich-net und transkribiert. In einer Sitzung wurde der Umgang mit Komplimenten erör-tert. Die Teilnehmerinnen simulieren die Akzeptanz von Komplimenten in Rol-lenspielen, doch dann schildert eine Teilnehmerin einen realen Konflikt aus ihrerFamilie. Aus dem Spiel wird Ernst, die Spielregeln werden außer Kraft gesetzt undauch der Kursleiterin gelingt es nicht, die didaktische Inszenierung zu retten (Ar-nold u. a. 1998). Dieses Seminar verdeutlicht die Entkoppelung von Lehre undLernen, die Eigendynamik einer Lerngruppe, auch die Emergenz eines Lernthe-mas.

• Auch die Seminarprotokolle, die Sigrid Nolda aufgezeichnet und interpretiert hat,weisen in eine ähnliche Richtung. Die Aneignung von Wissen erfolgt relativ un-abhängig von dem offiziellen Lehrplan. Der traditionelle Unterricht, in dem Lehr-kräfte den Lernprozess der Teilnehmenden organisieren, wird zu einem auslau-fenden Modell. Seminare sind – so Nolda – „gemeinsame Inszenierungen“, wobeidie Teilnehmenden eine „selbständige Haltung zum Unterrichtsgegenstand“ ein-nehmen (Nolda 1996, S. 330).

• Das erwachsenenpädagogische Forschungsinteresse beschränkt sich nicht mehrauf die Analyse seminaristischer Veranstaltungen. Angesichts einer Entgrenzungder Erwachsenenbildung und einer „Universalisierung des Pädagogischen“ erfor-schen Jochen Kade und Wolfgang Seitter Felder außerschulischer „pädagogischerKommunikation“. Sie registrieren „eine zunehmende pädagogische Strukturierungdes Lernens“ im Vollzug der Arbeit und in Gesprächen mit Obdachlosen (Kade/Seitter 2005, S. 47 ff.)

Zunehmend wird auch ein computerunterstütztes Lernen erforscht. Die Darstellungdieser Literatur würde allerdings den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Zusammenfas-

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14 REPORT (29) 1/2006

Beiträge

send lassen sich folgende Thesen formulieren:• Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen wächst auch in der Erwachsenenbil-

dung: Ein „schülerhaftes“, rezeptives Lernverhalten nimmt ebenso zu wie eineInszenierung von Seminaren, in denen die Teilnehmenden selbstverständlich undselbstständig „ihr Heft in die Hand nehmen“.

• Die klassischen didaktischen Faktoren – Lernzielformulierung, Planung der Inhal-te und Methoden – verlieren ihre Bedeutung gegenüber Kontextfaktoren (Ambien-te, Atmosphäre, Situationen) und einem „heimlichen Lehrplan“.

• Während der traditionelle pädagogische Habitus der Lehrenden seltener wird,nimmt die pädagogische Strukturierung außerschulischer Lernsituationen (Mas-senmedien, Beratungen, Vereine, Beratungsprozesse etc.) zu.

• Selten sind in der Erwachsenenbildungsforschung quasi-experimentelle Versuchs-anordnungen, die die Wirksamkeit didaktisch-methodischer Konzepte evaluieren(zur Wirksamkeit von Lernzielpräzisierungen vgl. Siebert/Gerl 1975, S. 86 ff., zumEinfluss von Metakognition vgl. Kaiser 2003, S. 37 ff.)

Die Themen der erwachsenenpädagogischen Forschung weiten sich auf fast alle for-malen und informellen Lerngelegenheiten aus. Dies kann als gesellschaftlicher Bedeu-tungszuwachs dieser Forschung begrüßt, aber auch als Erosion des Forschungsgegen-stands bedauert werden.

Literatur

Arnold, R. u. a. (Hrsg.) (1998): Lehren und Lernen im Modus der Auslegung. BaltmannsweilerBobertag, O. (1978): Bericht über eine amerikanische Untersuchung. In: Schulenberg, W. (Hrsg.):

a.a.O., S. 45Brim, O. (1974): Stanton Wheeler: Erwachsenensozialisation. MünchenCicero, M. T. (44 v. Chr./1983): Cato Maior de Senectute. MünchenKade, J./Seitter, W. (Hrsg.) (2005): Pädagogische Kommunikation im Strukturwandel. BielefeldKaiser, A. (Hrsg.) (2003): Selbstlernkompetenz. MünchenKejcz, Y. u. a. (1979): Lernen an Erfahrungen? BonnLöwe, H. (1970): Einführung in die Lernpsychologie des Erwachsenenalters. BerlinRoth, G. (2003): Fühlen, Denken, Handeln. Frankfurt a.M.Schalk, H. Ch./Tietgens, H. (1978): Schichtspezifischer Sprachgebrauch als Problem der Erwach-

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Gerald A. Straka

Vermitteln lerntheoretisch betrachtet

„Vermitteln“, „Vermittlungstheorie“ und „Vermittlungswissenschaft“ sind derzeit Ge-genstand theoretischer Diskussionen und praktischen Handelns im didaktischen Be-reich, was zum Anlass genommen wird zu prüfen, ob und wie Erkenntnisse und Kon-zepte aus der Lern- und Lehrforschung zur Konzeptualisierung einer solchen Didaktikbeitragen können. Ausgehend vom lernenden Subjekt wird ein Rahmen für Lernenund Lehren entwickelt, in dessen Zentrum die komplexe und mehrdimensionale Hand-lungsepisode aus untrennbar miteinander verbundenem Handeln und Informationsteht. Es ist das Individuum, das mit ihr die Verbindung zu seiner kulturell geprägtenUmgebung herstellt, woraus folgt, dass „Vermitteln“ mit seiner Außenperspektive be-dingt zukunftsweisend für didaktische Überlegungen sein kann.

1. Einführung

Überlegungen zu einer „Vermittlungstheorie“ bilden derzeit ein Thema in der didak-tischen Theorie und Praxis. Die Eingabe dieses Terms in die Suchmaschine Googlebrachte am 09.11.2005 insgesamt 404 Ergebnisse zu Tage. Den obersten Platz nimmtvon Olbergs Beitrag in der Zeitschrift für Pädagogik ein, gefolgt von der UniversitätFlensburg, die ab dem Wintersemester 2005/06 ihre Lehrerausbildung in einen Ba-chelorstudiengang für „Vermittlungswissenschaften“ umgewandelt hat. Von OlbergsFrage „Didaktik auf dem Weg zur Vermittlungswissenschaft?“ (von Olberg 2004) sollaufgegriffen und untersucht werden, ob und auf welche Weise lehr-lern-theoretischeKonzepte und Befunde zur Konstituierung einer solchen didaktischen Ausrichtungbeitragen können. Dazu wird ein Rahmenmodell von Handeln, Lernen und Lehrenvorgestellt, in dessen Zentrum das Konzept einer mehrdimensionalen „Handlungs-episode“ steht.

2. Ein Rahmenmodell für Handeln, Lernen und Lehren

Zur Beschreibung von Handeln, Lernen und Lehren wird in Anlehnung an Klauer(1973) und Gagné (1965) zwischen externen Bedingungen, Vorgängen im Lernendenund internen Bedingungen unterschieden. Interne Bedingungen sind psychische Per-sonenmerkmale wie Kenntnisse, Wissen, Fertigkeiten, Fähigkeiten, motivationale undemotionale Dispositionen. Die externen Bedingungen umfassen Zustände und Vor-gänge in der Umgebung des Lernenden. Unter der Bedingung von Lehren sind dasbeispielsweise Aufgaben, Lehrverhalten, Medien und Lehrformen, die ihrerseits mitLehrzielen und übergeordneten Erziehungs- sowie Bildungszielen in Beziehung ste-hen.

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Beiträge

Aus kognitionswissenschaftlicher Perspektive gelangen die externen Bedingungen alsStimuli, Symbole, Zeichen oder allgemeiner als physikalische Ereignisse in die Sphäredes Lernenden, die als solche keine Bedeutung haben. Damit diese Symbole überhauptals bedeutungstragende Zeichen erkannt werden, muss der Handelnde zum einen ak-tiv werden und zum anderen über interne Bedingungen wie Zeichenvorrat, Kenntnisseund Wissen verfügen (Straka/Macke 1981; Roth 2004). Es ist also die Person, die Sym-bolen Bedeutungen zuweist, die im Folgenden als Information bezeichnet werden.

Handeln ist ohne Information und umgekehrt ist Information ohne Handeln nicht mög-lich (s. Abb. 1). Beispielsweise ist die Handlung „Addieren“ nur realisierbar, wennmindestens zwei numerische Informationen aktiviert werden. Als aktueller Vorgangsind sie somit untrennbare Bestandteile einer Handlungsepisode.

Das Zusammenspiel von Handeln und Information kann umgebungs- und/oder indivi-duumsbezogene Folgen haben. Eine umgebungsbezogene Folge kann beispielsweisedie schriftliche Erstellung einer Lösung sein. Individuumsbezogene Folgen könnennachhaltige Veränderungen der internen Bedingungen sein. In diesem Fall – und nurdann – hat Lernen stattgefunden. Lernen ist somit eine Teilmenge von Handeln mit derEinschränkung, dass nicht jede Handlung zu einem Lernergebnis führen muss – einGesichtspunkt, der in den Diskussionen über Lernen im Prozess der Arbeit unter non-formellen und informellen Bedingungen kaum beachtet wird (Straka 2005).

Erziehungs-/Bildungsziele

Aktuelle Vorgänge(Handlungsepisode)

InterneBedingungen

Lehrziel

Lehrstoff

Aufgabe

Lehrverhalten

Information Handeln Folgen

Lern

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(Lehre)

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EmotionaleDispositionen

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Abbildung 1: Allgemeiner Rahmen für Handeln, Lernen und Lehren (Perspektive Lernender)

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Straka: Vermitteln lerntheoretisch betrachtet

3. Dimension des Handelns

Handeln hat motorische Dimensionen wie „Schreiben“, „Eintippen“, „Artikulieren“oder „Hämmern“. Derartiges beobachtbares Verhalten kann für Außenstehende präzi-se und koordiniert sein, was darauf zurückzuführen ist, dass es vom Handelnden über-wacht, bewertet und reguliert wird (Hacker 1998; Bandura 1986). Diese Aktivitätensind Bestandteil der kognitiven Dimension des Handelns.

Handeln umfasst jedoch noch weit mehr. Eine Person kann eigene Aktivität beispiel-weise als gewollt, bewusst initiiert, von Interessen geleitet, mehr oder weniger rationalbegründet, für sich selbst bedeutsam, zielgerichtet, zweckhaft oder zukunftsbezogenerleben. Erleben und Verhalten stellen die beiden Aktivierungsstränge dar, die für Han-deln konstitutiv sind und die durchgehend zusammenwirken: Das aktuelle Verhaltenmit seiner motorischen und kognitiven Dimension ist von emotionalem und motivati-onalem Erleben begleitet. Das emotionale Erleben besteht aus angenehmen oder un-angenehmen Empfindungen. Bestandteile des motivationalen Erlebens bilden Überle-gungen, die Handeln auslösen, ausrichten und die dem Handlungsverlauf sowie demHandlungsergebnis Ursachen zuweisen. Zusammen mit der Information werden dieseHandlungsarten mit dem Konzept der mehrdimensionalen Handlungsepisode (s. Abb.2) (Straka/Macke 2005), die im Folgenden differenzierter beschrieben wird, zusam-mengeführt.

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Information

Information

motorisch

motorisch

motorisch

motorisch

Handlungs-episode

Externe Bedingungen

Interne Bedingungen

Abbildung 2: Mehrdimensionale Handlungsepisode

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Beiträge

3.1 Kognitive Dimension

Unter Bezug auf Konzepte von Weinstein/Mayer (1986), Pintrich/DeGroot (1990),Boekaerts (1999), VanderStoep/Pintrich (2003) sowie Zimmerman (2000; 2005) wirddie kognitive Dimension des Handelns und Lernens nach Arbeits- und nach Kontroll-strategien unterschieden.

3.1.1 Arbeitsstrategien

Arbeitsstrategien werden in die Handlungsklassen kognitives Bearbeiten und das Pla-nen und Organisieren unterteilt. Die Handlungsklasse Bearbeiten wird ihrerseits inStrukturieren, Ausarbeiten (Elaborieren) und Wiederholen unterschieden. Mit Struktu-rieren wird Information reduziert, verdichtet und geordnet. Das ist beispielsweise derFall, wenn man sich beim Lesen eines Textes Stichworte macht oder Informationennach Kriterien ordnet. Beim Ausarbeiten setzen die Handelnden neue Informationenumfassend, vielfältig und systematisch mit ihrem aktualisierten Wissen (= Information)in Beziehung. Beispielsweise wird erzeugte Information auf der Grundlage vorhande-nen Wissens mit eigenen Worten neu- bzw. umformuliert (paraphrasieren), werdenUnterschiede von und Gemeinsamkeiten mit bereits Erlerntem erarbeitet, werden Ana-logien gebildet, Folgerungen gezogen oder in verschiedene Repräsentationsformen (wieenaktiv, ikonisch) von Information transformiert und umgekehrt.

Wiederholen kann auf zwei Arten erfolgen: Zum einen rein mechanisch auf der Ebeneder sprachlichen Zeichen, indem eine Information memoriert wird (vgl. Aebli 1987),zum anderen, indem eine Information gedanklich-bedeutsam (mental, meaningful,Ausubel 1968) aktiviert, still oder laut durchgearbeitet wird, um so die sprachlich-symbolisch repräsentierte und verstandene Information für sich zu festigen.

Handeln kann durch Organisieren unterstützt werden, indem Ressourcen beschafftoder aktiviert werden, die Arbeitsumgebung gestaltet sowie festgelegt wird, wie mitanderen Personen zusammengearbeitet werden soll. Ressourcen beschaffen kannumgebungs- und personenbezogen erfolgen, sei es dass Fachbücher besorgt (= exter-ne apersonale Ressourcen) oder eigene Wissensbestände und -fähigkeiten aktiviert(= interne personale Ressourcen) werden. Die Arbeitsumgebung wird gestaltet, indembeispielsweise der Arbeitsplatz so geordnet wird, dass Unterlagen rasch zu finden sind.Zusammenarbeiten bezieht sich auf die Art und Weise, wie jemand andere Personeneinbezieht oder mit ihnen Beziehungen aufnimmt, beispielsweise um mit ihnen ge-meinsam Aufgaben zu bewältigen.

Planen unterstützt das Handeln, indem vorausschauend und an den Handlungszielenorientiert festgelegt wird, in welcher inhaltlichen und zeitlichen Abfolge vorgeseheneHandlungsepisoden stattfinden sowie wann auf der Grundlage eigener Potenzialein-schätzungen Pausen eingelegt werden sollen.

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Straka: Vermitteln lerntheoretisch betrachtet

3.1.2 Kontrollstrategien

Die Art und Weise, wie kognitive Arbeitsstrategien und Handlungsepisoden realisiertwerden, hängt von den Kontrollstrategieklassen Kontrollieren und metakognitives Kon-trollieren ab, die bewusst oder unbewusst (= automatisiert, vgl. Aebli 1987) eingesetztwerden können (Kaiser/Kaiser 1999).

Kontrollieren umfasst jene Aktivitäten, die darauf ausgerichtet sind, externe und inter-ne Störungen einzuschränken oder zu beseitigen, um ein zielgerichtetes, konzentrier-tes und störungsfreies Handeln zu ermöglichen. Entfernt sich beispielsweise eine Per-son aus einer von ihr als laut empfundenen Umgebung, um auf diese Weise konzent-rierter zu arbeiten, wird diese Handlung dem externalen Kontrollieren zugeordnet.Versucht eine Person, sie belastende Gedanken zu vertreiben, um beim Arbeiten weni-ger abgelenkt zu sein, gehört diese nach innen gerichtete Handlung zum internalenKontrollieren.

Metakognitives Kontrollieren findet statt, wenn das eigene Handeln einschließlich sei-ner Ergebnisse (= Information) die Bezugspunkte bilden. Werden das eigene Handelnbeobachtet und die erzeugten Zwischenergebnisse ermittelt, findet Überwachen (mo-nitoring) statt. Schließt sich ein Vergleich des so Festgestellten mit dem vorgestelltenHandlungsverlauf und seiner Ergebnisse an, wird bewertet bzw. „kritisch gedacht“ (Van-derStoep/Pintrich 2003). Erfolgt im Bezug zur Bewertung eine Änderung des eigenenHandelns, findet Regulieren statt (Bandura 1986; 1993).

3.2 Motivationale Dimension

Das Erleben des motivationalen Geschehens beim Handeln wird im Folgenden durchRückgriff auf unterschiedliche Konzepte bestimmt und unterteilt (Nenniger u. a. 1995):• interessentheoretische Konzepte (Krapp/Prenzel 1992; Krapp 2005; Prenzel 1996),• leistungsthematische Konzepte (Heckhausen/Rheinberg 1980; Rheinberg 1997) und• attributionstheoretische Konzepte (Weiner 1986).

3.2.1 Interesse

Das Konzept Interesse wird als individuelle Kombination aus Wert und Erwartungmodelliert. Ein solcher aktueller Zustand liegt vor, wenn einem Gegenstand oder eige-nem Handeln ein Wert beigemessen wird, verbunden mit der subjektiven Erwartung,das Wertgeschätzte realisieren zu können (Atkinson 1964). In diesem Zusammenhangkann danach unterschieden werden, ob sich die Wert-Erwartungs-Abschätzungen aufeinen Gegenstand oder auf das eigene Vorgehen beziehen. Beispielsweise kann einneu eingestellter Mitarbeiter es für wichtig erachten, die Zuständigkeiten einzelnerAbteilungen seines Betriebs zu kennen (= Wert) und sich zutrauen, diese Zuständig-

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Beiträge

keiten selbst herauszufinden (= Erwartung). Überschreitet die gedanklich vorwegge-nommene Kombination aus Wert und Erwartung einen Schwellenwert, wird er die fürerforderlich erachteten Arbeitsstrategien einsetzen, um sich auf diesem Gebiet kundigzu machen und somit die ins Auge gefasste potenzielle Information zu erarbeiten undsich ggf. anzueignen (= Lernen).

3.2.2 Motivationale Kontrolle

Im Unterschied zum Interessenkonzept, das von einer bestimmten „Person-Gegen-stand-Beziehung“ ausgeht (Krapp 1992), bezieht sich das Konzept motivationale Kon-trolle auf gegenstandsunspezifische Wert-und-Erwartungs-Abwägungen, wie das beieiner allgemeinen Bereitschaft, für ins Auge gefasste Handlungsziele etwas zu leisten,zum Ausdruck kommt. In diesem Fall wird die Zielerreichung an sich für wichtig er-achtet und man traut sich auch zu, diese zu realisieren. Ein Beispiel für eine derartigetendenziell allgemeine Handlungsbereitschaft kommt in den folgenden Aussagen zumAusdruck: „Für mich ist es wichtig, Handlungsziele zu erreichen“ (= Wert). „Ich binüberzeugt, meine Handlungsziele zu erreichen“ (= positive Erwartung) (vgl. Rheinberg1997).

3.2.3 Attribution

Während und vor allem nach Abschluss einer Episode können Handelnde im Rahmender motivationalen Kontrolle Gründe finden, warum ein angestrebtes Ergebnis erreichtoder nicht erreicht wurde (= attribuieren). Entsprechend der Attributionstheorie (Wei-ner 1986) lassen sich empirisch drei Ursachen-Dimensionen festmachen. Sie zeigensich darin,1. ob das Handlungsergebnis auf internal (z. B. das eigene Wissen) oder external

(z. B. Komplexität der Aufgabe) liegende Ursachen zurückgeführt wird,2. ob zeitlich stabile (z. B. Begabung) oder variable (z. B. Zufall) Faktoren von Be-

deutung sind oder3. ob vom Handelnden als kontrollierbare (z. B. Anstrengung) oder nicht kontrollier-

bare (z. B. Krankheit) Bedingungen zur Erklärung herangezogen werden.

Die Zuweisung von Gründen für das Eintreten bzw. Nicht-Eintreten eines Handlungs-ergebnisses bzw. für Erfolg oder Misserfolg einer Handlungsepisode kann nachhaltigeAuswirkungen auf interne Bedingungen haben. Wird beispielsweise das Handlungser-gebnis auf eigenes Wissen und eigene Anstrengungen zurückgeführt, ist eine Stärkungdes in den internen Bedingungen verorteten bereichsspezifischen Selbstkonzepts zuerwarten, was in einer späteren Handlungsepisode in höheren bereichsspezifischenErwartungen bei Interessenabwägungen zum Ausdruck kommen kann.

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3.3 Emotionale Dimension

Emotionen ermöglichen es einem Menschen rasch und dennoch flexibel auf für ihnwichtige Ereignisse zu reagieren (Wild u. a. 2001). In Anlehnung an theoretische Über-legungen und empirischen Befunde der Gruppe um Pekrun kann im Kontext von Ler-nen und Leistung zwischen positiven und negativen Emotionen unterschieden wer-den. Zu den positiven Emotionen gehören beispielsweise bei sachlichen Anforderun-gen Freude, Hoffnung oder Stolz und im zwischenmenschlichen Bereich Dankbarkeitoder Bewunderung. Bei sachlichen Anforderungen werden Langeweile, Angst oderScham und im zwischenmenschlichen Kontext Ärger, Neid oder Hass den negativenEmotionen (Pekrun 1998; Titz 2001) zugeordnet. Emotionen und Motivationen sindnicht zu unterschätzende Bedingungen für erfolgreiches Handeln und Lernen (vgl.hierzu auch den Beitrag von Arnold/Gomez Tutor in diesem Heft). Andererseits kön-nen sie Arbeits- und Lernstrategien nicht ersetzen, denn sie sind es, die Qualität undQuantität von Handlungen erzeugen (Anderson 1996).

4. Information

In der bundesdeutschen didaktischen Diskussion sind es „Inhalt“, „Thema“, „Lehr-stoff“ und „Bildungsgut“, mit denen sich Handelnde auseinander setzen. Bezogen aufdie hier vorgenommene Modellierung des Lern-/Lehr-Zusammenhangs verweisen die-se Terme tendenziell auf Dinge außerhalb des handelnden Subjekts. Um externe Be-dingungen von den je individuell konstruierten Bedeutungen über die Welt abzugren-zen, wurde das Konstrukt „Information“ eingeführt, das unter Rückgriff auf eine TheseCarl Friedrich von Weizsäckers näher bestimmt wird (differenzierter Straka/Macke2005, S. 176 ff.). Demnach ist „Information ... nur, was verstanden wird“ (von Weizsä-cker 1974, S. 351). Damit ist ausgesagt, was Information ist (nämlich Verstandenes,das im Prozess des Verstehens erst konstruiert werden muss) und wo sie lokalisiert ist(nämlich am Ort des Verstehens, dem kognitiven System des Handelnden). Die Thesebesagt zugleich, dass Information zunächst immer subjektive bzw. psychische Infor-mation ist und als individuell Verstandenes ausschließlich in den Köpfen derer zu fin-den ist, die verstanden haben. Außerhalb von Köpfen gibt es keine Information, son-dern nur physikalische Zustände und Ereignisse.

Information kann zum einen nach ihrem Bezug und zum anderen nach ihren Merkma-len differenziert werden. So wie die Reaktion des Individuums auf seine Umgebungund das Erleben nach innen gerichtet sind, kann sich Information auf die Person desHandelnden (= Selbst) oder auf die ihn umgebenden externen Bedingungen (= Welt)beziehen. Hält sich jemand für musikalisch oder weiß, wie er/sie sein eigenes Han-deln zielbezogen reguliert, liegt „Information über sich selbst“ vor. Sind einer PersonUnterschiede und Gemeinsamkeiten von Kraftfahrzeugarten oder verschiedene Ver-fahren ihrer Herstellung bekannt, sind das „Informationen über die Welt“. An diesenBeispielen lassen sich weitere Merkmale von Informationen festmachen. Die „eigene

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22 REPORT (29) 1/2006

Beiträge

Musikalität“ und der Begriff „Kraftfahrzeug“ sind Zustände. Demgegenüber beschrei-ben „praktizierte Arbeitsstrategien“ und die „Verfahren der Herstellung von Kraftfahr-zeugen“ Prozesse. Informationen lassen sich somit zum einen nach dem Selbst- oderWeltbezug und zum anderen nach den Kriterien Zustand und Prozess unterscheiden.

Begriffliche Information über Zustände umfasst Klassifikationen, Kategorien, Theorien,Modelle oder Strukturen. Begriffliche Information über Prozesse besteht aus bereichs-spezifischen Handlungsstrukturen, Algorithmen, Techniken, Methoden einschließlichKriterien, Kontexten und Bedingungen für ihren Einsatz (Anderson/Krathwohl 20011).Diese Kategorien werden unter dem Begriff „pädagogische Information“ subsumiert.

Informationen über die Welt kann sich auf Merkmale und Verhalten anderer oder aufGegenstände beziehen, d. h. ob eine soziale oder gegenstandsbezogene Informationvorliegt. Ein weiteres Merkmal bilden die Repräsentationsformen wie enaktiv, ikonischoder symbolisch (Bruner 1966). Bestandteil einer Episode können Bedeutungen sein,die einfach zur Kenntnis zu nehmen sind, wie Zeitangaben, internalisierte motorischeoder verbale Ketten, Zeichen oder Symbole. Im Zentrum dieser pädagogischen Be-trachtung steht jedoch der auf von Weizsäcker zurückzuführende Informationsbegriff,demzufolge Information handelnd erzeugtes Verstandenes umfasst, was mit einer an-deren These von Weizsäckers (1974) ausgedrückt wird, wonach „Information immerInformation unter einem Begriff ist“.

5. Interne Bedingungen von Information und Handeln

Handlungsepisoden sind aktuell, singulär und vergänglich, was das Einbeziehen derEbene der internen Bedingungen zur Modellierung von Handeln und Lernen notwen-dig machte. Zur sprachlichen Abgrenzung der Konzepte werden folgende Bezeich-nungen gewählt:• den aktuellen Symbolen und Fakten auf der aktuellen Ebene entsprechen auf der

Ebene der internen Bedingungen der Zeichenvorrat und die Kenntnisse,• Zustands- und Prozessinformationen haben als Pendant Wissen,• das Handeln, die Fertigkeiten (skill, ausschließlich erlernt) oder die Fähigkeiten

(ability, bei denen zum Lernen noch andere interne Bedingungen zum Tragen kom-men, wie z. B. Begabung),

• das motorische Verhalten, die motorische Fertigkeit,• das kognitive Handeln, die kognitive Fertigkeit oder Fähigkeit,• die Motivation, das Motiv und• die Emotion, die emotionale Disposition.

1 Anderson/Krathwohl (2001) haben in ihrer Taxonomie die Kategorie „metakognitives Wissen“. Diese Kategoriewird zum einen mit der Kategorie „Information über sich selbst“ gefasst. Zum anderen wird die Kategorie „meta“als Merkmal des Handelns und nicht der Information selbst erachtet (Straka/Macke 2005).

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Straka: Vermitteln lerntheoretisch betrachtet

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Beiträge

6. Interaktion und Kommunikation als Bedingungen für das Zusammenspielvon Lernen und Lehren

Die Brücke zwischen Lehren und Lernen wird mittels Interaktion und Kommunikationhergestellt. Vereinfachend reduziert auf die Dyade „Lehrkraft – Lernende“ aktiviert undkodiert eine Lehrkraft die ihre Professionalität ausmachende Kompetenz in Form vonWissen, Fertigkeiten, Interessen und emotionalen Dispositionen, die in der Interaktionund Kommunikation mit dem Lernenden eingebracht werden. Verbunden damit ist dieIntention, bei seinem Gegenüber Handlungen zu aktivieren, damit Information als Ver-standenes entsteht. In Abhängigkeit vom Wissen, den Fähigkeiten, den Motiven undemotionalen Dispositionen der Lernenden wird das vom Lehrenden Intendierte mehroder weniger kongruent von den Lernenden (re-)konstruiert. Dieser Vorgang kann Schü-lerverhalten zur Folge haben, auf das die Lehrkraft ihrerseits antwortet, womit ein Kreis-prozess von Interaktion und Kommunikation realisiert wird. In der dadurch aktiviertenHandlungsepisode kann sich bei den Lernenden ein komplexeres, dynamisches undmehrdimensionales Wechselspiel von Information und Handeln ereignen (s. Abb. 3).

7. Vermitteln – eine zukunftsweisende Perspektive?

In der didaktischen Diskussion werden im Kontext von „Vermitteln“ traditionell „Bil-dungsgüter“ und „Möglichkeiten“ thematisiert. Beispielsweise definieren materialeBildungstheorien Bildung inhaltlich, indem sie einen bestimmten Kanon von Bildungs-gütern für Menschbildung als unabdingbar erachten. Demgegenüber bestimmen for-male Bildungstheorien Bildung vom Subjekt aus als Entwicklung und Förderung seinerMöglichkeiten und nicht von den Inhalten her (Blankertz 1970).

Aus lerntheoretischer Perspektive kann die Annahme des formalen Bildungswerts be-stimmter Inhalte seit Thorndikes Untersuchungen (1924) als widerlegt gelten – konnteer doch nachweisen, dass beispielsweise ein Studium alter Sprachen die allgemeineDenkfähigkeit nicht verbesserte. Ein anderer Zugang erfolgte mit dem Konzept der„Schlüsselqualifikationen“ (Mertens 1974) und neuerdings der „Schlüsselkompeten-zen“ (Rychen/Salganik 2001). Befunde zum situierten Lernen (Gerstenmaier 1999;Resnick 1996), aus der Expertiseforschung (Gruber 2001) oder zum Domänenbezugvon Kompetenzen (Weinert 2001) setzen dieser Perspektive allerdings enge Grenzen.

Der vorgestellte allgemeine Rahmen für Handeln, Lernen und Lehren versteht sich alsVersuch, die Gräben einzuebnen. Zum einen wurde vergleichbar mit der formalenDidaktik konsequent vom Subjekt aus modelliert. Zum anderen wurde mit dem Kon-zept der Handlungsepisode eine Synthese aus Materialität und Formalität von Bildungund Ausbildung herzustellen versucht.

Mit „Vermitteln“ sind Vorstellungen verbunden, wie jemandem etwas weitergegebenoder auf jemanden etwas übertragen wird. Damit werden tendenziell externe Bedin-

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25REPORT (29) 1/2006

gungen angesprochen, was mit dem Rahmenmodell für Handeln und Lernen im Ein-klang steht. Lehren beschränkt sich auf das Arrangement externer Bedingungen. Wasdie Lernenden allerdings daraus machen, obliegt ausschließlich ihnen – auf der Grund-lage der ausgebauten sowie durch Lernen veränderbaren internen Bedingungen.

Für die Ebene des Lehrens ist ein solches Arrangement jedoch keineswegs beliebig,insbesondere wenn es lernförderlich sein will. Es kann sich an empirisch überprüften,zumindest aber an bewährten „Basismodellen des Lernens“ (Oser/Baeriswyl 2001) ori-entieren. Vergleichbar einer „Choreographie“ begrenzen und eröffnen sie Spielräumefür Lehren und zeigen somit Wege, wie Verbindungen zwischen Lehren und Lernenvorbereitet werden können (Oser/Baeriswyl 2001). Ob und wie ein Brückenschlagerfolgt, liegt vom Stand unserer derzeitigen Erkenntnis ausschließlich in der Hand desLernenden. Didaktik in eine „Vermittlungstheorie“ umzuwandeln verweist in die fal-sche Richtung und ist somit aus handlungs- und lerntheoretischer Perspektive wenigzukunftsweisend.

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Gertrud Wolf

Der Beziehungsaspekt in der Dozent-Teilnehmer-Beziehungals Ressource und Determinante lebenslangen Lernens

Zwischen Lehrenden und Lernenden besteht neben der Auseinandersetzung mit demLerngegenstand stets auch eine dieser Personenkonfiguration entsprechende Bezie-hung. Aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht ist die Relevanz des Beziehungs-aspektes für die Inhaltsaspekte der Kommunikation unbestritten. Insofern ist davonauszugehen, dass die Qualität dieser Beziehung Auswirkungen auf den Lernerfolg hat.Für die Idee des lebenslangen Lernens bedeutet dies zusätzlich, dass mit dem Gelin-gen und Scheitern von Lehr-/Lernprozessen auch Einstellungen erworben bzw. Sche-mata gebildet werden können, die Auswirkungen auf spätere Lernversuche haben.Eine Konturierung erwachsenenpädagogischer Professionalität wirft daher die Frageauf, welche Funktion die Beziehung zwischen Dozent und Teilnehmer/in für das Ler-nen Erwachsener hat, welche vorangegangenen Erfahrungen zu berücksichtigen sindund welche Beziehungsfaktoren die Dozent-Teilnehmer-Interaktion bestimmen.

1. Was ist eine Beziehung?

Wenn im Folgenden von einer Beziehung zwischen Dozent/in und Teilnehmer/in dieRede sein soll, muss zunächst geklärt werden, was unter einer Beziehung verstandenwird. Hierfür kann auf Aussagen der Beziehungsforschung (vgl. Hinde 1993; Krapp-mann 1993; Auhagen/von Salisch 1993; Asendorpf/Banse 2000) zurückgegriffen wer-den.

Eine Beziehung beschreibt stets ein Verhältnis zwischen zwei Partnern, was sich auch alsDyade bezeichnen lässt. Damit steht die Beziehung zwischen dem Individuum und derGruppe. Nicht jedes Zusammentreffen von zwei Menschen markiert jedoch eine Bezie-hung. Wichtig erscheint neben der Dauer der Interaktion v. a. die Dynamik und dieGeschichte, die sich daraus entwickelt. Nach Hinde (1979; 1997) besteht erst dann eineBeziehung, wenn frühere Interaktionen der Partner spätere beeinflussen. Die Interakti-onen werden damit zu einem ersten Bestimmungsmerkmal der Beziehung – aber nichtzu ihrem alleinigen, da Interaktionen und Beziehungen auf zu unterscheidenden Ebenensozial-emotionaler Determinanten angesiedelt sind. Beziehungen weisen Eigenschaftenauf, die in Interaktionen systematisch vermieden werden, mehr noch: Beziehungen kön-nen auch weiter bestehen, wenn gerade keine Interaktion vonstatten geht (vgl. Hinde1997). Folglich lässt sich z. B. die Beziehungszufriedenheit nicht aus den Interaktionender Partner extrapolieren, sondern sinnvoll nur durch Formen der Selbstbeobachtungenerheben. So lässt sich daraus, dass Interaktionsanalysen in der erwachsenenpädagogi-schen Forschung durchaus etabliert sind (vgl. z. B. Nolda 1996), keineswegs folgern,dass eine Beziehungsforschung in diesem Feld ebenfalls entwickelt sei.

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Beiträge

Abhängig von den bemühten Erklärungsmodellen können völlig unterschiedliche Fa-cetten der Interaktion in den Fokus geraten. (vgl. Hinde 1993; Asendorpf/Banse 2000).Während das Zustandekommen von Interaktionen sich bisweilen durchaus im Sinneunmittelbar auslösender Faktoren oder kurzzeitiger Stimmungen beschreiben lässt,bedarf es bei der Erfassung von Beziehungen des Rückgriffs auf längerfristige Eigen-schaften und Erfahrungshorizonte der Beteiligten. Ebenso lassen sich Beziehungen nichtaus ihrem sozialen Kontext lösen: „Dyadic relationships always exist in a social con-text, and cannot be understood without reference to that context“ (Hinde 1979, S. 38).

Individuelle Prädispositionen werden zwar als relevant für das dyadische Geschehenbetrachtet, lassen sich jedoch ebenfalls nicht ohne weiteres aus den Interaktionsanaly-sen herleiten. Wechselwirkungen ergeben sich überdies zwischen den Interaktions-mustern und den kognitiven Repräsentanzen der Beziehung bei den beteiligten Perso-nen. Das (individuelle) Beziehungsschema besteht aus einem Bild der eigenen Personin der Beziehung, einem Bild der Bezugsperson und – verwendet man die Folie Bald-wins – aus Interaktionsskripten für bestimmte Situationen, die die eigene Sicht desInteraktionsmusters in diesen Situationen repräsentieren (vgl. Baldwin 1992). Ebenfallskönnen die Beziehungsschemata noch von normativen Vorstellungen sowie von Zu-kunftsperspektiven beeinflusst sein. Da sie zugleich von Persönlichkeitsmerkmalen undder Interaktionsgeschichte abhängig sind, können die Schemata der beteiligten Perso-nen unterschiedlich ausfallen. Sämtliche Autoren verweisen darauf, dass Beziehungenstets eine affektive Komponente enthalten, mag diese auch noch so gering ausfallen.Beziehungen weisen insgesamt eine sehr spezifische Dynamik auf, die gestaltendeund stabilisierende, aber auch destruierende Funktionen aufweisen kann und mit derInteraktionsgeschichte in einer Wechselbeziehung steht.

Da sich der Begriff der Interaktionsgeschichte sowohl auf die Entwicklung der jeweili-gen Beziehung als auch auf die Geschichtlichkeit der Beziehungen eines Individuumsin seinem Lebensverlauf richtet, verweist er auf ein Zusammenspiel von Vergangen-heit, Gegenwart und Zukunft. Aus den dargestellten Aspekten lassen sich für die Er-wachsenenbildung bereits zwei Hypothesen ableiten:

1. Zwischen Dozenten und Teilnehmern besteht eine Beziehung, die eine spezifi-sche Interaktionsgeschichte und eine spezifische Beziehungsdynamik aufweist.

2. Die Dozent-Teilnehmer Beziehung wird determiniert durch vorangegangene Be-ziehungen.

2. Die Dozent-Teilnehmer-Beziehung aus Sicht der Erwachsenenbildung

Mit Blick auf den erwachsenenpädagogischen Forschungsstand zeigt sich, dass insbe-sondere aus den Arbeiten zur pädagogischen Professionalität auch Aussagen zur Be-ziehung abgeleitet werden können. Dabei scheint die Demarkationslinie v. a. an Oe-vermanns Beschreibung des Arbeitsbündnisses als Zentralfigur pädagogischer Praxis

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zu verlaufen (Oevermann 1996). Er gewinnt sein Verständnis der pädagogischen Pro-fessionalität in Analogie zur therapeutischen Situation, v. a. der psychoanalytischenTherapie. Gerade hieran haben verschiedene Erwachsenenpädagogen (vgl. u. a. Pe-ters 2004) Anstoß genommen.

Professionalitätsentwürfe, die den Oevermannschen Gedanken weitgehend ablehnen, verhaltensich auch zur pädagogischen Beziehungsfrage kritisch. Ein Grund hierfür ist v. a. die Vorstellungdes Erwachsenen als im Gegensatz zum Kind reifes, autonomes Subjekt, welches als Teilnehmergerade keines pädagogischen Verhältnisses zum Erwachsenenbildner bedürfe (vgl. Peters 2004).Peters z. B. insistiert mit dieser Begründung auf der Einhaltung einer „spezifischen Rollenbezie-hung“ zur Vermeidung ganzheitlicher, charismatischer Beziehungen. Für Peters erscheint im Re-kurs auf H. Giesecke (1999) der Erwachsenenbildner deshalb bloß in der Figur des distanziertenLernhelfers repräsentiert, dessen durchzuhaltender professioneller Handlungstypus ein didakti-scher mit ausdifferenzierten Handlungstypen sein soll, je nach Art und Erfordernis des jeweils zuermöglichenden Lernens.

Autoren, die den Oevermannschen Ansatz positiv (und trotzdem kritisch) diskutieren,haben offenbar weniger Berührungsängste vor der Frage nach den psychologischenImplikationen pädagogischer und v. a. andragogischer Praxis (vgl. Koring 1987).

Die Annahme einer von psychologischen Wirkungen entfernten Beziehung in der Er-wachsenenbildung finden wir auch im Begriff der Kundenorientierung. Das Begriffs-paar Dienstleister-Kunde verhält sich in psychologischer Hinsicht entgegengesetzt zuden Begriffspaaren Arzt-Patient, Therapeut-Klient, Pädagoge-Teilnehmer. Das Ziel derKundenorientierung ist dabei nicht bloß dem Ökonomisierungsdruck geschuldet, son-dern folgt auch der einer mehr rationalen Sachlogik folgenden Vorstellung einer Ver-mittlungsdidaktik. Diese allerdings erscheint schon im Rahmen eines konstruktivisti-schen Kommunikationsverständnisses, bei welchem nach Watzlawick jede Äußerungneben den sachlich-inhaltlichen auch Beziehungsaspekte enthält, als nicht hinreichendfür die Erfassung und Bestimmung pädagogischer Phänomene, die damit immer auchpsychologische Phänomene sind. Auch Siebert kritisiert, dass in Maßnahmen der Er-wachsenenpädagogik Beziehungsaspekte oftmals zugunsten von Inhaltsaspekten ver-nachlässigt werden (Siebert 1980, S. 123). Die Berücksichtigung des Beziehungsas-pektes erschöpft sich aber nicht in einem freundschaftlich-kameradschaftlichen Um-gang mit den Kursteilnehmern (vgl. ebd., S. 128), sondern bedarf zu seiner wirksamenEntfaltung der Einbettung in ein andragogisches Professionalitätsverständnis.

In diesem Zusammenhang empfiehlt Wiltrud Gieseke (2002, S. 206) für die Erwachse-nenpädagogik „die distanzierte Nähe als professionell einzuübende Grundhaltung“,„um eine Beziehungsfähigkeit herzustellen, die Bildungsprozesse ermöglicht, ohneaber Lernsituationen als persönliche Beziehung erscheinen zu lassen und verstellte,getäuschte Erfahrungen oder falsche Spiegelungen für die Individuen anzubieten“.Diese Position, der im Grunde zuzustimmen ist, bleibt jedoch die Antwort nach denanalytischen Notwendigkeiten innerhalb einer solchen Beziehungsgestaltung schul-dig. Giesekes Argument, dass „pädagogische Aufgaben nicht die ‚Intimsphäre’ berüh-

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ren“, „wenngleich gelungene Lernprozesse, Problembearbeitungen, Kommunikatio-nen die persönliche Entwicklung stark beeinflussen können (ebd., S. 200)“, verkenntetwa die persönliche Bedeutung von gescheiterten Lernprozessen, wenn diese z. B.zum Bestimmungsmerkmal von Dauerarbeitslosigkeit oder sozialem Abstieg werden.Selbst wenn in pädagogischen Situationen keine Intimitäten verbalisiert werden, wiedies Kennzeichen einer engen Beziehung ist, so kann die Intimsphäre dabei durchausberührt werden, weshalb wir den Umgang damit beherrschen müssen. Im Übrigengibt das Phänomen der Intimität nur über die Enge der Beziehung Auskunft, besagtjedoch grundsätzlich nichts über die Bedeutung (auch in Bezug auf die Intimsphäre)von weniger engen Beziehungen.

Interessante Hinweise auf die Bedeutung der pädagogischen Beziehung für Lernfort-schritte und Lernhemmnisse sind bei Fuchs-Brüninghoff zu finden. Sie verweist insbe-sondere auf die Relevanz von früheren Lernerfahrungen für aktuelle Lernversuche,z. B. bei Alphabetisierungsprozessen, auf Selbst- und Fremdbilder von Teilnehmendenund Lernenden, die in deren Beziehungsstrukturen eingehen und sie bestimmen undden Lernprozessen quasi vorauseilen (vgl. Fuchs-Brüninghof/Pfirrmann 1988). Es gibtkeinen Grund anzunehmen, dass diese Bedeutung auf Alphabetisierungsprozesse be-schränkt sei. Dass sie aber gerade in der Auseinandersetzung mit Lerndefiziten erörtertwird, könnte ein Hinweis darauf sein, dass sie eben dort am evidentesten ist. Es er-scheint plausibel, dass in gelingenden Lernsituationen keine Beziehungsprobleme auf-fällig werden, weil das Gelingen vielleicht gerade auf der vorhandenen Beziehungs-kompetenz der involvierten Personen beruht – oder auf der guten Verwurzelung derBeteiligten in hinreichend geglückten Beziehungen. Umso mehr müssen Beziehungs-aspekte aber in Betracht gezogen werden, wenn Lernsituationen scheitern oder pro-blematisch werden (vgl. auch Katzenbach 2004).

Selbst wenn man nun doch zu dem Ergebnis käme, dass die Professionalität pädagogi-scher Beziehung tatsächlich im Akt einer affektfreien Rollenbeziehung bestünde, sowird man dennoch davon ausgehen müssen, dass mindestens von Seiten der KlientelBeziehungswünsche in die Situation eingebracht werden können, die den Rahmen dervorgegebenen Rollenbeziehung sprengen und die Pädagogen vor die Herausforde-rung einer entsprechenden Reaktion stellen. Insofern erscheint es notwendig, die päd-agogische Situation auf ihre Beziehungsdynamik hin zu befragen. Mindestens hier zeigtsich ja das „Ambivalente, das Fehlerhafte, die Störanfälligkeit und die Schwierigkeitender Interaktion“, auf die die Professionalisierungsdebatte Bezug nimmt (Kraul/Marotz-ki/Schweppe 2002, S. 8).

3. Die Dozent-Teilnehmer-Beziehung aus Sicht der Beziehungswissenschaft

In den von Auhagen/von Salisch (1993) und von Asendorpf/Banse (2000) vorgelegtenBänden zur zwischenmenschlichen Beziehung stellt jeweils die Beschreibung unter-schiedlicher Beziehungstypen einen ersten Schritt zur Erfassung und Analyse von Be-

Beiträge

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ziehungsmustern und -dynamiken dar. Neben Kind-Eltern-Beziehungen und Liebesbe-ziehungen werden eine Reihe anderer Beziehungen beschrieben, die teilweise sehrspezifische Funktionen und Dynamiken besitzen. Bezeichnend ist dabei, dass unterden außerfamiliären Beziehungstypen, wie Peer-, Freundschafts- und Nachbarschafts-beziehungen sowie Beziehungen im Berufsleben die Lehrer-Schüler- bzw. Dozent-Teilnehmer-Beziehung nicht ausgeführt wird, obgleich sie explizit als bedeutsam vonden Autoren hervorgehoben wird. Insofern versteht sich dieser Beitrag auch als eineentsprechende Ergänzung

Asendorpf und Banse unterscheiden sieben Paradigmen, die die psychologische Be-ziehungsforschung gegenwärtig beeinflussen:• psychoanalytische Ansätze,• bindungstheoretische Ansätze,• kognitive Ansätze,• evolutionspsychologische Ansätze,• austauschtheoretische Ansätze,• systemische Ansätze,• Netzwerkansätze.

Zentrales Anliegen dieser Forschungen ist die systematische Beschreibung von Deter-minanten der Beziehungsdynamik und -qualität mit dem Ziel, Analyse- und Diagnose-instrumente zu gewinnen, die eine gewisse Voraussagbarkeit gestatten und damit fürtherapeutische Intervention handlungsleitend sein können. Es versteht sich von selbst,dass die Ansichten über das Funktionieren von Beziehungen von den zugrunde geleg-ten Modellen des psychischen Apparates abhängen. Die Beziehungswissenschaft re-kurriert v. a. auf psychoanalytische und bindungstheoretische Ansätze. Beide findenzwar ihren Angelpunkt in den frühkindlichen sozialen Erfahrungen, unterscheiden sichaber z. B. in den Methoden der Erkenntnisgewinnung. Während die Bindungstheoriev. a. empirisch ausgerichtet ist und sich an experimenteller Forschung orientiert, gehtdie Psychoanalyse mehr hermeneutisch vor und gründet auf Fallbeispielen. Zusätzlichgrenzt sich die Bindungstheorie durch ihre Ablehnung des psychoanalytischen Trieb-begriffs und der Freudschen Topologie (Ich/Es/Über-Ich) von der Psychoanalyse ab.Von Bedeutung für den zukünftigen Diskurs dürfte es jedoch sein, dass die neuerenArbeiten von Fonagy u. a. (2003) und Fonagy u. a. (2004) nicht nur die Kluft zwischenBindungstheorie und Psychoanalyse überwinden helfen, sondern mit der theory ofmind ein Konzept entwickelt haben, dass auch Wesentliches zum Verständnis desZusammenhangs von juveniler und adulter Entwicklung beiträgt.

Weiter oben wurde bereits ausgeführt, dass sich der Begriff der Interaktionsgeschich-te auf den Umstand der Geschichtlichkeit der jeweiligen Beziehungen eines Indivi-duums und der Beziehungen in seinem Lebensverlauf bezieht. Die erste Beziehungeines Menschen ist demnach jene, an welcher seine Beziehungsgeschichte beginnt.Es ist dies die Beziehung zur primären Bezugsperson (die so genannte Mutter-Kind-Dyade).

Wolf: Der Beziehungsaspekt in der Dozent-Teilnehmer-Beziehung …

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Über die herausragende Bedeutung der ersten Beziehungserfahrungen des Kindes undder Gefahr von frühen Traumatisierungen ist man sich heute weitgehend einig. Zudiesem Verständnis haben Psychoanalyse und Bindungstheorie viel beigetragen. FürBeziehungen, die Analogien zu einem Versorgungsprinzip zulassen, erscheint es aufAnhieb plausibel, dass das Verhalten von der Mutter-Kind-Beziehung beeinflusst ist,während dies für Beziehungen, die auf gleichberechtigter Kooperation beruhen, weni-ger vorstellbar ist. Krappmann (1993) verweist jedoch darauf, dass die frühen Bezie-hungserfahrungen auch das Verhalten des Kindes unter Gleichaltrigen nachhaltig be-einflussen. Er führt weiterhin aus, dass in den Erfahrungen von Gleichheit und koope-rativer Reziprozität, die Kinder in den Beziehungen zu anderen Kindern erleben, dieBeziehungen, die das Erwachsenenleben kennzeichnen, bereits vorbereitet werden.Damit entwickelt er eine Vorstellung der Interaktionsgeschichte, bei der frühere Bezie-hungen nicht einfach als unvollkommene Vorläufer von den reiferen, späteren Bezie-hungen erscheinen, sondern als eigenständige Beziehungstypen mit je eigenem Bezie-hungsideal, auf die spätere Beziehungen aufbauen. Die Ausdifferenzierung der Bezie-hungstypen im Lebensverlauf ist damit gerade auf die Vollständigkeit dervorangegangenen Beziehungen angewiesen und kann evtl. Fehlstellen von daher nichtohne weiteres substituieren.

Auch Fonagy u. a. sind der Meinung, dass die früheren Beziehungen nicht einfach alsSchablone fungieren für spätere Beziehungen, sondern ihr Wert in der Entwicklung derFähigkeit liegt, Informationen über mentale Zustände zu verarbeiten und zu interpre-tieren (s. u.). Die Theorie der Mentalisierung unterstützt nicht nur die von Krappmannvorgetragene Kritik an der schlichten Übertragung von Strukturen der primären Bin-dungsbeziehung auf sekundäre Beziehungen sondern verweist auch auf die Relevanzder Beziehungsprogression für die Entwicklung.

Wir wissen aus der Hirnforschung, dass unser Gehirn plastisch, offen, durch eigeneErfahrungen in seiner inneren Struktur und in der Ausbildung seiner neuronalen Ver-schaltungen beeinflussbar ist. Insofern sind wesentliche Ausprägungen des Gehirns alssoziales Produkt anzusehen (vgl. Hüther 2004). Fraglos ist es diese Plastizität des Ge-hirns, die die Weltoffenheit des Menschen bedingt, die ermöglicht, dass ein Neugebo-renes Deutsch zu seiner Muttersprache machen kann oder Suaheli (vgl. Wolf 2001).Weltoffenheit bedingt die Fähigkeit, Wahrnehmungen zu machen und sie sinnvoll zuverarbeiten, d. h. sinnvoll zu interpretieren, um angemessene Reaktionen entwickelnund deren Folgen wiederum abschätzen zu können. Diese Fähigkeit lässt sich mit demBegriff der Mentalisierung fassen. Bei der Mentalisierung geht es um das vitale mensch-liche Bedürfnis nach Kohärenz in der Erfahrung des handelnden Selbst in der Bezie-hung zwischen innerer und äußerer Realität. Dazu braucht es die Zuordnung mentalerZustände (Gedanken, Gefühle, Wünsche, Begierden, Glaubenssätze ...) zum Selbstund dem Anderen: „Mentalisieren heißt, in sich selbst und in anderen Gedanken undGefühle wahrzunehmen und zu erkennen, dass diese mit der äußeren Realität in Ver-bindung stehen“ (Fonagy/Target 2001, S. 963). Nach Fonagy u. a. (2004) sind an derMentalisierung selbstreflexive und interpersonale Komponenten beteiligt, die gemein-

Beiträge

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sam die Fähigkeit vermitteln, zwischen innerer und äußerer Realität, intrapersonalenmentalen und emotionalen Prozessen und interpersonaler Kommunikation zu unter-scheiden. Die Bedeutung der frühen Bindung ist deshalb vor allem darin zu sehen,dass sie der Ort der Mentalisierung ist. Das Problem einer unsicheren Bindung bestehtdeshalb nach Fonagy u. a. vor allem darin, dass sie eingeschränkte Mentalisierungsfä-higkeiten produziert und beschreibt.

Die inneren Arbeitsmodelle der Beziehungen („inner working models“ Bowlby 1975)hängen also nicht einfach nebeneinander wie Kleider auf einer Kleiderstange. Viel-mehr, werden sie – um beim Bild zu bleiben – übereinander getragen und das be-quemste Oberteil kann ein zu eng sitzendes oder kratzendes Unterteil daher nichtkompensieren. Sehr brauchbar für ein Verständnis der Interaktionsgeschichte erscheintdeshalb das Entwicklungsmodell, welches Krappmann (1993) in Anlehnung an Erik-son entworfen hat (vgl. Abb. 1). An einigen Leerstellen des Modells, die Krappmannbewusst offengelassen hat, lässt sich die pädagogische Beziehung vielleicht verorten.Eine denkbare Linie wäre etwa von der Kind-Eltern-Beziehung über die funktionellenPeer-Beziehungen zu den Autoritätsbeziehungen, wie z. B. der Chef-Untergebenen-

Mutter-/Vater-KindBeziehung

Autoritäts-beziehungen

Arbeits-kollegen

Vereins-mitglieder

WirklicheFreunde

Lieb-schaften

Ehe-beziehungen

Chef,Untergebener Ratgeber

Interessen-partner

VertrauteFreunde

Liebes-beziehungen

Anführer,Sprecher

Schul-freunde

Hobby-partner

EngeFreunde Schwarm

Klassen-kameraden

Spiel-freundschaften

Wunsch-freunde

Kind-Eltern-Beziehung

Kind-Kind-Interaktion

Kind-Mutter-Einheit

„Funktionelle“Peer-Beziehungen

Abbildung 1: Entwicklungsmodell für soziale Beziehungen(angelehnt an Eriksons Entwicklungsdiagramm)

(Quelle: Krappmann 1993, S. 53)

Wolf: Der Beziehungsaspekt in der Dozent-Teilnehmer-Beziehung …

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Beziehung. Andere Auslegungen pädagogischer Beziehungen und speziell die Do-zent-Teilnehmer-Beziehung lassen sich an diesem Modell diskutieren. Die Interakti-onsgeschichte beschreibt also nicht nur die Geschichte der Beziehung(en), sonderndie Mentalisierungsgeschichte. Der Verlauf dieses interpersonalen Abstimmungspro-zesses besitzt deshalb auch eine Evidenz für die Lernprozesse im Erwachsenenalter.Wenn unter lebenslangem Lernen nämlich auch die lebenslange Fähigkeit zur Menta-lisierung verstanden wird, dann erscheint die Beziehungsfigur in der pädagogischenund andragogischen Praxis nicht hintergehbar.

4. Schlussfolgerung

Wenn die Forderung nach lebenslangem Lernen vom Subjekt auszugehen hat, seinerBiografie, seinen Interessen, „seinen biografischen Wegen und Wirren“ (Nuissl 2004),dann wird zugleich mit dieser Subjektorientierung auch die Frage nach seinen Bezie-hungsstrukturen – insbesondere im Hinblick auf Lernprozesse – evident. Dabei prä-sentiert sich die Erwachsenenbildung keineswegs als Tabula rasa, sondern bietet inihren Forschungszweigen vielfältige Anschlussmöglichkeiten für eine Erforschung pä-dagogisch relevanter Beziehungsfragen. Als anschlussfähig erweisen sich neben derbereits erwähnten Professionalitäts- und der Interaktionsforschung z. B. auch jene Ar-beiten, die sich mit Fragen der Teilnehmerorientierung, der Emotionalität oder der Bi-ografie befassen.

Auch im Rahmen der Biografieforschung wird z. B. ein besonderer Bezug zwischen derbiografischen Ganzheit im Lebenslauf und den sich daraus ergebenden Bedingungen fürdas Thema des lebenslangen Lernens angenommen: „Stetiges Lernen stellt nicht alleinAnforderungen an die Verarbeitung von ‚neuen’ Informationen, sondern auch von ‚alten’– im Sinne von frühen ‚Erfahrungen’“ (Schlüter 2002, S. 287). Von Bedeutung für dendargelegten Themenbereich ist dabei auch, dass Schlüter die Verantwortung von Er-wachsenenpädagogen hervorhebt, da ihre Handlungen in ihrem Nachwirken für denLebenslauf der Klientel sehr weit reichend sein kann, ohne dass dies von den Pädagogenintendiert würde. Folgerichtig bräuchten Absolventen der pädagogischen Studiengänge„ein Wissen darüber, dass Teilnehmer der Erwachsenenbildung sich nicht vorrausset-zungslos, sondern mit sehr unterschiedlichen Lern- und Lebenserfahrungen an Weiter-bildung beteiligen. Für diese Lernprozesse sollten in der Bildungsarbeit Tätige nicht nurVerständnis aufbringen, sondern sie sollten, um Lernprozesse fördern zu können, auchWissen über biografische Konstruktionen und Deutungsmuster haben“ (ebd., S. 289). Zuergänzen wäre hierbei die Wichtigkeit eines reflexiven Beurteilungsvermögens der Be-ziehungsdynamik zwischen Dozenten und Teilnehmenden.

Schließlich könnte die von Arnold (2003 u. 2004) angestoßene Diskussion um dieRolle der Emotionen in erwachsenenpädagogischen Prozessen durch die Fokussie-rung auf die Beziehung eine gewisse Systematisierung erfahren. Dabei muss jedochauf die Diskrepanz zwischen der radikal konstruktivistischen Sichtweise Arnolds und

Beiträge

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der kulturalistisch-konstruktivistischen Perspektive, wie sie Fonagy u. a. vertreten, hin-gewiesen werden. Um einer allzu eklektizistischen Vorgehensweise vorzubeugen,müsste einer solchen Auseinandersetzung deshalb zunächst eine Diskussion um dieepistemologischen Grundannahmen vorgeschaltet werden.

Insgesamt dürfte deutlich geworden sein, dass eine systematische Untersuchung derBeziehungsaspekte in andragogischen Lehr-/Lernsituationen ein wichtiges Forschungs-desiderat darstellt. Auf das Manko von empirischen Arbeiten, die die intra- und inter-personalen Bedingungen in der unmittelbaren sozialen Interaktion des Lehr-/Lernge-schehens zum Gegenstand haben, verweist im Übrigen auch das Forschungsmemo-randum der Sektion Erwachsenenbildung der DGfE. Ziel einer Empirie müsste es sein,nach Evidenzen für die eingangs gebildeten Hypothesen zu suchen. Es wäre verfrüht,sich hierzu allein auf der Folie der vorgestellten theoretischen Ansätze zu äußern. Zuerwarten wären allerdings detaillierte und systematisierbare Einsichten in die Dynamikder Dozent-Teilnehmer-Beziehung, die wiederum für Aussagen über eine optimaleBeziehungsgestaltung und die damit verbundenen Kompetenzen fruchtbar gemachtwerden könnten. Beziehungskompetenz erschiene damit als Teil einer Professionali-tätsstrategie. Auf der Basis einer solchermaßen fundierten und reflexiven Beziehungs-kompetenz könnte dann das, was Gieseke (2002) mit dem Begriff der distanziertenNähe auf einen Punkt gebracht hat, verfügbar (im Sinne von lehr- und lernbar) undauch überprüfbar gemacht und damit handlungsleitend für die Praxis werden.

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36 REPORT (29) 1/2006

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37REPORT (29) 1/2006

Rolf Arnold/Claudia Gómez Tutor

Emotionen in Lernprozessen Erwachsener

Trotz der durch die neurophysiologische Forschung festgestellten Bedeutung emotio-naler Vorgänge beim Lernen wird zur Erforschung von Lernprozessen und Kompetenz-entwicklung von Erwachsenen derzeit eine eher kognitionsfixierte Perspektive einge-nommen. Auf der Grundlage systemisch-konstruktivistischer Konzepte wird hier dieAnsicht vertreten, dass nachhaltiges Lernen nur gelingen kann, wenn die Bewusstma-chung innerer Erfahrungen die Aneignung äußerer Erfahrungen ergänzt, und auf dieseWeise die Ebenen des emotionalen und des kognitiven Lernens verknüpft werden.Dies zeigt auch unter Einbezug einiger empirischer Ergebnisse die Perspektiven füreine Weiterentwicklung des systemisch-konstruktivistischen Paradigmas erwachsenen-pädagogischer Theoriebildung auf.

1. Einführung

Schon in den „Forschungsschwerpunkten zur Weiterbildung“ (Arnold/Faulstich/Mader2002) wurden die steigenden Anforderungen an Erwachsene, die sich durch den Mo-dernisierungsprozess ergeben, aufgegriffen und die damit verbundenen notwendigenWeiterentwicklungen im Bereich des Lernens Erwachsener thematisiert. Im Kontextder Debatte um das lebenslange Lernen wurde in besonderem Maße die „Nachhaltig-keit“ des Erwachsenenlernens in den Blick genommen und die Frage nach den Mög-lichkeiten (und Grenzen) der Förderung der fachlich-inhaltlichen, sozialen, persona-len oder methodischen Kompetenzen, mit denen die bestehenden Anforderungen bes-ser bewältigt, sowie neue gezielt in Angriff genommen und gestaltet werden können,fokussiert. Durch die neueren Untersuchungen der Kognitions- und Hirnforschung(Roth 2003; Ratey 2003) wird in diesem Zusammenhang immer deutlicher, dass dieEmotionen, die aus den vergangenen Lernsituationen „mitgebracht“ werden, eine we-sentliche Rolle für die Nachhaltigkeit des Erwachsenenlernens spielen; dies beziehtsich nicht nur auf den Bereich der Prüfungs- oder Schulangst als einer speziellen leis-tungsbezogenen Emotion, die von der Psychologie bereits gründlich untersucht wurde(z. B. Jerusalem/Schwarzer 1989). Diese Untersuchungen konnten zwar wichtige Hin-weise auf die möglichen Barrieren bei der Aneignung sowie beim Erinnern von Infor-mationen bereitstellen, der Aspekt der emotionalen Barrieren bei der Aufnahme undbeim Umgang mit Wissen ohne unmittelbaren Prüfungshintergrund wurde damit abernoch nicht detaillierter erklärbar.

Bisherige Erklärungsansätze tendieren u. E. dazu, die Generierung und Optimierungvon Inhalten für Weiterbildungsveranstaltungen und die Erforschung der kognitivenAspekte des Lehr-/Lernprozesses in den Mittelpunkt zu stellen, so zum Beispiel dieUntersuchungen von Klein-Allermann/Wild (1995) bei Studierenden oder von Fried-

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38 REPORT (29) 1/2006

Beiträge

rich (2002) bzw. Kaiser (2003) für die Erwachsenenbildung. Diese Sichtweise bedarfunter der Perspektive der oben erwähnten Ergebnisse der neueren Kognitions- undHirnforschung einer Neujustierung, da sie der prägenden, orientierenden und steuern-den Kraft der Emotionen nicht genügend Rechnung trägt (vgl. Arnold 2005). Insbeson-dere muss diese Kraft der Emotionen in den typischen Lernprozessen des Erwachse-nenlernens genauer analysiert werden, da die bisherige Eingrenzung auf den Aspektder Prüfungsangst lediglich einen Sonderfall in den Blick nimmt, und nur einen klei-nen Ausschnitt – nämlich Angstsituationen – aus dem Spektrum der Gefühle erfasst.1

Eine breitere Beachtung erfuhr die konstruktive Kraft der Emotionen allerdings im Be-reich der Medienforschung. So hat Hertha Sturm in den 1970er Jahren die emotiona-len Aspekte der Medienwirkung erforscht und neben ihrer berühmten „fehlenden Hal-besekunde“ u. a. herausgearbeitet, dass Emotionen wesentlich stabiler sind als Wissenund deshalb auch die Erinnerungen steuern (Sturm 1972). Auch in den neueren Unter-suchungen zum E-Learning werden inzwischen die emotionalen Aspekte dieser Lern-szenarien stärker einbezogen (Strittmatter/Niegemann 2000; Dittler 2003). Die Lückenin Bezug auf nicht leistungsbezogene Lernprozesse und deren emotionale Begleiter-scheinungen werden bislang durch die Untersuchungen von E-Learning-Szenarien u. E.aber kaum geschlossen. Selbst der genauere Blick in die empirischen Untersuchungenzu Trainings von kognitiven Lernschritten und dem Aufbau von Kompetenzen zu selbst-gesteuertem Lernen zeigt, dass eine signifikante Diskrepanz zwischen beabsichtigtemund realem Handeln der Lernenden feststellbar ist (vgl. Artelt 2000). Wollen bedeutetdemnach nicht, dass Lernende ihre Anfangsmotivation in Lernen sowie Lernerfolgeumsetzen können. Vielmehr scheinen – bislang kaum beachtete – „emotional-motiva-tionale Begleitprozesse“ (Krapp 2005, S. 605) die Nachhaltigkeit ihres Lernens zu be-einträchtigen. Das bedeutet, dass bei der Analyse von Lernprozessen neben den kog-nitiven Vorgängen und den möglicherweise kognitiv eingeübten Lernschritten auchdie dabei aktualisierten Emotionen und deren rekonstellierende Logik (vgl. Arnold 2005)stärker betrachtet werden müssen, um der – vielfach tragenden – Rolle der emotiona-len Logik bei der Kompetenzentwicklung näher zu kommen.

Für eine solche Ausweitung des kognitivistisch verengten Blicks sprechen auch diebereits erwähnten neurophysiologischen Forschungen. Die in diesem Bereich gewon-nenen Ergebnisse relativieren die kognitive Dominanz in der Betrachtung der Lernpro-zesse und die Dominanz von auf die Verfeinerung von Lerntechniken abzielendenTrainings, indem sie aufzeigen, dass kognitive Zustände nicht ohne die Beachtung vonaffektiven Zuständen gedeutet werden können. Neurobiologen wie Wolfgang Singer(2002) und Gerhard Roth (2003) bestätigen damit heute empirisch die alten Vermutun-gen sowie Hinweise (vgl. Ciompi 1997; 2003) über die gestaltende bzw. rahmendeKraft des Emotionalen in Lehr-Lernprozessen.

1 Teilweise werden zwar in den empirischen Untersuchungen von Konrad (1997) und Lewalter u. a. (2000) im Rah-men der Untersuchung von Motivation in Lehr-/Lernsituationen auch emotionale Faktoren mit berücksichtigt,sie stehen jedoch nicht im Zentrum des Interesses.

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39REPORT (29) 1/2006

Arnold/Gómez Tutor: Emotionen in Lernprozessen Erwachsener

Dieser Relevanz von Emotionen in Lernprozessen soll in diesem Beitrag auf der Grund-lage einer systemisch-konstruktivistischen Erwachsenenpädagogik näher nachgespürtwerden, wobei auch – auf der Basis einiger empirischer Hinweise – Perspektiven füreine Weiterentwicklung dieses Paradigmas erwachsenenpädagogischer Theoriebildungaufgezeigt werden.

2. Erwachsenenpädagogische Grundlegungen

Die Beachtung der Emotionen in der Erwachsenenpädagogik profiliert und radikali-siert den subjektwissenschaftlichen Blick auf das Erwachsenenlernen. Das Lernen Er-wachsener wird dabei nicht nur als Aneignung neuer Wissensbestandteile konzipiert,sondern gleichzeitig immer auch als Fortschreibung bzw. Umschreibung subjektivenPlausibilitätserlebens. Die emotional-kognitiven Muster der Welterfahrung, als Teil desbiografischen Prozesses, stellen eine unhintergehbare Rahmung der Wissensaneignungdar; sie sind Ausdruck der „Strukturdeterminiertheit“ des Erwachsenenlernens. Wissenist stets subjektiv angeeignete und in den individuellen Zusammenhang eingepassteInformation. Diese Aneignung geschieht durch Lernen und setzt eine Aktivierung eige-ner geistiger sowie gefühlsmäßiger Prozesse voraus, die im Verstehen und Merken vonSachverhalten und Zusammenhängen ihren Ausdruck finden. Deshalb stellt GerhardRoth fest: „Wissen kann nicht übertragen werden, es muss im Gehirn eines jeden Ler-nenden neu geschaffen werden“ (Roth 2003, S. 20).

Nimmt man die erwachsenenpädagogischen Lerntheorien in den Blick, so lässt sichfeststellen, dass diese in der derzeitigen Debatte vermehrt durch konstruktivistischeKonzepte geprägt sind, die diese Vorstellungen unterstützen. Hierbei weist die Aussa-ge, dass Wissen nicht in die Köpfe „transportiert“ werden kann, sondern individuellerzeugt wird (Siebert 2003), ebenfalls auf die Bedeutung der subjektiven Bedingungenund Voraussetzungen des Lernens hin, welche auf lernbiografisch frühen Prägungenbasieren und die emotionale Rahmung von aktuellen Lern-, Leistungs- und Selbststeu-erungspotenzialen konstituieren. Roth (2003) spricht in diesem Zusammenhang von„emotionaler Konditionierung“, die auf Grund von wiederholt auftretenden negativenoder positiven emotionalen Erfahrungen entsteht, indem bestimmte, damit zusammen-hängende Erlebnisse im „emotionalen Erfahrungsgedächtnis“ verankert werden.

Anregend für eine systemtheoretisch-konstruktivistisch ausgerichtete Didaktik des Er-wachsenenlernens ist die Theorie „selbstreferentieller Systeme“. Nach dieser reprodu-zieren autopoietische (= sich selbst hervorbringende) Systeme die Elemente, aus de-nen sie bestehen, mit Hilfe derjenigen Elemente, aus denen sie bestehen, d. h. sieerzeugen diese selbst (vgl. Maturana 1996). Das Gehirn arbeitet dabei „strukturdeter-miniert“, das bedeutet, dass solche Impulse verarbeitet werden, die von den vorhande-nen kognitiven Strukturen bearbeitbar sind. Damit können individuelle Lernvorgängeerst durch diese Vorstrukturierungen entstehen, aber auch mit diesen Vorstrukturierun-gen arbeiten. Dies hat Auswirkungen auf Lehr-/Lernprozesse, denn die Vorstrukturie-

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40 REPORT (29) 1/2006

rungen bedingen auch das, was Lernende auf Grund ihrer individuellen Voraussetzun-gen aufnehmen oder nicht aufnehmen (können). Nur was in die jeweilige kognitiv-emotionale Systemik passt und anschlussfähig ist (Siebert 2002, S. 225), also viabelerscheint, kann gelernt werden. Damit wird die objektivistische Sichtweise eines nai-ven Realismus relativiert und der Vorstellung Raum gegeben, dass das Subjekt seineKonstruktion der Wirklichkeit auf der Grundlage seiner subjektiven Vorerfahrungenkonstruiert, wobei gilt: „Wir konstruieren uns die Wirklichkeit ... auch so, wie wir sie‚auszuhalten’ vermögen“ (Arnold 2005, S. 2). Gleiches gilt übrigens auch für die Leh-renden. Auch diese können nur die Informationen weitergeben, die in ihrem kogniti-ven System verankert sind und zwar auf ihre jeweils individuelle Art. Was Lehrendealso lehren sind ebenfalls keine objektiven, sondern durch die individuelle kognitiveStruktur veränderte Wissensanteile, die wiederum von den Lernenden auf ihre Weiseverarbeitet werden. Lehren und Lernen sind somit zwei getrennte autopoietische Sys-teme, d. h. Systeme, die durch Selbstorganisation funktionieren und sich durch Selbst-organisation entwickeln.

Aus diesem Vorgang der Konstruktion der Wirklichkeit bezieht das Individuum auchseine Vorstellungen über Selbstwirksamkeit (Bandura 1997), die sich nach der Theorieder Selbstbestimmung von Deci/Ryan (1993) aus drei Komponenten zusammensetzt,und zwar• dem Bedürfnis nach Kompetenz,• dem Bedürfnis nach Autonomie im Sinne von Selbstbestimmung sowie• dem Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit.

3. Emotion und emotionales Lernen

In Anbetracht der Selbstorganisationsdynamiken des Gehirns ist es notwendig, bei ei-ner genaueren Analyse von Lernvorgängen nicht mehr nur die kognitiven, sondernauch die emotionalen Dimensionen detaillierter zu analysieren.

Eine wichtige Unterscheidung ist in diesem Zusammenhang diejenige zwischen Emotion und Ge-fühl. Beide Begriffe wurden häufig synonym verwendet, inzwischen wird unter Emotion jedochder nach außen gerichtete und von uns nicht kontrollierbare Zustand bezeichnet, Gefühle werdenhingegen als das subjektive Erleben von Emotion aufgefasst und sind damit als Repräsentantenvon Emotionen nach innen gerichtet. Emotionale Zustände können somit als komplexes Reakti-onsgefüge betrachtet werden und bestehen aus mehreren Komponenten, so der physiologischenErregung bzw. temporären Veränderung, dem motorischen Ausdruck, bestimmten Handlungsten-denzen sowie einem subjektiven Gefühl. Nach Damasio (2002) kann eine Emotion als eine spezi-fisch verursachte, vorübergehende Veränderung im Zustand des Organismus beschrieben wer-den. Der Kognitionsforscher Le Doux (1998, S. 300) zeigt dabei auf, wie Emotionen sich als überge-ordnetes und zentrales System erweisen, indem sie mehrere Gehirnfunktionen und -schichtengleichzeitig aktivieren und damit die Gehirnaktivitäten synchronisieren – ein Wirkungszusammen-hang, der weder lerntheoretisch noch erwachsenendidaktisch bislang auch nur in Ansätzen auf-gegriffen worden ist.

Beiträge

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41REPORT (29) 1/2006

Neben neueren Forschungsergebnissen aus den Kognitionswissenschaften (z. B. Ulich/Mayring 2003) belegen auch vereinzelte Befunde der Lehr-/Lernforschung (z. B. Gers-tenmeier/Mandl 1995), dass kognitive Zustände grundsätzlich in emotionale Mustereingebettet sind. Im Detail bedeutet dies, dass die kognitiv-sensorischen Informatio-nen im Gehirn affektiv gefärbt und gefiltert werden, so dass von einer Interdependenzvon Kognition und Emotion (vgl. Ciompi 1997; Spitzer 2002) ausgegangen werdenkann, wobei vieles für einen Vorlauf sowie eine Rahmungsfunktion des Emotionalenzu sprechen scheint (vgl. Damasio 2005). Mit dieser Wendung wird die traditionelleHöherbewertung der kognitiven Vorgänge beim Lernen bzw. beim Wissenserwerb re-lativiert, wodurch eine Didaktik nachhaltigen Lehrens und Lernens neu begründetwerden muss. Ausgangspunkt einer solchen Reformulierung der Didaktik ist die Beob-achtung, dass Deutungsmuster in Emotionsmuster eingebettet sind und deshalb nach-haltiges Lernen nur gelingen kann, wenn die Bewusstmachung innerer Erfahrungendie Aneignung äußerer Erfahrungen ergänzt, und auf diese Weise die Ebenen des emo-tionalen und des kognitiven Lernens verknüpft werden. Diese Hypothese hat grundle-gende Auswirkungen für eine Erwachsenendidaktik, welche Lernen – vornehmlich –als Differenzierung und Transformation von lebensgeschichtlich erworbenen und be-währten Deutungsmustern zu sehen gewohnt ist (vgl. Arnold 1985; 1996). Deutungenund Interpretationen von Welt streben dann nicht nur „in sich“ nach einer Konsistenz,sondern auch darüber hinaus nach einer emotionalen Stimmigkeit. Dies wiederumbedeutet, dass die so konstruierte Weltsicht nur im Kontext einer Transformation emo-tionaler Muster Nachhaltigkeit entfalten kann.

Dabei ist auch die Frage nach den „Lernwiderständen“, die meist negativ bewertet undals Barriere beim Lernen betrachtet werden, unter Einbeziehung der Emotionen undihrer Bedeutung für Lernprozesse neu zu bewerten. Aber auch die Frage, warum Er-wachsene in informellen und formellen Lernprozessen Widerstände aufbauen, obwohldiese Lernprozesse von ihnen freiwillig begonnen wurden, dann aber im Abbruch desLernprozesses enden, lässt sich eher im Kontext eines kognitiv-emotionalen Modellsbeantworten. Bislang wurden häufig die „kognitiven Dissonanzen“ (Korczak 2000) inLernprozessen als Erklärung herangezogen, die dann entstehen, wenn durch vom bis-herigen Wissen abweichende Informationen die vorhandenen Strukturen irritiert wer-den. Dass emotionale Vorgänge beim Aufbau, aber auch bei der Überwindung derkognitiven Dissonanzen eine Rolle spielen, macht der Blick auf die Forschungsergeb-nisse von Roth (2003) deutlich, der davon ausgeht, dass das limbische System – unser„unbewusstes Handlungsgedächtnis“ – unsere Handlungen vor unserer bewusstenEntscheidung bereits steuert. Im limbischen System werden emotionale Prägungen fest-gelegt, die bestimmen, wie ein Mensch auf bestimmte Situationen reagiert, und dasmit zunehmendem Alter immer resistenter gegen Änderungen wird. Dies stellt abereines der zentralen Probleme von Lehr-/Lernsituationen dar, da die Nachhaltigkeit vonder Möglichkeit des Aufbrechens und der kompetenzbildenden Transformation alterStrukturen abhängig ist.

Arnold/Gómez Tutor: Emotionen in Lernprozessen Erwachsener

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42 REPORT (29) 1/2006

4. Aktualgenese von Gefühlszuständen

Für eine Klärung der Zusammenhänge zwischen emotionalen und kognitiven Aspek-ten beim Lernen muss die Entstehung von Gefühlsreaktionen und der Einfluss auf Lern-situationen bzw. die Entwicklung von Selbstwirksamkeitserleben, wie es Deci/Ryan(1993) formulieren, betrachtet werden. Hierzu kann das Zweikomponenten-Modellvon Ulich/Mayring (2003) zugrunde gelegt werden. Danach entstehen Gefühlsreaktio-nen, indem ein Individuum ein bestimmtes Ereignis oder eine Situation auf Grundseiner Momentanverfassung und der situativen Gegebenheiten wahrnimmt. Dies akti-viert die vorhandenen emotionalen Schemata, die sich im Laufe der Entwicklung unterdem Einfluss der Sozialisation, den früheren emotionalen Erlebnissen, bestimmten in-ternen Prozessen, emotionsrelevanten Dispositionen sowie emotionsspezifischen Re-aktionsmustern gebildet haben. Diese können als „Mustervorlagen für die Vervielfälti-gung von Gefühlsregungen“ (Ulich/Mayring 2003, S. 93) bezeichnet werden und er-möglichen, dass das Individuum überhaupt eine emotionale Reaktion erleben kann,weil diese „Mustervorlagen“ eine Hilfe zur Strukturierung der Erfahrungswelt bietenund unterschiedliche Ereignistypen einordnen helfen. Die Aktivierung von emotiona-len Schemata schafft bestimmte Erwartungen und filtert bzw. lenkt die Aufmerksamkeitdes Individuums, so dass die Informationsverarbeitung und die Bewertung der Infor-mationen in einer ganz spezifischen Art und Weise geschieht. Emotionale Schematasetzen also Zuschreibungsdispositionen in Gang, die davon abhängig sind, unter wel-chen Umständen und auf welche Weise die emotionalen Schemata gebildet wurden.Die Zuschreibungsdispositionen wiederum fördern oder erschweren je nach der Zu-schreibung bzw. Einschätzung der eingeordneten Ereignisse ganz bestimmte emotio-nale Reaktionen, indem Vorgänge von Hypervigilanz (Hervorhebung emotionsrele-vanter Hinweisreize) oder Hypovigilanz (Unterdrückung oder Filterung von emotions-relevanten Hinweisreizen) in Gang gesetzt werden.

Auf der Grundlage des Zweikomponenten-Modells lässt sich nun erklären, wie einekognitive Dissonanz auch auf der emotionalen Dimension Auswirkungen haben kann.Ein Ereignis wird durch die Aktivierung vorhandener emotionaler Schemata nicht nurkognitiv, sondern auch emotional eingeordnet und dies kann widersprüchlich zu denbisherigen Erfahrungen sein und so beispielsweise Hypovigilanz auslösen.

Stellt man eine Verbindung mit der Theorie der Selbstbestimmung von Deci/Ryan (1993)her, so zeigt sich, dass die emotionale Verarbeitung von Situationen vor allem im Be-reich des Bedürfnisses nach Kompetenz sehr stark zum Ausdruck kommt. Ein positiverZuschreibungsprozess kann die Generierung einer positiven emotionalen Reaktionfördern, wodurch zukünftige Lernprozesse durch eine positive Gestimmtheit profitie-ren. Diese ist für selbstgesteuerte lebenslange Lernprozesse eine grundlegende Voraus-setzung, wie vereinzelte Untersuchungen zur Rolle der positiven Emotionen in Lehr-/Lernprozessen unterstreichen (Jerusalem/Pekrun 1999). Nicht zuletzt trägt die positiveErlebensqualität in Verbindung mit intrinsischer Motivation dazu bei, bei Lernendendas Interesse zu fördern und zu erhalten (vgl. Lewalter u. a. 2000).

Beiträge

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Eine grundlegende und überdauernde Leistungsbereitschaft und Selbstwirksamkeits-überzeugung kann demnach nur dann aufgebaut werden, wenn im Bereich der Zu-schreibungen und der Handlungserwartungen, die sich ja auch aus diesen ergeben,eine Änderung vollzogen werden kann.

5. Interaktion von Lehrenden und Lernenden

An dieser Stelle stellt sich die Frage, wie die autopoietisch organisierten Systeme (alsodie Lernenden) gewissermaßen von außen (durch die Lehrenden) auf die emotionalenVorgänge der inneren Strukturierung bzw. Umstrukturierung und damit auf eine pro-duktive Bearbeitung dieser Prozesse aufmerksam gemacht werden können. Zur Klä-rung trägt der Begriff der „strukturellen Koppelung“ (Maturana/Varela 1987) bei, mitdem die Interaktion unterschiedlicher Systeme erfasst wird. Bei der strukturellen Kop-pelung handelt es sich um die Interdependenz verschiedener Einheiten, die durch „re-ziproke Perturbationen … wechselseitige Strukturveränderungen“ (Maturana/Varela1987, S. 85) ermöglicht. Mit berücksichtigt werden muss in diesem Zusammenhangdas Prinzip der Selbstreferenz, das den Aushandlungsprozess beeinflusst. Beobachten,Erkennen oder Lernen findet nur statt, wenn in Relation zum vorhandenen Wissenetwas als neu oder interessant identifiziert wird und dabei die kognitive (und emotio-nale) Dissonanz überwunden werden kann.

Die Art und Weise der Gestaltung von kommunikativen Handlungsmustern erscheinthier als das geeignete Mittel, die jeweils eigenen Strukturen an andere zu vermittelnund eine Schnittmenge für eine gemeinsame Sicht auszuhandeln. Eine Anregung an-derer Systeme ist damit möglich, allerdings gelingt sie nicht immer. Ein Ausschnitt auseinem Interview (I 1) mit einer 27-jährigen Lernerin, das im Rahmen eines mehrjähri-gen Forschungsprojekts (vgl. Arnold/Gómez Tutor/Kammerer 2002) erhoben wurde,macht dies deutlich:

„Ich könnte einen Dozenten manchmal gebrauchen, einfach so, um zu fragen, ob das was ich dagerade lerne, also, nicht ob das einen Sinn ergibt, sondern ist das relevant. Diese Rückantwortkrieg ich nicht. … Da heißt es hier ist die Literaturliste. Bitte schön“ (I 1, Abs. 174–175, 1–2).

Kommunikation wird so in dem Prozess der Aushandlung einer gemeinsamen Wirk-lichkeit zu einem zentralen Instrument, das noch nicht genügend hinsichtlich der Ein-flüsse auf die emotionalen Befindlichkeiten von Lernenden untersucht ist, obwohl dieKommunikations- und Emotionsforschung hierzu einige Vorarbeit geleistet hat (vgl.Watzlawick u. a. 1990). Nach dem Zweikomponenten-Modell von Ulich/Mayring(2003) lassen sich die kommunikativen Anteile einer Lehr-/Lernsituation unter demAspekt des situativen Kontextes einordnen. Kommunikative Handlungen von Lehren-den haben Einfluss auf die emotionale Kategorisierung einer Situation, die Lernendefür sich vornehmen. Die Art und Weise, wie Lehrende kommunikativ handeln, trägtdamit zur Entstehung und späteren Verwendung von emotionalen Schemata bei undist dann gleichzeitig auch ein wichtiger Ansatzpunkt bei der Veränderung bzw. Opti-

Arnold/Gómez Tutor: Emotionen in Lernprozessen Erwachsener

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44 REPORT (29) 1/2006

mierung von Lernsituationen. Im Anschluss an Bruner (2003) kann davon ausgegan-gen werden, dass Sprache einerseits eine Perspektive und eine Einstellung über das,was vermittelt werden soll, transportiert und andererseits eingesetzt werden kann, umreflexive Interventionen bei der lernenden Person in Gang zu setzen. Das bedeutet,die lernende Person wird in die Lage versetzt, metakognitive Operationen durchzufüh-ren, mit Hilfe derer sie ihr Wissen individuell kontrolliert und wählt. Auf diese Weiseentwickelt das Individuum „ein Selbstgefühl, das auf seiner Fähigkeit beruht, sich Wis-sen gemäß eigener Zwecke anzueignen, und … (es ist) in der Lage, die Ergebnisseseiner Aneignung zu teilen und auszuhandeln“ (Bruner 2003, S. 496 f.).

Im Hinblick auf emotionales Lernen kann der Begriff der „reflexiven Intervention“ vonBruner, den er eher für kognitive Vorgänge verwendet, ausgedehnt werden und so von„emotionaler Selbstreflexivität“ (vgl. Arnold 2005, S. 83 ff.) gesprochen werden. Refle-xives Wissen ist hierbei ein Wissen über das eigene Verhalten in Prozessen der Wis-sensaneignung und Kooperation. Das Selbst reflektiert mit seinen Wahrnehmungs- undDenkmitteln sich selbst und macht damit genau seine bevorzugten Wahrnehmungs-und Denkmittel zum Gegenstand seines Nachdenkens. Auf Gefühle bezogen bedeutetdies, es erkennt seine bevorzugten Reaktionsweisen und „schafft“ es so, diese seiner

Reflexion zugänglichzu machen. Lernen-de in der Reflexionihrer Reflexionenbzw. im Fühlen ihrerGefühle zu unterstüt-zen scheint deshalbdie Konsequenz fürerwachsenenpäda-gogische Lehr-/Lern-arrangements zusein. Hierauf verwei-sen auch die empiri-schen Ergebnisse derUntersuchung zunotwendigen Selbst-lernkompetenzen fürselbstgesteuertes Ler-nen (Arnold/GómezTu t o r / K a m m e r e r2002).2 In dieser Un-tersuchung wurde

Abbildung 1: Rolle der Lehrenden aus der Sicht der Lernenden

Hoch selbstgesteuert Wenig selbstgesteuert0

5

10

15

20

25

30

54321 76 54321 76

Struktur, Ordnung, Überblick

Lernmethoden vermitteln

Adäquate WissensweitergabeMotivieren, Aktivieren

Beratung, Coaching

Fachliches/methodisches Vorbild

Sonstiges

5

4321

76

2 Die empirische Untersuchung wurde im Rahmen des BLK-Projekts „Selbstlernfähigkeit, pädagogische Profes-sionalität und Lernkulturwandel“ durchgeführt, das an der Technischen Universität Kaiserslautern von 2000–2003 stattfand. Bei der Auswertung der Daten wurden zwei Gruppen von Lernenden identifiziert, die hoch-selbst-gesteuert und die wenig-selbstgesteuert Lernenden, und deren Antwortverhalten verglichen.

Beiträge

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45REPORT (29) 1/2006

auch die Frage nach den Aufgaben von Lehrenden gestellt (s. Abb. 1). Demnach wirdvon den Lehrenden vor allem die Begleitung der Lernprojekte im Sinne des Einbrin-gens von strukturierenden und vermittelnden Kompetenzen zur Unterstützung der Tie-fenverarbeitung des Lernstoffs erwartet. Es zeigt sich allerdings auch, dass die Lernbe-gleitung in diesem Sinne zu Irritationen führen kann, die wiederum von den Lernen-den erst erkannt werden müssen.

Dass sich hier auch die emotionalen Anteile des Lernens anschließen, macht ein Zitataus einem die quantitative Studie begleitenden Interview mit einer 24-jährigen Lerne-rin (I 2) deutlich. Zu den Erwartungen an Lehrende erklärt sie:

„Na eben diese Wissensvermittlung und dieses Gemeinsame. Ich mein, z. B. der (Name des Leh-renden), zum Teil vollkommen unstrukturiert, was er da macht, aber manche die sind verzweifelt beidem. Ich hab am Anfang gedacht, was macht er denn jetzt, warum schmeißt er denn jetzt wiederalles über den Haufen, was schafft er denn jetzt. Aber der ist auf diese Gruppe eingegangen, da warer irgendwie fit auf dieses ‚Gruppe eingehen’, der hat sich das zwei-, dreimal angeguckt, dann hater festgestellt, die Gruppe weiß viel oder die weiteren wissen das und das und das. Da hat er sichdrauf eingestellt und hat … uns dieses Wissen … vermittelt. Wahnsinn. Ich mein, wenn du dasnicht gewohnt bist, bist du an der Uni nicht gewohnt, kriegst ja alles vorgekaut …

Und dieses ins kalte Wasser schmeißen, was der gemacht hat, wo viele verzweifelt sind ... Dermag chaotisch wirken. Ich mein, wir haben ein Seminar gehabt, da hat der angefangen und aufeinmal, nee. Der hat drei Wochen später was ganz anderes gemacht, das war immer noch dasThema, aber komplett anders aufgezogen. Wo ich gedacht habe, was macht der jetzt“ (I 2, Abs. 156,1–7 und Abs. 157, 1–5).

Im Interview wird die Zerrissenheit der Lernerin deutlich, die zwischen den bisherigenGewohnheiten „wenn du das nicht gewohnt bist, … kriegst ja alles vorgekaut“ und dervom Lehrenden angebotenen Strukturierungshilfe zwischen Anerkennung und Ver-zweiflung schwankt.

Ein weiteres Ergebnis der empirischen Untersuchung, nämlich die Tendenz, die Leh-renden eher als methodisches und fachliches Vorbild zu sehen, von denen die entspre-chenden Fähigkeiten für die Bewältigung des Lernprozesses (indirekt) erworben wer-den können, kann ebenfalls durch die begleitenden Interviews bestärkt werden:

„Ja. Das ist wichtig. Flexibel sein. Sich da anpassen und nicht sich da hinten reinhocken und sichvon zwanzig Leuten sich die Referate anhören ...

Aber da habe ich es auch lieber, der Lehrende steht da vorne und vermittelt mir sein komplettesWissen für dieses Fach, was ihm wichtig erscheint und nicht dass er einzelne vorholt und diesollen dann anfangen“ (Abs. 159 und Abs. 163, 5).

Zwei Systeme verhalten sich also entsprechend ihrer eigenen Beobachtungslogik auto-poietisch und organisieren ihr Wissen. Gleichzeitig halten sie aber durchaus füreinanderveränderungsrelevante Beobachtungen bereit. Die Veränderungsrelevanz ergibt sichaber nicht aus der Logik der Intervention des „verantwortlichen“ Systems, sondern ausder Logik der Rezeption des sich verändernden bzw. „lernenden“ Systems.

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Auf Lehre bezogen kann in diesem Sinne von „didaktischer Koppelung“ (Arnold 2003,S. 28) gesprochen werden. Mögliche Lehr-/Lernarrangements oder Interventionsformenmüssen hierbei vom Lernen her entwickelt werden, außerdem muss systemtheoretischnäher bestimmt werden, was „Aneignung“ oder „Wandel“ der Persönlichkeit bedeu-ten. Lernen und Bildung lassen sich dementsprechend nur als Selbstbildung konzipie-ren bzw. als Suche des Systems nach Informationen in der Umwelt, wobei die kogniti-ven und die emotionalen Prozesse beachtet werden müssen. Lehren und Lernen wir-ken so immer nur strukturell gekoppelt aufeinander, auch wenn die Didaktik oderauch die Entschiedenheiten erzieherischer Interventionen noch immer implizit voneinem Maschinenmodell dieses Wechselzusammenhangs ausgehen und sich die Un-gesichertheit ihrer Modelle und Zugriffe theoretisch nicht wirklich eingestehen.

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Beiträge

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Florian H. Müller

Interesse und Lernen

Der Beitrag thematisiert die Bedeutung der Person-Gegenstand-Konzeption des Inter-esses für die Forschung und Praxis der Erwachsenenbildung. Die theoretische Vorstel-lung, dass sich aus Person-Gegenstands-Relationen selbstintentionale, epistemischeund gefühlsbezogene Beziehungen zu Gegenständen und Handlungen herausbilden,macht die Theorie für die Erziehungswissenschaft interessant. Interesse wird als Bedin-gung, Ergebnis und Ziel von Bildungsprozessen analysiert. Auszugsweise werden em-pirische Befunde der pädagogisch-psychologischen Interessenforschung angeführt,Forschungsdesiderate für die Erwachsenenbildung umrissen und einige praktische Hin-weise aufgezeigt.

1. Einleitung

Warum befassen sich Personen über einen längeren Zeitraum mit bestimmten Themenund das nicht nur innerhalb räumlich und zeitlich abgesteckter Lehr-/Lernarrangements,sondern auch weit darüber hinaus? Warum beendet jemand seinen Sprachkurs an derVolkshochschule vorzeitig oder bricht sein Englischstudium nach wenigen Semesternab, während sich andere mit hohem persönlichem Einsatz und Spaß dem Fremdspra-chenerwerb widmen? Warum interessiert sich die eine Person für eine Fremdspracheund die andere für klassische Musik?

Die Ursachen für solch inter- und intraindividuellen Unterschiede können auf der ei-nen Seite in der Person selbst und deren Sozialisationsgeschichte liegen. So könnenetwa unterschiedliche Teilnahmemotive und Interessen oder Lerneinstellungen und -orientierungen ausschlaggebend sein. Auf der anderen Seite kann die Lernsituationeines Kurses oder eines Ausbildungsgangs für das Interesse oder das Desinteresse einerPerson verantwortlich sein. Demnach können die Interaktions- und Instruktionsbedin-gungen in der Lehr-Lernsituation selbst oder die institutionellen Rahmenbedingungennachhaltige Lern- und Identifikationsprozesse auslösen oder verhindern.

Die Lernmotivationsforschung befasst sich genau mit solchen Fragestellungen und hatinsbesondere in den letzten Jahrzehnten theoretische Modelle unterschiedlichster Pro-venienz entwickelt und empirisch überprüft (s. H. Schiefele 2000). Obwohl Lernmoti-vation, Interesse oder Emotionen als wichtige Aspekte lebenslangen Lernens angese-hen werden (Gieseke 2003), diese mit der Qualität von Lernprozessen und persönli-cher Sinnstiftung verbunden sind (z. B. Krapp 1992), sind diese Aspekte in derberuflichen und allgemeinen Weiterbildung vernachlässigte Themen (vgl. auch Strunk2000). Die Lernmotivation wird in der Weiterbildungsforschung besonders unter derPerspektive der gesellschaftlichen Bildungsbeschränkungen Erwachsener analysiert,

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Müller: Interesse und Lernen

wobei der Fokus auf die Weiterbildungsmotive, Präferenzen oder Einstellungen ge-richtet wird. Innerhalb der Forschungstradition der Adressaten- und Teilnehmerfor-schung beispielsweise entwickelte sich eine intensive Forschungsaktivität, die sich mitsozialer Herkunft und Weiterbildung befasst (vgl. z. B. Barz/Tippelt 2004) und u. a.auch motivationsrelevante Aspekte wie Motive, Interessen oder Wünsche bezüglichWeiterbildung thematisiert.

Im Folgenden wird versucht, die Bedeutung einer pädagogischen Theorie der Lernmo-tivation, der pädagogisch-psychologischen Interessentheorie (Krapp 1992), für die Er-wachsenenbildung aufzuzeigen. Der Reiz dieser Theorie liegt m. E. darin, dass sieeinerseits die Analyse auf der Ebene einer „Binnensicht“ (Lehr-Lernprozesse in zeitlichbegrenzten Settings) erlaubt und andererseits auch einen theoretischen Erklärungsan-satz liefert, der die Perspektive der gesamten Lebensspanne einschließt. Diesem theo-retischen Verständnis folgend ist das Interesse als eine spezielle inhaltliche motivatio-nale Orientierung zu verstehen.

2. Lernmotivationsforschung

Unter Lernmotivation versteht man allgemein die Bereitschaft eines Menschen, sichaktiv, mehr oder weniger dauerhaft und wirkungsvoll mit bestimmten Inhaltsbereichenzu befassen, um Wissen aufzubauen und die eigenen Fertigkeiten zu verbessern (Krapp,im Druck). Die Lernmotivationsforschung befasst sich vor allem mit intentionalem Ler-nen, welches absichtsvoll und zielorientiert ist. Für die Erwachsenenbildung scheinenmir solche Formen der Lernmotivation besonders interessant, die nachhaltiges Lernenbetreffen und somit mit einer längerfristigen Bereitschaft verbunden sind, neue Kennt-nisse und Fähigkeiten aufzubauen. An dieser Stelle sollen nur zwei prominente Theo-riegruppen kurz angeschnitten werden, nämlich eigenschaftstheoretische Konzepte undAnsätze in der Tradition der kognitiven Handlungstheorie.

Eigenschaftstheoretische Konzeptionen gehen davon aus, dass relativ stabile, interin-dividuell variierende motivationale Persönlichkeitseigenschaften Lernprozesse und -ergebnisse steuern. Dahinter verbirgt sich die Vorstellung, dass diese Eigenschaften inunterschiedlichen Situationen und bezüglich verschiedener Inhaltsbereiche wirksamsind. Exemplarisch sei hier nur das Konzept der Kausalattribution genannt, auf dessenGrundlage sich z. B. Lerner unterscheiden, die eher erfolgs- oder eher misserfolgsmo-tiviert sind. Da sich diese Formen der Motivation schon früh in der familialen undschulischen Sozialisation entwickelten und verfestigten, übersituational wirksam seinsollen und zudem schwer veränderbar sind, ist die Relevanz dieser Ansätze für dieErziehungswissenschaft und insbesondere für die Erwachsenenbildung eingeschränkt.Ferner ist die hohe zeitliche Stabilität und die Wirkungsannahme für alle Lernsituatio-nen und Gegenstände anzuzweifeln.

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Attraktiver für die Erziehungswissenschaft sind Lernmotivationskonzepte, die sich aufkognitive Handlungstheorien stützen (z. B. Heckhausen 1989). Der Motivation liegennach dieser Vorstellung zweckrationale Überlegungen zugrunde. So wird ein Erwar-tungs-mal-Wert-Modell konzipiert, auf dessen Grundlage Personen entscheiden, obsich für sie eine Handlung „rentiert“ oder nicht. Auf der Basis dieser Theoriegruppesind umfangreiche Untersuchungen im Lernbereich vorgelegt worden, die sichbeispielsweise auf intra- und interindividuell variierende dispositionale Faktoren, wiefachliche Selbstkonzepte oder Selbstwirksamkeit beziehen oder Aufgabenorientierungvs. Ich-Orientierung untersuchen. Zweckrationale Entscheidungsprozesse sind beimintentionalen Lernen – nicht nur von Erwachsenen – immer mit beteiligt. In diesemZusammenhang kann ein solches Theorieverständnis wichtige Erklärungen liefern.Allerdings werden auch bei den kognitiv ausgerichteten Motivationstheorien einigeAspekte vernachlässigt (vgl. Krapp, im Druck):• Sie sind einseitig kognitiv ausgerichtet und vernachlässigen emotionale (unbe-

wusste oder subbewusste) Bezüge, die u. a. auch für die Persistenz von Lernmoti-vation entscheidend sind.

• Die Lernmotivation wird zumeist in zeitlich begrenzten Settings untersucht unddabei werden größere zeitliche Abschnitte der Lebensspanne vernachlässigt.

• Schließlich sticht die inhaltsneutrale Konzeption der Motivation ins Auge. Dennes ist nicht uninteressant zu wissen, warum sich jemand z. B. intensiv mit Kunst-geschichte befasst, aber ökologische Fragestellungen als völlig uninteressant ab-wertet.

Die hier vorgestellte Interessentheorie berücksichtigt diese vernachlässigten Aspekte.

3. Eine pädagogische Lernmotivationstheorie: Die Person-Gegenstands-Theoriedes Interesses

Das Interesse ist zu einem Thema der internationalen erziehungswissenschaftlichenund pädagogisch-psychologischen Forschung geworden. Dabei ist die Auseinander-setzung mit dem Thema Interesse nahezu so alt wie die pädagogische Forschungselbst. Schon früh wurde das Interesse zur Beschreibung und Erklärung von Dynami-ken und Qualitäten von Bildungsprozessen herangezogen (z. B. Herbart 1841; De-wey 1913). Anknüpfend an die historischen Konzeptionen ist es besonders der Grup-pe um Hans Schiefele in München zu verdanken, dass sich in den 1970er und1980er Jahren eine pädagogisch-psychologische Interessenforschung etablierte. An-geregt durch neue Erkenntnisse in der Kognitions- und Emotionsforschung, der öko-logischen Psychologie und der Handlungsforschung, entwickelte die Münchener For-schergruppe eine elaborierte und der empirischen Forschung zugängliche Konzepti-on (z. B. Prenzel 1988).

Beiträge

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3.1 Das Konstrukt Interesse

Die Bezeichnung „Interesse“ bezieht sich in den meisten Konzeptionen – ähnlich wiein unserem alltäglichen Verständnis – auf eine Person-Gegenstands-Relation. Dem-nach hat eine Person Interesse an etwas, wobei der Interessengegenstand nicht nur einmaterieller Gegenstand sein kann, sondern sich auch auf bestimmte Handlungen,Ideen, Kulturgüter oder Wissensbestände beziehen kann. Dabei kann sich das Interes-se auf einen breiten Gegenstandsbereich, wie die klassische Musik, oder auf einenkleineren Ausschnitt der Umwelt richten, wie es bei einem Interesse an Opern der Fallist. Interessen können auch eine unterschiedliche zeitliche Persistenz aufweisen undüber einen langen oder kürzeren Zeitraum subjektive Wichtigkeit erhalten.

Die hier vorgestellte Interessentheorie stellt sich hinsichtlich ihrer metatheoretischenGrundlegung in die Tradition von Lewin (1936), Piaget (1983) oder Nuttin (1984), dieim Wesentlichen davon ausgehen, dass menschliche Aktivität und Entwicklung nurverstehbar und analysierbar sind, indem das Individuum und die soziale sowie materi-elle Umwelt in einem bipolaren Verhältnis zueinander konzipiert werden und Personund Umwelt als funktionale Einheit betrachtet wird (vgl. Krapp, im Druck). Demnachkonstruieren Personen Wissen über die Gegenstände, als abgegrenzte strukturiertekognitive Einheiten. Eine konstruktivistische Perspektive ist damit grundlegend für die-sen Theorieansatz.

3.2 Bestimmungsmerkmale der Interessenhandlung

Interessenhandlungen sind selbstintentional und benötigen keine außerhalb der Hand-lung liegenden Anreize. In diesem Sinne fühlen sich Personen, die sich interessiert miteinem Gegenstand auseinander setzen, auch frei von äußeren sowie inneren Zwän-gen. Das Gefühl der Selbstbestimmung ist der Interessenhandlung quasi immanent.Positive emotionale Valenzen sind ein weiteres Bestimmungsmerkmal der Interessen-handlung, welches sich in einer positiven Gefühlslage und einem optimalen Anre-gungs- und Erregungsniveau niederschlagen kann. Diese positiven emotionalen Bezü-ge sind u. a. ein Grund dafür, dass sich Personen immer wieder diesen Handlungenaussetzen und mit der Zeit ein persistentes Interesse bzw. bei negativen Gefühlsassozi-ationen eben Abneigungen gegenüber bestimmten Gegenständen entwickeln. Ein drit-tes Merkmal des Interesses ist der persönliche Wert, d. h. die subjektive Sinnhaftigkeit,die mit der Handlung oder dem Gegenstand in Verbindung gebracht wird. Wer sich füretwas interessiert, setzt sich mit dem Gegenstand auseinander, will mehr über ihnwissen oder kompetenter in diesem Handlungsbereich werden.

Die Auseinandersetzung mit der Interessentheorie ist aus erziehungswissenschaftlicherSicht besonders auf Grund dieses epistemischen Charakters von Interessenhandlungenlohnenswert. So verändert sich die Relation von Person und Gegenstand ständig undführt dazu, dass Wissen generiert und Kompetenzen aufgebaut werden (H. Schiefele

Müller: Interesse und Lernen

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u. a. 1986). Damit verändert sich aber auch die subjektive Konstruktion des Interes-sengegenstandes für die Person. Überspitzt könnte man sagen, dass wir den Gegen-stand unseres Interesses immer wieder neu „erfinden“, neu ergründen, ergänzen undmit anderen Wissensbereichen koppeln oder zu komplexen Gegenstandsbereichenintegrieren. Ansonsten wäre es auch nur schwer vorstellbar, warum sich Menschenüber längere Zeit, ja eventuell ihr ganzes Leben lang mit einem Interessenbereich be-fassen.

3.3 Die analytische Konzeption des Interesses

Aus erziehungswissenschaftlicher Sicht genügt es nun nicht, nur genau zu beschrei-ben, was eine Interessenhandlung ausmacht und worauf sich das Interesse bezieht.Entscheidend ist, wie die Genese von Interessen beschrieben und erklärt werden kann.Zunächst soll dafür die Unterscheidung zwischen situationalem und aktualisiertemInteresse eingeführt werden, die sich für die Analyse von Interessenhandlungen be-währt hat (z. B. Hidi/Berndorff 1998). Abbildung 1 beschreibt zwei mögliche Quelleneiner Interessenhandlung. Das individuelle Interesse ist als gegenstandsbezogene mo-tivationale Disposition zu verstehen, welche in einer konkreten Interessenhandlungaktualisiert wird (aktualisiertes Interesse). Auf der anderen Seite kann eine Interessen-handlung durch die Beschaffenheit der (Lern-)Umwelt initiiert sein. In diesem Zusam-menhang sprechen wir von Interessantheit, welche sich durch situationales Interesseäußert. Für situationales Interesse ist zunächst einmal kein persönliches bzw. aktuali-siertes Interesse von Nöten. Situationales Interesse kann der Ausgangspunkt von indi-

viduellem Interesse sein und umgekehrt werden Personen mit individuellem Interessein einem Inhaltsbereich auch den Interessantheitsgrad von Lernumwelten, die das ent-sprechende Thema behandeln, höher einschätzen. So wissen wir beispielsweise, dassStudierende mit hohem Studieninteresse bzw. intrinsischer Orientierung zu Beginn

Abbildung 1: Interesse und Lernen

IndividuellesInteresse

Interessantheit

AktualisiertesInteresse

SituationalesInteresse

Direkte und indirekteAuswirkungen auf

das Lernen

Merkmale der Person

Merkmale derLernumgebung

Interessenhandlung

(Quelle: vgl. Krapp 1992)

Beiträge

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von Unterrichtseinheiten auch während des Besuchs die Lehr-Lernbedingungen alslernfördernder erleben als Kommilitonen mit ungünstigeren anfänglichen motivatio-nalen Orientierungen (Lewalter 2005).

Abbildung 1 zeigt weiter, dass die Interessenhandlung direkt und indirekt mit der Qua-lität und den Effekten des Lernens in Zusammenhang steht (s. Kap. 4). Neben der Un-terscheidung von situationalem und aktualisiertem Interesse ist aus der Forschungsper-spektive nun entscheidend, mit welchen psychologischen Prozessen die „selektivePersistenz“ des Interesses (Prenzel 1988) einhergeht. Krapp (1992) beschreibt in sei-nem „funktionalen Modell der Interessengenese“ zwei Ebenen der Informationsverar-beitung: eine bewusst-reflexive und eine den Individuen nur z. T. bewusste oder garunbewusste emotionale Ebene. Bewusst-reflexive Prozesse spielen bei der Interessen-genese besonders bei der Zielentscheidung eine zentrale Rolle, wenn es beispielsweiseum Bildungs- oder Karriereentscheidungen geht. Ob sich allerdings ein längerfristigesInteresse entwickelt bzw. aufrecht erhalten lässt, hängt zentral von den unbewussten,emotionalen Steuerungsprozessen und Erlebnisqualitäten ab. Für die Forschung giltes, eine konzeptionelle Vorstellung über den funktionalen Bezug dieser emotionalenProzesse zur Interessenhandlung bzw. zur Interessengenese zu konzipieren.

In jüngster Zeit werden motivationale Prozesstheorien, wie die Selbstbestimmungsthe-orie (Self-Determination-Theory: kurz SDT) von Deci/Ryan (2002) mit der Interessen-theorie systematisch verknüpft (Krapp 2002). Die SDT postuliert drei grundlegendepsychologische Bedürfnisse des Menschen: die Bedürfnisse nach Autonomie, Kompe-tenz und sozialer Einbindung:

Autonomie: Eine Person empfindet sich dann als autonom, „when his or her behavior is experi-enced as willingly enacted and when he or she fully endorses the actions in which he or she isengaged and/or the values expressed by them” (Chirkov u. a. 2003, S. 98). Autonomie ist in diesemSinne nicht mit Unabhängigkeit oder Freiheit gleichzusetzen, sondern meint die subjektive Stim-migkeit von dem was man tut, den Merkmalen des Settings und dem Selbst der Person.

Kompetenz: Wenn Personen das Gefühl haben, dass sie sich in einer Handlungsdomäne auchpersönlich weiterentwickeln und Wirksamkeitserfahrungen machen können, fördert dies lang-fristig Internalisierungs- und Integrationsprozesse und somit die Entwicklung bzw. Aufrechter-haltung von Interesse.

Soziale Einbindung: Je nach Inhaltsbereich beziehen sich Interessenhandlungen mehr oder we-niger auf soziale Interaktionen. Die Qualität solcher sozialer Interaktionen mit signifikanten ande-ren Personen bestimmt das Gefühl der sozialen Eingebundenheit und ist u. a. relevant für dieLernmotivation.

Ähnlich wie bei anderen Bedürfnistheorien ist die Befriedigung dieser drei Grundbedürf-nisse (basic needs) für die optimale Funktion unseres psychologischen Verarbeitungssys-tems essenziell. Psychologische Grundbedürfnisse sind in diesem Zusammenhang alsein ganzheitliches Funktionssystem aufzufassen, welches uns kontinuierlich über dieQualität und die Funktion der Person-Umwelt-Interaktion Rückmeldungen bereitstellt.

Müller: Interesse und Lernen

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In diesem Sinne ist die Genese eines andauernden Interesses von diesen bedürfnisbezo-genen Erlebnisqualitäten abhängig. So entsteht Interesse langfristig nur dann, wenn einePerson den Interessengegenstand – auf der Basis eines rationalen Entscheidungsprozes-ses – als persönlich bedeutsam bewertet und die Interessenhandlung insgesamt als emo-tional positiv bzw. emotional befriedigend erlebt (vgl. Krapp 2000).

Empirische Belege für den Zusammenhang wahrgenommener psychologischer Grund-bedürfnisse und thematischer Lernmotivation finden sich vor allem für die beruflicheErstausbildung (z. B. Prenzel/Kramer/Drechsel 2001; Lewalter/Krapp/Wild 2000; Seif-ried/Sembill 2005) oder den Hochschulbereich (z. B. Lewalter 2005; Müller 2001;Müller/Palekcic 2005). Trotz dieser exemplarisch aufgelisteten Belege steht die Erfor-schung von emotionalen Aspekten im Zusammenhang mit Bildungsprozessen in päd-agogischen Realsituationen erst am Anfang, obgleich der Bezug von Emotion, Motiva-tion und Kognition immer wieder betont wurde (z. B. Pintrich 2000) und auch dieGrundlagenforschung den Zusammenhang von Emotionen und Lernen hervorhebt(z. B. Roth 2001).

4. Interesse, Lernen, Bildung

Im Folgenden wird die Relevanz des Interesses für Lern- und Bildungsprozesse anhandempirischer Befunde herausgestellt und dabei das Interesse als Motiv, als abhängigeund unabhängige Variable sowie als Bildungsziel thematisiert.

4.1 Das Interesse als Wahlmotiv

Die Motive, bestimmte Bildungsinstitutionen aufzusuchen, können äußerst heterogensein und hängen mit den subjektiven und gesellschaftlichen Bedeutungszuschreibun-gen und Zielvorstellungen zusammen. Sie sind ebenso vom Grad der Selbstbestim-mung und den Wahloptionen, wie vom Selbstverständnis der Personen, vom sozialenMilieu der Teilnehmer sowie von den bildungsinstitutionellen Zielsetzungen abhän-gig. In den meisten Fällen werden wir es allerdings mit einer individuellen Motivviel-falt zu tun haben. Dabei können die unterschiedlichsten Motive den Inhaltsbereichvon Bildungsangeboten überlagern oder sogar ganz verdrängen. Dies ist dann der Fall,wenn beispielsweise Sicherheits- oder Stabilitätsmotive oder Gemeinschafts- und Inte-grationsmotive im Vordergrund stehen (vgl. Kade/Seitter 1995). Dies betrifft ganzbesonders die weiterhin expandierende außerberufliche Erwachsenenbildung, in dersach- oder (berufs-)anwendungsbezogenes Wissen gegenüber Sinnfindung und Lebens-orientierung in den Hintergrund treten (Nassehi 2000). Ein thematisches Interesse kanndemnach mehr oder weniger als Motiv beteiligt sein.

Relativ gut erforscht ist der Stellenwert des Interessenmotivs bei individuell weit rei-chenden Entscheidungen wie der Berufs- oder Studienwahl (z. B. Heublein/Sommer

Beiträge

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2000). Solche Wahlmotive sind entscheidend für das Lern- und Bildungsverhalten. Soführt beispielsweise eine interessenbasierte Studienwahl dazu, dass die Lernbereitschaftund die -motivation sowie die Einschätzung der Lehr-/Lernumwelt deutlich positiverausfallen als bei extrinsischen Motiven (Müller 2001).

4.2 Interesse als Bedingung von Lernprozessen und -ergebnissen

Dass ein thematisches Interesse mit kognitiven Komponenten des Wissenserwerbs undmit Lernleistungen in Zusammenhang steht, ist für die unterschiedlichsten Bildungsbe-reiche relativ gut dokumentiert. Interessierte Lerner entwickeln ein differenziertes Wis-sen im entsprechenden Gegenstandsbereich (z. B. Renninger 1992) und erhalten bes-sere Beurteilungen als weniger interessierte Lerner (U. Schiefele/Krapp/Winteler 1992).Insgesamt ist der Zusammenhang zwischen Interessenausprägung und Noten in Schu-le, Ausbildung und Universitätsstudium allerdings als eher gering einzuschätzen (Kor-relationen von meist um .30). Es ist jedoch anzunehmen, dass der Interesseneinflussdurch die institutionelle Lehr-/Lernkultur sowie die Prüfungskultur (z. B. durch die Be-tonung von Faktenwissen) unterschätzt wird. Dies zeigt sich darin, dass der Interesse-Leistungs-Zusammenhang bei erhöhten Autonomieoptionen und durch die damit ein-hergehende Realisierung von individuellen Interessen höher ausfällt (z. B. Köller/Bau-mert/Schnabel 2000). Für die Erwachsenenbildung sind diese Befunde besonders aufGrund der langfristigen Wirkungen von Interessen nicht nur hinsichtlich der Lernleis-tung von Relevanz. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn man die Perspektive deslebenslangen Lernens einnimmt. So befragten beispielsweise Csikszentmihalyi undRathunde in ihrer „creativity in later life study“ besonders erfolgreiche und kreativeMenschen nach ihrem Erfolgsrezept. Die Ergebnisse zeigen übereinstimmend, dasssich der überdurchschnittliche Erfolg auf die lebenslange Realisierung eines „undivi-ded interest“ zurückführen lässt. Es konnte auch ein Zusammenhang zwischen Fachin-teressen, Fachidentifikation und späterer Weiterbildungsbereitschaft im Interessenge-biet gefunden werden (Csikszentmihalyi/Rathunde 1998; Rathunde 1993, 1998).

Insgesamt korreliert thematisches Interesse auch mit tiefenverarbeitenden Lernstrate-gien (Wild 1999), höherer Anstrengungs- und Lernbereitschaft (z. B. Müller 2001) undsteht mit höherer Zielbindung oder Zielerreichung in Zusammenhang (U. Schiefele/Urhahne 2000). Mir scheint die Annahme berechtigt (auch wenn eine empirischeÜberprüfung noch weitgehend aussteht), dass ein Interesse in zumindest einem Le-bensbereich das generelle subjektive Wohlbefinden steigert und mit einer gewissenLebensqualität verbunden ist (vgl. z. B. auch Csikszentmihalyi 1995; Ryan/Deci 2000).

4.3 Interesse als abhängige Variable

Selbstverständlich genügt es nicht, das Problem der Förderung und Aufrechterhaltungvon Interessen nur unter dem Aspekt der aktuellen Lehr-/Lernumwelt zu analysieren.

Müller: Interesse und Lernen

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Ob ein Lerner Interesse an einem bestimmten Thema entwickelt, hängt auf der einenSeite vom Inhalt selbst, von der Lern- und Bildungsbiografie, von der Fähigkeit zurSelbstmotivierung als auch von zukünftigen Perspektiven des Individuums ab. Nichtjeder Erwachsene, der an einer Bildungsmaßnahme teilnimmt, wird ein thematischesInteresse mitbringen oder entwickeln. Manche Themen interessieren uns einfach nicht,wir können deren persönliche Relevanz auch beim besten Willen nicht erkennen.

Auf der anderen Seite muss eine irgendwie geartete Motivation vorhanden sein, wennErwachsene überhaupt an Bildungsangeboten partizipieren. Die Motive können – wieerwähnt – unterschiedlichster Art sein. Wie sich aber die motivationale Orientierunginnerhalb der Lehr-/Lernsituation oder darüber hinaus entwickelt, hängt u. a. entschei-dend von der Gestaltung dieser Lernumwelt ab. So werden an dieser Stelle einigeMerkmale beschrieben, die die thematische Interessenentwicklung unterstützen kön-nen. Dabei haben sich Gestaltungsprinzipen als tragfähig erwiesen, die auf die Selbst-bestimmungstheorie (SDT) sowie auf Ansätze einer konstruktivistischen Lehr- und Lern-philosophie zurückgreifen (z. B. Prenzel u. a. 2001; Stark/Mandl 2000). Eine Verbin-dung der SDT mit solchen konstruktivistischen Ansätzen erscheint mir besonders Erfolgversprechend, da die SDT emotionale Erlebensqualitäten und die konstruktivistischenAnsätze insbesondere den Wissenserwerb betonen.

Die im Bildungs- und Lernprozess von den Individuen wahrgenommenen psychologi-schen Grundbedürfnisse nach Autonomie, Kompetenz und sozialer Einbindung ste-hen mit dem Fachinteresse in enger Beziehung (z. B. Seifried/Sembill 2005). Zur Un-terstützung von Autonomie gehören konkrete Gestaltungsprinzipien wie das Anbietenvon Wahlmöglichkeiten, beispielsweise bezüglich Zielen, Lernorganisation und -koo-peration. Für die Förderung von Kompetenzerfahrungen hat sich informierendes, lern-förderndes Feedback über den individuellen Lernfortschritt, welches als nicht-kontrol-lierend erfahren wird, als hilfreich für die Entwicklung von Interesse erwiesen. Hinzukommen ein angemessenes Anforderungsniveau sowie die Möglichkeit, die eigeneWirksamkeit und die Erweiterung von Fähigkeiten und Fertigkeiten auch unmittelbarzu erfahren. Die soziale Einbindung bezieht sich auf das Lehr-Lernklima, auf das Ge-fühl „dazu zu gehören“, auf Partnerschaftlichkeit oder Kooperation.

Ein konstruktivistisches Verständnis von Lehren und Lernen, welches Konstruktions-prozesse, Selbststeuerung oder subjektive Sinnbezüge betont, scheint auf konzeptio-neller Ebene mit der Interessentheorie kompatibel, auch wenn bislang zu wenige em-pirische Studien dafür vorliegen und der theoretische Funktionszusammenhang vonLernmotivation und konstruktivistischen Ansätzen genauerer Klärung bedarf (vgl. Stark/Mandl 2000). Im Folgenden werden diejenigen Aspekte mit der Interessenförderung inZusammenhang gebracht, die den meisten konstruktivistischen Ansätzen von Lehrenund Lernen gemeinsam sind:

Problemorientierung und Realitätsnähe: Durch ein authentisches und komplexes Problem (z. B.eine Aufgabe aus dem beruflichen Kontext) soll ein sinnvoller Handlungsanreiz geboten und dasHandeln und Wissen in einen Anwendungskontext gestellt werden. Die subjektive Bedeutungs-

Beiträge

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konstruktion kommt in der Interessentheorie unter dem Wertaspekt zur Sprache und ist deshalbbesonders wichtig, da ein persönlicher (Anwendungs-)Bezug sinnstiftend sein kann und für dieAufrechterhaltung und Entwicklung von Interessen relevant ist (vgl. Prenzel u. a. 2001).

Artikulation und Reflexion: Nicht nur um zu verhindern, dass Wissen alleine an den Problemkon-text der Lernsituation gebunden bleibt, sollen Problemlöseprozesse artikuliert und reflektiert wer-den. Reflexionen – besonders im sozialen Austausch – führen auch steuernde und kontrollieren-de Funktionen aus. Artikulationen sind dazu geeignet, implizite Expertenstrategien, die für die im-manente Gegenstandsauseinandersetzung notwendig sind, zu „vermitteln“ bzw. auchgegenstandsspezifische Anreize hervorzuheben. Dies sind entscheidende Komponenten der För-derung subjektiven Kompetenzerlebens.

Multiple Perspektiven: Das gleiche Konzept wird unter verschiedenen Zielsetzungen, Kontextenund aus unterschiedlichen Perspektiven bearbeitet, um z. B. das Abstrahieren von Wissen zu er-leichtern oder den Facettenreichtum eines Konzepts erst in seiner Tiefe zu erschließen. Wer seinkognitives Wissen über einen Gegenstand erweitert, erhöht die Wahrscheinlichkeit, Interesse zuentwickeln.

Lernen im sozialen Austausch: Ein positiv erlebtes soziales Klima, gepaart mit dem Gefühl derZugehörigkeit fördert motiviertes Handeln und bewirkt erst, dass relevante Personen (z. B. Leh-rende) als interessierte Vorbilder dienen können (z. B. Csikszentmihalyi/McCormack 1986). DieseVorbildfunktion trägt im Wesentlichen zu der Einstellung bei, dass Lernen mit positiven Gefühlenassoziiert sein kann.

Die exemplarisch aufgezeigten Möglichkeiten zur Interessenförderung verweisen aufanwendungs- und lernerzentrierte Settings, auf Selbstbestimmung und Handlungsori-entierung oder auf die Berücksichtigung der Lebensbezüge der Lernenden. Es gilt also– nicht nur aus der Sicht einer Interessen- und Motivationsförderung – verfestigte indi-viduelle Einstellungen zum Lernen sowie institutionell tradierte Lehr- und Lernkultu-ren aufzubrechen. Denn oft haben sich Erwachsene an lehrerzentrierte Vorgehenswei-sen allzu sehr gewöhnt und sind im Sinne einer rezeptiven Konsumhaltung auch mitsolchen Arrangements relativ zufrieden (vgl. Reinmann-Rothmeier/Mandl 1997). Inte-ressen werden sich durch ein solches Verhalten aber nur bedingt entwickeln.

4.4 Interesse als Ziel von Bildung

Welche Zusammenhänge es zwischen dem Interesse und Lerneffekten gibt und wie eineinteressenbasierte motivationale Orientierung gefördert werden kann, wurde in diesemBeitrag aufgezeigt. In Zeiten von PISA und zunehmender Evaluation und Qualitätskon-trolle im Bildungsbereich ist die Interessenforschung auch gut beraten, die Wichtigkeitdes Interesses für den kognitiven „Output“ zu erforschen und hervorzuheben. Allerdingsist der materielle Lernerfolg nicht alles. Hier stellt sich die empirisch nicht zu klärende,aber aus pädagogischer Sicht hoch relevante Frage, ob Interesse als ein allgemeines Zielvon Bildungs- und Erziehungsprozessen gesehen werden kann. Die Entwicklung vonSelbstbestimmung und Mündigkeit steht in Bezug zu Interessen, in denen Personen„stets ihr Selbstverständnis in und gegenüber ihrer Lebenswelt thematisieren“(H. Schiefele 2000). Sie entwickeln subjektive Sinnbezüge, die sich in spezifischen Per-

Müller: Interesse und Lernen

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son-Umwelt-Relationen manifestieren. Interessen bestimmen in diesem Sinne u. a. diepersonale Identität von Menschen. Dass die Persönlichkeitsentwicklung ein wesentli-ches Ziel von Bildungsanstrengungen ist, ist sicherlich unbestritten. Dabei ist zu berück-sichtigen, dass Lernen und Interesse nicht nur auf einen Sachgegenstand bezogen sind,sondern die Biografie und das künftige Leben von Individuen betreffen.

5. Forschungsdesiderate für die Erwachsenenbildung

Im Folgenden soll auf einige Forschungsdesiderate aufmerksam gemacht werden, diean die oben exemplarisch angeführten Forschungsbefunde anschließen und insbeson-dere die Erwachsenbildung betreffen.

1. Forschung über die Bedingungen des Interesses im Lernsetting selbstAuch wenn sich die Ausrichtung an psychologischen Grundbedürfnissen und kon-struktivistische Ansätze zur Förderung von Interesse in den Studien bewährt haben,sind weitere Untersuchungen in Realsituationen im pädagogischen Feld eine der zen-tralen Aufgaben der Interessenforschung. Hier sind im Sinne von Mikroanalysen vorallem Verläufe individueller emotionaler Erlebnisqualitäten (z. B. Wild/Krapp 1996)und die subjektiven Einschätzungen des Lehr-/Lernsettings zu erwähnen. Ferner fehltweitestgehend eine Überprüfung der korrelativen Befunde in „ökologischen Experi-menten“, die die emotionalen, motivationalen und kognitiven Wirkungen von Lehr-/Lernumwelten überprüfen und die sich am konstruktivistischen Paradigma orientie-ren. Dabei sind die individuellen und institutionellen Entscheidungsspielräume für dieAnalyse thematischer Lernmotivation besonders zu berücksichtigen.

2. Forschung hinsichtlich InteressenverläufeDie Erforschung von intraindividuellen Interessenverläufen über die Zeit kann gewinn-bringend für die Forschung sein. Besonders Personen, die ihr Interesse steigern odereben einem Gegenstand immer weniger subjektive Bedeutung beimessen, könnenwichtige Hinweise für die Bedingungen und die Funktionsweise der Interessenentwick-lung geben. Dabei ist der Fokus nicht nur auf das Lernsetting an sich zu legen, sonderndie langfristige Entwicklung von Interessen über die Bildungsmaßnahme(n) hinaus zuanalysieren. Wir wissen relativ wenig darüber, wie sich thematische Interessen im beruf-lichen oder außerberuflichen Bereich langfristig entwickeln. Wenn emotionale undmotivationale Voraussetzungen für eigenständiges Lernen und für die Bereitschaft zumlebenslangen Lernen bedeutsam sind, dann sollten auch epistemische Interessen einwesentlicher Aspekt davon sein. Aufschlussreich könnte auch ein biografietheoretischerBlick sein, der „Lernen als Transformation von Erfahrungen, Wissen und Handlungs-strukturen im lebensweltlichen und lebensgeschichtlichen Zusammenhang“ analysiert(Alheit 1990, S. 10). So könnten „Interessenbiografien“ nicht nur neue Aufschlüsse überdie Genese von Interesse liefern, sondern auch Hinweise über den Stellenwert von In-teressen für die individuelle Lebensgestaltung und für die Bewältigung von Übergangs-situationen (z. B. in den Ruhestand) oder von kritischen Lebensereignissen geben.

Beiträge

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3. Gibt es eine „Interessenpersönlichkeit“?Eine interessante Frage, die an das vorher Beschriebene anknüpft ist, ob es Persönlich-keitseigenschaften oder Fähigkeiten gibt, die interessiertes Handeln in unterschiedli-chen Domänen begünstigen können. So postuliert z. B. Csikszentmihalyi (1995) eine„autotelische Persönlichkeit“, der es gelingt, positive Erlebensqualitäten in unterschied-lichen Bereichen (auch bei eher ungünstigen Umwelt- und Handlungsbedingungen)zu realisieren. Solche Voraussetzungen könnten vor allem in Situationen zum Tragenkommen, in denen Sollensanforderungen gestellt werden, die zunächst nicht das Inte-resse eines Individuums treffen.

Die angeführten Aspekte sind nur einige Hinweise dafür, dass vermehrte Forschungs-anstrengungen im pädagogischen Feld nötig sind. Nichtsdestotrotz können aus denbisherigen Studien und den praktischen Erfahrungen einige (bis dato allerdings eherallgemeine) praktische Hinweise für die Interessen- und Motivationsförderung aufge-zeigt werden.

6. Praktische Aspekte aus der Sicht der InteressenforschungNicht jeder kann und will interessenorientiert lernen. Dagegen sprechen schon dieunterschiedlichen persönlichen Voraussetzungen sowie die mehr oder weniger starkvon „außen“ vorgegebenen Sollensanforderungen von Bildungsangeboten. Interessier-tes Lernen soll damit nicht als der Königsweg des Lernens verstanden werden. Je nachVoraussetzungen, Situation und Ziel kann extrinsische Motivation sinnvoll und hilf-reich sein. Die Orientierung an Prinzipien einer interessenfördernden Gestaltung vonLernumwelten kann aber zumindest die Möglichkeit für eine epistemische und sinn-stiftende Auseinadersetzung mit Lerninhalten schaffen oder dazu beitragen, dass vor-handene Interessen nicht zerstört werden. Letzteres gelingt leider den wenigsten Bil-dungseinrichtungen.

Erfolgreiche Bildungsprozesse, die neben dem Fachwissen auch die Selbststeuerung desLernens sowie die Perspektive des lebenslangen Lernens einbeziehen, müssen nebenden kognitiven auch die emotionalen und motivationalen Gesichtspunkte des Lehrensund Lernens berücksichtigen. Dazu gehört unter anderem, dass Lehrer oder Trainer ihredidaktischen Kompetenzen zur Förderung von prozessualen und strukturellen Faktorender Lernmotivation erweitern (siehe auch Krapp, im Druck). Das Interesse kann auch alswesentliches Ziel von Bildungsprozessen konzipiert werden, da es in engem Zusam-menhang mit der Entwicklung der Persönlichkeit steht. So bietet es sich beispielsweiseauch bei der Planung und Evaluation von Veranstaltungen an, motivations- und interes-senrelevante Aspekte aufzunehmen sowie nach der Veränderung emotionaler Befind-lichkeiten und des thematischen Interesses im Lernprozess zu fragen.

Insgesamt scheint eine Förderung thematischer Interessenbezüge ohne eigenes Inter-esse des Lehrenden selbst kaum möglich zu sein. Wer selbst keine Begeisterung für diezu erwerbenden Wissensinhalte ausstrahlt, wird auch für die Lernenden keine günsti-gen Voraussetzungen schaffen, Interesse zu entwickeln.

Müller: Interesse und Lernen

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Beiträge

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Müller: Interesse und Lernen

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62 REPORT (29) 1/2006

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Beiträge

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Monika Kil/Sina Wagner

Entwicklungsarbeiten zum Fragebogen „Organisation undTeilnehmende“ [OrTe]Ein Instrument zur Erfassung von Erwartungen an Lehre, Lernenund Organisation in der Weiterbildung

Die meisten Qualitätsmanagementverfahren in der Weiterbildung verlangen Teilneh-merbefragungen. Diese beziehen sich, wie eine Durchsicht von 72 Fragebögen ausder Weiterbildungspraxis zeigte, zumeist auf die Zufriedenheit der Teilnehmenden mitden Kursleitenden und der Organisation des Kurses. Bei der Interpretation der Frage-bogenergebnisse wird dann nicht berücksichtigt, wie die Bewertungen von Teilneh-mererwartungen, Motivationen und unterschiedlichen Kurs- und Anbietertypen beein-flusst werden. Vor diesem Hintergrund wurde im Rahmen eines DFG-Projekts der Fra-gebogen „Organisation und Teilnehmende“ [OrTe] konzipiert und dessen Güte undStruktureigenschaft anhand einer Teststichprobe bilanziert. Der Fragebogen sowie dieErgebnisse der Testung werden in diesem Beitrag vorgestellt.

1. Theoretische Verortung und Konzeption

Ziel des von der DFG geförderten Projekts „Dienstleistung ‚Weiterbildung’ – Organisa-tionsanalysen zur Ausdifferenzierung im Anbieter- und Leistungsspektrum“ ist es, dieTeilnehmenden als Koproduzenten in das organisationsanalytische Design mit einzu-beziehen. Zu Beginn stand das Projektteam1 vor der Aufgabe, Ergebnisse aus der Lehr-/Lern- und Organisationsforschung zu bündeln und einen Teilnehmerfragebogen zuentwickeln, der in der Lage sein sollte, Varianz im Antwortverhalten von verschiede-nen Kurs- und Anbietertypen aufzuklären, damit die Ergebnisse zumindest in Teilenmit Befunden aus den Organisationen in Beziehung gesetzt werden können.

Im Fragebogen sollte nicht suggeriert werden, dass es überindividuell einheitliche „ob-jektive“ Maßstäbe gibt, die Teilnehmende in die Lage versetzen, die Kursleitenden,deren Didaktik und die Weiterbildungsorganisation einschätzen zu können (vgl. Kritikvon Schilling/Kluge 2004 am Lernkultur-Inventar von Sonntag u. a. 2004). Der Sicht-weise, dass möglichst hohe Zufriedenheitsbekundungen der Teilnehmenden eine Aus-sage über den Lernerfolg und die Qualität einer Weiterbildung zulassen, wurdeebenfalls nicht gefolgt, da Lernprozesse eine „emotionale Dialektik“ (Kuhl/Hartmann2004, S. 58) brauchen: Es kann nur gelernt werden, wenn auch eine Zeit lang Unzu-

1 Prof. Dr. Erhard Schlutz, Horst Rippien, Maren Büschking, Julia Rothenberg (Universität Bremen) und Prof. Dr.Hellmuth Metz-Göckel (Universität Dortmund) danken wir für die hilfreiche Diskussion der Items und die Ein-schätzungen zur Datenqualität.

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Beiträge

friedenheit ausgehalten werden kann. Neue Wahrnehmungen aus der Innen- oderAußenwelt können in das Selbstsystem nicht integriert werden, wenn dieses nichtzuweilen gehemmt wird, damit unerwartete oder sogar unerwünschte Empfindungenverstärkt beachtet werden können. Das zeitweilige Zulassen von negativen Gefühlenund der eigenen Schwäche (Leidensfähigkeit) kann damit als eine Voraussetzung fürdie Akkommodation (ebd., S. 57) angesehen werden. Bei Teilnehmerbefragungen, dieausschließlich auf Zufriedenheitsmaßen basieren, wird es deshalb u. E. zu artifiziellenBefunden kommen. Die Teilnehmenden, die den Lernprozess selbst steuern und Pro-duzenten der Lernergebnisse sind, sollten also mit ihren Erwartungen, Interessen undmotivationalen und metakognitiven Voraussetzungen (vgl. Achtenhagen/Bendorf 2005)berücksichtigt werden. Von Rosenstiel (1994, S. 59) hat es auf eine kurze „Formel“gebracht, welche Bereiche zur Betrachtung eines organisierten Lernprozesses operati-onalisiert werden müssen: „Zum Lernen gehört persönliches Wollen, individuellesKönnen, soziales Dürfen und die situative Ermöglichung“. „Soziales Dürfen“ beinhal-tet im negativen Sinne, dass Selektionsprozesse stattfinden und kein offener (kompe-tenzbezogener) Zugang zu bestimmten Bildungsorganisationen und -abschlüssen be-steht. Wenngleich dies vor allem für den Schulbereich nachgewiesen werden konnte,sind diese Prozesse auch im Weiterbildungsbereich wirksam (Kuwan/Thebis 2005). ImVergleich zur Schule spielen in der Weiterbildung Auswahlentscheidungen, die aufErwartungen und Erfahrungen der erwachsenen Lernenden basieren, eine größere Rol-le, so dass Ergebnisse zum Bedingungsgefüge von Unterrichtsqualität (vgl. Helmke2005) hier nicht übertragen werden können. Personale Faktoren, wie Motive und Inte-resse, sind zentrale Ursachen dafür, dass erwachsene Personen Lernangebote überhauptaufgreifen, sich bestimmte Aufgaben aussuchen, sich aktiv mit Inhalten auseinandersetzen und Ergebnisse anstreben. Vom bereichsspezifischen Vorwissen hängt es dannzusätzlich ab, wie die vorgefundenen Lernumgebungen angenommen und die jewei-ligen Lerninhalte verarbeitet werden. Dementsprechend kann es keine einheitlichenEffizienzkriterien für Lehren und Lernen geben, sondern es muss für jeden Inhaltsbe-reich erarbeitet werden, wie Lernumgebungen zu gestalten sind (Stern u. a. 2005, S. 23).Das heißt, Fragen der (Fach-)Didaktik müssen in der zukünftigen Lernforschung für dieWeiterbildung (wieder) eine größere Rolle spielen (vgl. Schlutz 2005). Weiterhin sindmetakognitive volitionale Kontrollsysteme für das „Durchhalten“ im Lernprozess vonBedeutung. Während der einzelnen Lernhandlungen kommt es immer wieder zu Er-fahrungsbilanzen (vgl. Tannenbaum-Rahmenmodell zur Trainingsevaluation in Höft2001, S. 637), die sich wiederum auf personale Faktoren niederschlagen, so z. B. wiedie jeweilige Lernumgebung verarbeitet wird.

Wir gehen davon aus, dass organisatorische und organisationale Faktoren vor undwährend der Teilnahme zwar eine Wirkung auf Lern- und Qualifizierungsprozessehaben, ihnen aber eher die Funktion eines „Dissatisfier“ zukommt, d. h. erst wenndiese nicht erfüllt sind, können sie für den Lernprozess als hinderlich erlebt werden(vgl. Herzberg 1968). Zentrale „spiegelbildliche“ Variablen auf Seiten der Teilnehmen-den und der Organisation, die aus unserer Sicht für das Zustandekommen von Lerner-gebnissen relevant und operationalisierbar sein könnten, sind in Abbildung 1 darge-

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65REPORT (29) 1/2006

Kil/Wagner: Entwicklungsarbeiten zum Fragebogen „Organisation und Teilnehmende“ [OrTe]

stellt. Bei der Entwicklung des Fragebogens [OrTe] sollte im Schwerpunkt die Teilneh-merdimension berücksichtigt werden; die Ebene der Organisation wird im Projekt überzusätzliche Instrumente (z. B. Programmanalysen, Arbeitsplatzbefragungen) erfasst.

2. Der [OrTe] Fragebogen

2.1 Faktorenanalytische PrüfungFür die Auswahl der Items wurde v. a. auf den Bereich „Lernen Erwachsener“ (z. B.Mandl/Kopp/Dvorak 2004) und die „Qualitätsdebatte“ (z. B. Kil 2005) rekurriert. ImBereich der (Lern-)Motivations- und Organisationsforschung zur Selbstwirksamkeit undzu Lernmotivierungspotenzialen als situative Ermöglichung einer leistungsanregendenLernumgebung konnten bereits Items aus bestehenden Instrumenten genutzt werden.Zur Generierung von Items zu Teilnahmegründen und -erwartungen wurden zuvorzwölf offene Interviews und neunzehn schriftliche offene Befragungen durchgeführt.Nach der inhaltsanalytischen Auswertung konnten die bisher nur aus der Literatur ex-trahierten Fragebereiche bestätigt werden; es ergaben sich lediglich Ergänzungen imBereich der Fragen zum Entscheidungsverhalten auf Grund von Lerngewohnheiten(z. B.: „Ich bin es einfach gewohnt, auf diese Weise zu lernen“).

Der für die Testung verwendete Fragebogen ist mit 101 Items vollständig standardisiertund gliedert sich in zwei Bereiche:Im ersten Teil werden Fragen bezogen auf die besuchte Veranstaltung gestellt (z. B.„Welche Leistungen müssen Sie selbst einbringen, damit diese Veranstaltung für Sieein Erfolg wird?“). Die vorgegebenen Antworten werden auf einer 7er Likert-Skala(1 = „Trifft überhaupt nicht zu“ bis 7 = „Trifft voll zu“) von den Teilnehmenden ange-kreuzt.Im zweiten Teil des Fragebogens werden Erwartungen an die Kursleitenden, die Wei-terbildungseinrichtung, den Unterricht und allgemeine Fragen (z. B. zur Selbsteinschät-zung) gestellt.

Abbildung 1: Dimensionen eines Lernprozesses auf Seiten der Organisationund der Teilnehmenden

Teilnehmende

Organisation

Unterstützungs-erwartungVorwissen/Interesse Lernverarbeitung Erfahrungsbilanz

Leistungs-versprechenWB-Inhalte Motivierungs-

potenziale Dienstleistungen

Auswahl-/Entscheidungsprozess Lernprozess Lernergebnisse

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66 REPORT (29) 1/2006

Beiträge

Um den Fragebogen in der Hauptstudie bei unterschiedlichen Anbietern einsetzen zukönnen, wurde der Pretest bei sechs unterschiedlichen Bremer Weiterbildungsanbie-tern (vgl. Schönefeldt 2004) in 20 verschiedenen Veranstaltungen durchgeführt (z. B.bei Vollzeit-Industriemeisterlehrgängen, aber auch bei Gesundheitskursen einer VHS).In die Auswertungen gehen 238 Fragebögen ein. Im Folgenden werden die Ergebnisseder konfirmatorischen Faktorenanalyse nach Anpassung (Cronbachs ) dargestellt. DieErgebnisse zum Komplex „Teilnahmegründe und -motive“ sind in der Tabelle 1 doku-mentiert. Die Anzahl der extrahierten Faktoren mit der jeweiligen Angabe der erklä-renden Gesamtvarianz sind in der vierten Spalte wiedergegeben. Insgesamt haben sichfünf Konstrukte abgebildet, wobei die Items zum Bereich „Dissatisfier“ noch verbessertwerden müssten, da sie auf zwei Faktoren laden.

Die Operationalisierung „Lernmotivierungspotenzial“ orientiert sich an den Arbeitenvon Metz-Göckel (2001) zur Lernmotivation in der kaufmännischen Erstausbildung.Das Ursprungsmodell ist das sogenannte Job-Characteristics-Modell von Hackman undOldham (vgl. Kil/Leffelsend/Metz-Göckel 2000), welches es ermöglicht, (Lern-)Leis-tungen unter bestimmten Situationsbedingungen zur Entfaltung kommen zu lassen.

Das Modell geht von folgenden Voraussetzungen aus:Die Lern-/Arbeitsaufgabe bietet einen ausreichenden Anforderungswechsel während der Aus-führung.Sie ist in sich geschlossen, d. h. der Lernende befasst sich mit einer Lernaufgabe, die sowohl

Tabelle 1: Faktorenanalyse und Maß interner Konsistenz für „Teilnahmegründeund -motive“

Faktoren-analyse

1 (63,3 %)

1 (62,9 %)

1 (75,2 %)

2 (56,1 %)

1 (77,0 %)

Cron-bachs

.407

.409

.500

.701

.900

AnzahlItems

2

2

2

6

4

1

1

1

Variable mit Beispielitem

Herausforderung „Ich suche als Lerner/in immer eineHerausforderung“

Alternative, persönlich „Ich kann mir keine sinnvolleAlternative vorstellen“

Genuss „Für mich ist das eine Freizeitbeschäftigung“

Dissatisfier „Die Veranstaltung ist preisgünstig“

Berufliche Verbesserung „Ich möchte meine Chancenauf dem Arbeitsmarkt verbessern“

Soziale Eingebundenheit „Um andere Menschen ken-nen zu lernen“

Alternative, beruflich „Die Einrichtung oder der Kurswurde von meinem Arbeitgeber vorgegeben“

Interesse „Der Inhalt des Kurses hat mich interessiert“

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67REPORT (29) 1/2006

Planung als auch Bewertung und „inhaltliche“ Vollständigkeit umfasst (Aufgabengeschlossen-heit).Sie ist nützlich und wichtig für andere Menschen (Nutzen).Sie gibt ausreichenden Handlungsspielraum für die individuelle Aufgabenerfüllung (Autonomie).Sie gibt bereits während der Ausführung Möglichkeiten für die eigene Standortbestimmung undKontrolle (Rückmeldung).Die Lerntätigkeit erfolgt in Abstimmung und Austausch (Zusammenarbeit).

In einer Überprüfung des Modells mit verschiedenen Mitarbeitendengruppen aus demDienstleistungsbereich (Kil/Metz-Göckel/Leffelsend 1997) hat sich gezeigt, dass es fürdie Modellgüte sinnvoll ist, die Variable Zielklarheit zusätzlich zu berücksichtigen.Die Ergebnisse unserer faktorenanalytischen Überprüfung des Lernmotivierungspoten-zials sind – außer für die Variablen Nutzen und Zielklarheit – insgesamt zufriedenstel-lend (s. Tab. 2). Dies liegt wohl daran, dass hier Items verwendet wurden, die bereits inder erwachsenenpädagogischen Praxis zum Einsatz gekommen sind.

Im Variablenset „Personale Lernverarbeitung“ handelt es sich um Konstrukte, die sichmit subjektiven Einschätzungen befassen, warum Lernende annehmen, dass sie beieiner Aufgabe auch Erfolg haben werden. Die Entwicklung von Selbstwirksamkeits-überzeugungen wird beeinflusst durch „vorhandene Modelle“ (Friedrich/Mandl 1997),d. h. eigene Überzeugungen zum „Lernen“ und frühere Lernerfahrungen (Erfolg/Miss-erfolg). Wenn die Erfahrungen mit dem Lernen insgesamt negativ waren, so wird sichdies auch negativ auf die aktuelle oder anstehende Lernsituation übertragen. Items zudiesem Komplex wurden u. a. aus dem so genannten „FAM“, Fragebogen zur Erfas-

Kil/Wagner: Entwicklungsarbeiten zum Fragebogen „Organisation und Teilnehmende“ [OrTe]

Tabelle 2: Faktorenanalyse und Maß interner Konsistenz für das Lernmotivierungs-potenzial

Faktoren-analyse

1 (71,3 %)

1 (79,0 %)

1 (55,8 %)

1 (61,9 %)

1 (75,3 %)

Cron-bachs

.565

.726

.728

.710

.672

AnzahlItems

2

2

4

2

2

1

1

Variable mit Beispielitem

Anforderungswechsel „... den Lernenden auf vielfältigeWeise fordert?“

Aufgabengeschlossenheit „... der Unterricht inhaltlichein Ganzes bildet?“

Autonomie „... selbst über den Lernweg entscheiden zukönnen?“

Rückmeldung „... regelmäßig Feedback zu Ihrem Lern-stand gibt?“

Zusammenarbeit „... Arbeit in Kleingruppen ermöglicht?“

Nutzen „Das Thema ist mir sehr wichtig“

Zielklarheit „Ich weiß, dass ich meine Lernziele nur aufdiese Weise erreichen kann“

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68 REPORT (29) 1/2006

Beiträge

sung aktueller Motivation im Lernverlauf, von Vollmeyer/Rheinberg (2003) übernom-men. Eine weitere personale Variable, die mitbestimmt, inwieweit didaktische Inter-ventionen überhaupt aufgenommen werden, ist das Vorwissen. Ist bereits Expertisevorhanden, können Redundanzen (Stoffwiederholungen) und das didaktische Unter-stützungssystem (z. B. Rückmeldung durch Lehrende) als störend wahrgenommenwerden. Es kommt zum so genannten „Expertise-Reversal-Effect“ (Kalyuga u. a. 2003):Die Lernleistung und -motivation sinkt bzw. stagniert. Liegt Vorwissen vor, ist dies alsobedeutsam für die Einschätzung von Lernergebnissen und nur Vorwissensschwächereprofitieren dabei von Feedback (Krause/Stark 2005).

Insgesamt ist die faktorenanalytische Überprüfung dieser personalen Konstrukte zurLernverarbeitung nach Anpassung nur bedingt zufriedenstellend (s. Tab. 3) und esmussten einige Items entfernt werden. Die Kategorie Vorhandene Modelle ist ange-sichts der Faktorenanalyse für weitere Berechnungen nicht verwendbar und muss über-arbeitet werden. Dies mag daran liegen, dass hier Fragen zum Einsatz kommen, dieeher in psychologischen Kontexten mit Studierenden getestet wurden. Es bleibt damiteine zentrale Aufgabe, Konstrukte, die sich in solchen Untersuchungen zwar als relia-bel erwiesen haben, für die Anwendungssituation mit Erwachsenen in realen Lernset-tings vor allem sprachlich anzupassen und erneut auf ihre Güte hin zu prüfen.

In Tabelle 4 werden die Ergebnisse zu den Teilnehmendenerwartungen aufgeführt. Esergeben sich einerseits Variablen zu Erwartungen an die Didaktik und an Unterstüt-

Tabelle 3: Faktorenanalyse und Maß interner Konsistenz für personaleLernverarbeitung

Faktoren-analyse

1 (74,8 %)

1 (77,9 %)

1 (74,7 %)

2 (74,6 %)

Cron-bachs

.664

.717

.662

.650

AnzahlItems

2

2

2

2

1

1

Variable mit Beispielitem

Frühere Lernerfahrung „Lernen fällt mir leicht“

Anstrengungsbereitschaft „Ich bin grundsätzlich gernebereit, viel Energie und Zeit in eine Weiterbildungs-veranstaltung zu investieren“

Misserfolgsbefürchtung „Es ist mir zumeist peinlich,wenn ich im Unterricht schlecht abschneide“

Erfolgswahrscheinlichkeit „Ich bin mir sicher, auchhohen Anforderungen gewachsen zu sein“

Vorwissen „Haben Sie zu dem Thema/Inhalt des KursesVorwissen?“

Vorhandene Modelle „Ich bin es einfach gewohnt, aufdiese Weise zu lernen“

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zungsleistungen. Im Bereich der Operationalisierung von didaktischen Komponentenwie Teilnehmerorientierung, Fremdsteuerung und Dozentenverhalten müssen nochÜberarbeitungen vorgenommen werden. Anscheinend lassen sich für die Teilnehmen-den einzelne didaktische Aspekte nicht ausreichend voneinander abgrenzen. Es ergibtsich für diesen Bereich eine Ergebnisvariable „Erwartungsbilanz“, mit deren Hilfe wei-tere Zusammenhänge überprüft werden können.

2.2 Weitergehende Konstruktprüfung

In die folgenden Berechnungen gehen ausschließlich faktorenanalytisch bewährteKonstrukte ein, die sich faktorenanalytisch bewährt haben (s. Kapitel 2.1). Es werden

Kil/Wagner: Entwicklungsarbeiten zum Fragebogen „Organisation und Teilnehmende“ [OrTe]

Tabelle 4: Faktorenanalyse und Maß interner Konsistenz für „Erwartungen“

Faktoren-analyse

1 (57,3 %)

2 (58,1 %)

1 (79,2 %)

1 (62,5 %)

1 (69,5 %)

1 (80,9 %)

1 (69,0 %)

1 (89,0 %)

Cron-bachs

.617

.495

.731

.394

.560

.763

.551

.876

AnzahlItems

3

5

2

2

2

2

2

2

Variable mit Beispielitem

Erwartungen an die Didaktik

Fremdsteuerung „... die Themen für mich vor- undaufbereitet?“

Teilnehmerorientierung „... Hinweise auf Möglichkeitenzum Weiterlernen gibt?“

Erwartungen an Unterstützungsleistungen

Erwartungen an Dozent/in – Fachliche Erwartungen„... über Fachwissen verfügt, das auf dem neuestenStand ist“

Erwartungen an Dozent/in – Persönliche Erwartungen„... sich individuell um Sie kümmert?“

Erwartungen an die Weiterbildungseinrichtung – Rah-menbedingungen „... über insgesamt ansprechendeRäumlichkeiten verfügt?“

Erwartungen an die Weiterbildungseinrichtung – Kun-denservice „... im Service kundenorientiert ist“

Erwartungen an die Weiterbildungseinrichtung – Quali-tätsnachweis „... ein Qualitätssiegel hat/nach anerkann-ten Qualitätsrichtlinien zertifiziert ist“

Erwartungsbilanz

Empfehlung „Ich würde den Kurs Kollegen/Bekanntenweiterempfehlen?“

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70 REPORT (29) 1/2006

Beiträge

hier nur Ergebnisse aufgeführt, die hoch signifikant sind (p<.01). Da der FragebogenTeilnehmereinschätzungen bei unterschiedlichen Anbietern erfassen soll, wurden hierbereits Mittelwertsberechnungen zur Erfassung möglicher Kursunterschiede durchge-führt. Es werden hierfür zwei Gruppen gebildet, „berufliche Weiterbildung“ (n = 106)und „nicht-berufliche Weiterbildung“ (n = 96; s. Tab. 5).

Demnach haben Teilnehmende an beruflicher Weiterbildung in der vorliegenden Stich-probe höhere und mehr Erwartungen an Leistungen, die von der Weiterbildungsein-richtung und den Kursleitenden ausgehen. Sie erwarten Qualitätsnachweise, höhereAufgabengeschlossenheit und mehr Rückmeldung. Sie selbst geben ein höheres Aus-maß von Anstrengungsbereitschaft an und es ist nachvollziehbar, dass sie auch ver-mehrt angeben, sich beruflich verbessern zu wollen.

Um Zusammenhänge für die Ausprägungen im Bereich der erfassten personalen Fak-toren zu explorieren, die eine zentrale und für die Weiterbildung neue Rolle in derKonzeption des Fragebogens spielen, wurden lineare multiple Regressionen gerechnet(s. Tab. 6). Diese Berechnungen sollen ebenfalls Hinweise geben, ob die sich in derFaktorenanalyse abgebildeten Konstrukte in ihren Zusammenhängen theoriekonformnachvollziehen lassen.

Wer sich beruflich verbessern möchte, gibt eine höhere Anstrengungsbereitschaft an.Interessant ist, dass positive frühere Lernerfahrungen negativ mit einer Anstrengungs-bereitschaft korrelieren. Dies scheint durchaus plausibel, da mit Hilfe von positivenLernerfahrungen eine Sicherheit entstehen kann, so dass erwartet wird, sich nicht mehrin einem so hohen Maße anstrengen zu müssen. Mit der Erfolgswahrscheinlichkeitkorreliert der Wunsch nach mehr Anforderungswechsel im Unterricht. Zudem wirdauf Grund positiver früherer Lernerfahrungen eine höhere Erfolgswahrscheinlichkeitangegeben. Die Misserfolgsbefürchtung korreliert erwartungsgemäß hoch signifikantnegativ mit der Erfolgswahrscheinlichkeit. Wenn auf Dissatisfier (die im vorhinein zur

Tabelle 5: Ergebnisse der Mittelwertvergleiche berufliche vs. nicht-beruflicheWeiterbildung

F-Wert

30,4

7,2

11,4

86,6

7,4

Mittelwertberufl. WB

5,2

6,2

5,5

6,0

5,2

Signifikanz-Niveau

.000

.008

.001

.000

.007

Variable

Qualitätsnachweis

Aufgabengeschlossenheit

Rückmeldung

Berufliche Verbesserung

Anstrengungsbereitschaft

Mittelwertallg. WB

3,9

5,8

4,8

3,4

4,1

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71REPORT (29) 1/2006

Teilnahmeentscheidung wichtigen organisatorischen Bereiche), Zusammenarbeit, Ziel-klarheit und fachliche Erwartungen an die Kursleitenden wert gelegt wird, dann kommtes eher zu einer positiven Erwartungsbilanz in dem Sinne, dass eine Empfehlung fürdas jeweilige Kursangebot abgegeben wird. Interessant und vor allem für die Weiter-bildungseinrichtungen wenig beeinflussbar ist der Befund, dass ein hohes Ausmaß anVorwissen ebenfalls positiv mit einer Empfehlung korreliert.

Auch für zwei Organisationsvariablen wurden multiple Regressionen gerechnet (s.Tab. 7). Dieses Ergebnis war angesichts der Kritik (vgl. u. a. John/Ehrmann 2005) aneiner in ihren Folgen für den Lern- und Bildungsprozess ungeprüften Übernahme desKonzepts der „Kundenzufriedenheit“ (z. B. bei Thiele 2004) von besonderem Interes-se. Die Ergebnisse zeigen, dass Aufgabengeschlossenheit und Autonomie mit der Er-wartung an den Kundenservice zusammenhängen. Diese Ergebnisse deuten daraufhin, dass Personen, die Wert auf Kundenservice legen, insgesamt eine hohe Erwar-tungshaltung gegenüber den didaktischen Leistungen haben. Die Erwartung, dass dieEinrichtung Qualitätsnachweise liefert, korreliert ebenfalls mit einem Wunsch nachAutonomie im Lehr-/Lerngeschehen und hängt mit dem Motiv, sich beruflich zu ver-bessern, zusammen. Kundenservice und Qualitätsnachweis korrelieren ebenfalls sig-nifikant.

Kil/Wagner: Entwicklungsarbeiten zum Fragebogen „Organisation und Teilnehmende“ [OrTe]

Tabelle 6: Lineare multiple Regressionsanalyse „personale Variablen“

Korrelation

.458

-.233

.436

-.439

.430

-.180

.513

.371

.287

.332

.167

unabhängige Variable

Berufliche Verbesserung

Frühe Lernerfahrung

Anforderungswechsel

Misserfolgsbefürchtung

Frühe Lernerfahrung

Zusammenarbeit

Dissatisfier

Zusammenarbeit

Zielklarheit

Fachliche Erwartungen anden/die Dozent/in

Vowissen

abhängige Variable

Anstrengungsbereitschaft

Erfolgswahrscheinlichkeit

Misserfolgsbefürchtung

Empfehlung

Signifikanz

.002

.007

.000

.000

.000

.007

.000

.000

.001

.005

.003

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72 REPORT (29) 1/2006

Beiträge

3. Diskussion

Konstrukte, die sich insgesamt bewährt haben, sind „berufliche Verbesserung“ als Ele-ment der Eingangsmotivation und das „Lernmotivierungspotenzial“ zur Erfassung derErwartungen an eine Lernumgebung. Auf Seiten der personalen Lernverarbeitung ha-ben sich die Variablen „frühere Lernerfahrung“, „Anstrengungsbereitschaft“, „Misser-folgsbefürchtung“, „Erfolgswahrscheinlichkeit“ und „Empfehlung“ auf Seiten der Ler-nenden bestätigt. Auf Seiten der Organisation sind es „fachliche Erwartungen an den/die Dozenten/in“ und „Kundenservice“. Die Ergebnisse sind durchgängig nachvoll-ziehbar, d. h. theoriekonform und belegen die Güte und das Potenzial des Instruments.Für die personenbezogenen Variablen kann festgehalten werden, dass sie einen Zuge-winn in der Einschätzung von Evaluationsergebnissen in der Weiterbildung bringenwerden. Der Fragebogen wird angesichts dieser Ergebnisse im weiteren Verlauf desProjekts bei größeren Stichproben eingesetzt werden können, um dann das Bezie-hungsgefüge „Organisation“ und „Teilnehmende“ mit Hilfe von Strukturgleichungenüberprüfen zu können (vgl. Abb. 1 oben). Dafür werden die für die Selektion verant-wortlichen Variablen Geschlecht, berufliche Position, beruflicher Abschluss und Bil-dungsabschluss (vgl. Barz/Panyr 2005, S. 69) noch zusätzlich erhoben werden müs-sen. Hier muss aber ein Messfehler durch den „stereotype threat“2 vermieden werden(z. B. mit Hilfe von Personenkürzeln, vgl. Kil/Pfaff 2000). Auch ist zu überlegen, ob imFragebogen das Vorwissen nicht nur mittels einer Selbsteinschätzung erhoben werdensollte. Im Bereich der Erwartungen und der Einschätzungen im didaktischen Bereichmüssen allerdings noch Verbesserungen vorgenommen werden.

Für Kursleitende kann dann der Fragebogen zusätzlich Hinweise über die Erwartungenvon Teilnehmenden geben. Diese können dann ggf. besser aufgegriffen und erfülltwerden, statt Bilanzierungen (z. B. über Noten) interpretieren zu müssen, die keinenHinweis auf motivational wirksame Verbesserungen und Schwerpunktsetzungen ge-

Tabelle 7: Lineare multiple Regressionsanalyse „Erwartungen an dieWeiterbildungseinrichtung“

Korrelation

.433

.256

.512

.076

.130

unabhängige Variable

Aufgabengeschlossenheit

Autonomie

Berufliche Verbesserung

Autonomie

Kundenservice

abhängige Variable

Kundenservice

Qualitätsnachweis

Signifikanz

.005

.006

.000

.008

.000

2 Die Aktivierung von Stereotypen nimmt Einfluss auf Erwartungen, die Bedeutungen von Zielen und das Abschnei-den in Leistungssituationen (vgl. z. B. Croizet/Claire 1998).

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73REPORT (29) 1/2006

ben können. So gehen nicht nur das Lehrverhalten, sondern auch die personale Lern-verarbeitung der Teilnehmenden und deren Erwartungen an didaktische Arrangementsin die Gesamtbilanz für ein Weiterbildungsangebot mit ein. Wie die Unterschiedezwischen den zwei Kurstypen „beruflich“ versus „nicht-beruflich“ zeigen, kann keineeinheitliche Idealvorstellung von „Lehre“ und „Organisation“ bei den Weiterbildungs-teilnehmenden vorausgesetzt werden, denn es haben sich hier „bereichsspezifische“Erwartungshaltungen feststellen lassen. Für die Lernforschung ergeben sich neue Anre-gungen, welche Personen-, Situations- und Organisationsvariablen im Erwachsenen-lernen bei unterschiedlichen Anbietertypen eine Rolle spielen und im Feld auch empi-risch erfasst werden können.

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Kil/Wagner: Entwicklungsarbeiten zum Fragebogen „Organisation und Teilnehmende“ [OrTe]

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74 REPORT (29) 1/2006

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Schlutz, E. (1999): Erwachsenenbildung als Dienstleistung. In: Knoll, J. (Hrsg.): StudienbuchGrundlagen der Weiterbildung. Neuwied, S. 20–38

Schlutz, E. (2005): Didaktischer Epochenwechsel? Klärungsbedarfe zur Weiterentwicklung desdidaktischen Denkens mit Blick auf ein DFG-gefördertes Forschungsvorhaben. In: REPORT.Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung, H. 3, S. 18–26

Schönefeldt, U. (2004): Handbuch Weiterbildungsanbieter in Bremen. Universität Bremen: IfEBSonntag, K./Stegmaier, R./Schaper, N. u. a. (2004): Dem Lernen im Unternehmen auf der Spur:

Operationalisierung von Lernkultur. In: Unterrichtswissenschaft, H. 2, S. 104–127Stern, E. u. a. (2005): Lehr-Lernforschung und Neurowissenschaften: Erwartungen, Befunde und

Forschungsperspektiven. Bonn/Berlin: BMBFThiele, A. (2004): Modulare Qualitätsentwicklung in der Weiterbildung. Am Beispiel des regio-

nalen Kooperationsverbundes der Volkshochschulen Mühlheim an der Ruhr, Essen undOberhausen (MEO). Bielefeld

Vollmeyer, R./Rheinberg, F. (2003): Aktuelle Motivation und Motivation im Lernverlauf. In:Stiensmeier-Pelster, J./Rheinberg, F. (Hrsg.): Diagnostik von Motivation und Selbstkonzept.Göttingen u. a., S. 281–295

Beiträge

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REZENSIONEN

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Rezensionen

Das Buch in der Diskussion

Rudolf Tippelt:

Das Buch basiert auf einer Repräsentativerhe-bung in den alten und neuen Bundesländernin der Bundesrepublik Deutschland zum Wei-terbildungsbewusstsein und -verhalten derBevölkerung im erwerbsfähigen Alter (18- bis64-Jährige). Untersucht werden berufsbezoge-ne Lernerfahrungen und Weiterbildungsakti-vitäten, immer vor dem Hintergrund der aktu-ellen Arbeits- und Lebenssituation sowie dervorberuflichen Erfahrungen der Befragten undunter Einbezug der subjektiven Wahrneh-mung des sozioökonomischen Wandels.

In einem Hauptteil entfalten Baethge undBaethge-Kinsky den theoretischen Rahmender Untersuchung und stellen die Zusammen-hänge „prozessorientierter beruflicher Weiter-bildung“ und veränderter Formen der Arbeits-organisation dar. Der Wandel beruflicherWeiterbildung – insbesondere betrieblicherWeiterbildung – wird in engem Zusammen-hang zu einschneidenden Veränderungen derArbeitsorganisation von einer fordistisch-tay-loristischen zu einer postfordistisch prozess-orientierten Organisation der Arbeit analy-siert. Die neue Form der Arbeitsorganisationist eher als kompetenzbasiert, als teamorien-tiert, als selbstorganisiert und als sozial-kom-munikativ zu charakterisieren. Weiterbil-dungsplanung und Weiterbildungssteuerungmüssen diese arbeitsorganisatorischen Verän-derungen und die subjektive Wahrnehmungdieses Wandels berücksichtigen.

Auf der Basis einer Stichprobe von 4.052 In-terviews werden im Rahmen einer klugen bil-dungspolitischen Einbettung und einer souve-ränen betriebssoziologischen Diagnose Lern-kompetenzen und Lernkontexte, biografischeErfahrungen und Mobilitätserfahrungen, Wei-terbildungsbereitschaft und Weiterbildungs-abstinenz empirisch gehaltvoll diskutiert.Zentral für das Verständnis der vorliegendenStudie ist die Aufgliederung von vier zentra-len Lernkontexten: formalisiert, medial, ar-beitsbegleitend und privat. Das in der Studieso nachdrücklich betonte arbeitsbegleitendeinformelle Lernen, insbesondere am Arbeits-platz, scheint für die Mehrheit der erwerbstä-tigen Bevölkerung der Hauptlernkontext zusein. Dies ist ambivalent zu werten, denn in-formelles Lernen entzieht sich häufig strategi-scher Planung und ist wenig reflektiert. In ei-ner soziologisch begründeten Lerntypologiezeigt sich, dass zwei Drittel der Erwerbstäti-gen die informellen Lernkontexte als ihrewichtigsten beruflichen Lernerfahrungenempfinden, darunter nun vor allen Dingen dieschulisch und beruflich weniger qualifiziertenBeschäftigten, die Un- und Angelernten unddie in Kleinbetrieben tätigen Personen. Dieandere Gruppe, etwa ein Drittel der Erwerbs-tätigen, orientiert sich stärker an medialen undformalisierten Lernkontexten und ist durchhöhere allgemeinbildende berufliche Schul-abschlüsse gekennzeichnet: Beamte, Füh-rungskräfte, Akademiker und Angestellte ausGroßbetrieben profitieren darüber hinaus

Baethge, Martin/Baethge-Kinsky, Volker(mit einem Beitrag von Rudolf Woderich, Thomas Koch undRainer Ferchland)Der ungleiche Kampf um das lebenslange Lernen(Waxmann Verlag) Münster u. a. 2004, 358 Seiten, 25,50 Euro,ISBN: 3-8309-1461-X

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Rezensionen

stark von den modernen und lernförderlichenArbeitsplätzen. In dieser Differenzierung desinformellen Lernens am Arbeitsplatz zeigt sichder besondere Wert und die eigentliche Be-deutung der interessanten empirischen Studie.Wer selbstorganisiertes und informelles Ler-nen propagiert, wird künftig immer die Rela-tivität der lernförderlichen Arbeitsorganisati-on mit berücksichtigen müssen. Allerdings:Nur diejenigen, die aktive Arbeitserfahrungenhaben, haben auch die Möglichkeit – wie re-lativ auch immer – informelle Lernerfahrun-gen am Arbeitsplatz zu sammeln und damitbeispielsweise ihre Mobilitätsfähigkeit zu ver-bessern. Arbeitslose sind von diesen Möglich-keiten ausgeschlossen.

Die Studie begründet die nachvollziehbareForderung, die lernförderliche Arbeitsorgani-sation zu intensivieren, damit die potenziel-len informellen Lernkontexte beim arbeitsin-tegrierten Lernen überhaupt wirksam werdenkönnen. Gravierend sind allerdings die Ge-fahren einer doppelten Privilegierung jenerGruppen mit guter Ausbildung und lernförder-lichen Arbeitsplätzen gegenüber jenen Grup-pen mit schlechter Ausbildung und weniglernförderlichen Arbeitskontexten. Hier wirdin neuer Form die doppelte Weiterbildungs-schere sichtbar gemacht, denn Kompetenzenfür lebenslanges Lernen können sich unterdeprivierenden Lern- und Arbeitsbedingun-gen nicht entwickeln – und hiervon sindbesonders Arbeitnehmer mit geringeren schu-lischen und beruflichen Abschlüssen betrof-fen.

Im zweiten ergänzenden Teil des Buches wirdvon Kollegen des Berlin-BrandenburgischenInstituts für Sozialforschung eine komparati-ve Perspektive aufgezeigt, indem das Weiter-bildungsbewusstsein der ostdeutschen Er-werbsbevölkerung vor dem Hintergrund regi-onaler Disparitäten herausgearbeitet wird. Indiesem Teil wird das informelle und arbeits-begleitende Lernen in seiner augenblicklichenRealität sehr kritisch dargestellt. Wichtig istbeispielsweise der Hinweis, dass sich die ost-deutsche Erwerbsbevölkerung an expressivenFormen des öffentlichen Kultur- und Freizeit-lebens wenig beteiligt, was gleichzeitig denVerlust eines eigenständigen informellen Ein-flussfaktors auf die Lernkompetenzentwick-lung darstellt. Die Autoren plädieren gut

nachvollziehbar für eine regional orientierteund räumlich agierende Weiterbildungspla-nung und sehen Chancen in lernenden Regi-onen und regionalen Lernnetzwerken, umneue Lebens- und Erwerbsperspektiven anzu-regen.

Fazit: Der Fokus des Buches liegt auf infor-mellen Lernformen, auf der Entfaltung vonLernkompetenz am Arbeitsplatz und auf derbetrieblich prozessorientierten Weiterbildung.Die ungleichen Bedingungen beim informel-len Lernen am Arbeitsplatz wurzeln in denschulischen und beruflichen Biografien, diesich durch die charakteristischen Übergängeund Zuweisungen zu mehr oder weniger lern-förderlichen Arbeitsplätzen fortsetzen. Diehohe Kompetenz der Autoren im Bereich derBeschäftigungs- und Qualifikationsanalysewirkt sich positiv auf die hier vorgenommeneLern- und Weiterbildungsanalyse aus. EinGesamtbild des ungleichen Kampfes um daslebenslange Lernen ergibt sich dann, wennman auch die Ergebnisse von empirischenRepräsentativbefragungen im eher öffentli-chen Sektor der Weiterbildung und den sozio-kulturellen Entstehungsbedingungen und Aus-drucksformen von Lernkompetenzen undWeiterbildungsverhalten berücksichtigt. Auchwird an verschiedenen Stellen der vorliegen-den Untersuchung deutlich, wie wichtig einBildungspanel in Deutschland wäre, dem esgelingt, mehrere Kohorten in ihrem Bildungs-und Lernverhalten systematisch zu berück-sichtigen, so dass neben Querschnittsverglei-chen auch Längsschnittinterpretationen aufder Basis empirischer Daten möglich sind.Dieses Desiderat ist freilich der vorliegendenspannenden Untersuchung nicht vorzuwer-fen.

Christine Zeuner:

Der Titel des Buches „Der ungleiche Kampfum das lebenslange Lernen“ der GöttingerSoziologen impliziert, dass lebenslanges Ler-nen als „Kampf“ gesehen werden kann/sollte– allen (bildungs-)politischen Beschwörungenzum Trotz. Allerdings ist damit noch nichtgeklärt, worin der Kampf besteht. Ob es umdas kollektive gesellschaftliche Bemühengeht, allen Menschen Zugang zum lebenslan-gen Lernen zu eröffnen oder um die Frage,

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wie sich der Einzelne Zugangsmöglichkeitenzum lebenslangen Lernen verschafft. Mit demAdjektiv „ungleich“ wird angedeutet, dass dieChancen zur Teilhabe/Teilnahme am lebens-langen Lernen nicht gleich verteilt sind. Hierwäre die Frage zu klären, wo die Ursachendieser Ungleichverteilung liegen: Bei fehlen-den Angeboten, also der gesellschaftlichenBereitstellung entsprechender Ressourcen,oder bei fehlenden Voraussetzungen der In-dividuen, das Angebot wahrzunehmen. Aus-gangshypothese der Untersuchung, die imAuftrag des Bundesministeriums für Bildungund Forschung erstellt wurde, ist die Annah-me eines „postfordistischen Weiterbildungs-paradoxons“ als Folge einer – von den Auto-ren konstatierten – „postfordistischen“ ökono-mischen Ordnung. Sie zeichnet sich ihrerEinschätzung nach aus durch einen Wandelder Marktkonstellationen, der Produktions-weise und durch „Veränderungen im Modusder gesellschaftlichen Integration“ (S. 17). Vorallem die Veränderungen der Produktionswei-sen, die sich in einer Umgestaltung der Be-triebs- und Arbeitsorganisation von Unterneh-men manifestiert, die höhere Innovationsfä-higkeit, Flexibilität im Einsatz vonProduktionsfaktoren und Reaktionsfähigkeitgegenüber Markt- und Kundenansprüchenerfordert, beeinflussen die Arbeitsplatzgestal-tung. Berufstypische Aufgabenprofile werdenaufgelöst und erhöhen Anforderungen an„Flexibilität, Selbstständigkeit, Selbstorganisa-tion und Koordinierungs- und Kommunikati-onsfähigkeit“ wodurch sich „neue Profile be-ruflichen Verhaltens“ ergeben und neue Qua-lifikationsstrukturen erforderlich werden(S. 21). Die Konsequenz sind veränderte An-forderungen an Arbeitnehmer/innen auf fastallen Hierarchiestufen, woraus die Autorendas „postfordistische Weiterbildungsparado-xon“ ableiten: „Auf der einen Seite erhöht derZusammenhang von zunehmender Wissens-intensität und beschleunigtem Wissensver-schleiß in der Arbeit die Notwendigkeit per-manenten Lernens, auf der anderen Seite ver-sperrt die steigende Unvorhersehbarkeit derEntwicklung die Verfügbarkeit über eindeuti-ge Weiterbildungsziele und -inhalte“ (S. 18).Mögliche Lösungen dieses Widerspruchs se-hen die Autoren in zwei Richtungen:• Zum einen, indem die traditionelle Distanz

zwischen Weiterbildungsanbietern und Be-trieben aufgehoben wird und Lernprozesse

stärker als bisher in den Rahmen ihres so-zialen Kontextes eingebettet werden. Alsodass das Bildungssystem nicht mehr als ge-schlossenes, sondern als prinzipiell offenesSystem begriffen wird. Damit plädieren dieAutoren für seine bewusste Entgrenzung.

• Zum anderen konstatieren sie eine deutli-che Verlagerung der Verantwortung für denBildungsprozess auf die Individuen und se-hen damit für die Zukunft eine Aufgabe vonBildungsinstitutionen darin, die zur Pla-nung und Organisation des individuellenBildungsgangs notwendigen subjektivenKompetenzen von frühester Kindheit an zufördern. Als Konsequenz daraus fordern sieeine „Neugestaltung des Zusammenhangszwischen Individuum – Bildungsinstitutio-nen – Organisation der Erwerbsarbeit“(S. 19).

Vor diesem Hintergrund formulieren die Au-toren die Zielsetzung ihrer Untersuchung: Esgeht darum, diesen Zusammenhang „in derWahrnehmung der Individuen und in ihremWeiterbildungsbewusstsein und -verhaltenauszuleuchten und zu klären, welche Bedeu-tung dabei den Institutionen der Weiterbil-dung und der Erwerbsarbeit zukommt“ (S. 19).Mit einem solchen Ansatz betreten die Auto-ren nicht unbedingt Neuland. Wie sie selbstfeststellen, sind in Untersuchungen der1960er und 1970er Jahre durchaus entspre-chende Fragestellungen untersucht worden.Neu ist allerdings die Konzentration auf dieFrage, welche Auswirkungen der beruflicheWerdegang und die Berufstätigkeit auf die le-benslange Lerntätigkeit der Befragten haben.Zugrunde gelegt wird die Hypothese, dass dasbewusste und auch weniger bewusste Lernenim beruflichen Kontext die Menschen stärkerin ihrem Lernverhalten prägt als Lernen in (bil-dungs-)institutionellen Kontexten. Im Mittel-punkt der Untersuchung stehen also die Wahr-nehmungen der Individuen zur Frage des le-benslangen Lernens und nicht die Frage derLeistungsfähigkeit des Bildungssystems alsAnbieter (S. 25). Wenn man, wie es die Auto-ren tun, die Frage der Erwerbsarbeit als prä-gend für das Lernverhalten Erwachsener un-terstellt, ist eine Konzentration auf Fragen derberuflichen Weiterbildung nahe liegend. Ih-nen ist zwar bewusst, dass sie damit einengroßen Teil menschlichen Lernens ausblen-den, der, wie sie selbst zugeben, ebenfalls

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Bestandteil einer Untersuchung zum lebens-langen Lernen sein müsste (S. 19). Sie nehmendiese Einschränkung des Gegenstandes billi-gend in Kauf, allerdings ohne sie plausibel zubegründen.

Liest man die Studie als das, was sie ist, näm-lich eine repräsentative quantitative Erhebungder erwachsenen Bevölkerung zur Einschät-zung des Stellenwerts der formalen wie infor-mellen berufsbezogenen Weiterbildung, sinddie Ergebnisse mit Gewinn zu lesen. Ermitteltwurden die Daten mit Hilfe computergestütz-ter standardisierter Interviews, die Grundge-samtheit der auswertbaren Interviews betrug4.052, wobei ein Drittel der Interviews in denneuen Bundesländern durchgeführt wurde. Er-gänzend wurden, ebenfalls als repräsentativeStichprobe, 300 Interviews mit Erwerbstätigenaus der IT-, Medien- und Beratungsbranchedurchgeführt. Gefragt wurde nach den Lern-erfahrungen der letzten drei Jahre (ausführli-che Darstellung der Stichprobenziehung inKap. 1.4). Interessant ist die Operationalisie-rung der Fragestellung: Um herauszufinden,wie die Befragten ihr lebenslanges Lernverhal-ten charakterisieren würden und welche Lern-formen hier besonders unterstützend wirken,wurden unterschiedliche Lernkontexte defi-niert (formalisiert, medial, arbeitsbegleitendund privates Umfeld). Demnach wird arbeits-begleitendes Lernen von 58 Prozent der Be-fragten am lernintensivsten eingeschätzt, ge-folgt vom Lernen mit traditionellen Medien(15 %), formalisiertem Lernen (14 %), Lernenim privaten Umfeld (9 %) und PC-Lernen(4 %) (S. 43). Diese Selbsteinschätzung stehtim deutlichen Widerspruch zur Realität derWeiterbildungsteilnahme. Denn die Untersu-chung weist nach, dass die Gruppe, die infor-melles, arbeitsbegleitendes Lernen alsbesonders lernintensiv einschätzt, davon ausverschiedenen, vor allem arbeitsplatzstruktu-rellen Gründen mit höherer Wahrscheinlich-keit ausgeschlossen wird. Dagegen bekom-men Personen, die formalisiertes Lernen alsbesonders wichtig einschätzen, eher Zugang.Hier zeigen sich unterschiedliche Chancenauf die Teilhabe an lebenslangen Lernprozes-sen. Die Untersuchung belegt zudem, dass diebisherige These, dass Defizite der familialen,schulischen und beruflichen (Bildungs-)Sozi-alisation durch Weiterbildung kompensiertwerden können, nur dann zutrifft, wenn Ar-

beitsplätze lernförderlich gestaltet werden.Sind sie dies nicht, tritt ein, was die Autorenals „doppelte Depravierung“ charakterisieren:Die Personengruppe, die ohnehin wenigerBildungsvoraussetzungen hat, deren Selbstor-ganisationsdisposition und Kompetenzaktivi-tät eher gering ist, wird von lebenslangenLernprozessen und damit Arbeitschancen sys-tematisch ausgeschlossen. D. h., strukturelleDefizite potenzieren in ihrer Wirkung indivi-duelle Defizite. Im zweiten, gleich großen Teilder Untersuchung werden die Ergebnisse derBefragungen in den ostdeutschen Bundeslän-dern vorgestellt und mit denen der Westdeut-schen verglichen. Dabei werden neben vie-len Gemeinsamkeiten durchaus auch Unter-schiede in Weiterbildungseinstellung und-verhalten festgestellt.

Baethge und Baethge-Kinsky haben eine sehrertragreiche Studie zum Weiterbildungsbe-wusstsein und -verhalten der erwerbstätigenBevölkerung vorgelegt, deren Ergebnissewichtige Ergänzungen zu den bereits existie-renden Untersuchungen liefern. Wichtig ist,dass sie keinen direkten Beleg für die Theseliefern, nach der Möglichkeiten und Chancenzur Teilnahme/Beteiligung an lebenslangenLernprozessen vor allem der individuellenVerantwortung zuzuschreiben sind. Im Ge-genteil: Sie weisen nach, dass nur ein lernför-derliches Umfeld – auch wenn hier in ihremverkürzten Verständnis von lebenslangem Ler-nen nur berufliche Lernkontexte einbezogenwurden – lebenslange Lernprozesse aktiv un-terstützt. Interessant wäre es zu untersuchen,ob eine Untersuchung zum Weiterbildungs-bewusstsein und -verhalten im allgemeinen,politischen und kulturellen Bereich – der un-abdingbar zum lebenslangen Lernen gehört –ähnliche Ergebnisse zeitigen würden. Dieseshätte dann erhebliche Konsequenzen für ak-tuelle Diskussionen um Selbstorganisation,Entgrenzung und die Frage der zukünftigenRolle von Institutionen der Erwachsenenbil-dung.

Udo Kuckartz:

Dem ersten Augenschein nach lässt der Titeldes sorgfältig editierten Buches von MartinBaethge und Volker Baethge-Kinsky kaum er-ahnen, dass sich hinter dieser, als Band 16 der

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„Studien zur beruflichen Weiterbildung imTransformationsprozess“ erschienenen Arbeitdie Auswertung einer der größten empirischenStudien aus dem Bereich der Weiterbildungverbirgt, die im vergangenen Jahrzehnt inDeutschland durchgeführt wurde. Die Autorenhaben in den Jahren 2001 bis 2003 inZusammenarbeit mit dem Infas-Institut undweiteren Partnern mehr als 4000 Personenzwischen 19 und 64 Jahren nach ihrem Weiter-bildungsbewusstsein, ihren Bildungserfahrun-gen und Bildungsaktivitäten befragt. Die Er-gebnisse sind außerordentlich vielschichtigund umfangreich, der Fragebogen umfasstefast 40 Seiten. Für jeden Bildungsforscher stel-len die Resultate eine wahre Fundgrube darund man darf hoffen, dass die Daten in Zukunftnoch Gegenstand von Sekundäranalysen seinwerden. Nicht wenige Ergebnisse gehen in dieerwartete Richtung und stellen keine Überra-schung dar, etwa dass die Lernerfahrungsquo-te bei Hauptschulabsolventen und Personenohne Ausbildung unterdurchschnittlich ist.Viele Ergebnisse sind aber auch überraschend,bspw. dass der Begriff Weiterbildung so wenigpositiv besetzt ist, dass das mediale Lerneneine so wichtige Bedeutung hat oder dass dieLernpräferenzen der Individuen einen relativgeringen Einfluss auf die „wichtigsten Lern-kontexte“ besitzen. Hier erstaunt es zudem,wie gering die durch zahlreiche biografischeDaten erreichbare Quote der Varianzaufklä-rung ist, nämlich unter 10 Prozent.

Programmatisch für die Studie der Autoren istder Anspruch, die empirischen Daten vonvornherein innerhalb eines theoretischenRahmens zu interpretieren. Schon die Titel-gebung mit den Vokabeln „ungleich“ und„Kampf“ sowie die gleich zu Beginn zur Cha-rakterisierung des gesellschaftsstrukturellenWandels benutzten Begriffe „Fordismus“ und„Postfordismus“ zeigen die Richtung an, in diesich der theoretische Rahmen der Autorenbewegt. Ob diese A-priori-Festlegung aber derempirischen Analyse wirklich förderlich war,mag man bezweifeln, zumindest wird nichtversucht, diesen komplexen Theorieansatzauch mit entsprechend komplexen Analyse-methoden und -modellen umzusetzen: Daseingesetzte methodische Instrumentariumgeht nur an wenigen Stellen über die deskrip-tive Darstellung von einfachen Häufigkeitenund Indizes hinaus. Nichtsdestotrotz handelt

es sich um eine hoch interessante und span-nend geschriebene Studie.

Den zweiten Teil des Buches bildet ein imBuchtitel bescheiden als „mit einem Beitragvon ...“ angekündigter zweiter Berichtsteil vonRudolf Woderich, Thomas Koch und RainerFerchland, der sich vornehmlich dem Ost-West-Vergleich der Daten der Repräsentativ-studie widmet. Im Grunde handelt es sich beidem vorliegenden Band um eine Zusammen-stellung von zwei eigenständigen Büchern,denn der Beitrag von Woderich u. a. entpupptsich als eine Forschungsarbeit von mehr als150 Seiten, die vom reinen Textumfang sogarumfänglicher als der Hauptbeitrag geraten ist.Woderich und anderen gelingt es mit teilweiseanspruchvollen statistischen Analysen die Un-terschiede zwischen Ost und West präzise he-rauszuarbeiten, wobei erstaunlicherweise einhohes Maß an Strukturgleichheit festgestelltwird. Gleichwohl gibt es auch erhebliche Dif-ferenzen, etwa in Bezug auf den Gleichstel-lungsvorsprung ostdeutscher Frauen.

Insgesamt handelt es sich bei dem besproche-nen Band um eine materialreiche empirischeStudie zum lebenslangen Lernen, die aufGrund ihrer Datenbasis bisher beispiellos seindürfte. Sie belegt, dass das Gesamtniveau derLernkompetenzentwicklung in Ost wie inWest nicht befriedigen kann, denn es sindnach wie vor nur Minderheiten, die Verhal-tensweisen eines selbstgesteuerten Lernenspraktizieren.

„Das Buch in der Diskussion“ onlineParallel zum Erscheinen in diesem Heftwerden die Besprechungen auch über dieREPORT-Website veröffentlicht. Sie habendort die Möglichkeit, sich an der Diskussi-on zum Buch zu beteiligen.Klicken Sie auf der Seite www.report-online.net/recherche/buchinderdikussion.asp auf „Kommentar schreiben“. Es öffnetsich ein Fenster, in das Sie Ihren Textschreiben können. Ihr Kommentar wird andie Online-Redaktion weitergeleitet undvon dort unter Angabe Ihres Namensschnellstmöglich auf der Website verfüg-bar macht.

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Bildung in der Wissensgesellschaft neu denkenSammelrezension zu aktueller Literatur

Die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland befindet sich auf dem Weg in eine dienst-leistungsorientierte Wissensgesellschaft, was dazu führt, dass der Ressource „Wissen“ für dieaktive Bewältigung des gesellschaftlichen Wandels eine immer wichtigere Bedeutung zukommt.Erkennbar ist, dass der Übergang in die Wissensgesellschaft nur in dem Maße erfolgreich seinwird, wie es gelingt, innerhalb des Bildungssystems ein konsistentes System lebenslangen Ler-nens zu etablieren. Evident ist auch, dass das deutsche Bildungssystem auf Grund vielfältigerSchwachstellen auf der Angebotsseite derzeit nicht in der Lage ist, dieser Herausforderungerfolgreich zu begegnen. Offenkundig ist weiterhin, dass eine Umgestaltung der gegenwärti-gen Bildungslandschaft einen deutlich höheren Ressourceneinsatz von ausnahmslos allen ge-sellschaftlichen Akteuren – Individuen, Unternehmen und öffentlicher Hand – erfordern wird.Absehbar ist ferner, dass eine einfache Erhöhung des Ressourceneinsatzes bei unverändertemFortbestehen der existierenden Strukturen („mehr desselben“) die Unzulänglichkeiten undDefizite des Bildungssystems mit hoher Wahrscheinlichkeit eher fortschreibt als mildert, sodass eine echte Bildungsreform auch Strukturveränderungen mit sich bringen muss. Schließlichist auffällig, wie sehr sich die von den verschiedensten bildungspolitischen Akteuren entwi-ckelten Vorschläge zu Art und Umfang der notwendigen Strukturreformen im Bildungswesenunterscheiden: Beispielhaft sollen die unterschiedlichen bildungspolitischen Vorstellungenanhand der Empfehlungen, Konzepte und Anregungen der Veröffentlichungen „Bildung neudenken!“ und „Wissensgesellschaft, Verteilungskonflikte und strategische Akteure“ nachge-zeichnet werden.

Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft(Hrsg.)Bildung neu denken!Das Zukunftsprojekt(VS Verlag für Sozialwissenschaften) Wiesba-den 2003, 353 Seiten, 24,90 Euro,ISBN: 3-8100-4110-6

Die Vereinigung der Bayerischen Wirtschafthat in Zusammenarbeit mit der Prognos AG,70 ausgewählten Experten aus den BereichenWissenschaft, Wirtschaft und Bildungspraxisund unter der redaktionellen Gesamtleitungvon Prof. Dieter Lenzen jüngst eine Studieveröffentlicht, die das ehrgeizige und sehr sel-ten angestrebte Ziel hat, ein geschlossenesKonzept für das gesamte deutsche Bildungs-wesen zu liefern. Dieses Konzept „Bildungneu denken!“ umfasst insgesamt drei Veröf-fentlichungen: Band 1: „Bildung neu denken!Das Zukunftskonzept“; Band 2: „Bildung neudenken! Das Finanzkonzept“ (erschienen2004) sowie Band 3: „Bildung neu denken!Das juristische Konzept“ (erschienen 2005).Nachstehend wird nur der Band 1 näher vor-gestellt, weil hier die grundlegenden Empfeh-lungen formuliert werden, auf die dann in denanderen Bänden jeweils Bezug genommen

wird. Ausgehend von einer Defizitanalyse desdeutschen Bildungssystems und den sich ab-zeichnenden Zukunftstrends in der Lebens-und Arbeitswelt bis zum Jahr 2020, wie Glo-balisierung, demographischer und wirtschaft-licher Wandel und neue Technologien, wer-den in Band 1 zahlreiche Empfehlungen füreine grundlegende Strukturreform des gesam-ten Bildungswesen vorgeschlagen. Dabei wer-den die Empfehlungen für fünf Lern- und Le-bensphasen formuliert, in die nach Meinungder Verfasser zukünftig die Lern- und Arbeits-biografie der Individuen einzuteilen seien:Kindesalter (0 bis 14 Jahre), Jugendalter (14bis 21 Jahre), frühes Erwachsenenalter (21 bis35 Jahre), mittleres Erwachsenenalter (35 bis65 Jahre), späteres Erwachsenenalter (ab 65Jahre).

Aus der Vielzahl an Überlegungen sollen imFolgenden einige Vorschläge zu den „Steue-rungsprinzipien“ vorgestellt werden, die derUmsetzung einer Bildungsreform zugrundeliegen sollen. Diese Prinzipien werden aucheinen erheblichen Einfluss auf die Erwachse-nenbildung/Weiterbildung haben:• Ökonomisierung von Bildung,• Wechsel von direkter politischer auf indi-

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Rezensionen

rekte Steuerung,• Deregulierung durch Aufgabenkritik des

Staates und Rückbau von Rechtsregelun-gen,

• Outsourcing der derzeitigen Staatsaufsichtüber das Bildungswesen,

• vereinfachte Zulassung von privaten Bil-dungseinrichtungen,

• Einführung leistungs- und belastungsorien-tierter Bezahlung im Bildungswesen.

Das Konzept „Bildung neu denken!“ weist ei-nige im Vergleich zum bestehenden Bildungs-system entscheidende Richtungsänderungenauf: So werden nachdrücklich insbesondereeine Deregulierung des Bildungswesens, einRückzug des Staates auf die Bereitstellung ei-ner qualitativ hoch stehenden Grundbildungvom 4. bis zum 14. Lebensjahr, eine deutlichstärkere Differenzierung und Individualisie-rung, eine Internationalisierung, eine effizien-tere Nutzung von Lernzeiten sowie eine Aus-weitung von Privatinitiativen empfohlen. ImErgebnis würde eine konsequente Implemen-tierung des Konzepts „Bildung neu denken!“einem in der Studie offen ausgesprochenenParadigmenwechsel für das Bildungswesen inDeutschland gleichkommen, nämlich derAbkehr vom „humanistischen Bildungsideal“hin zum „ökonomischen Pragmatismus“. DieStudie ist in ihrer Totalität und Radikalitätdurchaus lesenswert, auch wenn man denEmpfehlungen und Hauptbotschaften der Ver-öffentlichung nicht zustimmen sollte.

Haubner, Dominik/Mezger, Erika/Schwengel,Herman (Hrsg.)Wissensgesellschaft, Verteilungskonflikte undstrategische Akteure(Metropolis-Verlag) Marburg 2004, 370 Sei-ten, 36,80 Euro, ISBN: 3-89518-466-7

Mit der Veröffentlichung „Wissensgesell-schaft, Verteilungskonflikte und strategischeAkteure“ haben sich die Herausgeber ein an-spruchsvolles Ziel gesetzt, da sie die wesent-lichen Finanzierungsweisen und Verteilungs-wirkungen des gesamten deutschen Bildungs-systems in ihren Teilbereichen wie auch inihrem Gesamtzusammenhang beleuchtenwollen. Innerhalb der Hauptkapitel „Gerech-tigkeitsdefinitionen in der Wissensgesell-schaft“, „Finanzierung lebenslangen Lernens

und Verteilungswirkungen“, „Einzelaspekteder Verteilungsgerechtigkeit im Bildungswe-sen“, „Wechselwirkungen zwischen Bildungs-system und Arbeitsmarkt“ und einem „Epilog“arbeiten 20 zumeist der Sozialdemokratieund/oder den Gewerkschaften nahe stehendeAutoren mit insgesamt 19 Beiträgen die un-terschiedlichsten Facetten des Zusammen-hangs von „Wissensgesellschaft – Verteilungs-gerechtigkeit – Anforderungen an die wesent-lichen Akteure“ ab: So machen z. B. Ehmann/Walter in ihrem Aufsatz über die „Verteilungs-gerechtigkeit im Bildungswesen“ deutlich,dass Ungleiches ungleich behandelt werdenmuss, damit es gleicher wird. Alles anderewäre eine Verschärfung der derzeit existieren-den Ungleichheiten im Bildungssystem.Bosch unterbreitet in seinem Beitrag „Brau-chen wir eine Ausbildungsplatzabgabe?“ denVorschlag, dass eine Fondsfinanzierung nachdänischem Vorbild die Ungleichheiten aufdem Ausbildungsstellenmarkt abbauen oderzumindest dämpfen würde. Bayer/Jaich spre-chen sich in ihrem Aufsatz „’Marktismus’ oderöffentliche Verantwortung in der Weiterbil-dung?“ gegen die ihrer Meinung nach vieleUngerechtigkeiten erst herbeiführende undzuletzt immer stärker werdende Marktorien-tierung in der Weiterbildung aus und plädie-ren stattdessen für einen Politikwechsel, deru. a. eine bundeseinheitliche Rahmengesetz-gebung in der Weiterbildung vorsieht. DiePublikation selbst ist das Ergebnis von Arbei-ten und Workshops im Rahmen des Netzwer-kes Europäische Lernprozesse (NELP) undsteht nach Aussage der Herausgeber in derTradition des „Sachverständigenrates Bildung“der Hans-Böckler-Stiftung, welcher Ende der1990er Jahre viel beachtete Empfehlungen zurEntwicklung des deutschen Bildungswesenformuliert hat. Nicht nur deshalb lohnt einBlick in diese Veröffentlichung.

Stefan Hummelsheim

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Rezensionen

Rezensionen

Becker, Rolf/Lauterbach, Wolfgang (Hrsg.)Bildung als Privileg?Erklärungen und Befunde zu den Ursachender Bildungsungleichheit(VS Verlag für Sozialwissenschaften) Wiesba-den 2004, 451 Seiten, 39,90 Euro,ISBN: 3-531-14259-3

Im Zuge der heftigen deutschen Diskussionenum die Ergebnisse der PISA-Untersuchung istein Buch mit dem Titel „Bildung als Privileg?“gewissermaßen Pflichtlektüre für alle, die sichmit Bildungsfragen beschäftigen. Die Heraus-geber betonen in ihrer Einleitung, dass es antheoretischen wie empirisch fundierten Erklä-rungen für das Zustandekommen und dieDauerhaftigkeit von Bildungsungleichheitenauf Grund der sozialen Herkunft mangelt(S. 10 f.). Erst – so fahren sie sibyllinisch fort –„die theoretische Identifikation und empiri-sche Analysen solcher Mechanismen gerei-chen zum theoretischen Fortschritt, und aufdiesem Weg zu vollständigen soziologischenTiefenerklärungen kollektiver Phänomene,also dem soziologischen Erklärungsgegen-stand wie der Bildungsungleichheit“ (S. 11).So komplex wie dieser Satz ist auch das Buch.Die einzelnen Beiträge sollen – so der An-spruch der Herausgeber –, „die Ursachen fürungleiche Bildungschancen und dauerhafteBildungsungleichheiten systematisch, detail-liert und präzise aus sozialwissenschaftlicherPerspektive (zu) untersuchen“ (S. 29). Leiderwerden nicht alle Beiträge dieser Anforderunggerecht.

Die Beiträge konzentrieren sich auf drei ge-sellschaftliche Konstellationen: Elternhausund Bildungssystem als Ursachen dauerhaf-ter Bildungsungleichheiten (zwei Beiträge),Bildungsungleichheit im Primar- und Sekund-arbereich (sechs Beiträge) und beruflichesAusbildungssystem und Arbeitsmarkt (dreiBeiträge). Abgerundet wird der Sammelbanddurch zwei Beiträge zu den „Konsequenzenfür Politik und Forschung“. Für den Weiter-bildungskontext ist insbesondere das dritteKapitel von Interesse, dort finden sich die Bei-träge von Konietzka „Berufliche Ausbildungund der Übergang in den Arbeitsmarkt“, von

Müller und Pollak „Weshalb gibt es so weni-ge Arbeiterkinder in Deutschlands Universi-täten?“ (erinnert sei hier an das Gutachten vonHans Tietgens zu der Frage „Warum gibt esweniger Arbeiterkinder in Volkshochschu-len?“ aus den 1960er Jahren, das allerdingshier nicht zitiert wird) und von Klaus Schö-mann und Janine Leschke zum Thema „Le-benslanges Lernen und soziale Inklusion – derMarkt alleine wird’s nicht richten“. DieserBeitrag ist insbesondere auf berufliche Wei-terbildung hin orientiert und folgt der nachMeinung der Herausgeber „provokanten“These, „dass allzu großes Vertrauen in dieMarktmechanismen beim Zugang zur berufli-chen Weiterbildung tendenziell zur Fort-schreibung bzw. Verstärkung sozialer Un-gleichheiten geführt habe“ (S. 33 f.). DieseThese ist in der Weiterbildungsdiskussion nunseit gut dreißig Jahren Bezugspunkt der Fra-ge, wie dieser Bildungsbereich zwischenMarkt und Staat zu entwickeln sei.

Schömann und Leschke beschreiben zunächstdie Weiterbildungsbeteiligung (mit dem Fokusauf berufliche Weiterbildung) der letztenzwanzig Jahre. Sie betonen die Diskrepanzzwischen politischen Verlautbarungen hin-sichtlich der Bedeutung lebenslangen Lernensund der Stagnation bzw. des Rückgangs vonTeilnahme und Finanzierung. Hinsichtlich derTeilnahme stellen sie die Unterschiede nachGeschlecht, Bildungsgrad, Region, Alter, Er-werbsstatus und Migrationshintergrundheraus. Im weiteren Verlauf untersuchen siedie Struktur der Teilnahme an Angeboten, derFinanzierung und Dauer von Weiterbildungs-maßnahmen und dem vermuteten Nutzen.Differenziert wird die Teilnahme auch nachBeschäftigungsbranchen, Betriebsgrößen undZeitformen. Die Autoren stützten sich dabeiim Wesentlichen (mit jeweiligen Bezügen zuanderen statistischen Quellen, insbesonderedem Berichtssystem Weiterbildung) auf dieDaten des sozio-ökonomischen Panels(SOEP), das am Deutschen Institut für Wirt-schaftsforschung (DIW) in Berlin vorgehaltenwird. Dieses Panel wird bislang in der Wei-terbildungsdiskussion noch wenig beachtet,insofern sind die Auswertungen, die hier ge-zielt zur Weiterbildung vorgenommen wer-den, von Interesse. Interessant sind auch dieKorrelationen, welche die Autoren über dieDeterminanten für den Besuch von berufsbe-

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zogenen Weiterbildungslehrgängen vorneh-men (S. 380 ff.). Hier werden signifikante Zu-sammenhänge festgestellt für die Relationzwischen Geschlecht, Alter, Familienstand,Staatsangehörigkeit, Qualifikation und Er-werbsstatus. Im Ergebnis kommen die Auto-ren zu der Bestätigung, dass die Selektivitätdes Bildungswesens ein ungebrochenes undhartes empirisches Faktum ist. Sie belegen„eine tief greifende Segmentierung der gesell-schaftlichen Personen, die lebenslanges Ler-nen bereits aktiv betreiben (höhere Schichten)und denen, die weder die Ressourcen zur In-vestition besitzen noch überhaupt davonüberzeugt sind, dass sich solche Investitionenfür sie selbst auszahlen (beispielsweise einfa-che Arbeiter). Die Bedeutung der schichtspe-zifischen Zugehörigkeit erweist sich in derWeiterbildungsteilnahme sogar als stärker alseine geschlechtsspezifische Prägung“(S. 385).

Auch wenn das Ergebnis keineswegs überra-schend ist, so bestätigt es doch noch einmalpräzise anhand der vorliegenden Daten, wel-che Reichweite die gesellschaftliche Segmen-tation und Selektion auch im Bereich derWeiterbildung hat. Allerdings verstellen sichdie Autoren einem gründlicheren Blick auf dieWeiterbildung, da sie Weiterbildungsteilnah-me schlichtweg als „Humankapitalinvestiti-on“ (S. 362) definieren und die Frage der Re-alität der Bildungs- und Lernprozesse gänz-lich ausblenden. Dies gilt für das gesamteBuch: Die rein soziologische Blickweise aufdas Bildungssystem hat nur begrenzten Erklä-rungswert, zeigt sie doch nur Zusammenhän-ge außerhalb des Bildungssystems auf, nichtjedoch die Realitäten innerhalb desselben.Eine interdisziplinäre Zugangsweise zur Fra-ge der Bildungsungleichheit ist von daherdringend geboten. In ihrer abschließendenErörterung zur „immerwährenden Frage derBildungsungleichheit“ machen die Herausge-ber einige Vorschläge an die Bildungspolitik,die sich fast ausschließlich auf die Schulenbeziehen. Weiterbildung kommt dort leidergar nicht vor.

E. N.

Bergmann, Bärbel/Richter, Falk u. a.Arbeiten und LernenStudien zur beruflichen Weiterbildung imTransformationsprozess(Waxmann Verlag) Münster 2004, 319 Seiten,25,50 Euro, ISBN: 3-8309-1470-9

Der Band von Bärbel Bergmann u. a. stelltErgebnisse eines Forschungsprojekts vor, dasan der TU Dresden im Rahmen des vomBMBF geförderten Forschungsprogramms„Lernkultur Kompetenzentwicklung“ durch-geführt worden ist. Die umfänglichen unddetaillierten Analysen zielen auf die Erfüllungvon vier Forschungsaufgaben:

• die Evaluation von unterschiedlichen Be-schäftigungsformen unter dem Aspekt derEntwicklung beruflicher Handlungskompe-tenz,

• die Beschreibung der Handlungskompe-tenz bei Erwerbstätigen in unterschiedli-chen Branchen und die Generierung vonHypothesen über Einflussfaktoren auf dieEntwicklung von Handlungskompetenz,

• die Entwicklung von Methoden einer ob-jektiven Kompetenzmessung,

• die Analyse des Zusammenhangs von Alterund Kompetenzentwicklung.

In ihrer Einleitung entfaltet die Leiterin des For-schungsprojekts klar und präzise den For-schungszusammenhang, der Wissen und Ler-nen in das Zentrum einer wirtschaftlichen Ent-wicklung stellt, die durch einen hohenWettbewerbsdruck gekennzeichnet ist: „Inno-vation erfordert Wissen. Die Innovationsfähig-keit entscheidet über die Wettbewerbsfähig-keit“ (S. 14). Die Wissensentstehung erfolgtüberwiegend durch Lernen im Prozess der Ar-beit, weniger durch Aus- und Weiterbildung.Diese empirisch belegte Ausgangslage istdann Startpunkt für die weiteren Überlegun-gen, die um die Entstehungsfaktoren und dieWirkungen von unterschiedlich ausgeprägtenHandlungskompetenzen kreisen. In den fol-genden, namentlich gekennzeichneten Beiträ-gen werden die Untersuchungsbefunde aus-führlich und strukturiert beschrieben. Es wirdzum Beispiel der Zusammenhang zwischender Lernhaltigkeit der Arbeitssituation und derKompetenz Erwerbstätiger erörtert oder derZusammenhang zwischen unterschiedlichenBeschäftigungsformen und der Entwicklung

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beruflicher Handlungskompetenz und Ge-sundheit. Branchenbezüge werden mit zweiBeiträgen hergestellt, die sich auf die Bereiche„Finanzdienstleistungen“ und „Versicherungs-wirtschaft“ konzentrieren. Alle Beiträge habeneine vergleichbare Struktur, was der Les- undVergleichbarkeit sehr zugute kommt: Nach derProblemdarstellung werden die speziellenFragestellungen benannt. Es folgen ausführli-che methodische Hinweise, die eine Würdi-gung und Nachvollziehbarkeit der Befundeerst möglich machen. Die Darstellung der Un-tersuchungsergebnisse wird durch Grafikenund Tabellen unterstützt. Die Ergebnisse be-schreibender und schließender statistischerVerfahren werden sorgfältig abgewogen undzurückhaltend interpretiert. Abgerundet wer-den die Beiträge durch Zusammenfassungenoder Problemdiskurse.

Die Beiträge liefern neben den empirischenDaten auch interessante methodische Detailszur Messung von Kompetenzen wie Kommu-nikationsfähigkeit und Kooperationsfähigkeit.Zurückgegriffen wird dabei im Wesentlichenauf erprobte Skalen zur Selbsteinschätzungvon Wissen und Fähigkeiten. Damit kann derBand die aktuelle Diskussion zu Fragen derKompetenzmessung in sehr unterschiedlichenKontexten (PISA, PIAAC, betriebliche Assess-ments etc.) mit Impulsen versehen. Imabschließenden Beitrag werden dann die Kon-sequenzen aus der Analyse gezogen und sie-ben Wege zur Unterstützung der Kompetenz-entwicklung im Betrieb aufgezeigt und be-schrieben: Aufgabengestaltung, Lernkulturdes Unternehmens, Wissensmanagement, be-rufliche Entwicklung ermöglichen, Kompe-tenzentwicklung in Kooperationsnetzwerken,Weiterbildung, arbeitsplatznahes Training.Mit diesem allerdings sehr komprimierten Teilwerden dann auch die Praktikerinteressen„bedient“. In der aktuellen bildungspoliti-schen Diskussion wird eine Aussage auf derletzten Seite (316) sicher die Kontroverse be-flügeln und nicht auf einhellige Zustimmungstoßen: „Kompetenzentwicklung ist immerauch eine individuelle Aufgabe und die Rea-lisierungsmöglichkeiten reichen weit überden Unternehmenskontext hinaus. Auch inder Freizeit kann gelernt werden, um die ei-gene Persönlichkeit zu entwickeln und auch,um für die Erwerbsarbeit fit zu machen.“

Dieter Gnahs

Faulstich, Peter/Forneck, Hermann J./Knoll,Jörg u. a.Lernwiderstand – Lernumgebung – Lernbera-tungEmpirische Fundierungen zum selbstgesteuer-ten Lernen(W. Bertelsmann Verlag) Bielefeld 2005, 228Seiten, 22,90 Euro,ISBN: 3-7639-1907-4

Die vorliegende Publikation dient, wie derUntertitel des Buches deutlich macht, derempirischen Fundierung selbstgesteuertenLernens. Die Analysen wurden im Kontext desProjekts SELBER von drei Universitäten (Ham-burg, Gießen und Leipzig) durchgeführt undgreifen unterschiedliche Aspekte selbstgesteu-erten (auch selbstorganisierten, subjektorien-tierten und selbstsorgenden) Lernens wie Lern-widerstand, Lernumgebung und Lernberatungauf. Das Buch gliedert sich in drei Teile.

Teil A (Faulstich/Grell) setzt bei der Frage nachindividuellen Gründen des Lernens an undgeht dabei von der Unverfügbarkeit der Indi-viduen gegenüber instrumentalistischen Zu-griffen aus. Lerntheoretisch orientieren sichFaulstich/Grell an einem subjektorientiertenAnsatz. Dem Aspekt der Lernwiderstände nä-hern sie sich anhand eines Modells, dasSchranken und Hemmnisse beim Lernen be-nennt, die jedoch nicht direkt verursachendauf Gründe zu lernen (oder eben auch nichtzu lernen) wirken, sondern erst durch Erfah-rung, Deutung und Bewertung der handeln-den Person bedeutsam werden. Einen Schwer-punkt ihres Forschungskonzepts bildet die„Forschende Lernwerkstatt“, die sich in achtPhasen gliedert (bspw. Arbeit mit Bildkarten,symbolisch bildlicher Gestaltung, Gruppen-diskussion, Reflexionsphasen). Die empiri-schen Ergebnisse dieses Ansatzes führenschließlich zu einer veränderten Sicht aufLernwiderstände und Lernstrategien; d. h.Lernwiderstände, die sich beim eigenen Ler-nen zeigen, ermöglichen dadurch, dass sieeinem Reflexionsprozess unterworfen wer-den, das Lernen zu lernen. Hervorzuheben istbei diesem Beitrag neben der ausführlichenlerntheoretischen Auseinandersetzung sicherdie Methoden- und Perspektivenvielfalt mitdenen Faulstich/Grell den Gegenstand unter-suchen und damit angemessen empirisch er-fassen.

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Teil B (Forneck/Springer) widmet sich der di-daktischen Konzeption einer komplexenSelbstlernarchitektur. Mittels quantitativer undqualitativer Daten (bspw. Videoanalysen, Fra-gebogen, Einzelinterviews, Gruppendiskussi-onen) wurden (Selbst-)Steuerungslogiken un-tersucht und im Sinne einer Didaktik der „Er-möglichung“ analysiert, welches Verhältniszwischen Inhalten, Lernenden und Lehrendenetabliert sein muss, um Autonomiegewinnefür Lernende zu erzielen. Die von Forneck/Springer entwickelte Selbstlernarchitekturumfasst drei Ebenen: Didaktik/Materialerstel-lung, Prozesssteuerung und Lernberatungbzw. Lernentwicklungsberatung, die jeweilsaufeinander bezogen sind. Im Ergebnis derUntersuchung zeigte sich, dass bei Teilneh-menden, die der Logik der Lernarchitekturgefolgt waren, weitreichendere Lernentwick-lungen feststellbar waren als bei denjenigen,die diese Architektur lediglich als Lernquel-lenpool benutzten. Interessant an Teil B ist diebreite Diskussion um eine „neue Lernkultur“und den damit verbundenen verändertenSteuerungslogiken. Auch hier sind die Metho-den dem Forschungsgegenstand angemessen,gleichwohl stellt sich die Frage, inwiefern einesolch komplexe und aufwändige Selbstlern-architektur in der Weiterbildungspraxis reali-sierbar ist. Nicht umsonst – und das ist nurfair und notwendig – thematisieren Forneck/Springer die damit verbundenen institutionel-len und materiellen Herausforderungen sowiedie erhöhten Anforderungen an Lernende undLehrende.

Teil C (Häßner/Knoll) fokussiert den Biogra-fiebezug von Lernberatung. Mittels qualitati-ver Verfahren (bspw. Gruppendiskussion, pro-blemorientiert-biografische Interviews) erhär-ten sie die Annahme, dass unterschiedlicheAusprägungen selbstgesteuerten Lernens mitentsprechenden (Vor-)Erfahrungen in Verbin-dung stehen. Nach einer Einführung zum The-ma Lernen und Lebenslauf werden zunächstsechs Arbeitshypothesen formuliert (bspw.:Lernen Erwachsener geschieht zum Großteilnicht institutionalisiert, sondern selbstgesteu-ert; konkrete Motivationen lösen eine Lernak-tivität aus; selbstgesteuerte Lernprozesse fin-den in anreizreichen Situationen statt; es gibtLebensabschnitte, die einen hohen Anreiz-charakter für Lernende haben; in den Anrei-zen für selbstgesteuertes Lernen gibt es bio-

grafische Unterschiede; selbstorganisiertesLernen benötigt Unterstützung). Der Beitragerscheint erst auf den zweiten Blick in seinerArgumentation stringent, da lediglich zwei dersechs formulierten Hypothesen zunächst ei-nen Biografiebezug in den Blick nehmen. DieErgebnisse der Analysen jedoch unterstrei-chen, dass Lernberatung unter Einbezug derBiografie gestaltet werden sollte.

Die Entwicklung einer „neuen Lernkultur desselbstgesteuerten Lernens“ ist sowohl für Wei-terbildungseinrichtungen als auch für dieWissenschaft aktuell und mit großen Heraus-forderungen verbunden. Insgesamt ist die Pu-blikation für alle, die sich mit dem Themen-bereich „selbstgesteuertes Lernen“ beschäfti-gen, als sehr lesens- und empfehlenswert zubewerten, da sie weitere Bausteine und em-pirische Belege liefert um sich dem Konstrukt„selbstgesteuertes Lernen“ weiter nähern zukönnen.

Elisabeth Kamrad

Redaktionen politische Bildung/kursiv – Jour-nal für politische Bildung (Hrsg.)Bildungsstandards – Evaluation in der politi-schen Bildung(Wochenschau Verlag) Schwalbach/Ts. 2005,173 Seiten, 13,80 Euro,ISBN: 3-89974-1560

Die Redaktionen der beiden einschlägigenFachzeitschriften „Politische Bildung“ und„kursiv – Journal für politische Bildung“ ha-ben sich zusammengetan, um – „angesichtsder Bedeutung der Diskussion“ (S. 6) – alsGemeinschaftsprojekt ein Buch zur Diskussi-on um Standards, Qualitätskriterien und Eva-luation in der politischen Bildung herauszu-geben. Entsprechend versammelt der Bandunterschiedliche Beiträge von Fachleuten ausdem Bereich der politischen Bildung in Schu-le, außerschulischer Jugendbildung und Er-wachsenenbildung.

Das Buch ist in zwei Teile unterteilt: Im erstenTeil geht es um „Bildungsstandards für die po-litische Bildung in der Schule“ mit insgesamtsieben Beiträgen (S. 9–120), im zweiten Teilum „Qualitätsstandards und Evaluation in derJugend- und Erwachsenenbildung“ mit

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insgesamt vier Beiträgen (S. 121–172). Reinquantitativ zeigt sich hier eine „Schullastig-keit“. Die Diskussion der Beiträge im Schul-bereich dreht sich sehr konkret um Standardsim Fachunterricht der politischen Bildung anSchulen und bezieht sich vielfach auf einenEntwurf solcher Standards, den die Gesell-schaft für Politikdidaktik und politische Ju-gend- und Erwachsenenbildung (GPJE) vorzwei Jahren der Kultusministerkonferenz(KMK) vorgelegt hat. Leider ist der entspre-chende Text im Buch nicht mit abgedruckt.Die Beiträge beziehen sich auf die Ausformu-lierung des Katalogs, die Anwendung dessel-ben in der schulischen Realität, die Grenzender Standardisierung (vor allem im politischenUnterricht) und die Gefahren, die sie in sichbirgt. Die Formulierung von Standards im po-litischen Unterricht an Schulen steht aus Sichtder KMK im Kontext anderer Schulfächer wieetwa Mathematik, Deutsch und der erstenFremdsprache. Der Schulteil des Buches ent-hält einige interessante Beiträge, so etwa dieÜbersichtsartikel von Peter Massing („Die bil-dungspolitische und pädagogische Debattezur Einführung nationaler Bildungsstandards“)und Dagmar Richter („Diskussionen über Bil-dungsstandards – alles nur ein Déja-vu-Erleb-nis?“) oder die Problematisierung von Aufga-ben und Tests speziell im Fach der politischenBildung, die einen hohen Anteil von Werte-und Normenvermittlung hat (Georg Wei-ßeno).

In dem hier stärker interessierenden Teil zurJugend- und Erwachsenenbildung bietet KlausMeisel einen übersichtlichen Einstieg in die„Qualitätsentwicklung in der politischen Bil-dung“, der eine Orientierung in der Qualitäts-diskussion hinsichtlich der Organisationen,des Personals und der Lernprozesse enthältsowie Möglichkeiten und Grenzen unter-schiedlicher Modelle umreißt. Florian Wen-zel entfaltet ein System der partizipativen Eva-luation politischer Bildung; ein prozessorien-tiertes Verfahren, das der politischen Bildungeher angemessen sei als „verordnete“ Kriteri-en. Peter Faulstich konzentriert sich in seinemBeitrag auf die Frage der „politischen Kompe-tenz“ und erörtert, ob es zur Feststellung ei-ner politischen Kompetenz Standards gebenkann und soll. Schließlich beschäftigen sichin einem sehr lesenswerten Beitrag BennoHafeneger und Klaus-Peter Hufer mit der Eva-

luation in der außerschulischen politischenBildung unter dem Postulat „Für eine demo-kratische und partizipatorische Qualitätsde-batte“. Sie sehen „reflexive Errungenschaften“in der Evaluationsdebatte und betonen ab-schließend, dass sie sich nicht gegen eine ide-ologische Qualitätsdebatte wehren, aber „dieverwirrende und Unsicherheit stiftende Flutvon Informationen in Form von Datenbanken,Leistungsindikatoren, Beurteilungssitzungen,jährlichen Überprüfungen, die Anfertigungvon Berichten, regelmäßige Veröffentlichun-gen von Ergebnissen, Inspektionen und PeerReviews“ kritisieren (S. 168 f.).

Das Buch enthält viele gute und interessanteBeiträge, wenn auch auf höchst unterschied-lichen Ebenen, bietet aber insgesamt nichtwirklich etwas Neues. Insbesondere die Er-wartungen an einen Sammelband bleibenunbefriedigt: Es fehlen eine konzeptionelleRahmung, eine Hinführung auf das Themaund eine Zusammenfassung, die den Standvon Qualitätsdiskussion und Standarddebattefesthält, offene Fragen formuliert und nachvorne bringt. In einer solchen resümierendenZusammenschau hätte auch stehen können,was nur ganz selten in den einzelnen Beiträ-gen mitgeliefert ist: eine kritische Reflexionder Beziehung der Bildungsbereiche zu-einander – am Beispiel der politischen Bil-dung. Man erkennt nicht nur völlig unter-schiedliche Akzentuierungen im Bereich deraußerschulischen Jugendbildung und Erwach-senenbildung gegenüber der Schuldiskussion,sondern auch eine ganz andere Problemlage.Die Diskussion um Standard im Fachunter-richt der Schulen definiert klar Akteure (z. B.KMK) und Verbindlichkeiten (z. B. Schulplä-ne, Tests), während in der außerschulischenDiskussion eine offene, prozessorientierte und– Verzeihung – marktähnliche Diskussionsichtbar ist. Entsprechend werden in beidenBereichen auch unterschiedliche Begriffe ge-braucht, deren Unterschiedlichkeit im Buchebenfalls nicht explizit thematisiert wird:Standards im Bereich der Schule, Qualität(und Evaluation) außerhalb der Schule. Na-türlich haben Standards und Qualitätmiteinander zu tun, sie sind jedoch nicht dasGleiche; die Beiträge des Buches liefern aberhinreichend Stoff, um diesem Unterschiednachzugehen. Dies wäre umso wichtiger, alsim Bereich der politischen Bildung und auf

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der Grundlage der hier ausgebreiteten refle-xiven Vielfalt die Frage einer künftigen Kon-struktion des lebenslangen Lernens, des le-benslangen politischen Lernens, problemori-entiert erörtert werden kann. Es wäre zuwünschen, dass die beiden Fachzeitschriften,die für die Herausgabe des Buches verant-wortlich zeichnen, in ihren redaktionellenBeiträgen gerade eben diese Diskussion wei-terführen.

E. N.

Schlüter, Anne (Hrsg.)„In der Zeit sein …“Beiträge zur Biographieforschung in der Er-wachsenenbildung(W. Bertelsmann Verlag) Bielefeld 2005, 148Seiten, 21,90 Euro,ISBN: 3-7639-3230-5

Mit dem Band 3 „In der Zeit sein …“ wird dieReihe „Weiterbildung und Biographie“ vonder Herausgeberin Anne Schlüter fortgesetzt.Die Reihe diskutiert Fragestellungen im Kon-text von Biografieforschung und Weiterbil-dung. Neben Sammelbänden, die ausgewähl-te Kategorien des Forschungskontextes bear-beiten, konzentriert sich die Reihe auf diePublikation von Projekten aus der Biografie-forschung. Im vorliegenden Band stellt dieHerausgeberin zusammen mit sechs Nach-wuchswissenschaftlerinnen verschiedene For-schungsprojekte vor. Damit verdeutlicht siedie Diversität möglicher qualitativer Fragestel-lungen der Biografieforschung in der Weiter-bildung. Die Aufsätze widmen sich denSchwerpunkten „Bildungs- und Karrierebio-graphien in der Erwachsenenbildung“ sowie„Qualitätsentwicklung in der Weiterbildung“(S. 11). Daneben stehen die Forschungspro-jekte auch unter dem Fokus von Weiterbil-dung in Volkshochschulen und/oder im Kon-text der Genderforschung.

Einleitend wird im vorliegenden Sammelbanddie Kategorie „Zeit“ in ihrer Breite und Unter-schiedlichkeit dargestellt und definiert. Unterdiesem Zeitbegriff werden Interviews, die inverschiedenen Forschungsprojekten durchge-führt wurden, betrachtet und ausgewertet. DieAutorinnen der Aufsätze stellen sich dabei derHerausforderung, den theoretisch viel erörter-

ten Zeitbegriff empirisch zu erforschen. Diesgelingt durch das verschiedene Fassen vonZeit im Verlauf von Biografien. So findet sichder in der Einleitung dargestellte Zeitbegriffin den einzelnen Forschungsprojekten in sei-ner Unterschiedlichkeit. Ebenso spiegeln sichin den einzelnen Aufsätzen die in der Einlei-tung dargestellten Ziele von Fallstudien in derqualitativen Forschung wider. Die Aufsätzebenennen jeweils verschiedene Forschungs-fragen innerhalb der Biografieforschung undbearbeiten diese zum Teil. So repräsentierendie Beiträge auch unterschiedliche Zeitpunk-te von Forschungsprojekten und thematisie-ren die Kategorie „Zeit“ auch auf der Ebenedes gesamten Bandes.

Nicole Justen beispielsweise entwickelt in ih-rem Aufsatz nach der Durchführung eines In-terviews mit einem WeiterbildungsberaterForschungs- und Untersuchungsfragen zurEvaluation von biografisch orientierten Er-wachsenenbildungskursen an Volkshoch-schulen. Dabei fokussiert sie die Integrationder „biographischen Selbstthematisierung“(S. 39) in die bestehenden Evaluationsformen.Ines Schell-Kiehl wertete Interviews mit Men-torinnen über ihre Tätigkeit aus. Da die Per-spektive der Mentorinnen in der internationa-len Mentoringforschung bislang weitgehendaußer Acht gelassen wurde, begibt sie sich mitihrem Projekt auf das Terrain eines neuen For-schungsfeldes. An zwei durchgeführten Inter-views stellt sie die Frage nach dem Einsatz derRessource Zeit und der Bewertung dieses Ein-satzes durch die Mentorinnen. Dabei resü-miert die Autorin den von den Interviewpart-nerinnen dargestellten persönlichen Gewinnihrer Tätigkeit. Andrea Thieles Beitrag be-trachtet das Image von Volkshochschule undkann unter dem Aspekt „In der Zeit sein …“in die Weiterbildungsforschung eingeordnetwerden. Da der Band den Untertitel „Beiträ-ge zur Biographieforschung in der Erwachse-nenbildung“ trägt, stellt sich jedoch die Fragenach der Einordnung des Aufsatzes in diesesThema. Anzumerken bleibt, dass die Auswer-tung der Interviews von den Autorinnenzumeist in illustrierender Weise geschieht.Eine weitergehende Paraphrasierung und In-terpretation fehlt an vielen Stellen. Dies lässtsich wohl auf den unterschiedlichen Stand derForschungsprojekte zurückführen. Mit Span-nung können so interessierte Lesende weiter-

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führende Interpretationen in den folgendenBänden der Reihe erwarten.

Die kurzweilige Publikation macht neugierigund Lust auf Biografieforschung, was –nebenbei bemerkt – durch das zum Lesenmotivierende Design der Reihe unterstütztwird. Der Band stellt die Bedeutung von Bio-grafieforschung im Kontext der Weiterbil-dungsforschung heraus. Mit Blick auf die Me-thodendiskussion in der Erwachsenenbildungkann diese Form der Publikation als Beitragdazu verstanden werden, die Unterschied-lichkeit von Biografieforschung und qualitati-ver Forschung überhaupt darzustellen. Dazubietet der Band wertvolle Ansätze zur weite-ren Diskussion.

Auf Grund des dargestellten Gesamtkonzeptsdes Bandes halte ich ihn für geeignet zum Ein-satz in Methodenseminaren mit Studierenden.Einzelne Aufsätze des Bandes können zurSensibilisierung für qualitative Forschungsfra-gen am Beispiel der Biografieforschung oderzur Diskussion über Sinn und Zweck von Fall-studien genutzt werden.

Regina Egetenmeyer

Vespermann, PerZertifikat und SystemEine mehrstufige empirische Exploration imIT-Weiterbildungsbereich(Waxmann-Verlag) Münster 2005, 272 Seiten,29,90 Euro, ISBN 3-8309-1518-7

Das Buch ist eine klassische Dissertation. Aufden achtzig Seiten der ersten beiden Kapiteldefiniert der Autor den Forschungs- und Ent-wicklungsstand zu Zertifikaten und ihre Funk-tion als Berechtigungsinstrumente insbeson-dere im beruflichen Bereich. Die Ausführun-gen geben einen guten Einstieg insThemenfeld; anregend ist die kritisch-analyti-sche Auseinandersetzung mit dem Stellenwertvon Zertifikaten im Kontext lebenslangen Ler-nens. Empirisch interessant wird es dort, wosich Vespermann mit den Zertifikaten im IT-Bereich beschäftigt. Der IT-Bereich ist für denAutor gewissermaßen ein Anwendungsfall sei-nes allgemeineren Erkenntnisinteresses. Esgeht um die Einschätzung, „inwieweit dasinsgesamt eher diffuse und durch unterschied-

lichste Zuständigkeiten geprägte Weiterbil-dungssystem ... in der Lage ist ..., als Gelenk-stelle zwischen Bildungs- und Beschäftigungs-system zu wirken“ (S. 9). Die Wahl des Ge-genstandes „Informationstechnologie“begründet der Autor damit, dass es sich umeinen äußerst dynamischen Bereich handelt,in dem das technische Wissen einen sehrschnellen Umschlag findet (ebd.). Damit istallerdings auch ein „Sonderfall“ ausgewählt,dessen Untersuchungsergebnisse möglicher-weise nur schwer auf den „behäbigeren“ in-stitutionellen Weiterbildungsbereich zu über-tragen sind.

Der Neuartigkeit und Dynamik seines Unter-suchungsgegenstands trägt der Autor insofernRechnung, als er ein exploratives Vorgehenwählt, um das Feld zu erkunden und die Sichtnicht durch bereits zu fest formulierte Hypo-thesen zu behindern. Der mehrstufige Zugang– wie er im Untertitel der Arbeit angekündigtwird – umfasst drei Schritte: Zunächst wird einSample von Weiterbildungsanbietern (in Ber-lin, Hamburg und München) zur Angebots-und Zertifizierungsrealität standardisiert be-fragt, in leitfadengestützten Experteninter-views wird nach dem Systematisierungsgradder Weiterbildung und der Rolle der Zertifi-kate gefragt und schließlich werden auf einer„Metaebene“ bei bundesweit arbeitenden In-stitutionen und Dachverbänden Fragen derAusgestaltung des Bereichs unter dem Aspektder Zertifizierung erörtert. Es handelt sich umein anspruchsvolles methodisches Design mitaufsteigender Generalisierung, das hohe An-forderungen an die übergreifende Auswertungstellt. Interessant ist, dass der Autor – eineungewöhnliche Innovation in Arbeiten dieserArt – nicht nur ein inhaltliches, sondern auchein methodisches Resümee zieht (S. 247 ff.),indem er sich mit den eingesetzten Erhe-bungsmethoden auseinander setzt. Es erfolgteine kritisch-reflexive Betrachtung der inflati-onären Ansätze wie Mix, Vielfalt, Kombinati-on und Triangulation der Methoden,allerdings bleibt er in der Umsetzung dieserkritischen Variante auf den eigenen Metho-denmix affirmativ: „Der an dieser Stelle ein-gesetzte explorative Ansatz hat sich insofernbewährt, dass das Untersuchungsfeld derWeiterbildungszertifikate mit standardisiertenund generierenden Techniken äußerst facet-tenreich erfasst werden konnte.“ Für den Le-

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ser ist der Bezug der Erkenntnisse auf den dreiangestrebten Untersuchungsebenen keines-wegs immer erkenntlich.

Doch nun zum Inhalt: Der Autor arbeitetschlüssig heraus, dass Zertifikate im IT-Be-reich ebenso unterschiedlich sind wie die ih-nen zugrunde liegenden curricularen Struk-turen der Anbieter. Und er verweist auf diedarin liegenden Probleme: Eine Anrechnungder Zertifikatleistungen untereinander gibt esin der Regel nicht. Es wird eher nach indivi-duellen Maßstäben zertifiziert, übergreifendeQualitätsstandards sind nur rudimentär vor-handen. Darüber hinaus sind die Weiterbil-dungsangebote mit Zertifizierungsmöglichkeitfür die Adressaten ausgesprochen unüber-sichtlich. Diese Situation verstärkt sich nochin dem Bemühen der Anbieter, entlang be-trieblicher Interessen und Funktion zu diver-sifizieren. Die Orientierung der Angebote aufFunktionsausschnitte in Unternehmen läufteiner höheren Systematisierung und Anerken-nung gleicher Standards zuwider. Interessantist auch der Hinweis, dass es eher die Ansät-ze der Europäischen Union sind, die hierstrukturelle und standardorientierte Aspekteenthalten, etwa der europäische Computer-führerschein oder die Projekte des CEDEFOP.Im Transfer auf weitergehende Zertifizierungs-bemühungen verweist Vespermann darauf,dass – ausgehend vom Beispiel IT – eine zu-nehmend verdichtete Diskussions- und Ent-wicklungsarbeit notwendig ist, um Standardsfestzustellen, Anerkennungen zu sichern undZugänge übersichtlich zu machen. Diese lässtsich eher im regionalen Rahmen finden. Ge-nerell aber steht vor der Anerkennung undStandardisierung von Zertifikaten die Frage,ob und wenn ja, welche Kenntnisse überhauptzertifiziert werden sollen. Hier ist in der Tatder IT-Bereich ein lehrreiches Beispiel für dieProbleme der Weiterbildung, immer wiederneu zugeschnittene und sich neu entwickeln-de inhaltliche Bereiche in angemessene Zer-tifikate zu gießen.

Die Arbeit von Per Vespermann weist exemp-larisch auf Probleme der Weiterbildung, nichtnur zu Fragen der Zertifizierung hin. Dadurch,dass der Autor an seinem Beispiel bleibt unddort verschiedene Aspekte „erkundet“, gera-ten auch Zusammenhänge in den Blick, diebei der Diskussion um die Zertifikate zu be-

rücksichtigen sind. Eine interessante Arbeit fürdiejenigen, die sich mit den Möglichkeitender Modularisierung und Zertifizierung imWeiterbildungsbereich und des Bezugs dieserFragen zu den Strukturelementen von Weiter-bildung beschäftigen.

E. N.

Weber, Susanne MariaRituale der TransformationGroßgruppenverfahren als pädagogischesWissen am Markt(VS Verlag für Sozialwissenschaften) Wiesba-den 2005, 405 Seiten, 39,90 Euro,ISBN: 3-531-14826-5

Ständig wird neues Wissen produziert, dasTransformationsprozessen unterliegt – so auchpädagogisches Wissen. Wie sich diese Trans-formation von Wissen vollzieht, ist jedoch einnicht immer durchsichtiger Prozess. SusanneMaria Weber widmet sich in ihrer Publikati-on einer empirischen Rekonstruktion desTransformationsprozesses neuen „pädagogi-schen Wissens am Markt“ am Beispiel derGroßgruppenverfahren. Sie greift mit Groß-gruppenverfahren ein Beispiel auf, das alsneues Verfahren in der Organisationsberatungund damit als neues pädagogisches Wissengelten kann. Anhand dieses Beispiels verfolgtdie Autorin den Prozess der Transformation.Die zentrale Einleitungsfrage, die gestellt wirdlautet: „Was wird aus dem Neuen, wenn esnicht mehr neu ist?“ (S. 13). In diesem Kon-text handelt es sich bei dem Neuen um päda-gogisches Wissen. Wissen tritt in gesellschaft-liche Diskursräume ein, wird aufgegriffen,benutzt und verändert sich dabei. Was aberkennzeichnet den Verlauf und die Verände-rung? Wie geht die Transformation vonstatten?

Susanne Maria Weber versucht diese Fragenanhand ihres gewählten Beispiels zu beant-worten. Sie greift in ihrer Arbeit ein spezifi-sches Wissen auf, um den Transformations-prozess empirisch zu untersuchen: Das Groß-gruppenverfahren als pädagogisches Wissenam Markt. Bei ihrer Untersuchung bezieht siesich auf den „Aspekt der prozessualen Rekon-struktion pädagogischen Wissens“ (S. 13).Zunächst stellt die Autorin auf den Seiten 48bis 115 verschiedene Großgruppenverfahren

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in ihren Gemeinsamkeiten und Unterschie-den dar. Dazu zählen: Open Space Technolo-gy; Appreciative Inquiry Summit; Zukunfts-konferenz; Real Time Strategic Change. Groß-gruppenverfahren sind Verfahren kollektivenund organisatorischen Lernens, die die Gene-rierung neuer Lösungen zum Ziel haben. An-schließend widmet sie sich dem Wissen improzessualen Verlauf und seiner prozessualenVeränderung. Der Ausgangspunkt für die Un-tersuchung dieser Transformation ist der Ein-tritt des methodischen Arrangements „Groß-gruppenverfahren“ in den Markt. Von diesemPunkt ausgehend untersucht sie die Transfor-mation dieses Wissens im „Produktlebenszy-klus“ (S. 23) in vier Schritten:

Ein erster Schritt im Produktlebenszyklus derGroßgruppenverfahren ist der Anschluss anandere Theorien, was Susanne Weber als„Mythenwissen“ bezeichnet. Das neue Wis-sen wird als „Heilswissen“ angesehen undwird zum Mythos. Ein zweiter Schritt ist dieVerbreitung des Wissens am Markt. Das Wis-sen wird zur Mode. In dieser Phase kommt esauch zur Diffusion der unterschiedlichenGroßgruppenverfahren. Es kommen Zweifelam Verfahren auf. Um diesen Transformati-onsschritt zu belegen, baut die Autorin zweiempirische Untersuchungen ein, durch diesowohl qualitative als auch quantitative As-pekte des Großgruppenverfahrens deutlichgemacht werden. Sie zeigt damit auf, inwie-weit sich das Wissen selbst verändert im Zugedes Prozesses. Die quantitative Ausweitungund die qualitative Diffusion werden dadurchdeutlich. Der nächste Schritt des Transforma-tionsprozesses ist ein „aus der Mode kom-men“ des Wissens, den Susanne Maria Weberanhand einer Prozessevaluation untersucht.Der vierte und letzte von der Autorin aufge-führte Transformationsschritt ist gekennzeich-net von einem Wandel zu Neuem: „nach derMode ist vor der Mode“. Das Wissen läuftentweder aus oder verändert sich. Die Fragenach der Nachhaltigkeit von Wissen spielt indieser Phase des Transformationsprozesseseine besondere Rolle.

Das an sich interessante und relevante The-ma ist auf Grund nicht immer klar definierterBegriffe und Gegenstände teilweise schwernachvollziehbar. Bei der Behandlung des The-mas mischen sich einige Aspekte, die im Ver-

lauf des Werks nicht immer klar ersichtlichvoneinander getrennt werden: Die Schwierig-keit bei der Lesbarkeit liegt darin, dass für dieUntersuchung der Rituale der Transformationein Untersuchungsgegenstand gewählt wur-de, der Transformation selbst in sich beinhal-tet. Dadurch wird der Transformationsbegrifffür unterschiedliche Sachverhalte verwendet,was auch zur Folge hat, dass das eigentlicheUntersuchungsziel nicht immer konsequentverfolgt wird. Insgesamt vermittelt die Publi-kation mit ihren Analysen der verschiedenenTransformationsschritte eines speziellen päd-agogischen Wissens eine interessante Per-spektive auf einen Prozess, der ansonstenrecht intransparent ist und eröffnet somit dieMöglichkeit der Betrachtung pädagogischenWissens auf einer Metaebene.

Anne Lemmen

Withnall, Alex/McGivney, Veronica/Soulsby,JimOlder People Learning – myths and realities(National Institute of Adult Continuing Edu-cation – NIACE) Leicester 2004, 68 Seiten,12,95 GBP, ISBN: 1-86201-191-5

Mit dem vorliegenden Handbuch beabsichti-gen die Autor/inn/en, einen Beitrag zur För-derung von Lernmöglichkeiten für ältere Men-schen zu leisten, indem Mythen über dasLernverhalten Älterer abgebaut und Informa-tionen über die tatsächliche Lernbereitschaftund Lernfähigkeit Älterer zur Verfügung ge-stellt werden. Angesichts der zögerlichenUmsetzung gerontologischer Forschungser-gebnisse in der Praxis steht dabei der Transfervon Forschungsbefunden und nicht die Erar-beitung neuer Erkenntnisse im Vordergrund.Im Anschluss an gängige gerontologische Auf-fassungen wird Alter in dem Handbuch als einrelativer Begriff verstanden, zugleich wird aufverbreitete Definitionen von AltersgrenzenBezug genommen, wenn es darum geht, diegeringe Partizipation Älterer im Bildungs-oder im Erwerbssystem quantitativ zu unter-mauern. Je nach Bezugspunkt werden Älterehinsichtlich der Erwerbstätigkeit als über 45-Jährige definiert, hinsichtlich des Lernens wirddie Grenze bei 80-Jährigen gezogen. Für ei-gene Untersuchungen des NIACE, auf die hierkurz Bezug genommen wurde, wird die Ziel-

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gruppe mit 50 Jahren und älter abgegrenzt.Unabhängig davon, welche Altersgrenzen zuGrunde gelegt werden, ist jedoch in Groß-britannien – wie in Deutschland auch – einzentrales Problem zukünftiger Alterspolitik,dass die öffentliche Wahrnehmung ältererMenschen stark von Negativkonzepten undStereotypisierungen geprägt ist und deshalbPotenziale und tatsächliche Bedürfnisse Älte-rer nicht angemessen berücksichtigt werden.

Das Buch ist so aufgebaut, dass die relevan-ten Informationen jeweils von einem gängi-gen Vorurteil über ältere Menschen eingelei-tet werden. In insgesamt fünf Abschnittenwerden so gesellschaftliche und individuelleFaktoren der Lernfähigkeit und Lernbereit-schaft diskutiert, wobei besonders positiv diegendersensible Erörterung der Faktoren auf-fällt. Jede These über Ältere wird mit einerkurzen Zusammenfassung des Forschungs-standes widerlegt bzw. durch notwendige Dif-ferenzierungen entkräftet. So wird beispiels-weise unter der These „Older People are notinterested in learning anything new“ (S. 53)darauf hingewiesen, dass sich durch veränder-te Lebensumstände im Rentenalter, gesund-heitliche Veränderungen, veränderte Famili-enkonstellationen etc. sowohl Lernge-legenheiten wie auch Lernerfordernisseergeben, die jedoch nicht gesehen und für diedeshalb keine geeigneten Lernangebote be-reitgestellt werden. Dies sollte nicht mit man-gelndem Interesse verwechselt werden. Dieknappen Ausführungen zur Richtigstellung(meist eineinhalb bis zwei Seiten lang) wer-den jeweils ergänzt durch kurze Erörterungenzu Konsequenzen für die Bildungspraxis undVerweise auf – nahezu ausschließlich briti-sche – Praxisbeispiele, die jeweils in ein biszwei erläuternden Sätzen mit Kontaktadres-sen (meist auch Internetadressen) vorgestelltwerden.

So ist eine interessante und gut verständlicheAufbereitung aktueller Forschungsergebnisseentstanden, die angesichts der ähnlich gela-gerten Problemkonstellationen auch für Leser/innen außerhalb Großbritanniens Anregungenund Argumente liefert. Zu berücksichtigen ist,dass die Publikation eindeutig als Handrei-chung für die Praxis und nicht als forschungs-orientierte Literaturstudie angelegt ist. DieThesen, an denen die Autor/inn/en ihre Aus-

führungen entfalten, sind sicherlich praxisre-levant, doch folgt die Auswahl keinem er-kennbaren Muster. Die Ausführungen sindallesamt sehr knapp gehalten, so dass interes-sierte Leser/innen zur Vertiefung auf weiter-führende Literatur angewiesen sind. Aus ei-nem mir nicht ganz einsichtigen Grund ge-hen die Autor/inn/en jedoch davon aus, dassPraxisorientierung einen Verzicht auf Litera-turangaben im Text rechtfertigt. Sie verweisenlediglich auf die Literaturliste, in der auf zwei-einhalb Seiten ausgewählte, vorwiegend bri-tische Veröffentlichungen zum Thema zusam-mengestellt sind. Als Fundus für Praxisbeispie-le und prägnante, zum Teil auch provokanteTexte über das Lernen Älterer ist das Buch je-doch durchaus empfehlenswert.

Carola Iller

Wolf, GertrudKonstruktivistische UmweltbildungEin postmoderner Entwurf im Kontext der Bil-dung für nachhaltige Entwicklung(W. Bertelsmann Verlag) Bielefeld 2005, 264Seiten, 24,90 Euro,ISBN: 3-7639-1919-8

„You don’t have to have the answers, just posethe questions“, lautet heute die Empfehlungan diejenigen, die professionelle Bildungsar-beit in einem Feld leisten, das früher Umwelt-bildung hieß und durchaus Antworten be-schränkter Reichweite zu bieten hatte. Dieglobalen Problemlagen, die heute in den Blickgenommen werden müssen und deren Kom-plexität in der Verquickung von ökologischen,sozialen, ökonomischen und kulturellen Phä-nomenen liegt, lassen kaum noch einfacheLösungen zu. Der Datenfülle zum Trotz gibtes keine Wahrheiten oder Sicherheiten mehr,auf die man seine Antworten stützen könnte.Neue normative Konzepte wie „SustainableDevelopment“ (nachhaltige Entwicklung) sol-len Abhilfe schaffen, aber sind sie anschluss-fähig? Kein Wunder also, dass der Ausgangs-punkt für die Dissertation von Gertrud Wolfdie krisenhafte Verunsicherung der Umwelt-bildung in Zeiten der Globalisierung und derPostmoderne ist. Nur logisch ist dann, dassdie Autorin gleich zu Beginn sagt, dass sieselbst Rezepte zur Auflösung der Krise wederliefern kann noch will, aber nach einer diffe-

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renzierten Diagnose der Situation ihrer Com-munity durch neue Theorieangebote (unteranderem basierend auf dem interaktionisti-schen Konstruktivismus nach Reich) Denkan-stöße für Diskurse geben möchte, die sie of-fensichtlich vermisst. Zudem sollen Hinweisedazu gegeben werden, was in Zukunft als Pro-fessionalität von Umweltbildung gelten kann.

Der Stand der Forschung wird sehr kompri-miert in den einführenden Problemaufriss in-tegriert, weil dabei Forschungslücken deutlichwerden, die Gertrud Wolf füllen möchte. Inerster Linie ist dies die Konfrontation derUmweltbildung mit den Diskursen der Post-moderne, die auf didaktischer Ebene im Kon-struktivismus ihre Entsprechung finden sollen.Grundlage aller weiteren Überlegungen ist dieEmpirie, die deshalb in komprimierter Form(30 Seiten) einem wesentlich umfangreiche-ren Theorieteil vorausgeschickt wird. GertrudWolf hat das Feld „Umweltbildung“ mittelsder Methode der am DIE entwickelten „for-schenden Fortbildung“ über die Akteure er-schlossen. Eine gut begründete Auswahl vonAkteuren wurde in den Blick genommen, imwahrsten Sinne des Wortes: TeilnehmendeBeobachtung während einer Zukunftswerk-statt und das dabei generierte Material sinddie Grundlage ihrer Analyse. Die Diagnose,die sie stellen muss, ist beklemmend: Die Ak-teure sind nicht in der Lage, Visionen zu ent-falten, sie können nicht auf Theorien zurück-greifen, sie zeigen verschiedene Anzeicheneines Burnout-Syndroms. Dies lässt die Auto-rin zunächst so stehen und skizziert die Ent-wicklung der Umweltbildung so, wie sie sichaus der Literatur rekonstruieren lässt. Auchhier die Erkenntnis, dass Theoriedefizite be-stehen, nicht zuletzt weil internationale Dis-kurse zur Bildung nicht zur Kenntnis genom-men werden. Und im Spiegel der Moderneund der Postmoderne wird diagnostiziert:„Die Brüche der modernen Gesellschaftensind auch die Brüche der Umweltbildung: Siesind vor allem bedingt durch das Festhaltenan einem naturalistischen Weltbild, durch dieBetonung der Rationalität, die Denkvorgängestets als logisch begründbar und eindeutigentscheidbar verlaufen lassen will, sowiedurch eine Ethik, die richtiges Handeln alsvoraussagbar annimmt“ (S. 119). Selbst dieNachhaltigkeit wird „eingeordnet“ – als Ver-

such, die verlorene Ordnung wiederherzustel-len.

Das Herzstück des Buches ist der dritte, kon-zeptionelle Teil der Dissertation. Hier baut dieAutorin ihrer Zielgruppe – den Akteuren derUmweltbildung in Praxis und Wissenschaft –Brücken (über die Themen Ethik – Erkenntnis– Konstruktion) hin zu den Antworten, die sieder Umweltbildung offeriert. Dies gelingt ihrauf einem Niveau und in einer Textqualität,die dort kaum üblich ist: international bele-sen, theoretisch fundiert und immer kritischhinterfragend. Letzteres hindert sie nicht, Stel-lung zu beziehen und zu einem Entwurf einerkonstruktivistischen Umweltbildung zu gelan-gen, der den interaktiven Konstruktivismusvon Kersten Reich aufnimmt und sich dezi-diert für die Theorie des situierten Lernensausspricht, die im Instrument der „Realbegeg-nung“ konkretisiert wird. Konstruktivistischbetrachtet, ist dies ja auch nur ein Angebot!Offen bleibt das über die Nomenklatur hin-aus schwierige Verhältnis von „Umweltbil-dung“ und „Bildung für eine nachhaltige Ent-wicklung“. Gertrud Wolf überlässt es ihrenProbanden, sich dazu zu äußern. Das ist einekluge Lösung, die sicherstellt, dass die tief-gründigen Fragen, die das Buch an alle Ak-teure der Umweltbildung wie auch der Bil-dung für nachhaltige Entwicklung richtet,nicht von einem Richtungsstreit überlagertwerden. Ein empfehlenswertes Buch!

Angela Franz-Balsen

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Autorinnen und Autoren der Beiträge

Prof. Dr. Rolf Arnold, Professor am Fachgebiet Pädagogik und Leiter des Zentrums fürFernstudien und Universitäre Weiterbildung der Technischen Universität Kaiserslau-tern, [email protected]

Dr. Claudia Gómez Tutor, Projektmitarbeiterin am Fachgebiet Pädagogik der Techni-schen Universität Kaiserslautern, [email protected]

Dr. Monika Kil, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Erwachsenen-Bildungs-forschung (IfEB) der Universität Bremen, [email protected]

Dr. Florian H. Müller, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Pädagogik derUniversität der Bundeswehr München, [email protected]

Prof. Dr. Horst Siebert, Professor am Institut für Erwachsenenbildung der UniversitätHannover, [email protected]

Prof. Dr. Gerald A. Straka, Professor am Institut für Technik und Bildung der Universi-tät Bremen, [email protected]

Sina Wagner, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Erwachsenen-Bildungsfor-schung (IfEB) der Universität Bremen, [email protected]

Dr. Gertrud Wolf, Habilitandin am Institut für Berufs- und Weiterbildung der Universi-tät Duisburg-Essen, [email protected]

Autorinnen und Autoren der Rezensionen

Regina Egetenmeyer, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Berufs- und Wei-terbildung der Universität Duisburg-Essen, [email protected]

Dr. Angela Franz-Balsen, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Umweltkom-munikation (INFU) der Universität Lüneburg, [email protected]

PD Dr. Dieter Gnahs, Leiter des Programmbereichs „Lehren und Lernen“ am Deut-schen Institut für Erwachsenenbildung in Bonn, [email protected]

Stefan Hummelsheim, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Programm „Strukturwandelder Weiterbildung“ am Deutschen Institut für Erwachsenenbildung, [email protected]

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Autorinnen und Autoren

PD Dr. Carola Iller, wissenschaftliche Assistentin am Institut für Bildungswissenschaftder Universität Heidelberg, [email protected]

Elisabeth Kamrad, wissenschaftliche Assistentin am Institut für Bildungswissenschaftder Universität Heidelberg, [email protected]

Prof. Dr. Udo Kuckartz, Professor am Institut für Erziehungswissenschaft der Universi-tät Marburg, [email protected]

Anne Lemmen, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Berufs- und Weiterbil-dung der Universität Duisburg-Essen, [email protected]

Prof. Dr. Dr. h.c. Ekkehard Nuissl, Professor am Institut für Berufs- und Weiterbildungder Universität Duisburg-Essen und Wissenschaftlicher Direktor des Deutschen Insti-tuts für Erwachsenenbildung in Bonn, [email protected]

Prof. Dr. Rudolf Tippelt, Professor am Institut für Pädagogik der Universität München,[email protected]

Prof. Dr. Christine Zeuner, Professorin am Institut für Allgemeine Pädagogik und Er-wachsenenbildung/Weiterbildung der Universität Flensburg, [email protected]