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RESPONSIVER RECHTSPLURALISMUS. Zur Entwicklung eines transnationalen Kollisionsrechts

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RESPONSIVER RECHTSPLURALISMUS

Zur Entwicklung eines transnationalen Kollisionsrechts

Von Lars Viellechner, Berlin

I. Einführung

Die Auseinandersetzung mit der Entwicklung des Rechts in der Weltge-sellschaft1 folgt bislang noch überwiegend den überkommenen Lehren vonMonismus und Dualismus.2 Zwar finden die Begriffe selbst kaum mehr Ver-wendung. Auch treten im gegenwärtigen Rechtsdenken die Kategorien vonVerfassung und Demokratie an die Stelle von Staat und Souveränität.3 Aberin der Sache leben altbekannte Argumente wieder auf. Dabei lassen sich frü-her wie heute tatsächlicher Befund und normativer Entwurf nicht klar von-einander trennen.4

Der Neo-Monismus kommt in verschiedenen Theorien von „global consti-tutionalism“

5 zum Ausdruck, die versuchen, das Modell der Staatsverfas-

1 Vgl. zum systemtheoretischen Verständnis von „Weltgesellschaft“ als Gesell-schaftssystem, das durch funktionale Differenzierung gekennzeichnet ist und sichüber Kommunikation konstituiert, Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft,Bd. 1, 1997, S. 145 ff.; Stichweh, Zur Theorie der Weltgesellschaft, Soziale Systeme 1,1995, S. 29; zum konkurrierenden Paradigma der „Globalisierung“ in den Sozialwis-senschaften Giddens, The Consequences of Modernity, Cambridge 1990, S. 63 ff.; Heldu. a., Global Transformations, Cambridge 1999; Beck, Was ist Globalisierung?, 1997.Es fragt sich freilich, ob die hier beobachteten Entwicklungen des Rechts lediglich die„westliche Rechtstradition“ betreffen, vgl. dazu Berman, Law and Revolution: TheFormation of the Western Legal Tradition, Cambridge MA 1983.

2 Vgl. zum Dualismus Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, 1899; Anzilotti, Corsodi diritto internazionale, Bd. 1, 3. Aufl., Rom 1928, S. 36 ff.; zumMonismus mit Primatdes staatlichen Rechts Bergbohm, Staatsverträge und Gesetze als Quellen des Völker-rechts, 1876, S. 18 ff.; Jellinek, Die rechtliche Natur der Staatenverträge, 1880,S. 7 ff.; zum Monismus mit Primat des Völkerrechts Kelsen, Das Problem der Souve-ränität und die Theorie des Völkerrechts, 2. Aufl., 1928, S. 204 ff.; Scelle, Précis dedroit des gens, Bd. 1, Paris 1932, S. 32 f.

3 Deutlich Grimm, Souveränität, 2009, S. 123: „Souveränität ist heute auch Demo-kratieschutz.“

4 Vgl. Wagner, Monismus und Dualismus: Eine methodenkritische Betrachtungzum Theorienstreit, AöR 89 (1964), S. 212 (214): „Die verschiedenen Rechtslehren […]fluktuieren […] zwischen materialistischen und idealistischen und zwischen soziologi-schen und normativen Polen.“

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sung auf die Weltgesellschaft zu übertragen. Die Vorschläge reichen von derInterpretation der Satzung der Vereinten Nationen als Verfassung einer in-ternationalen Gemeinschaft6 bis hin zu Konstruktionen einer Mehrebenen-verfassung,7 von denen manche an Hans Kelsens Modell des dreigliedrigenBundesstaats erinnern.8 Der Neo-Dualismus tritt demgegenüber in Theorienvon „national constitutionalism“

9 zu Tage, die es vor allem aus Gründendemokratischer Selbstbestimmung bevorzugen, die Staatsverfassung voräußeren Einflüssen abzuschirmen.

Bei normativer Betrachtung rufen aber beide Theoriestränge gleicherma-ßen Einwände hervor. Während überzeugende Konzepte für eine demokrati-sche Verfassung jenseits des Staates bislang fehlen,10 schlägt der Rückzugauf die demokratische Staatsverfassung hinsichtlich von Sachverhalten mitgrenzüberschreitendem Bezug in sein Gegenteil um, da diese nicht alleBetroffenen einschließt.11 Davon abgesehen stoßen beide Vorstellungen vonVerfassung auf tatsächliche Hindernisse. Während die Aussichten auf dieEinrichtung einer Weltverfassung wegen der Heterogenität der Weltgesell-schaft als gering erscheinen,12 können sich selbst die Rechtsordnungen der

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5 Falk, The Pathways of Global Constitutionalism, in: ders. u. a. (Hrsg.), The Con-stitutional Foundations of World Peace, Albany 1993, S. 13; Peters, The Merits of Glo-bal Constitutionalism, Ind J Global Legal Stud 16 (2009), S. 397; Wiener u. a., GlobalConstitutionalism: Human Rights, Democracy and the Rule of Law, Global Constitu-tionalism 1 (2012), S. 1.

6 Vgl. Fassbender, The United Nations Charter as Constitution of the InternationalCommunity, Colum J Transnat’l L 36 (1998), S. 529; Dupuy, The Constitutional Di-mension of the Charter of the United Nations Revisited, Max Planck UN YB 1 (1997),S. 1; Franck, Is the U.N. Charter a Constitution?, in: LA Eitel, 2003, S. 95.

7 Vgl. Habermas, Eine politische Verfassung für die pluralistische Weltgesell-schaft?, KJ 38 (2005), S. 222; Pernice, The Global Dimension of Multilevel Constitutio-nalism: A Legal Response to the Challenges of Globalisation, in: FS Tomuschat, 2006,S. 973.

8 Vgl.Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 198 ff.9 Rubenfeld, Unilateralism and Constitutionalism, NYU L Rev 79 (2004), S. 1971;

Kahn, The Question of Sovereignty, Stan J Int’l L 40 (2004), S. 259; Rabkin, Law with-out Nations?, Princeton 2005; Haltern, Internationales Verfassungsrecht?, AöR 128(2003), S. 511.

10 Versuche zur Entwicklung von Konzepten transnationaler Demokratie bei Held,Democracy and the Global Order, Cambridge 1995; Dryzek, Transnational Democ-racy, J Pol Phil 7 (1999), S. 30; Bohman, Democracy across Borders, Cambridge MA2007; de Búrca, Developing Democracy Beyond the State, Colum J Transnat’l L 46(2008), S. 221; Niederberger, Demokratie unter Bedingungen der Weltgesellschaft?,2009.

11 Vgl. Joerges/Neyer, From Intergovernmental Bargaining to Deliberative PoliticalProcesses, Eur LJ 3 (1997), S. 273 (294); Kumm, The Cosmopolitan Turn in Constitu-tionalism, in: Dunoff/Trachtman (Hrsg.), Ruling the World?, Cambridge 2009, S. 258(296 ff.). Kritisch Somek, The Argument from Transnational Effects II: EstablishingTransnational Democracy, Eur LJ 16 (2010), S. 375.

12 Vgl. Fischer-Lescano, Globalverfassung, 2005, S. 247 ff.; Kennedy, One, Two,Three, Many Legal Orders: Legal Pluralism and the Cosmopolitan Dream, NYU Rev L& Soc Change 31 (2007), S. 641; Walker, Beyond the Holistic Constitution?, in: Dob-ner/Loughlin (Hrsg.), The Twilight of Constitutionalism?, Oxford 2010, S. 291.

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mächtigsten Staaten angesichts der Zunahme von grenzüberschreitenderKommunikation einer transnationalen Verflechtung nicht länger entziehen.13

Die Struktur des Rechts der Weltgesellschaft lässt sich unter diesen Um-ständen am ehesten mit „Pluralismus“14 umschreiben. Damit ist allerdingsnicht mehr nur die Koexistenz von staatlichen Rechtsordnungen und Völ-kerrecht gemeint.15 Vielmehr bezeichnet der Begriff die Überlagerung undÜberlappung einer Vielzahl von teils territorial, teils funktional ausgerichte-ten Rechtsordnungen (II.). Ein solcher Rechtszustand löst seinerseits Besorg-nis aus. Neben dem Mangel an Inklusion steht ein Verlust an Rechtssicher-heit und Rechtsgleichheit zu befürchten. Die Legitimität und Kohärenz desRechts in der Weltgesellschaft mag dann allenfalls noch dadurch herzustel-len sein, dass sich die verschiedenen Rechtsordnungen „responsiv“ zueinan-der verhalten, indem sie sich wechselseitig intern berücksichtigen. Dafürfinden sich indes schon zahlreiche Belege in der Rechtspraxis (III.). Für dasRecht der Weltgesellschaft wäre damit eine viel versprechende neue Formgefunden (IV.).

II. Pluralität

1. Beschreibung

Niklas Luhmann mutmaßte noch, dass es in der Weltgesellschaft zu einer„Verlagerung des evolutionären Primats von normativen auf kognitiveMechanismen“16 kommen könnte. In der Vergangenheit habe die Gesell-schaft stets normative Formen der Erwartungsbildung, die auch im Ent-täuschungsfall aufrechterhalten werden, gegenüber kognitiven, die sichlernbereit und anpassungsfähig zeigen, bevorzugt.17 Da niemand gern seineZustimmung für noch unbestimmte Veränderungen erteile und gut im Fallvon Enttäuschungen lerne, lasse sich dafür leichter Konsens beschaffen. Dieunnatürlichen und riskanten Verhaltenserwartungen seien daher stets ent-täuschungsfest institutionalisiert worden. Normativ ausgerichtete Sozial-

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13 Vgl. Nye, Jr., The Paradox of American Power: Why the World’s Only Superpow-er Can’t Go It Alone, New York 2002; Jackson, Constitutional Engagement in a Trans-national Era, Oxford 2010.

14 Teubner, Die zwei Gesichter des Janus: Rechtspluralismus in der Spätmoderne,in: LA Esser, 1995, S. 191; Berman, Global Legal Pluralism, S Cal L Rev 80 (2007),S. 1155; Krisch, Beyond Constitutionalism: The Pluralist Structure of PostnationalLaw, Oxford 2010; Zumbansen, Transnational Legal Pluralism, Transnat’l LegalTheory 1 (2010), S. 141.

15 Ein solches Begriffsverständnis schon früher wegen der Vielzahl an staatlichenRechtsordnungen beiWalz, Völkerrecht und staatliches Recht, 1933, S. 5.

16 Luhmann, Rechtssoziologie, 2. Aufl. 1983, S. 340.17 Vgl. zur Unterscheidung von kognitiven und normativen Erwartungen ebd.,

S. 40 ff.

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systeme wie Religion, Politik und Recht seien dementsprechend die wich-tigsten Risikoträger der gesellschaftlichen Evolution gewesen. Demgegen-über kennzeichne diejenigen Sozialsysteme, die weltweite Kontakte ermög-lichten, wie etwa Wirtschaft, Wissenschaft und Technik, ein vorwiegendkognitiver Erwartungsstil. Die Weltgesellschaft stelle sich insofern daraufein, „daß auf sehr hohe und funktions-spezifisch strukturierte Komplexitätbesser durch Lernprozesse als durch kontrafaktisches Festhaltenwollen vor-gegebener Erwartungen reagiert wird“.18

Ein Rechtsschwund zeichnet sich derzeit aber nicht ab. Im Gegenteiloffenbart die Weltgesellschaft einen Bedarf an herkömmlichen Mitteln vonErwartungssicherung und Konfliktlösung, der auf doppeltem Wege gedecktwird. Zum einen erstreckt sich das Völkerrecht zunehmend auch auf solcheMaterien, die früher zu den inneren Angelegenheiten der Staaten zählten,insbesondere Wirtschaft, Umweltschutz und Menschenrechte. Dazu sindzahlreiche internationale Organisationen mit eigenen Streitentscheidungs-organen gegründet worden. Zu den besonders ausgereiften Beispielen vonglobaler Reichweite zählt die Welthandelsorganisation (World Trade Orga-nization, WTO) mit ihrem Streitbeilegungsmechanismus (Dispute Settle-ment Understanding, DSU).19 Die Studiengruppe der Völkerrechtskommis-sion der Vereinten Nationen (International Law Commission, ILC) unterVorsitz von Martti Koskenniemi, die eingesetzt wurde, um die Entwicklungdes Völkerrechts zu untersuchen, bemerkt insofern zwar einen Bedeutungs-zuwachs des Völkerrechts, erkennt aber zugleich dessen „fragmentation“20

in verschiedene Teilordnungen. Insofern sieht sie die funktionale Differen-zierung der Gesellschaft, wie sie die Systemtheorie beschreibt,21 im Rechtgespiegelt: „The fragmentation of the international social world has attainedlegal significance especially as it has been accompanied by the emergence ofspecialized and (relatively) autonomous rules or rule-complexes, legal insti-tutions and spheres of legal practice.“22 Die völkerrechtlichen Teilordnun-gen, welche die Kommission auch als „regimes“23 bezeichnet, kennzeichne

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18 Luhmann, Die Weltgesellschaft, ARSP 57 (1971), S. 1 (26).19 Vgl. Jackson, Sovereignty, the WTO, and Changing Fundamentals of Internatio-

nal Law, Cambridge 2006; Cass, The Constitutionalization of the World Trade Organi-zation, Oxford 2005; Krajewski, Verfassungsperspektiven und Legitimation desRechts der Welthandelsorganisation, 2001.

20 ILC, Fragmentation of International Law: Difficulties Arising from the Diversi-fication and Expansion of International Law, Report of the Study Group vom 13. Ap-ril 2006, UN Doc. A/CN.4/L.682. Vgl. auch Koskenniemi /Leino, Fragmentation ofInternational Law?, Leiden J Int’l L 15 (2002), S. 553; Hafner, Pros and Cons Ensuingfrom Fragmentation of International Law, Mich J Int’l L 25 (2004), S. 849; Fischer-Lescano/Teubner, Fragmentierung des Weltrechts, in: Albert/Stichweh (Hrsg.), Welt-staat und Weltstaatlichkeit, 2007, S. 37.

21 Vgl. ILC (Fn. 20), § 7: „One of the features of late international modernity hasbeen what sociologists have called ‚functional differentiation‘, the increasing speciali-zation of parts of society and the related autonomization of those parts.“

22 Ebd., § 8 (Nachweis weggelassen).

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vor allem eine Spezialisierung auf einzelne Sachbereiche: „What once ap-peared to be governed by ‚general international law‘ has become the field ofoperation for such specialist systems as ,trade law‘, ‚human rights law‘, ,en-vironmental law‘, ‚law of the sea‘, ‚European law‘ and even such exotic andhighly specialized knowledges as ‚investment law‘ or ‚international refugeelaw‘ etc. – each possessing their own principles and institutions.“24 Dadurchkönnten die Regimes weitgehend ihrer eigenen Rationalität folgen. Dass dieTrennlinien nicht ausschließlich entlang von funktionalen Grenzen verlau-fen, zeigen jedoch Menschenrechtsregimes wie der Internationale Pakt überbürgerliche und politische Rechte (IPbpR) mit seinem Menschenrechtsaus-schuss (MRA)25 und regional beschränkte Regimes wie die EuropäischeUnion (EU) mit dem Europäischen Gerichtshof (EuGH).26

Sofern Völkerrechtsetzung mangels Konsens oder Schnelligkeit der Staa-tengemeinschaft ausfällt, bilden sich zur rechtlichen Lösung von weltgesell-schaftlichen Problemen zum anderen „transnationale Regelungsarrange-ments“27 heraus, die überwiegend private Akteure, teilweise mit staatlicherBeteiligung, durch Verträge in Geltung setzen. Solche Arrangements zeich-nen sich, ebenso wie die völkerrechtlichen Regimes, durch sachliche Spezia-lisierung aus. Zu den bekanntesten Beispielen zählt die Internet Corporationfor Assigned Names and Numbers (ICANN), welche über verschiedeneRegistrierungsstellen durch Vertrag die Domains im Internet vergibt. Eshandelt sich dabei um eine nach kalifornischem Privatrecht verfasste Kör-perschaft, die vertraglich auch mit der Regierung der Vereinigten Staatenvon Amerika verbunden ist.28 Zur Schlichtung von Streitigkeiten zwischenInhabern von Rechten an Marken oder Namen und Registranten von Do-mains stellt die ICANN sogar ein eigenes Streitentscheidungsverfahrenbereit, das auf der in Form von Allgemeinen Geschäftsbedingungen formu-lierten Uniform Domain Name Dispute Resolution Policy (UDRP) beruht.29

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23 Ebd., § 15.24 Ebd., § 8.25 Vgl. Buergenthal, The Evolving International Human Rights System, Am J Int’l

L 100 (2006), S. 783; McGoldrick, The Human Rights Committee, 2. Aufl., Oxford1994;Kälin/Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, 2. Aufl. 2008.

26 Vgl. Stein, Lawyers, Judges, and the Making of a Transnational Constitution,Am J Int’l L 75 (1981), S. 1; Weiler, The Transformation of Europe, Yale LJ 100 (1991),S. 2403; Pernice, The Treaty of Lisbon: Multilevel Constitutionalism in Action, ColumJ Eur L 15 (2009), S. 349.

27 Viellechner, The Constitution of Transnational Governance Arrangements, in:Joerges/Falke (Hrsg.), Karl Polanyi, Globalisation and the Potential of Law in Trans-national Markets, Oxford 2011, S. 435. Andere Bezeichnung bei Calliess, Grenzüber-schreitende Verbraucherverträge, 2006, S. 245: „transnationale Zivilregimes“; Senn,Non-State Regulatory Regimes, 2011.

28 Vgl. Froomkim, Wrong Turn in Cyberspace: Using ICANN to Route Around theAPA and the Constitution, Duke LJ 50 (2000), S. 17; Mueller, Ruling the Root, Cam-bridge MA 2002; Kleinwächter, ICANN als United Nations der Informationsgesell-schaft?, MMR 1999, S. 452.

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Zu den von ICANN anerkannten Streitschlichtungsinstitutionen zählt mitder World Intellectual Property Organisation (WIPO) auch eine internatio-nale Organisation.30

2. Deutung

In der Weltgesellschaft ist damit die Herausbildung einer Vielzahl vonRechtsordnungen zu beobachten, die sich in ihren Anwendungsbereichenteilweise überschneiden. Boaventura de Sousa Santos beschreibt einen sol-chen Rechtszustand, der sich mit älteren Vorstellungen von Monismus undDualismus nicht mehr fassen lässt,31 als „interlegality“, womit er „an inter-section of different legal orders“ meint, das heißt „different legal spacessuperimposed, interpenetrated and mixed in our minds, as much as in ouractions“.32 Wenn manche Beobachter eine solche Veränderung des Rechtsals Entwicklung in Richtung auf einen „new legal pluralism“

33 hin deuten,dann weisen sie damit auf Parallelen zu älteren Rechtsvorstellungen hin. AlsRechtspluralismus bezeichnen Rechtshistoriker das Nebeneinander von ver-schiedenen personenbezogenen Herrschaftsrechten im Mittelalter.34 Rechts-anthropologen und Rechtssoziologen verstehen darunter die Koexistenz desRechts von Kolonialmächten und indigenen Bevölkerungen in früherenKolonialstaaten.35

Vorstellungen von Rechtspluralismus gab es aber auch innerhalb der mo-dernen Industriestaaten. Zum einen brachte die frühe Föderalismustheorieverschiedene Verständnisse von geteilter Souveränität hervor. So meinte

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29 Vgl. Walker, ICANN’s Uniform Domain Name Dispute Resolution Policy, Berke-ley Tech LJ 15 (2000), S. 289; Helfer /Dinwoodie, Designing Non-National Systems:The Case of the Uniform Domain Name Dispute Resolution Policy, Wm & Mary L Rev43 (2001), S. 141; Bettinger, ICANN’s Uniform Domain Name Dispute ResolutionPolicy, C & R 2000, S. 234.

30 Vgl. ICANN, List of Approved Dispute Resolution Service Providers, http: //www.icann.org/en/help/dndr/udrp/providers.

31 Vgl. von Bogdandy, Pluralism, Direct Effect, and the Ultimate Say, Int’l J ConstL 6 (2008), S. 397 (400): „Monism and dualism […] are intellectual zombies of anothertime and should be laid to rest, or ‚deconstructed‘.“

32 de Sousa Santos, Toward a New Legal Common Sense, 2. Aufl., London 2002,S. 437. Vgl. auch Amstutz, Zwischenwelten, in: Joerges/Teubner (Hrsg.), Rechtsver-fassungsrecht, 2003, S. 213 (213): Interlegalität als Zustand, in dem „parallele Norm-systeme unterschiedlicher Herkunft sich wechselseitig anregen, gegenseitig verbin-den, ineinandergreifen und durchdringen, ohne zu einheitlichen Super-Ordnungen zuverschmelzen, die ihre Teile absorbieren, sondern in ihrem Nebeneinander als hete-rarchische Gebilde dauerhaft bestehen“.

33 Berman, The New Legal Pluralism, Ann Rev L & Soc Sci 5 (2009), S. 225.34 Vgl. Berman (Fn. 1), S. 10; Grossi, L’ordine giuridico medievale, Rom 1995,

S. 223.35 Vgl. Hooker, Legal Pluralism: An Introduction to Colonial and Neo-Colonial

Laws, Oxford 1975; von Benda-Beckmann, Rechtspluralismus in Malawi, 1970.

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Alexis de Tocqueville, die Vereinigten Staaten von Amerika hätten „deuxgouvernements, entre lesquels la souveraineté allait se partager“36. Zuvorhatte bereits Alexander Hamilton in den Federalist Papers die Auffassungvertreten, dass die Bundesverfassung „certain exclusive and very importantportions of sovereign power“37 bei den Einzelstaaten belasse. In Deutschlandberief sich Georg Waitz nach der gescheiterten Revolution von 1848 aufTocquevilles Gedanken der geteilten Souveränität, um auf die Möglichkeiteines Zusammenschlusses von souveränen Monarchien hinzuweisen: ImBundesstaat sei sowohl der Gesamtstaat als auch jeder Einzelstaat jeweils„innerhalb seiner Sphäre“38 rechtlich selbstständig. Zum anderen schriebdie Genossenschaftslehre jedem gesellschaftlichen Verband die Fähigkeitzu, einen vom Willen der Mitglieder unabhängigen Gruppenwillen auszubil-den und damit eine eigene Rechtsordnung hervorzubringen. So sprach Ottovon Gierke von einem „Sozialrecht“, welches „das innere Leben der Verbän-de ordnet“.39 Daran knüpften später pluralistische Staatslehren40 und Theo-rien von „private government“41 an. Insbesondere Harold Laski hielt denStaat lediglich für „one of the groups to which the individual belongs“42.Souveränität bedeute dann „no more than the ability to secure assent“43.

In der Föderalismustheorie setzte sich aber schließlich die Auffassungdurch, dass die Souveränität im Bundesstaat dem Gesamtstaat zukommt, imStaatenbund hingegen bei den Mitgliedstaaten verbleibt. Während in denVereinigten Staaten von Amerika der Bürgerkrieg den Streit entschied,44 be-

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36 de Tocqueville, De la démocratie en Amérique, Bd. 1, Paris 1835, S. 165.37 Hamilton, The Federalist No. 9 (1787), in: Cooke (Hrsg.), The Federalist, Middle-

town 1961, S. 50 (55). Vgl. auch Madison, The Federalist No. 39 (1788), ebd., S. 250(257): „The proposed Constitution therefore is in strictness neither a national nor afederal constitution; but a composition of both.“ Anschlüsse daran für die EU beiSchütze, From Dual to Cooperative Federalism: The Changing Structure of EuropeanLaw, Oxford 2009.

38 Waitz, Das Wesen des Bundesstaats, Allg Monatsschrift Wiss & Lit 4 (1853),S. 494 (507). Demokratietheoretische Wendung des Konzepts der „geteilten Souverä-nität“ in Bezug auf die EU nun bei Habermas, Zur Verfassung Europas, 2011, S. 62 ff.Vgl. auch Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 372: „Bund“ als Verbindung aus mehre-ren politischen Einheiten, in der die Frage der Souveränität „immer offen“ bleibt. An-schlüsse daran für die EU bei Schönberger, Die Europäische Union als Bund, AöR 129(2004), S. 81; Beaud, Théorie de la fédération, Paris 2007.

39 von Gierke, Das Wesen der menschlichen Verbände, 1902, S. 28.40 Vgl. Figgis, Churches in the Modern State, London 1913; Barker, Political

Thought in England, London 1915; Laski, The Personality of Associations, Harv LRev 29 (1916), S. 404; Cole, Social Theory, London 1920. Ferner Preuß, Gemeinde,Staat, Reich als Gebietskörperschaften, 1889.

41 Selznick, Law, Society, and Industrial Justice, New York 1969, S. 259 ff.; Galan-ter, Justice in Many Rooms: Courts, Private Ordering, and Indigenous Law, J LegalPluralism & Unofficial L 19 (1981), S. 1; Macaulay, Private Government, in: Lipson/Wheeler (Hrsg.), Law and the Social Sciences, New York 1986, S. 445.

42 Laski, The Sovereignty of the State, J Phil 13 (1916), S. 85 (90).43 Ebd., S. 92.

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gründeten in der deutschen Staatsrechtslehre Paul Laband und Georg Jelli-nek diese Sichtweise mit der Trennbarkeit von Staat und Souveränität: ZurStaatlichkeit genüge der Besitz von Herrschaftsrechten, während die Souve-ränität darüber hinaus das Recht beinhalte, über die Verteilung der Herr-schaftsrechte zu bestimmen, also Innehabung der Kompetenz-Kompetenzbedeute.45 von Gierke erkannte seinerseits trotz des Befunds von Struktur-gleichheit ein Verhältnis der Überordnung von Staat und gesellschaftlichenVerbänden: „Der durch seine Machtvollkommenheit über alle erhöhte Staatnimmt für sich selbst ein Recht höheren Ranges in Anspruch und läßt nursolche Gemeinschaften, die er als öffentliche Einrichtungen wertet, in ge-wissem Umfange an den Vorzügen des öffentlichen Rechtes Teil nehmen.“46

Auch Laski räumte später ein, vormals verkannt zu haben, dass der Staateine unteilbare und unabgeleitete Souveränität beanspruchen müsse, um dierechtlichen Forderungen der Gesellschaft gegeneinander abzugrenzen.47

Privat gesetztes Recht kann nach dieser Auffassung Geltung nur durchstaatliche Anerkennung erlangen.48

Ebenso wie im Mittelalter ließ sich der Rechtspluralismus in der Neuzeitsomit allenfalls als abgeschwächter49 verstehen: Dort wurde das Recht unterreligiöser,50 hier unter staatlicher Einheit stehend gedacht.51 Eine übergrei-fende Ordnung in diesem Sinne sieht die ILC für die Völkerrechtsregimeszwar im allgemeinen Völkerrecht.52 Es fragt sich aber, welche Regeln undPrinzipien außer jenen über das Zustandekommen und die Wirksamkeit vonvölkerrechtlichen Verträgen heute überhaupt noch zum allgemeinen Völker-recht zählen. Die transnationalen Regelungsarrangements entkommen oh-

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44 Vgl. Amar, Of Sovereignty and Federalism, Yale LJ 96 (1987), S. 1425; Schütze,Federalism as Constitutional Pluralism: „Letter from America“, in: Avbelj/Komárek(Hrsg.), Constitutional Pluralism in the European Union and Beyond, Oxford 2012,S. 185.

45 Vgl. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 1, 5. Aufl. 1911,S. 60 ff.; Jellinek, Die Lehre von den Staatenverbindungen, 1882, S. 41 ff.

46 von Gierke (Fn. 39), S. 33.47 Vgl. Laski, A Grammar of Politics, 4. Aufl., London 1938, S. xi f.48 Vgl. Michaels, The Re-state-ment of Non-State Law: The State, Choice of Law,

and the Challenge from Global Legal Pluralism, Wayne L Rev 51 (2005), S. 1209;Kirchhof, Private Rechtsetzung, 1987, S. 48 ff.

49 Vgl. Griffiths, What is Legal Pluralism?, J Legal Pluralism & Unofficial L 24(1986), S. 1 (5): „weak“ – „strong“; Friedman, The Legal System, New York 1975,S. 196: „vertical“ – „horizontal“; de Sousa Santos (Fn. 32), S. 95: „internal“ – „exter-nal“; Halberstam, Systems Pluralism and Institutional Pluralism in ConstitutionalLaw, in: Avbelj/Komárek (Fn. 44), S. 85: „institutional“ – „systemic“.

50 Vgl. Berman (Fn. 1), S. 45.51 Vgl. Merkl, Die Rechtseinheit des österreichischen Staates, AöR 37 (1918), S. 56;

Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, 1935.52 Vgl. ILC (Fn. 20), §§ 172 ff. Ebenso Dupuy, L’unité de l’ordre juridique interna-

tional, RdC 297 (2002), S. 9; Simma /Pulkowski, Of Planets and the Universe: Self-contained Regimes in International Law, Eur J Int’l L 17 (2006), S. 483.

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nehin auch den Vorgaben des allgemeinen Völkerrechts, da sie nicht auf völ-kerrechtlichen Verträgen beruhen.

Davon abgesehen erlangen alle Teilrechtsordnungen eine relative Autono-mie dadurch, dass sie sich an eigenen „secondary rules“53 im Sinne von Her-bert Hart orientieren. Dazu gehören nicht nur „rules of recognition“, die zumAuffinden der anwendbaren Verhaltensregeln dienen, sondern auch „rules ofadjudication“, die Gerichte zur verbindlichen Entscheidung darüber ermäch-tigen, ob im Einzelfall eine Verhaltensregel verletzt worden ist.54 Häufigbringt die „proliferation of international courts and tribunals“55 den Rechts-pluralismus überhaupt erst zum Ausdruck, obwohl sie ihrerseits dessen Folgeist. Die verschiedenen Teilrechtsordnungen können dadurch selbstbezüglichoperieren.56 So urteilt beispielsweise der EuGH allein nach dem „vom Vertraggeschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließenden Recht“ undsieht dieses daher als eine „eigene Rechtsordnung“ an,57 während eine vonICANN zur Entscheidung in Domainstreitigkeiten berufene Schiedsinstitu-tion gemäß § 15 lit. a der UDRP-Verfahrensordnung „in accordance with thePolicy, these Rules and any rules and principles of law that it deems applic-able“ entscheidet.58 In der Sprache der Systemtheorie gehören die verschie-denen staatlichen Rechtsordnungen, völkerrechtlichen Regimes und transna-tionalen Regelungsarrangements zwar zu einem einzigen Rechtssystem,schließen aber nach Maßgabe unterschiedlicher Programme in Form von Ver-fassungen oder Gründungsverträgen an den Rechtscode an.59 Der globaleRechtspluralismus erscheint demnach als ein „Bild verschiedener gleich-geordneter Rechtsdiskurse“60, das mangels übergeordneter Einheit auch als„radical pluralism“

61 gedeutet werden kann.

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53 Hart, The Concept of Law, Oxford 1961, S. 89 ff.54 Vgl. Fischer-Lescano/Teubner, Regime-Kollisionen, 2006, S. 41 ff. Schon früher

Sørensen, „Eigene Rechtsordnungen“: Skizze zu einigen systemanalytischen Betrach-tungen über ein Problem der internationalen Organisation, in: FS Kutscher, 1981,S. 415; Wellens, Diversity in Secondary Rules and the Unity of International Law,Neth YB Int’l L 25 (1994), S. 3;Marschik, Subsysteme im Völkerrecht, 1997.

55 Romano, The Proliferation of International Judicial Bodies, NYU J Int’l L & Pol31 (1999), S. 709; Alford, The Proliferation of International Courts and Tribunals, AmSoc’y Int’l L Proc 94 (2000), S. 160; Buergenthal, Proliferation of International Courtsand Tribunals, Leiden J Int’l L 14 (2001), S. 267.

56 Vgl. MacCormick, Institutional Normative Order, Cornell L Rev 82 (1997),S. 1051 (1058).

57 EuGH, Urteil vom 15. Juli 1964, Rs. 6 /64, Slg. 1964, S. 1253 (1269 f.) – Costa ge-gen E.N.E.L.

58 Rules for Uniform Domain Name Dispute Resolution Policy, http: //www.icann.org/en/help/dndr/udrp/rules.

59 Vgl. zur Unterscheidung von Code und Programm in der Systemtheorie Luh-mann, Die Codierung des Rechtssystems, RTh 17 (1986), S. 171.

60 Teubner (Fn. 14), S. 201.61 MacCormick, Risking Constitutional Collision in Europe?, Oxford J Legal Stud

18 (1998), S. 517 (528); Krisch, Who is Afraid of Radical Pluralism?, Ratio Juris 24(2011), S. 386.

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3. Problematisierung

Ein radikaler Rechtspluralismus solcherart ruft normative Bedenken her-vor: „Am Faktum des Rechtspluralismus scheint sich die Einheitsfiktion desRechtssystems aufzulösen. Wie ist dann aber noch ein in wenigstens mini-maler Weise gerechtes, am Prinzip der Gleichbehandlung gleicher Fälle unddamit des Rechts auf Gleichheit aller Rechtsgenossen orientiertes, auf einkohärentes System von Normen gestütztes Entscheiden möglich?“62

Jede einzelne Teilrechtsordnung leidet an spezifischen Mängeln. Den völ-kerrechtlichen Regimes wird wegen ihrer Verfahren der exekutivischenRechtsetzung ein strukturelles und damit unbehebbares Demokratiedefizitunterstellt.63 Demgegenüber erscheinen die staatlichen Rechtsordnungen alsundemokratisch, soweit sie auf Außenstehende überwirken.64 In transnatio-nalen Regelungsarrangements wie ICANN, die zwar auf privatrechtlichenVerträgen beruhen, aber mitunter öffentliche Funktionen erfüllen,65 fehlt esderweil häufig an Grundrechtsschutz.66 So sind etwa in Fällen von „cyber-griping“67, in denen die Eintragung von Domainnamen beantragt wird, dieMarkennamen mit kritischen Zusätzen enthalten, Meinungsfreiheit einer-seits und Markenrecht andererseits zur Geltung zu bringen.

568 Lars Viellechner

62 Günther, Rechtspluralismus und universaler Code der Legalität, in: FS Haber-mas, 2001, S. 539 (541) (Hervorhebung weggelassen). Vgl. auch bezüglich der EUBaquero Cruz, The Legacy of the Maastricht-Urteil and the Pluralist Movement, EurLJ 14 (2008), S. 389; Eleftheriadis, Pluralism and Integrity, Ratio Juris 23 (2010),S. 365; Letsas, Harmonic Law: The Case Against Pluralism, in: Dickson/Eleftheriadis(Hrsg.), Philosophical Foundations of European Union Law, Oxford 2012, i.E. Dage-gen Krisch, The Case for Pluralism in Postnational Law, in: de Búrca/Weiler (Hrsg.),The Worlds of European Constitutionalism, Cambridge 2012, S. 203.

63 Vgl. Dahl, Can International Organizations Be Democratic?, in: Shapiro/Ha-cker-Cordón (Hrsg.), Democracy’s Edges, Cambridge 1999, S. 19; Føllesdal/Hix, WhyThere is a Democratic Deficit in the EU, J Common Mkt Stud 44 (2006), S. 533; Klein,Die Europäische Union und ihr demokratisches Defizit, in: FS Remmers, 1995, S. 195.Kritisch Majone, Europe’s „Democratic Deficit“: The Question of Standards, Eur LJ 4(1998), S. 5; Moravcsik, Is There a „Democratic Deficit“ in World Politics?, Gov’t &Opposition 39 (2004), S. 336.

64 Siehe oben bei Fn. 11.65 Vgl. Calliess, Transnational Civil Regimes, in: Gessner (Hrsg.), Contractual Cer-

tainty in International Trade, Oxford 2009, S. 215; Renner, Selbstgeschaffenes Rechtder Wirtschaft? Öffentliche Interessen in privaten Rechtsregimes, KJ 43 (2010), S. 62;Kingsbury u. a., The Emergence of Global Administrative Law, L & Contemp Probs68 (2005), S. 15; von Bogdandy u. a., Völkerrecht als öffentliches Recht, Der Staat 49(2010), S. 23.

66 Vgl. Teubner, Die anonyme Matrix: Zu Menschenrechtsverletzungen durch „pri-vate“ transnationale Akteure, Der Staat 45 (2006), S. 161; Ladeur/Viellechner, Dietransnationale Expansion staatlicher Grundrechte, AVR 48 (2008), S. 42.

67 Sorgen, Trademark Confronts Free Speech on the Information Superhighway:„Cybergripers“ Face a Constitutional Collision, Loy LA Ent L Rev 22 (2001), S. 115;Teubner/Karavas, http: //www.CompanyNameSucks.com: Drittwirkung der Grund-rechte gegenüber „Privaten“ im autonomen Recht des Internet?, in: Ladeur (Hrsg.),Innovationsoffene Regulierung des Internet, 2003, S. 249.

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Soweit die verschiedenen Teilrechtsordnungen sich in ihren Anwendungs-bereichen überschneiden, können die Rechtsunterworfenen zudem wider-sprüchlichen Normen ausgesetzt sein.68 Normenkonflikte ergeben sich nichtnur daraus, dass verschiedene Sekundärregeln die Anwendung gegenläufi-ger Normen vorschreiben, sondern auch dadurch, dass verschiedene Gerich-te die gleichermaßen anwendbaren Normen unterschiedlich auslegen. Sounterstellte etwa das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im „Caroline“-Fall die Veröffentlichung von Fotos aus dem Alltagsleben der prominentenBeschwerdeführerin dem Schutz der durch Art. 5 Abs. 1 S. 2 des Grund-gesetzes (GG) gewährleisteten Pressefreiheit,69 während der EuropäischeGerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine Verletzung des Rechts aufAchtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 Abs. 1 der EuropäischenMenschenrechtskonvention (EMRK) erkannte.70 Soweit einzelne Rechtsre-gimes eine funktionale Spezialisierung aufweisen, stellt sich umgekehrt dieFrage, ob und inwieweit auch sachbereichsfremde Normen zu beachtensind.71 So hatten etwa die Streitschlichtungsorgane der WTO im „Garnelen/Schildkröten“-Fall zu entscheiden, ob ein Regime des Freihandels auch denAnforderungen des Umweltschutzes genügen muss.72

III. Responsivität

1. Grundlegung

Wenn ein radikaler Rechtspluralismus unter diesen Umständen nichtwünschbar, die Errichtung einer universalen Rechtsordnung dagegen, unab-

Responsiver Rechtspluralismus 569

68 Vgl. MacCormick, Juridical Pluralism and the Risk of Constitutional Conflict, in:ders., Questioning Sovereignty, Oxford 1999, S. 97; Pauwelyn, Conflict of Norms inPublic International Law, Cambridge 2003; Hoffmann-Riem, Kohärenz der Anwen-dung europäischer und nationaler Grundrechte, EuGRZ 2002, S. 473. Schon früherJenks, The Conflict of Law-Making Treaties, Brit YB Int’l L 30 (1953), S. 401; Huber,Das Zusammentreffen der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrech-te und Grundfreiheiten mit den Grundrechten der Verfassungen, in: GS Peters, 1967,S. 375.

69 Vgl. BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 15. Dezember 1999, 1 BvR 653/96,BVerfGE 101, 361 – Caroline von Monaco II.

70 Vgl. EGMR, Urteil vom 24. Juni 2004, No. 59320/00 – Von Hannover gegenDeutschland.

71 Vgl. Charnovitz, Free Trade, Fair Trade, Green Trade, Cornell Int’l LJ 27 (1994),S. 459; Perez, Ecological Sensitivity and Global Legal Pluralism: Rethinking theTrade and Environment Conflict, Oxford 2004; Petersmann, Human Rights and theLaw of the World Trade Organization, J World Trade 37 (2003), S. 241; Young, Tra-ding Fish, Saving Fish: The Interaction Between Regimes in International Law, Cam-bridge 2011. Kritisch Alston, Resisting the Merger and Acquisition of Human Rightsby Trade Law, Eur J Int’l L 13 (2002), S. 815; Howse, Human Rights in the WTO:Whose Rights, What Humanity?, Eur J Int’l L 13 (2002), S. 651.

72 Vgl. WTO, Bericht des Appellate Body vom 12. Oktober 1998, AB-1998-4, WT/DS58/AB/R – United States/ Import Prohibition of Certain Shrimp and Shrimp Pro-ducts.

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hängig von normativen Einwänden, ebenso wenig möglich erscheint wie derRückzug auf die Staatsverfassung, dann sind Legitimität und Kohärenz desRechts in der Weltgesellschaft allenfalls durch eine horizontale Koordina-tion der verschiedenen staatlichen Rechtsordnungen, völkerrechtlichen Re-gimes und transnationalen Regelungsarrangements zu gewährleisten. Einentsprechendes Ordnungsprinzip, das ältere Vorstellungen von Souveränitätablöste, lässt sich als „Responsivität“73 bezeichnen.74 Danach wird die Au-ßenorientierung als Selbstverpflichtung in die innere Ordnung eingebaut.Die verschiedenen Teilordnungen legen sich also „interne Restriktionen“auf, „welche unter dem Gesichtspunkt des notwendigen Zusammenhangsund der unverzichtbaren Koordination des Ganzen reziproke Rücksichtnah-men auf die jeweiligen Bestandsbedingungen der anderen Teile erfordern“.75

Eine Ausprägung von Responsivität findet sich etwa für das Verhältnis vondeutscher Rechtsordnung und Völkerrecht sowie Recht der EU in denGrundsätzen der „Völkerrechtsfreundlichkeit“76 und „Europarechtsfreund-lichkeit“77 des Grundgesetzes.

Die Selbstverpflichtung beruht auf der Einsicht, dass jede Teilrechtsord-nung in der Weltgesellschaft eine Regulierungsaufgabe übernimmt, die kei-ne andere allein erfüllen kann, so dass zwischen ihnen ein Spannungsver-hältnis aus Unabhängigkeit und Abhängigkeit entsteht. Eine solche Einsichtsetzt zumindest die Fähigkeit zur „Selbstreflexion“78 voraus: Jede Teil-

570 Lars Viellechner

73 Begriff nach Nonet/Selznick, Law and Society in Transition: Toward ResponsiveLaw, New York 1978, S. 14 ff., 73 ff., dort aber mit etwas anderer Bedeutung: „law asa facilitator of response to social needs and aspirations“. Ähnlich zuvor bereits Frank,Mr. Justice Holmes and Non-Euclidean Legal Thinking, Cornell LQ 17 (1932), S. 568(586): „to improve the judicial system, to make it more efficient, more responsive tosocial needs“; Hurst, Problems of Legitimacy in the Contemporary Legal Order, OklaL Rev 24 (1971), S. 224 (225, 229): „a responsive, responsible legal order“, das heißt„capable of positive response to changes in the social context“. Vgl. auch die An-schlüsse bei Teubner, Reflexives Recht, ARSP (1982), S. 13.

74 Vgl. auch MacCormick, On Sovereignty and Post-Sovereignty, in: ders. (Fn. 68),S. 123: „post-sovereignty“; Walker, Late Sovereignty in the European Union, in: ders.(Hrsg.), Sovereignty in Transition, Oxford 2003, S. 3: „late sovereignty“; Delmas-Marty, Le pluralisme ordonné, Paris 2006: „pluralisme ordonné“.

75 Willke, Ironie des Staates, 1992, S. 78 (Hervorhebung weggelassen), in Bezug aufverschiedene Sozialsysteme.

76 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 26. März 1957, 2 BvG 1/55, BVerfGE 6,309 (362) – Reichskonkordat; Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzesfür eine internationale Zusammenarbeit, 1964, S. 42: „Verfassungsentscheidung füreine ‚offene‘ Staatlichkeit“ (Hervorhebung weggelassen); Bleckmann, Der Grundsatzder Völkerrechtsfreundlichkeit der deutschen Rechtsordnung, DÖV 1996, S. 137;Payandeh, Völkerrechtsfreundlichkeit als Verfassungsprinzip, JöR NF 57 (2009),S. 465.

77 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juni 2009, 2 BvE 2/08 u. a., BVerfGE123, 267 (347) – Lissabon-Vertrag; Mayer, Europarechtsfreundlichkeit und Europa-rechtsskepsis in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Giegerich(Hrsg.), Der „offene Verfassungsstaat“ des Grundgesetzes nach 60 Jahren, 2010,S. 237.

78 Luhmann, Selbstreflexion des Rechtssystems, RTh 10 (1979), S. 159.

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rechtsordnung muss sich in die Rolle der anderen versetzen können, um ausderen Perspektive die eigenen Wirkungen zu beurteilen. Responsivität meintdann genauer eine Kombination aus Komplementarität und Subsidiarität:Einerseits dürfen die verschiedenen Teilrechtsordnungen ihren Anwen-dungsbereich ausdehnen, soweit infolge von Lücken in fremdem Recht derBedarf zur Ergänzung besteht. Andererseits müssen sie ihren Anwendungs-bereich zurücknehmen, soweit infolge von Überschneidungen die Notwen-digkeit zur Beschränkung besteht. In keinem Fall ist dabei jedoch die Preis-gabe der eigenen Identität verlangt.

Die Abstimmung bleibt freilich prekär, wenn sie lediglich dem informalenAustausch und dem gegenseitigen Vertrauen der für die Rechtsanwendungzuständigen Stellen überantwortet wird. Eine solche Zusammenarbeit lässtsich inzwischen zwar tatsächlich feststellen. So beobachtet Anne-MarieSlaughter die Herausbildung von „global government networks“79, in deneneinzelne Staatsorgane unmittelbar mit ihren ausländischen Entsprechungenin Beziehung treten. Insbesondere sieht sie eine „global community ofcourts“80 im Entstehen begriffen, der sich auch internationale Gerichte undnicht-staatliche Schiedsgerichte eingliederten und die sich auszeichne durch„a respect for foreign courts qua courts, rather than simply as the face of aforeign government, and hence for their ability to resolve disputes and inter-pret and apply the law honestly and competently“81. Obwohl sich, jedenfallsin Europa, auch die Gerichte selbst zu einem solchen „Kooperationsverhält-nis“82 bekennen, entzieht sich der daraus folgende „judicial dialogue“83 bis-lang aber einer rechtlichen Regelung.

Responsiver Rechtspluralismus 571

79 Slaughter, Government Networks: The Heart of the Liberal Democratic Order,in: Fox/Roth (Hrsg.), Democratic Governance and International Law, Cambridge2000, S. 199; dies., Governing the Global Economy through Government Networks, in:Byers (Hrsg.), The Role of Law in International Politics, Oxford 2000, S. 177; dies.,Global Government Networks, Global Information Agencies, and DisaggregatedDemocracy, Mich J Int’l L 24 (2003), S. 1041. Vgl. auch Raustiala, The Architecture ofInternational Cooperation: Transgovernmental Networks and the Future of Interna-tional Law, Va J Int’l L 43 (2002), S. 1.

80 Slaughter, A Global Community of Courts, Harv Int’l LJ 44 (2003), S. 191. Vgl.auch dies., Court to Court, Am J Int’l L 92 (1998), S. 708; Burke-White, A Communityof Courts, Mich J Int’l L 24 (2002), S. 1; Baudenbacher, Judicial Globalization, TexInt’l LJ 38 (2003), S. 505.

81 Slaughter, Judicial Globalization, Va J Int’l L 40 (2000), S. 1103 (1113).82 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 12. Oktober 1993, 2 BvR 2134/92 u. a.,

BVerfGE 89, 155 (175) – Maastricht-Vertrag. Vgl. auch Kirchhof, Das Kooperations-verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof, in:Müller-Graff (Hrsg.), Perspektiven des Rechts in der Europäischen Union, 1998,S. 163; Limbach, Die Kooperation der Gerichte in der zukünftigen europäischenGrundrechtsarchitektur, EuGRZ 2000, S. 417; Jaeger, Menschenrechtsschutz im Her-zen Europas: Zur Kooperation des Bundesverfassungsgerichts mit dem EuropäischenGerichtshof für Menschenrechte und dem Gerichtshof der Europäischen Gemein-schaften, EuGRZ 2005, S. 193; Garlicki, Cooperation of Courts: The Role of Suprana-tional Jurisdictions in Europe, Int’l J Const’l L 6 (2008), S. 509; Voßkuhle, Der europä-ische Verfassungsgerichtsverbund, NVwZ 2010, S. 1.

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Die Einrichtung von Responsivität im Recht erfordert daher ein neuarti-ges „Kollisionsrecht“84, das sich am Vorbild des Internationalen Privatrechtsorientiert.85 MitMiguel Maduro lässt sich ein solches Recht auch als „contra-punctual law“ umschreiben: „Counterpoint is the musical method of harmo-nising different melodies that are not in a hierarchical relationship inter se.The discovery that different melodies could be heard at the same time in anharmonic manner was one of the greatest developments in musical historyand greatly enhanced the pleasure and art of music. In law we too have tomanage the non-hierarchical relationship between different legal orders andinstitutions and to discover how to gain from the diversity and choices there-by offered to us without generating conflicts that ultimately will destroythose legal orders and the values they sustain.“86 Ein solches Recht schöpftseine Möglichkeiten allerdings nicht aus, wenn es sich lediglich als „Inter-systemkollisionsrecht der nicht-normativen Art“ darstellt, „das bei Regime-Kollisionen nicht mehr auf das Recht verschiedener Regimes verweist, son-dern auf nicht-rechtliche Kollisionslösungen“ wie etwa politische Aushand-lung.87 Vielmehr muss es ebenso wie das Internationale Privatrecht in be-stimmten Fällen mit transnationalem Bezug die Anwendbarkeit des eigenenRechts zurücknehmen und stattdessen auf fremdes Recht verweisen. Esmuss dabei sogar einen Schritt über die Logik des Internationalen Privat-rechts hinausgehen. Gefragt ist nicht nur nach „Transferenz-Regeln“, dieeinseitig nach Belieben gesetzt werden und lediglich „Minimalbedingungenwechselseitiger Kompatibilität und Verträglichkeit“ garantieren, sondernnach „Konferenz-Regeln“, die in bestimmten Verhältnissen allseitig gewährtwerden und „eine emergente Realität des Ganzen aus der wechselseitigen

572 Lars Viellechner

83 L’Heureux-Dubé, The Importance of Dialogue: Globalization and the Internatio-nal Impact of the Rehnquist Court, Tulsa LJ 34 (1998), S. 15; Jacobs, Judicial Dialogueand the Cross-Fertilization of Legal Systems, Tex Int’l LJ 38 (2003), S. 547; Bryde,The Constitutional Judge and the International Constitutionalist Dialogue, Tul L Rev80 (2005), S. 203; Kirby, Transnational Judicial Dialogue, Internationalisation of Lawand Australian Judges, Melb J Int’l L 9 (2008), S. 171.

84 Fischer-Lescano /Teubner (Fn. 54), S. 57 ff.; Joerges, A New Type of ConflictsLaw as the Legal Paradigm of the Postnational Constellation, in: ders. /Falke (Fn. 27),S. 465; Berman, Conflict of Laws, Globalization, and Cosmopolitan Pluralism, WayneL Rev 51 (2005), S. 1105; Knop u. a., Transdisciplinary Conflict of Laws, L & ContempProbs 71 (2008), S. 1; Vesting, Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihresGegenstandes: Konsequenzen von Europäisierung und Internationalisierung,VVDStRL 63 (2004), S. 41 (66 f.). Schon früherWiethölter, Begriffs- oder Interessenju-risprudenz: Falsche Fronten im IPR und Wirtschaftsverfassungsrecht, in: FS Kegel,1977, S. 213.

85 Vgl. Wai, Conflicts and Comity in Transnational Governance: Private Internatio-nal Law as Mechanism and Metaphor for Transnational Social Regulation throughPlural Legal Regimes, in: Joerges/Petersmann (Hrsg.), Constitutionalism, MultilevelTrade Governance and Social Regulation, Oxford 2006, S. 229.

86 Maduro, Contrapunctual Law: Europe’s Constitutional Pluralism in Action, in:Walker (Fn. 74), S. 524.

87 Fischer-Lescano /Teubner (Fn. 54), S. 128.

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Selbstbindung und Selbstbeschränkung autonomer Teile“ erzeugen.88 Einer-seits meint Responsivität daher mehr als „comitas“89. Andererseits mündetdas transnationale Kollisionsrecht aber nicht in ein universales Einheits-recht.

Die Aussichten darauf, dass eine horizontale Koordination der verschie-denen staatlichen Rechtsordnungen, völkerrechtlichen Rechtsregimes undtransnationalen Regelungsarrangements durch ein transnationales Kolli-sionsrecht gelingt, sind aus zwei Gründen besonders günstig. Zum einen be-darf es nicht der Einigung auf substantielle Normen,90 sondern nur der Ver-ständigung über einzelne Abstimmungsregeln. Die Einbuße ist daher gering.Zum anderen erwächst aus der Selbstbeschränkung im Austausch die Mög-lichkeit der gegenseitigen Einflussnahme. Der Nutzen ist daher groß.

Der Herausbildung eines responsiven Rechts in der Weltgesellschaft ste-hen auch nicht jene Hindernisse entgegen, auf die ein „reflexives Recht“91

zur Integration verschiedener gesellschaftlicher Teilsysteme stößt. Jenemwird, freilich bislang nur innerhalb des Staates,92 die Aufgabe zugedacht,„strukturelle Voraussetzungen für Reflexionsprozesse in anderen Sozialsys-temen“93 zu schaffen. Eine solche Vermittlung der Abstimmung von ver-schiedenen Sozialsystemen durch das Recht gestaltet sich ungleich schwieri-ger als die Abstimmung von verschiedenen Rechtsordnungen untereinander.Zum einen ist es aus systemtheoretischer Perspektive kaum vorstellbar,„daß man vom Recht aus die Autopoiesis aller Sozialsysteme kontrollierenund regulieren könnte – etwa im Sinne der Regulierung von Selbstregulie-rung“94. Demgegenüber kommt im Recht der Weltgesellschaft einer einzel-nen Teilordnung eine herausgehobene Stellung nicht einmal als Moderatoroder Katalysator zu. Zum anderen ist die Verständigung zwischen verschie-denen Sozialsystemen unwahrscheinlich, sofern diese nicht „über eine we-nigstens partiell gemeinsame Sprache verfügen“95. Dagegen kann die Ab-

Responsiver Rechtspluralismus 573

88 Willke (Fn. 75), S. 346, 349 (Hervorhebungen weggelassen), mit Bezug auf dieAbstimmung von verschiedenen Sozialsystemen.

89 Yntema, The Comity Doctrine, in: FS Dölle, Bd. 2, 1963, S. 65; Paul, Comity inInternational Law, Harv Int’l LJ 32 (1991), S. 1.

90 So aber Maduro (Fn. 86), S. 524 ff.; Kumm (Fn. 11), S. 272 ff. Die Verpflichtungauf einige der dort genannten Prinzipien folgt aber schon aus der Zugehörigkeit zumRechtssystem, vgl. Kingsbury, The Concept of „Law“ in Global Administrative Law,Eur J Int’l L 20 (2009), S. 23. Demgegenüber mündet die Forderung darüber hinaus-gehender Gemeinsamkeiten in einen verdeckten Monismus, vgl. Somek, Monism: ATale of the Undead, in: Avbelj /Komárek (Fn. 44), S. 343.

91 Teubner (Fn. 73); ders. /Willke, Kontext und Autonomie: Gesellschaftliche Selbst-steuerung durch reflexives Recht, ZfRSoz 5 (1984), S. 4.

92 Deutlich Willke (Fn. 75), S. 192: „Recht als Steuerungsinstrument staatlich orga-nisierter Politik“.

93 Teubner (Fn. 73), S. 50 f.94 Luhmann, Einige Probleme mit „reflexivem Recht“, ZfRSoz 6 (1985), S. 1 (7).95 Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, S. 421.

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stimmung von verschiedenen Rechtsordnungen ohne Übersetzungsproblemeüber einen „universalen Code der Legalität“96 erfolgen.

2. Ausgestaltung

Die Herausbildung eines transnationalen Kollisionsrechts ist inzwischentatsächlich zu beobachten. Vereinzelt finden sich bereits ausdrücklicheRegelungen. Eine Komplementaritätsregel enthält etwa das InternationaleStrafrecht.97 Nach Art. 17 Abs. 1 lit. a des Statuts des InternationalenStrafgerichtshofs (StIStGH) ist ein Verfahren vor dem Gerichtshof nurzulässig, wenn ein Staat „nicht willens oder nicht in der Lage [ist], dieErmittlungen oder die Strafverfolgung ernsthaft durchzuführen“98. EineSubsidiaritätsregel weist demgegenüber das Regime des europäischen Men-schenrechtsschutzes auf.99 Nach Art. 53 EMRK ist die Konvention „nicht soauszulegen, als beschränke oder beeinträchtige sie Menschenrechte undGrundfreiheiten, die in den Gesetzen einer Hohen Vertragspartei oder ineiner anderen Übereinkunft, deren Vertragspartei sie ist, anerkannt wer-den“100. Der Gedanke, dass Responsivität in keinem Fall zur Aufgabe dereigenen Identität führen darf, kommt wiederum deutlich im Recht der EUzum Ausdruck.101 Nach Art. 4 Abs. 2 des Vertrags über die EuropäischeUnion (EUV) achtet die Union „die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor denVerträgen und ihre jeweilige nationale Identität, die in ihren grundlegendenpolitischen und verfassungsmäßigen Strukturen einschließlich der regiona-len und lokalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt“102.

Häufig scheitern solche ausdrücklichen Regelungen derzeit noch an demMangel von Erfahrung und der Vielfalt der zu regelnden Beziehungen. Hilfs-

574 Lars Viellechner

96 Günther (Fn. 62), S. 558.97 Vgl. El Zeidy, The Principle of Complementarity: A New Machinery to Imple-

ment International Criminal Law, Mich J Int’l L 23 (2002), S. 869; Burke-White,Proactive Complementarity: The International Criminal Court and National Courts inthe Rome System of International Justice, Harv Int’l LJ 49 (2008), S. 53; Stahn, Com-plementarity: A Tale of Two Notions, Crim LF 19 (2008), S. 87.

98 Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17. Juli 1998, BGBl.2000 II, S. 1394 (1407).

99 Vgl. Petzold, The Convention and the Principle of Subsidiarity, in: Macdonaldu. a. (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, Dordrecht1993, S. 41; Ridruejo, Le principe de subsidiarité dans la Convention européenne desdroits de l’homme, in: FS Ress, 2005, S. 1077.

100 Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. No-vember 1950, BGBl. 2010 II, S. 1199 (1215).

101 Vgl. Lerche, Achtung der nationalen Identität, in: FS Schippel, 1996, S. 919; vonBogdandy/Schill, Die Achtung der nationalen Identität unter dem reformiertenUnionsvertrag, ZaöRV 70 (2010), S. 701; Pernice, Der Schutz nationaler Identität inder Europäischen Union, AöR 136 (2011), S. 185.

102 Vertrag über die Europäische Union in der Fassung des Vertrags von Lissabonvom 13. Dezember 2007, BGBl. 2008 II, S. 1039 (1042).

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weise wird das transnationale Kollisionsrecht daher von der Rechtsprechungin „dialectical interaction“ entwickelt, das heißt durch „a recurrent patternof dialectical engagement, critique, and counsel, from which learning andinnovation can emerge“.103 Die Aufnahme eines Kooperationsverhältnissesdurch die Gerichte setzt die Responsivität der verschiedenen Rechtsordnun-gen somit immer schon voraus. Zugleich liegt es maßgeblich an den Gerich-ten, zu der Entwicklung der dazu benötigten Rechtsinstitute beizutragen.104

Der Umstand, dass die Abstimmungsregeln zuvörderst aus der Rechtspre-chung hervorgehen, darf allerdings nicht zu dem Missverständnis verleiten,dass es sich dabei um Regeln über das Verhältnis von Institutionen105 oderum prozessuale Regeln106 handelt. Vielmehr steht das Verhältnis von ver-schiedenen Rechtsordnungen zueinander in Frage, das sich über Kollisions-regeln bestimmt. Erst aus dem danach anwendbaren Recht können sichdann etwaige Zuständigkeiten von Organen oder Bindungen an Vorentschei-dungen anderer Gerichte ergeben.

Das BVerfG hat sich bei der Entwicklung eines transnationalen Kolli-sionsrechts als besonders innovativ hervorgetan, ohne freilich den Begriff zuverwenden. Zunächst hat es für das Verhältnis von deutscher Rechtsordnungund Recht der EU eine Subsidiaritätsregel mit Vorbehalt formuliert, die als„Solange“-Formel bekannt geworden ist. Danach überprüft es Sekundär-recht der EU, das als Rechtsgrundlage für ein Verhalten von deutschenGerichten und Behörden herangezogen wird, nicht mehr am Maßstab derGrundrechte des GG, solange die EU einen Schutz der Grundrechte gewähr-leistet, „der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechts-schutz im wesentlichen gleichzuachten ist, zumal den Wesensgehalt derGrundrechte generell verbürgt“107. Dieser Gedanke hat später auch Eingangin die Rechtsprechung des EGMR zum Verhältnis von EMRK und Recht derEU gefunden. Danach ist ein staatlicher Eingriff in Konventionsrechte, mitdem Verpflichtungen aus der Mitgliedschaft in einer internationalen Organi-

Responsiver Rechtspluralismus 575

103 Ahdieh, Between Dialogue and Decree: International Review of NationalCourts, NYU L Rev 79 (2004), S. 2029 (2035).

104 Vgl. Teitel /Howse, Cross-Judging: Tribunalization in a Fragmented but Inter-connected Global Order, NYU J Int’l L & Pol 41 (2009), S. 959; Allard/Garapon, Lesjuges dans la mondialisation: La nouvelle révolution du droit, Paris 2005; Cassese, Itribunali di Babele: I giudici alla ricerca di un nuovo ordine globale, Rom 2009; Oeter,Rechtsprechungskonkurrenz zwischen nationalen Verfassungsgerichten, Europä-ischem Gerichtshof und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte, VVDStRL 66(2007), S. 361.

105 So Young, Institutional Settlement in a Globalizing Judicial System, Duke LJ54 (2005), S. 1143.

106 So Martinez, Towards an International Judicial System, Stan L Rev 56 (2003),S. 429 (477 ff.). Ferner Kirchhof, Nach vierzig Jahren: Gegenwartsfragen an dasGrundgesetz, JZ 1989, S. 453 (454), für das Verhältnis von deutscher Rechtsordnungund Recht der EU.

107 BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 22. Oktober 1986, 2 BvR 197/83,BVerfGE 73, 339 (387) – Solange II.

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sation erfüllt werden, „justified as long as the relevant organisation is consi-dered to protect fundamental rights, as regards both the substantive guaran-tees offered and the mechanisms controlling their observance, in a mannerwhich can be considered at least equivalent to that for which the Conventionprovides“.108 Der EuGH wiederum hat in derselben Logik für das Verhältnisvon Recht der EU und Recht der Vereinten Nationen (VN) eine Komplemen-taritätsregel formuliert. Danach hat er eine Verordnung der EU, mit der eineResolution des Sicherheitsrats der VN umgesetzt worden war, die den Mit-gliedstaaten das Einfrieren von Finanzmitteln des Terrorismus verdächtig-ter Personen aufgegeben hatte, vollumfänglich am Maßstab der europä-ischen Grundrechte überprüft, weil das Verfahren der Kontrolle durch denSanktionsausschuss des Sicherheitsrats der VN „offenkundig nicht die Ga-rantien eines gerichtlichen Rechtsschutzes bietet“109.

Für das Verhältnis der deutschen Rechtsordnung zur EMRK sowie zuanderen völkerrechtlichen Verträgen hat das BVerfG aus dem Grundsatzder Völkerrechtsfreundlichkeit des GG eine weitere Subsidiaritätsregel mitVorbehalt entwickelt. Danach sind alle staatlichen Behörden und Gerichteverpflichtet, die Bestimmungen völkerrechtlicher Verträge und die dazuergangenen Entscheidungen internationaler Gerichte bei ihren Entschei-dungen zu „berücksichtigen“110, das heißt zu befolgen, sofern daraus nichtein Ergebnis folgt, das mit wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechts-ordnung offensichtlich unvereinbar ist.111 Im Gegenzug räumt der EGMRden Vertragsparteien der EMRK bei der Einschränkung bestimmter Kon-ventionsrechte einen „margin of appreciation“112 ein, der zu einer Rücknah-me der europäischen Kontrolle führt, wenn in einem bestimmten Sachbe-reich nationale Besonderheiten rechtlicher oder tatsächlicher Art bestehen.Es ist nicht ausgeschlossen, dass Kollisionsregeln, die sich in ständigerRechtsprechung als „best practices“113 bewährt haben, später kodifiziert

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108 EGMR, Urteil der Großen Kammer vom 30. Juni 2005, No. 45036/98, § 155 –Bosphorus gegen Irland.

109 EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 3. September 2008, Rs. C-402/05 P u. a.,Slg. 2008, I-6351, Rn. 322 –Kadi/Al Barakaat gegen Rat/Kommission.

110 BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 14. Oktober 2004, 2 BvR 1481/04,BVerfGE 111, 307 (315) – Görgülü; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom19. September 2006, 2 BvR 2115/01 u. a., BVerfGK 9, 174 (191) – Wiener Konsular-rechtsübereinkommen.

111 Vgl. Viellechner, Berücksichtigungspflicht als Kollisionsregel, in: Matz-Lück/Hong (Hrsg.), Grundrechte und Grundfreiheiten im Mehrebenensystem, 2012, S. 109.Anders Grupp/Stelkens, Zur Berücksichtigung der Gewährleistungen der Europä-ischen Menschenrechtskonvention bei der Auslegung deutschen Rechts, DVBl. 2005,S. 133; Sauer, Die neue Schlagkraft der gemeineuropäischen Grundrechtsjudikatur,ZaöRV 65 (2005), S. 35; Payandeh, Die verfassungsrechtliche Stärkung der internatio-nalen Gerichtsbarkeit, AVR 45 (2007), S. 244.

112 EGMR, Urteil des Plenums vom 7. Dezember 1976, No. 5493/72, §48 – Handy-side gegen Vereinigtes Königreich.

113 Zaring, Best Practices, NYU L Rev 81 (2006), S. 294.

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werden. So nimmt etwa Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG in seiner Neufassung dieRechtsprechung des BVerfG zum Verhältnis von deutscher Rechtsordnungund Recht der EU auf.114 Danach wirkt die Bundesrepublik Deutschland beider Entwicklung einer EU mit, die „einen diesem Grundgesetz im wesentli-chen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet“115.

3. Fortentwicklung

Die bislang erst von einigen Teilrechtsordnungen in Ansätzen entwickel-ten Kollisionsregeln bedürfen noch weiterer Ausformung und Verbrei-tung.116 Zum einen müssen die Kollisionsregeln inhaltlich fortentwickeltwerden. Hinsichtlich der Komplementaritätsregeln ist es erforderlich, ver-schiedene „levels of intensity“117 der Anwendungserstreckung zu entwi-ckeln. Dabei kann etwa die Unterscheidung zwischen „strict scrutiny“,„intermediate review“ und „rational basis test“, die innerhalb von einigenstaatlichen Rechtsordnungen bei der Überprüfung der Verfassungsmäßig-keit von Gesetzen gebräuchlich ist, eine Orientierungshilfe leisten. Hinsicht-lich der Subsidiaritätsregeln steht die Aufgabe an, eine „methodology fordeference“118 zu erarbeiten. Dazu bietet sich ein „continuum“

119 der abge-stuften Anerkennung fremden Rechts an, wie es Roger Alford für das Ver-hältnis der US-amerikanischen Rechtsordnung zu verschiedenen anderenRechtsordnungen, Rechtsregimes und Regelungsarrangements vorgeschla-gen hat. Einzelne Kollisionsregeln wie der Beurteilungsspielraum, die be-reits in manchen Rechtsregimes zur Anwendung kommen, dort aber ange-sichts ihrer Unklarheit auf Kritik stoßen,120 verlangen zudem nach weiterer

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114 Vgl. Di Fabio, Der neue Art. 23 des Grundgesetzes: Positivierung vollzogenenVerfassungswandels oder Verfassungsneuschöpfung?, Der Staat 32 (1993), S. 191;Schmalenbach, Der neue Europaartikel 23 des Grundgesetzes im Lichte der Arbeitder Gemeinsamen Verfassungskommission, 1996.

115 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 21. Dezember 1992, BGBl. 1992 I,S. 2086 (2086).

116 Vgl. für das Verhältnis von internationalen Menschenrechten und Grundrechtender Staatsverfassungen Sauer, Grundrechtskollisionsrecht für das europäische Mehr-ebenensystem, in: Matz-Lück/Hong (Fn. 111), S. 1.

117 Gerards, Pluralism, Deference and the Margin of Appreciation Doctrine, Eur LJ17 (2011), S. 80 (88).

118 Alford, Federal Courts, International Tribunals, and the Continuum of Defe-rence, Va J Int’l L 43 (2003), S. 675 (682).

119 Ebd., S. 683 ff.: „full faith and credit model“ – „arbitration model“ – „foreignjudgment model“ – „Charming Betsy model“ – „Paquete Habana model“ – „specialmaster model“ – „no deference model“.

120 Vgl. Lavender, The Problem of the Margin of Appreciation, Eur Hum Rts LRev 4 (1997), S. 380; Brauch, The Margin of Appreciation and the Jurisprudence ofthe European Court of Human Rights: Threat to the Rule of Law, Colum J Eur L 11(2005), S. 113; Letsas, Two Concepts of the Margin of Appreciation, Oxford J LegalStud 26 (2006), S. 705. Grundsätzliche Kritik aus universalistischer Perspektive beiBenvenisti, Margin of Appreciation, Consensus, and Universal Standards, NYU J

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Präzisierung. Für den europäischen Grundrechtsschutz in mehrpoligenRechtsverhältnissen zum Beispiel wird derzeit empfohlen, den Beurteilungs-spielraum als „Korridor“121 mehrerer gleichermaßen vertretbarer Lösungenaufzufassen.

Zum anderen müssen die Kollisionsregeln wechselseitig in allen Teil-rechtsordnungen etabliert werden. Ein schärfer konturierter Beurteilungs-spielraum etwa erscheint als verallgemeinerungsfähige Subsidiaritätsregelfür alle internationalen Menschenrechtsverträge.122 Er mag sich auch alsGrundregel für das Verhältnis zwischen weiteren völkerrechtlichen Rechts-regimes und staatlichen Rechtsordnungen123 sowie zwischen völkerrechtli-chen Rechtsregimes untereinander eignen.124 Demgegenüber müssen geeig-nete Kollisionsregeln für das Verhältnis von staatlichen Rechtsordnungenund transnationalen Regelungsarrangements überhaupt erst entworfen wer-den. Hier ist an einen ergänzenden Grundrechtsschutz seitens der staatli-chen Rechtsordnungen zu denken,125 solange die transnationalen Regelungs-arrangements einen solchen nicht gewährleisten.126 Es wäre dann aber nichtsachgerecht, wenn die Gerichte ausschließlich die Grundrechte der eigenenRechtsordnung anwendeten. Vielmehr müssten sie das anwendbare Rechtnach einer Methode bestimmen, die in der Lehre vom Internationalen Pri-vatrecht als „substantive law approach“ bezeichnet wird. Danach ist in Fäl-

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Int’l L & Pol 31 (1999), S. 843; Gross, „Once More unto the Breach“: The SystemicFailure of Applying the European Convention on Human Rights to EntrenchedEmergencies, Yale J Int’l L 23 (1998), S. 437; Marks, Civil Liberties at the Margin:The UK Derogation and the European Court of Human Rights, Oxford J Legal Stud15 (1995), S. 69.

121 Hoffmann-Riem, Kontrolldichte und Kontrollfolgen beim nationalen und euro-päischen Schutz von Freiheitsrechten in mehrpoligen Rechtsverhältnissen, EuGRZ2006, S. 492 (497); Lübbe-Wolff, Der Grundrechtsschutz nach der Europäischen Men-schenrechtskonvention bei konfligierenden Individualrechten: Plädoyer für eine Kor-ridor-Lösung, in: Hochhuth (Hrsg.), Nachdenken über Staat und Recht, 2010, S. 193;Masing, Vielfalt nationalen Grundrechtsschutzes und die einheitliche Gewährleistungder EMRK, in: FS Krämer, 2009, S. 61 (69): „EMRK als Rahmengarantie“.

122 Vgl. Carozza, Subsidiarity as a Structural Principle of International HumanRights Law, Am J Int’l L 97 (2003), S. 38; Shelton, Subsidiarity and Human Rights,Hum Rts LJ 27 (2006), S. 4; Donoho, Autonomy, Self-Governance, and the Margin ofAppreciation: Developing a Jurisprudence of Diversity within Universal HumanRights, Emory Int’l L Rev 15 (2001), S. 391.

123 Vgl. Delmas-Marty/ Izorche, Marge nationale d’appréciation et internationali-sation du droit, Rev int dr comp 52 (2000), S. 753. Für das Verhältnis von Recht derEU und staatlichen Rechtsordnungen Sweeney, A „Margin of Appreciation“ in the In-ternal Market: Lessons from the European Court of Human Rights, Legal Issues EconIntegration 34 (2007), S. 27;Gerards (Fn. 117), S. 102 ff.

124 Vgl. Shany, Toward a General Margin of Appreciation Doctrine in InternationalLaw?, Eur J Int’l L 16 (2005), S. 907.

125 Vgl. Viellechner (Fn. 27), S. 455 ff.126 Vgl. zur allmählichen Herausbildung von Verfassungsnormen in transnatio-

nalen Regelungsarrangements Renner, Zwingendes transnationales Recht, 2011,S. 91 ff.

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len mit transnationalem Bezug eine neue Sachnorm aus allen beteiligtenRechtsordnungen zu bilden: „[T]he views of all legal orders which have sig-nificant claims to control a multistate situation should be recognized accor-ding to the degree of concern each possesses in the given situation.“127 Diestaatlichen Gerichte erfahren damit ein „dédoublement fonctionnel“128, wiees Georges Scelle schon früher in Bezug auf die Durchsetzung des Völker-rechts beobachtet hat. Einerseits handeln sie als staatliche Organe. Anderer-seits dienen sie als „cosmopolitan transnational actors“129 einer transnatio-nalen Herrschaft des Rechts.

IV. Schlussfolgerung

In der Weltgesellschaft kommt es folglich nicht zu einer Verdrängung vonnormativen Strukturen durch kognitive Mechanismen der Erwartungsein-stellung, sondern zu deren Vermengung: Die Lernfähigkeit wird in das Rechteingebaut.130 Durch wechselseitige Beobachtung und Übernahme fremderNormen passen sich die verschiedenen staatlichen Rechtsordnungen, völker-rechtlichen Regimes und transnationalen Regelungsarrangements allmäh-lich aneinander an. „Dieser Einbau kognitiver Mechanismen in die an sichnormative Struktur des Rechts scheint der Entwicklung einer Weltgesell-schaft zu entsprechen“, befand auch Luhmann später entgegen seineranfänglichen Vermutung: „Weltweite Strukturbildungen und deren Folge-probleme, Interaktionszusammenhänge und deren Unbalanciertheiten,‚regieren‘ das regional in Geltung gesetzte positive Recht nicht in der Formeiner übergreifenden Normierung, eines höherstufigen überstaatlichen unddamit überpositiven Rechts, sondern dadurch, daß der Dynamismus derWeltgesellschaft Lernanlässe setzt, vielleicht Lernpressionen ausübt undeine gewisse Nicht-Beliebigkeit von Problemlösungen vorzeichnet.“131 In der

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127 von Mehren, Special Substantive Rules for Multistate Problems, Harv L Rev 88(1974), S. 347 (371). Vgl. auch Juenger, The Need for a Comparative Approach toChoice-of-Law Problems, Tul L Rev 73 (1999), S. 1309 (1331 ff.); McDougal, III, „Pri-vate“ International Law: Ius Gentium Versus Choice of Law Rules or Approaches, AmJ Comp L 38 (1990), S. 521 (536 f.); Langen, Transnationales Recht, 1981. Anschlüssein der gegenwärtigen Rechtstheorie bei Dinwoodie, A New Copyright Order: Why Na-tional Courts Should Create Global Norms, U Pa L Rev 149 (2000), S. 469 (542 ff.);Berman, Towards a Cosmopolitan Vision of Conflict of Laws, U Pa L Rev 153 (2005),S. 1819 (1852 ff.); Teubner/Korth, Zwei Arten des Rechtspluralismus: Normkollisio-nen in der doppelten Fragmentierung des Weltgesellschaft, in: Kötter/Schuppert(Hrsg.), Normative Pluralität ordnen, 2009, S. 137 (153).

128 Scelle, Le phénomène juridique du dédoublement fonctionnel, in: FS Wehberg,1956, S. 324.

129 Berman, Judges as Cosmopolitan Transnational Actors, Tulsa J Comp & Int’l L12 (2004), S. 109.

130 Vgl. Ladeur, Die Akzeptanz von Ungewißheit: Ein Schritt auf dem Weg zu ei-nem „ökologischen“ Rechtskonzept, in: Voigt (Hrsg.), Recht als Instrument der Poli-tik, 1986, S. 60.

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gegenseitigen Anfechtung und Anerkennung der verschiedenen Teilrechts-ordnungen mag dann zugleich eine neue Form der Demokratie zu entdeckensein.132

Der responsive Rechtspluralismus eröffnet damit einen Mittelweg, dernicht nur die überkommene dualistische Vorstellung von staatlicher Souve-ränität und die unerreichbare monistische Vision von weltstaatlicher Uni-versalität überwindet, sondern auch die postmoderne Zumutung von radika-ler Partikularität vermeidet. Wie Paul Berman bemerkt, mag ein solcherKompromiss niemanden vollauf zu befriedigen: „Sovereigntists will objectto the idea that nation-states should ever take into account international,transnational, or non-state norms. Universalists, for their part, will chafe atthe idea that international norms should ever be subordinated to local prac-tices that may be less liberal or less rights-protecting. And even hard-linepluralists will complain that a view focusing on how official actors respondto hybridity is overly state-centric.“133 Immerhin ist damit aber mehr alsbloße „Schadensbegrenzung“134 zu leisten. Ein verheißungsvolleres Modellfür das Recht der Weltgesellschaft ist derzeit nicht in Sicht.

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131 Luhmann (Fn. 16), S. 340 f.132 Vgl. Ladeur, Globalization and the Conversion of Democracy to Polycentric

Networks, in: ders. (Hrsg.), Public Governance in the Age of Globalization, Aldershot2004, S. 89; Krisch (Fn. 14), S. 264 ff.

133 Berman (Fn. 14), S. 1165.134 Fischer-Lescano /Teubner (Fn. 54), S. 170.