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RETO U. SCHNEIDER Das Buch der verrückten Experimente

RETO U. SCHNEIDER Das Buch der verrückten Experimente - bücher.de · 2018. 10. 7. · Reto U. Schneider lädt den Leser zu einem Streifzug durch sieben Jahrhunderte Geschichte der

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  • RETO U. SCHNEIDER

    Das Buch der verrückten Experimente

  • Buch

    Bei den beschriebenen Experimenten geht es um zwinkerndeTote, fliegende Schafe und unbarmherzige Theologiestudenten. UmSchamhaare auf Wanderschaft und einen Hund mit zwei Köpfen.Ganz beiläufig lernt der Leser, wie es Katzen schaffen, immer auf denFüßen zu landen, und mit welchen Maßnahmen das Serviceperso-nal in der Gastronomie zum größtmöglichen Trinkgeld kommt. Einigeder Experimente sind berühmt-berüchtigt: Der Elektroschock-Ver-such von Stanley Milgram etwa. Andere, wie das Sexualverhaltenvon männlichen Käfern mit weiblichen Köpfen, sind grotesk un-wichtig. Einige der vorgestellten Studien, zum Beispiel die Beeinflus-sung von Kinobesuchern durch heimlich in den Film montierte Re-klamebilder, sind zwar legendär, wurden aber niemals durchgeführt.Reto U. Schneider lädt den Leser zu einem Streifzug durch siebenJahrhunderte Geschichte der Wissenschaft ein – erstaunlich, infor-

    mativ und hoch vergnüglich.

    Autor

    Reto U. Schneider, geboren 1963, ist Redakteur bei NZZ-Folio, demMagazin der Neuen Zürcher Zeitung, in der auch seine Kolumne»Das Experiment« erscheint. Der diplomierte Elektroingenieur ETHbesuchte die Ringier-Journalistenschule und arbeitete als Wissen-schaftsjournalist für Schweizer und deutsche Medien. Für seine Artikelwurde er mehrfach ausgezeichnet. Er ist auch Autor de Buches »Plane-tenjäger« (Birkhäuser, 1997) über die Entdeckung der ersten Planeten

    außerhalb unseres Sonnensystems.

    Filmclips, Links und neue Experimente finden Sie unterwww.verrueckte-experimente.de

  • Reto U. Schneider

    Das Buchder verrücktenExperimente

  • Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100Das FSC-zertifizierte Papier München Super für Taschenbücher

    aus dem GoldmannVerlag liefert Mochenwangen Papier.

    . AuflageTaschenbuchausgabe Mai 2006

    Wilhelm GoldmannVerlag, München,in derVerlagsgruppe Random House GmbH

    Copyright © der Originalausgabe 2004 by C. BertelsmannVerlag,München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

    Umschlaggestaltung: DesignTeam MünchenUmschlagfoto: Getty Images/Three Lions (HQ7316-001)

    KF · Herstellung: Str.Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

    Printed in GermanyISBN-10: 3-442-15393-X

    ISBN-13: 978-3-442-15393-0

    www.goldmann-verlag.de

    SGS-COC-1940

    2

  • Für meine Eltern

  • Inhalt

    Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

    13001304 Und Dietrich ging zum Regenbogen . . . . . . . . 13

    16001600 Ein gewogenes Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151604 Steine im Kopf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161620 Aus Wasser wird Holz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

    17001729 Die Uhr in der Mimose . . . . . . . . . . . . . . . . . 191758 Die Socken des Philosophen . . . . . . . . . . . . . . 191772 Eunuchen unter Strom . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211774 Sauna für die Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . 221783 Das fliegende Schaf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

    18001802 Der zwinkernde Tote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261802 Eine eklige Doktorarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 281825 Der Mann mit dem Loch im Bauch . . . . . . . . 301837 Darwin am Fagott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331845 Trompeter auf der Eisenbahn . . . . . . . . . . . . . 331852 Der Muskel der Lüsternheit . . . . . . . . . . . . . . 381883 Toll, ein anderer zieht! . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411885 Der Kopf des Mörders . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421889 Jünger durch Meerschweinchenhoden . . . . . . 451894 Todmüde Hunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471894 Katzen im Tiefflug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471895 Schlaflos in Iowa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491896 Verkehrte Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501899 Leichen im Gemüsegarten . . . . . . . . . . . . . . . 531899 Das Ausreißen von Schamhaaren . . . . . . . . . . 54

    7

  • 19001900 Eine Ratte auf Umwegen . . . . . . . . . . . . . . . . 561901 Mordversuch im Hörsaal . . . . . . . . . . . . . . . . 581902 Wenn der Pavlov einmal klingelt . . . . . . . . . . . 601904 Der Pferde-Einflüsterer . . . . . . . . . . . . . . . . . 631907 Die Seele wiegt 21 Gramm . . . . . . . . . . . . . . . 68

    19101912 Happy Birthday, liebe Zellen! . . . . . . . . . . . . . 711914 Der Turmbau zur Banane . . . . . . . . . . . . . . . . 741917 Die Scheidung des Dr.Watson . . . . . . . . . . . . 76

    19201920 Dem kleinen Albert wird Angst gemacht . . . . . 771923 Männliche Triebe in weiblichen Körpern . . . . 801926 Schachteln gegen Schachteldenken . . . . . . . . . 821927 Montage bei Mondlicht . . . . . . . . . . . . . . . . . 841927 Der geküsste Nährboden . . . . . . . . . . . . . . . . 901928 Die Kurve der Wollust . . . . . . . . . . . . . . . . . . 911928 Mamba im Blut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 921928 Der lebende Hundekopf . . . . . . . . . . . . . . . . . 94

    19301930 Die Kiste des Herrn Skinner . . . . . . . . . . . . . . 951930 Reisen mit Chinesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 991931 Brüderchen Affe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1011938 Der Tag hat 28 Stunden . . . . . . . . . . . . . . . . . 106

    19401945 Das große Hungern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1081946 Ein Schulabbrecher lässt es regnen . . . . . . . . . 1131946 Urlaub im Durchzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1181948 Spinnen 1: Drogennetze . . . . . . . . . . . . . . . . . 1221949 Der Handel der Sekretärinnen . . . . . . . . . . . . 124

    19501950 Orgasmen im Stakkato . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1241950 Sei gutmütig – aber kein Trottel! . . . . . . . . . . . 1251951 Sturzflug im Kotzbomber . . . . . . . . . . . . . . . . 1291951 Zwanzig Dollar fürs Nichtstun . . . . . . . . . . . . 1311952 Spinnen 2: Netzbau mit amputierten Beinen . 133

    8

  • 1954 Frankenstein für Hunde . . . . . . . . . . . . . . . . . 1331955 Spinnen 3: Urin im Netz . . . . . . . . . . . . . . . . 1351955 Die Badewanne des Psychonauten . . . . . . . . . 1361955 Nebel des Schreckens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1411957 Die Atombombe der Psychologie . . . . . . . . . . 1451958 Die Muttermaschine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1491959 Sauerei im Düsenjet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1521959 Der Versuch mit dem Unabomber . . . . . . . . . 1541959 Der dreifache Christus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158

    19601961 Gehorsam bis zum Letzten . . . . . . . . . . . . . . . 1631962 Karfreitag auf Drogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1701962 Erkenntnisgewinn mit Keksausstechern . . . . . 1751963 Die verlorenen Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1771964 Stierkampf mit Fernsteuerung . . . . . . . . . . . . 1791966 Psychologie mit Autohupe . . . . . . . . . . . . . . . 1811966 Tramper-Tipp 1: Sei gebrechlich! . . . . . . . . . . 1831967 Jeder kennt jeden über sechs Ecken . . . . . . . . 1841968 Von Milben und Menschen . . . . . . . . . . . . . . 1871968 Acht flogen über das Kuckucksnest . . . . . . . . 1891969 In jedem steckt ein Vandale . . . . . . . . . . . . . . . 1921969 Der Affe im Spiegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1951969 Farbtest im Urwald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198

    19701970 Peinlich, peinlich! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2021970 Die unbarmherzigen Samariter . . . . . . . . . . . . 2031970 Ein Dollar wird versteigert . . . . . . . . . . . . . . . 2071970 Dr. Fox erzählt Unsinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2091971 Das Gefängnis des Professors . . . . . . . . . . . . . 2111971 Tramper-Tipp 2: Sei eine Frau! . . . . . . . . . . . 2191971 Galileo auf dem Mond . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2191971 Die Atomuhr fliegt Economy . . . . . . . . . . . . . 2201972 Flucht über die Kreuzung . . . . . . . . . . . . . . . . 2241973 Das Sexfloß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2241973 Herzflattern durch Kniezittern . . . . . . . . . . . . 2301973 Spinnen 4: Im Weltall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2321973 Invasion im Pissoir . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2331974 Erregt an der Ampel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2351974 Tramper-Tipp 3: Schau ihnen in die Augen! . . 236

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  • 1975 Tramper-Tipp 4: Sei vollbusig! . . . . . . . . . . . . 2371975 Schweißextrakt im Wartezimmer . . . . . . . . . . . 2371976 Didaktik mit dem Rasierapparat . . . . . . . . . . . 2391976 Ein Millionär lässt sich klonen . . . . . . . . . . . . 2401976 Streit um Leben auf dem Mars . . . . . . . . . . . . 2441977 Country-und-Western-Psychologie . . . . . . . . . 2491978 Möchtest du mit mir ins Bett? . . . . . . . . . . . . 2511979 Der freie Unwille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254

    19801984 Mehr Trinkgeld bei Berührung . . . . . . . . . . . . 2581984 Effiziente Anmache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2591984 Das erwünschte Magengeschwür . . . . . . . . . . 2601986 Ein Jahr im Bett . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265

    19901992 Sie tun es im Kernspintomographen . . . . . . . . 2671994 Schönwetterkellner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2711995 Striptease mit Mindestabstand . . . . . . . . . . . . 2721997 Schamhaare auf Wanderschaft . . . . . . . . . . . . 2721998 Die Lautsprecher von Jericho . . . . . . . . . . . . . 2731999 Der unerklärliche Hunger . . . . . . . . . . . . . . . . 274

    20002002 Die Mathematik des Stöckchenwerfens . . . . . . 2752003 Begegnungen eines Roboters . . . . . . . . . . . . . 277

    Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279

    Die Experimente nach Themen . . . . . . . . . . . . . . . . 281

    Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295

    Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298

    Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301

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  • Einleitung

    Dieses Buch entstand aus Abfallprodukten.Wer als Wissen-schaftsjournalist arbeitet, häuft zwangsläufig einen Stapelvon Studien an, über die er schreiben will, wenn er einmalZeit dazu hat. Natürlich hat er nie Zeit. Und selbst wennZeit wäre – das Sammelgut widerspricht allen journalisti-schen Kriterien: Entweder ist es uralt, grotesk unwichtigoder beides zusammen. Und trotzdem hat man, aus Grün-den, die einem selbst schleierhaft bleiben, sein Herz darangehängt.

    Meine Leidenschaft sind ungewöhnliche Experimente,und mein Stapel sah schon seiner Entsorgung entgegen, alsich in NZZ-Folio, der Zeitschrift der Neuen Zürcher Zeitung,die Gelegenheit bekam, eine Wissenschaftskolumne zu ver-fassen, die sich nicht an der aktuellen Nachrichtenlageorientierte. Endlich konnte ich über den getürkten Mord-versuch im Hörsaal schreiben, über das Lebenselixier ausMeerschweinchenhoden, über den Puls beim Orgasmus.Die Texte in NZZ-Folio, die einen Teil dieses Buches aus-machen, hatten bald eine feste Fan-Gemeinde. Leserinnengaben mir Hinweise auf Tramper-Tipps, Leser wollten ge-nauere Informationen über die Stripteaseversuche in LasVegas.

    Doch die Kolumne entschärfte die Lage in meiner Ab-fallbewirtschaftung nur vorübergehend, denn währendmeiner Recherchen stieß ich auf immer neue Versuche, dieauf dem Stapel landeten. Durch die Spinnen im Weltallentdeckte ich die Spinnen unter LSD, durch die Autohup-forschung die Anhalterforschung. So entstand die Idee für»Das Buch der verrückten Experimente«.

    Ein Experiment ist nach Brockhaus »die künstliche Her-beiführung und Abwandlung von Beobachtungsbedingun-gen zur Gewinnung wissenschaftlicher Unterlagen«. Ver-rückt ist ein Experiment dann, wenn ich es für verrückterkläre. Das kann auf Grund der unterschiedlichsten Krite-rien geschehen. Zum Beispiel wegen einer ungewöhnlichen

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  • Fragestellung: Wie beeinflusst die Einnahme von Drogendas Erleben eines Gottesdienstes? Wegen einer seltsamenMethode: die Fernsteuerung eines Stiers in der Arena.We-gen einer bizarren Erkenntnis: In einem Prozent der Fällekommt es beim Geschlechtsverkehr zum Austausch vonSchamhaaren.

    In wissenschaftlichen Publikationen erscheint die Durch-führung eines Experiments oft geradlinig: Die Forscherstudieren das relevante Material, bilden eine Hypothese,entwerfen ein Experiment, das sie dann ohne größere Prob-leme in dieTat umsetzen. InWirklichkeit, so erklärte mir einForscher, ist die Durchführung eines Experiments ein biss-chen, als würde man in den Krieg ziehen: »Beim erstenFeindkontakt werden alle Pläne über den Haufen gewor-fen.« Für dieses Buch interessierten mich die offiziellen Pu-blikationen genauso wie die inoffiziellen Schwierigkeitenbei der Durchführung der Experimente. Ich griff auf Hin-tergrundmaterial, unveröffentlichte Aufzeichnungen undZeitungsartikel zurück und befragte die beteiligtenWissen-schaftler persönlich, sofern das möglich war. Dabei bin ichauf Experimente gestoßen, die Ehen zerstörten und Kar-rieren beendeten, auf solche, die Schlagzeilen machten,und andere, die standhaft weitererzählt werden, obwohl sienie durchgeführt worden sind.

    Man kann dieses Buch wie jedes andere von vorne bishinten durchlesen. Die Experimente sind chronologischgeordnet, sie beginnen im Mittelalter und enden in derGegenwart. Ab Seite 281 finden Sie ein thematisch geord-netes Inhaltsverzeichnis, zudem wird in vielen Texten aufverwandte Experimente im Buch verwiesen. Sie könnenaber auch einfach blättern und sich von den Bildern zumLesen verführen lassen. Jeder Text steht für sich.

    Die Jahreszahlen in den Überschriften geben an, wannein Experiment durchgeführt worden ist. Wo sich dasexakte Jahr nicht ermitteln ließ, habe ich mit Hilfe andererQuellen das Jahr geschätzt.

    In der Randspalte finden Sie Hinweise auf Bücher, Filmeund Internetseiten sowie die Hauptquelle des jeweiligenExperiments. Filmclips, Links und weitere Informationenzum Buch gibt es unter www.verrueckte-experimente.de.

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  • 1304 Und Dietrich ging zum RegenbogenIrgendwann zwischen 1304 und 1310 füllte der Domini-

    kanermönch Dietrich von Freiberg eine kugelförmige Glas-flasche mit Wasser und hielt sie in die Sonne. »Der größtewissenschaftliche Beitrag der westlichen Welt im Mittelal-ter«, sollte später darüber geurteilt werden.

    Zahllose Gelehrte vor ihm hatten schon versucht, hinterdas Geheimnis des Regenbogens zu kommen. Einige ver-muteten, der Bogen am Himmel sei eine Reflexion der Son-nenscheibe, andere glaubten, dieWolke aus Regen wirke alsLinse. Klar war, dass der Regen irgendwie das Sonnenlichtreflektierte, denn der Regenbogen war nur mit tief stehen-der Sonne im Rücken zu sehen. Doch warum war er immerTeil eines gleich großen Kreises? Wie war die Anordnungder Farben zu erklären? Und woher kam der zweite Bogen,der manchmal oberhalb des ersten erschien und dessenFarben die umgekehrte Reihenfolge hatten?

    Durch bloßes Beobachten war dem Regenbogen nichtbeizukommen. Doch wie konnte man das Naturschauspielins Labor holen? Man wusste zwar, dass sich das Sonnen-licht in Farben aufteilte, wenn es durch eine Wasserflascheschien, doch die Flasche, die man sich als verkleinerte Re-genwolke dachte, erzeugte ja keinen Regenbogen.

    Eine neue Idee musste her, und Dietrich von Freiberghatte sie: Er sah die kugelförmige Wasserflasche nicht alsverkleinerte Wolke, sondern als vergrößerten Tropfen. Werverstand, was mit dem Sonnenlicht in einem einzelnenTropfen passiert, brauchte sich nur noch zu überlegen, wasgeschähe, wenn die unzähligen Tropfen eines Regenschau-ers gleichzeitig diesen Effekt zeigten.

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    Die Entstehung des primärenRegenbogens, gezeichnetvon Dietrich von Freiberg.Das Licht der Sonne (linksoben) wird beim Eintritt inden Wassertropfen (rechts)gebrochen, an der Rückwandreflektiert, beim Austritterneut gebrochen underreicht dann, aufgespaltetin verschiedene Farben, dasAuge (links unten).

  • Also verfolgte von Freiberg einen einzelnen Son-nenstrahl auf seinemWeg. Zuerst ließ er den Strahlin den oberenTeil desTropfens eindringen: Er sahan seiner Kugelflasche, dass er zuerst gebrochenwurde und dann seinen Weg im Wasser in einemetwas steileren Winkel fortsetzte. An der Rückseiteder Flasche verließ einTeil des Strahls die Flasche,der andere Teil wurde reflektiert, durchquerte dasWasser jetzt rückwärts und verließ es dann im un-teren Teil der Kugelflasche, der Sonne zugewandt,wobei er erneut gebrochen wurde.

    Aus anderen Experimenten wusste von Frei-berg, dass Sonnenlicht auf demWeg durch Wasser oder Glasin Farben aufgespalten wird. Jeder einzelne Tropfen strahltalso immer alle Farben gleichzeitig in verschiedene Rich-tungen ab. Wir sehen davon jeweils nur jene Farbe, derengebündelte Reflexion für einen Moment unser Auge trifft.Wenn einTropfen fällt, streift uns zuerst das rote Bündel desSonnenlichts, das in einem Winkel von etwa 42 Grad re-flektiert wird, dann das orangefarbene, das gelbe, das grüne,das blaue und am Schluss das violette Bündel mit etwa 41Grad Reflexionswinkel. Ein Regenbogen besteht also auseiner Art fallenden Spiegeln – den Regentropfen –, dienacheinander in den Regenbogenfarben aufblitzen.Weil fürdie gefallenen Tropfen ständig neue nachrücken, entstehtder Eindruck eines stillstehenden Farbbandes.

    Doch wie kam es zum zweiten, etwas größeren Regen-bogen, der oft über dem ersten entstand?Von Freiberg fanddie Antwort, als er dem Lichtstrahl folgte, der in den unte-ren Teil der Kugelflasche eindrang. Der Strahl wurde wie-der gebrochen, durchquerte das Wasser bis an die Rück-wand der Flasche, wurde dort aber in so flachem Winkelreflektiert, dass er nach kurzem Weg durchs Wasser gleichnoch einmal zur Rückwand gelangte. Nach einer erneutenReflexion verließ er die Flasche nun im oberen Teil, derSonne zugewandt, wo er noch einmal nach unten gebro-chen wurde. An der Entstehung des sekundären Regenbo-gens waren also zwei Reflexionen beteiligt, deshalb die um-gekehrte Farbreihenfolge des primären Bogens, bei dem esnur zu einer Reflexion kommt. Auch dass der sekundäreRegenbogen immer schwächer leuchtet als der primäre, er-

    Im Gegensatz zum primärenRegenbogen wird dasSonnenlicht (zwei Linienvon links oben) beimsekundären Regenbogenzweimal an der Rückwanddes Wassertropfensreflektiert, bevor esaustritt (fünf Linien).

    14

    Unter punchandbrodie.com/ncyclo/rainbows gibt es einehübsche Animation zur Ent-stehung eines Regenbogens.Packen Sie den Regentropfenmit einem Mausklick, undbewegen Sie ihn durch dasSonnenlicht.

  • gibt einen Sinn: Bei zwei Reflexionen geht mehr Licht ver-loren als bei einer.

    In einem Punkt allerdings lag Dietrich von Freiberg falsch.Er glaubte, Rot, Gelb, Blau und Grün, die er im Regenbogensah, entstünden abhängig von der Eindringtiefe des Lichtesund der Durchsichtigkeit desWassers. Erst später fand manheraus, dass die Farben wegen ihrer unterschiedlichen Wel-lenlänge bei der Lichtbrechung entstehen.

    Von Freibergs Experiment war eines der ersten in derGeschichte der Wissenschaft. Seine Methode, aus denEigenschaften der Elemente auf die Eigenschaft des Gan-zen zu schließen, wurde als Reduktionismus zum erfolg-reichsten Prinzip der Naturwissenschaften überhaupt, auchwenn Kritiker den Regenbogenforschern schon bald vor-warfen, »die Poesie des Regenbogens zu zerstören«.

    1600 Ein gewogenes LebenHätte es das Guinness-Buch der Rekorde schon gegeben,

    Sanctorius Sanctorius wäre bestimmt darin aufgenommenworden: Kein Mensch dürfte längere Zeit auf einer Waageverbracht haben als der berühmte Arzt aus Padua. Sein Ar-beitstisch, sein Stuhl, sein Bett:Alles hing an Seilen, die zu inder Decke versteckten Gegengewichten führten. Damit be-stimmte Sanctorius dreißig Jahre lang eifrig die kleinstenVer-änderungen seines Gewichts. Zudem wog er dasEssen, das er zu sich nahm, und die Exkremente,die er ausschied. Die daraus gezogenen Schlüsseüber die Funktion des menschlichen Körpers ver-öffentlichte er als Merksätze in seinem Werk DeStatica Medicina, das heute als Klassiker gilt. Derbekannteste davon bezog sich auf die erstaunlicheTatsache, dass der Mensch nur einen kleinen Teildes Gewichts dessen, was er zu sich nimmt, alsUrin und Stuhl wieder ausscheidet: »Wenn manan einem Tag acht Pfund Fleisch und Getränkeeinnimmt, ist die Menge, die in dieser Zeit alsnicht wahrnehmbare Ausdünstung weggeht, fünfPfund.« Dass diese unsichtbare Ausdünstung vorallem Schweiß war, wusste Sanctorius nicht, docher war der Erste, der ihre Menge bestimmte, und

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    ◆ von Freiberg, D. (um 1310)De iride et radialibusimpressionibus. Übersetzung:Über den Regenbogen und dieStrahlen erzeugten Eindrücke(1914), Aschendorff.

    Im Haus von Sanctorius hingalles an einer Waage: dasBett, der Arbeitstisch oder– wie in diesem Kupferstich –der Stuhl.

  • wurde damit zum Begründer der quantitativ-experimentel-len Medizin. Bis dahin hatten Ärzte beschreibend gearbeitet.

    Leider hat Sanctorius seine Experimente nirgends genaugeschildert. So bleibt es der Fantasie des Lesers überlassen,wie der Versuch für den Merksatz Nummer zwei im Kapi-tel »Über den Geschlechtsverkehr« ausgesehen haben mag:»Bei maßlosem Geschlechtsverkehr wird etwa ein Viertelder üblichen Menge der Ausdünstungen blockiert.«

    1604 Steine im KopfIst es möglich, die Meinung zu widerlegen, dass ein

    schwerer Stein schneller fällt als ein leichter, ohne je einenStein in die Hand zu nehmen? Der italienische GelehrteGalileo Galilei tat im 17. Jahrhundert mit einem Gedan-kenexperiment genau das. Damals galt noch die zweitau-send Jahre alte Ansicht des griechischen Gelehrten Aristo-teles: Die Geschwindigkeit von frei fallenden Körpern istproportional zu ihrem Gewicht.

    In seinem Gedankenexperiment band Galilei den schwe-ren und den leichten Stein zusammen und fragte sich, wieschnell die Steine jetzt wohl fallen würden. Falls Aristotelestatsächlich Recht hätte und der schwere Stein allein schnel-ler fiele als der leichte, dann »bremst der langsame denschnellen, und der schnelle beschleunigt den langsamen.Zusammen haben sie also eine Geschwindigkeit, die zwi-schen der des langsamen und der des schnellen Steinsliegt.« Andererseits, argumentierte Galilei, seien die beidenSteine zusammen doch schwerer als der schwere Steinallein und müssten deshalb schneller fallen als der schwereStein. Das Prinzip von Aristoteles führt zu einem Wider-spruch, der sich erst auflöst, wenn man annimmt, dass dieFallgeschwindigkeit eines Körpers unabhängig von seinemGewicht ist. Die Alltagserfahrung, dass ein Laubblatt lang-samer fällt als eine Bleikugel, hat nichts mit dem Gewichtder beiden Gegenstände zu tun, sondern mit dem unter-schiedlichen Widerstand, den sie der Luft mit ihrer Formund Oberfläche entgegensetzen. Wer es immer noch nichtglaubt: Auf dem Mond wurde es getestet (S. 219).

    Das Galileo-Projekt der ameri-kanischen Rice University isteine aufwändige Website überGalileo Galilei und seine Zeit.Unter galileo.rice.edu findensich eine Biografie von Galilei,Porträts seiner Zeitgenossen,Informationen über histori-sche Ereignisse und Studen-tenprojekte.

    16

    ◆ Galileo (1638), Discorsi eDimostrazioni MatematicheIntorno a Due Nuove Scienzeappresso gli Elzevirii. Über-setzung: Dialogues Concerningthe Two New Sciences (1914),Macmillan. Im Volltext untergalileoandeinstein.physics.virginia.edu/tns_draft/index.html ab S. 62.

    ◆ Sanctorius, S. (1614), DeStatica Medicina. Übersetzung:Being the Aphorisms ofSanctorius (1728), J. Osborn.

  • 1620 Aus Wasser wird Holz»Ich nahm einen Topf, in den ich 200 Pfund im Ofen ge-

    trocknete Erde füllte, die ich mit Regenwasser befeuchtethatte, und pflanzte darin einen fünf Pfund schweren Wei-denschössling.« Diese schlichte Beschreibung ist der Anfangeines der Experimente von Johan BaptistaVan Helmont.

    Dass es sein berühmtestes werden würde, konnte der bel-gische Gelehrte nicht ahnen, hatte er doch schon viel spek-takulärere Versuche durchgeführt: Mal verwandelte er einPfund Quecksilber in acht Unzen Gold, dann wieder war erüberzeugt, das Rezept für die Erschaffung von Leben gefun-den zu haben: »Wenn man ein schmutziges Hemd in die Öff-nung eines mitWeizenkörnern gefüllten Gefäßes stopft, wirdsich nach etwa einundzwanzig Tagen der Geruch verändern,und die Zersetzungsprodukte werden in die Schale desWei-zens eindringen und so denWeizen in Mäuse umformen.«

    Als Van Helmont dieses Experiment durchführte, er-staunte ihn weniger die Entstehung derTiere selbst, als dassbeide Geschlechter daraus hervorgingen.

    Van Helmont war der letzte Alchemist und der erste Che-miker, seinWeltbild eine Mischung aus Magie undWissen-schaft. Er wurde 1579 als Sohn einer wohlhabenden Fami-lie in Brüssel geboren, schloss nach einer Odyssee durchfast alle Fachgebiete an der Universität von Löwen 1599 inMedizin ab und zog sich kurze Zeit später als Privatgelehr-ter aus dem öffentlichen Leben zurück.

    In seinem Labor untersuchte er Gase, beobachtete dieFermentierung von Stoffen und stellte neue Arzneien her.Wann genau er Schaufel und Hacke für das Weidenbaum-experiment zur Hand nahm, ist nicht bekannt. Lesenkonnte man erst 1648 davon, vier Jahre nachVan HelmontsTod, als sein Sohn die gesammelten Werke des Vaters imBuch Ortus medicinae herausgab.

    Dort legte Van Helmont auch seine Naturphilosophiedar, die er mit der Weide im Topf bestätigen wollte. Im Ge-gensatz zum griechischen Philosophen Aristoteles, der be-hauptete, alle Materie bestehe aus den vier ElementenErde, Wasser, Feuer und Luft, hielt Van Helmont nur zweidavon für elementar: Luft undWasser. Feuer bringe aus sichselbst heraus nichts hervor, und Erde seiWasser in Reinheitund Einfachheit unterlegen. Zudem tauche Wasser in der

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  • Schöpfungsgeschichte schon vor dem ersten Tag auf. VanHelmont war überzeugt, dass alle Materie – Steine, Erde,Tiere, Pflanzen – letztlich ausWasser bestünden. Das Expe-riment sollte diese Hypothese für die Pflanzen belegen.

    Fünf Jahre nachdem er die Weide gepflanzt hatte, riss ersie aus der Erde und wog beides:Von der Erde waren in die-ser Zeit bloß zwei Unzen verloren gegangen, der Baum hin-gegen kam mit 169 Pfund und drei Unzen auf mehr als dasDreißigfache seines ursprünglichen Gewichts.

    Daraus zog Van Helmont den einzigen nach damaligemWissensstand vernünftigen Schluss: »164 Pfund Holz, Rindeund Wurzeln entstanden ausWasser allein.« Denn außer ihnregelmäßig zu gießen, überließ er den Baum sich selbst.

    Van Helmont wusste, dass das Resultat wenig über-raschte. Als Gedankenexperiment hatten schon lange vorihm Gelehrte den Versuch durchgeführt – mit demselbenResultat. Doch er war der Erste, der ihn mit Erde, Baum undWaage in dieWirklichkeit holte und damit dem Experimentals Werkzeug für den Erkenntnisgewinn denWeg ebnete.

    Angeregt durch Van Helmonts Idee, forschten bald auchin anderen Labors Gelehrte an Topfpflanzen. Dabei stelltesich heraus, dass der Belgier mit seiner Interpretation nichtganz richtig lag: Pflanzen brauchen nicht nurWasser, um zuwachsen, sondern auch Luft, Licht und geringe Mengenvon Stoffen aus dem Boden.

    Van Helmonts Experiment war das erste auf dem Wegzur Klärung des geheimnisvollen Vorgangs, den man später»Photosynthese« nannte: die Umwandlung der energiear-men Verbindungen Wasser und Kohlendioxid mittels Lichtin energiereiche Verbindungen, die den Tieren als Nahrungdienen. Ohne dass die Gelehrten es gleich merkten, stie-ßen sie dabei auf den wichtigsten Unterschied zwischenPflanze und Tier: Nur Pflanzen können Sonnenenergie aufdiese Weise in chemischen Verbindungen speichern.Tiere –auch der Mensch – sind direkt oder indirekt davon abhängig.

    Im 20. Jahrhundert erlebt Van Helmonts Experimenteine Renaissance. Studenten sollen daran ihren Scharfsinntesten und das saubere Design eines Experiments üben.Selbst im Internet gibt es Übungsaufgaben dazu. Um dieStudiendauer nicht unnötig zu verlängern, wird allerdingsempfohlen, anstatt Weiden Radieschen zu pflanzen.

    Wie eine Pflanze aus Wasserund Kohlendioxid mit der Hilfevon Licht energiereicheVerbindungen herstellt, zeigtdie Animation unter www.johnkyrk.com/photosynthesis.html. Der Vorgang heißtPhotosynthese und ist sokompliziert, dass er noch nichtnachgeahmt werden konnte.

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    ◆ van Helmont, J. B. (1648),Ortus medicinae, Elzevir. Teil-übersetzung in A Source Bookin Chemistry, 1400–1900.(1952) McGraw-Hill.

  • 1729 Die Uhr in der MimoseDer französische Astronom Jean Jacques d’Ortous de

    Mairan hat nie erfahren, dass er ein neuesWissenschaftsge-biet begründete, als er eine seiner Topfpflanzen in einenSchrank stellte. Er selbst wollte das Resultat seines Mimo-senexperiments gar nicht publizieren. Zu unbedeutendschien es ihm.

    Mimosen schließen ihre Blätter in der Nacht und öffnensie am Tag. De Mairan fragte sich, was wohl passierenwürde, wenn die Mimose nicht mehr wüsste, ob geradeTagoder Nacht ist. Am Ende des Sommers 1729 stellte er einePflanze in einen stockfinsteren Kasten und fand heraus,dass sich die Blätter auch ohne Sonnenlicht zur richtigenZeit öffneten und schlossen. »Die Mimose spürt also dieSonne, ohne sie zu sehen«, hieß es in dem Brief, den einFreund de Mairans und Mitglied der Académie an dashöchste wissenschaftliche Gremium Frankreichs, an dieAcadémie Royale des Sciences, schrieb.

    Dieser Schluss war nicht der richtige. Viel später stellteman fest, dass die Mimose nicht die Sonne spürt, sonderneinen Taktgeber in sich trägt.Trotzdem gilt de Mairan heuteals der Begründer der Chronobiologie, der Wissenschaftvon der inneren Uhr von Lebewesen. Zweihundert Jahrespäter führte ein Wissenschaftler de Mairans Experimentmit Menschen durch: Er zog sich mit seinem Assistenteneinen Monat in eine Höhle zurück (S. 106).

    1758 Die Socken des Philosophen»Ich hatte während einiger Zeit beobachtet, dass meine

    Strümpfe beim Ausziehen am Abend häufig ein knisterndesGeräusch von sich gaben.« So beginnt der englische Ge-lehrte Robert Symmer seinen Artikel in den PhilosophicalTransactions, der wichtigsten wissenschaftlichen Fachzeit-schrift jener Zeit. Da Symmers Freunde mit ihren Sockenähnliche Erfahrungen gemacht hatten und er niemandenkannte, der dieses Phänomen »auf philosophische Weise«betrachtet hatte, habe er die »genaustmögliche Untersu-chung« dazu durchgeführt.

    Diese Ankündigung war nicht übertrieben. Symmertrug seine Experimente an drei Zusammenkünften der

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    Der Astronom Jean Jacquesd’Ortous de Mairan stellteeine Mimose ins Dunkle undbegründete damit eine neueWissenschaft.

    ◆ de Mairan, J. J. D. (1729),Observation Botanique. InHistoire de l’Académie Royaledes Sciences, S. 35.

  • Royal Society vor. Die detaillierten Berichte über die auf-regenden Erlebnisse mit seinen Socken füllten schließlichüber dreißig Seiten, was ihm später in Frankreich promptden Spitznamen »Barfußphilosoph« (philosophe déch-aussé) eintrug.

    An Beobachtungen herrschte kein Mangel, denn durchdie »Einfachheit des Untersuchungsgegenstandes« – dieSocken – und die »große Leichtigkeit, Experimente zumachen« – damit war das An- und Ausziehen der Sockengemeint –, »stand es in meiner Macht, meine Untersuchungzu jeder beliebigen Zeit zu machen«. Nach einigenTests mitSocken aus Baumwolle, Wolle und Seide fand Symmer alsErstes heraus, dass sich Wolle und Seide am besten für dieExperimente eigneten. Ob er denWollsocken über dem Sei-densocken trug oder umgekehrt, spielte keine Rolle:Hauptsache, er zog sie gemeinsam aus und trennte sie erstdann voneinander. Dabei luden sie sich elektrisch auf. Dassah Symmer daran, dass die Socken sich aufblähten, alsstünden sie im Wind, und sich gegenseitig anzogen, wennsie in die Nähe voneinander kamen.

    In einer zweiten Serie von Experimenten benutzte Sym-mer nur noch einen schwarzen und einen weißen Seidenso-cken, weil die den stärksten Effekt zeigten. Zudem wechselte

    er die Technik. »Nachdem ich es als unan-genehm empfunden hatte, die Strümpfe zuelektrisieren, indem ich sie so oft an- undauszog, wie es für die Experimente erforder-lich war, habe ich diese Methode völlig auf-gegeben; ich gebe mich jetzt zufrieden mitder Elektrizität, die entsteht, wenn ich dieStrümpfe über die Hand ziehe.« Das habeauch denVorteil, dass sich die Socken längerfür die Versuche verwenden ließen, denn»wie jeder andere elektrische Apparat müs-sen auch sie sauber gehalten werden«.

    Symmer wusste, dass hinter vorgehalte-ner Hand über seine Experimente gelachtwurde, und hatte sogar ein gewisses Ver-ständnis dafür. Einem Freund schrieb er:»Ich gebe zu, dass man sich ekeln kannbei der häufigen Erwähnung des An- und

    Diese Elektrizitätsversuchemit seinen Socken trugenRobert Symmer den Spitz-namen »Barfußphilosoph«ein.

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  • Ausziehens von Strümpfen. Ein Umstand, so wenig philo-sophisch und so einladend, sich darüber lustig zu machen,dass ich nicht überrascht war, als er Anlass für manch einenWitz unter Philosophen wurde.«

    1772 Eunuchen unter StromNicht lange nach der Erfindung der Leydener Flasche,

    einer Vorrichtung, mit der sich elektrische Ladung spei-chern lässt, machte in Paris ein seltsames Gerücht dieRunde. Es war damals en vogue, mit diesem Gerät langeKetten aus Menschen zu elektrisieren. Die Herrschaftender höheren Gesellschaft kreischten vor Vergnügen, wennein elektrischer Schlag zwanzig Leute gleichzeitig zumHüpfen brachte. Sogar der König ließ sich diese wun-dersame Wirkung der Elektrizität vorführen. Mal an ein-hundertachtzig Soldaten, dann an über zweihundert Kar-täusermönchen (oder waren es siebenhundert, wie inmanchen Quellen behauptet wird?). Doch bei einigen Vor-führungen zeigte sich ein unerwarteter Effekt: DieWirkungder Elektrizität erstarb mitten in der Kette.

    Als zum Beispiel der Gelehrte Joseph Aignan Sigaud dela Fond in einem Pariser Schulhof sechzig Personen elek-trisieren wollte, kam der Stromschlag immer nur bis zursechsten. Weil man vermutete, dass der junge Mann, derdort stand, »nicht mit allem ausgestattet war, was die Eigen-art eines Mannes ausmacht«, entstand das Gerücht, »dass esunmöglich sei, jene, die die Natur in diesem Punkt verhexthat, zu elektrisieren.«

    Sigaud de la Fond hielt diese Meinung zwar für lächer-lich, doch als eine Demonstration am Hof des Königs ge-wünscht wurde, ließ er sich nicht zweimal bitten. Die Ver-suchspersonen waren drei Musiker des Königs, »über derenZustand keine Zweifel bestanden«. Und Sigaud de la Fondbehielt Recht: An keiner Stelle in der Kette unterbrachendie königlichen Eunuchen den Stromkreis. Sie schienenim Gegenteil besonders empfindlich auf die elektrischenSchläge zu reagieren.

    »Auf diese Weise ist die Elektrisiermaschine um die Ehregekommen, dereinst als nützliches Instrument in den Ver-sammlungssälen der Consistorien und Ehegerichte zu pran-

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    ◆ Symmer, R. (1759), NewExperiments and ObservationsConcerning Electricity. Philo-sophical Transactions of theRoyal Society 61, S. 340–389.

  • gen«, schrieb der deutsche Physiker und Philosoph GeorgChristoph Lichtenberg später.

    Der Grund dafür, dass sich der Strom nicht durch alleMenschenketten gleich ausbreitete, war nicht die Impotenzder Männer (oder, wie auch vermutet wurde, die Frigiditätder Frauen), sondern die Leitfähigkeit des Bodens, auf demdie Leute standen.War er zum Beispiel feucht, floss ein gro-ßer Teil des Stroms über ihre Beine in die Erde und er-reichte die folgenden Glieder der Menschenkette nichtmehr.

    1774 Sauna für die WissenschaftAm 23. Januar 1774 wurde der Arzt Charles Blagden von

    seinem Kollegen George Fordyce zu einigen Experimenteneingeladen. Was die zwei Männer im Dienste der Wissen-schaft taten, unterscheidet sich kaum von dem, was heuteMillionen von Leuten jedeWoche für ihrWohlbefinden undihre Gesundheit tun: Sie gingen in die Sauna. Bloß dassdieser Saunabesuch der am besten dokumentierte der Ge-schichte wurde. Auf 24 Seiten ließ Blagden die Öffentlich-keit in den Transactions of the Royal Society wissen, wie esihm und den anderenVersuchsteilnehmern in der Hitze er-gangen war. Außer Blagden und Fordyce nahmen noch derehrenwerte Hauptmann Phipps, Lord Seaforth, Sir GeorgeHome, Mr. Dundas, Mr. Banks, Dr. Solander, der amstärksten schwitzte, und Dr. North an den Experimententeil.

    Wahrscheinlich wusste Fordyce nicht, dass das Gebäude,das er hatte bauen lassen, einer Sauna recht nahe kam. Esbestand aus drei Kammern, von denen die heißeste eineKuppel hatte und zweifach beheizt wurde: über Heißluft-kanäle im Boden und indem Fordyce’ Bedienstete von au-ßen heißes Wasser über die Wände gossen.

    Mit dieser Anlage wollten die Forscher herausfinden, wel-che Temperatur der menschliche Körper ertragen kann. Siebegannen mit bescheidenen 45 Grad Celsius, steigertenaber bald auf 100 Grad, später auf 127 Grad. Zuerstschwitzten sie acht Minuten angezogen, in Straßenklei-dern mit Handschuhen und Strümpfen, später auch nacktund zeitgleich mit einer Bratpfanne, in der ein Beefsteak lag.

    ◆ Sigaud de la Fond, J. A.(1785), Précis historique etexpérimental des phénomènesélectriques: depuis l’origine decette découverte jusqu’à cejour, Rue et Hôtel Serpente,ab S. 231. Im Volltext untercnum.cnam.fr/fSYN/8CA8.html.

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    Der Arzt George Fordyce ließfür seine Hitzeversuche eineArt Sauna bauen.