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DOI: 10.1002/bewi.201001479 Rezensionen Marion Maria Ruisinger, Patientenwege. Die Konsiliarkorrespondenz Lorenz Heisters (1683–1758) in der Trew-Sammlung Erlangen. (Medizin, Gesellschaft und Geschichte; Beiheft 28). Stuttgart: Franz Steiner 2008. 308 S., 7 Abb., e 43,00. ISBN-13: 978-3-515-08806-0. Seit Roy Porters programmatischen Publikationen Mitte der 1980er Jahre wurden unter dem Schlag- wort „Patientengeschichte“ vermehrt Korrespon- denzen, Tagebɒcher, Autobiographien und andere Ego-Dokumente ausgewertet. Die vorliegende, 2005 als Habilitationsleistung an der Medizini- schen FakultȨt der UniversitȨt Erlangen-Nɒrn- berg anerkannte Studie erweitert die bereits vor- handenen Untersuchungen zu Konsiliarkorres- pondenzen, etwa von ȁtienne-Franȱois Geoffrey (1672–1731), Albrecht von Haller (1708–1777), Sa- muel Auguste Tissot (1728–1797) und Samuel Hahnemann (1755–1843), durch eine Analyse der Fernkonsultationen des Helmstedter Professors Lorenz Heister (1683–1758). Heister besaß im Un- terschied zu vielen seiner Zeitgenossen eine Dop- pelqualifikation als „internistisch“ tȨtiger Medicus und operativ tȨtiger Chirurg. Dadurch rɒckt die Autorin erstmals auch den „chirurgischen Patien- ten“ in den Blick der Forschung. Ruisinger ver- folgt mit ihrer Studie ein dreifaches Ziel: zur Pa- tientengeschichte beizutragen, die Chirurgiege- schichte zu bereichern und das bisherige Heister- Bild zu ɒberprɒfen. Konsiliarbriefe Heisters sind innerhalb der Briefsammlung Trew der UniversitȨtsbibliothek Erlangen-Nɒrnberg erhalten. Insgesamt handelt es sich um 1295 Briefe, Anlagen und Antwortent- wɒrfe, 888 von ihnen sind der „Praxis per Post“ zuzuordnen. Ob der Bestand vollstȨndig ɒberlie- fert wurde, ist allerdings unsicher. Diesen Haupt- quellenbestand ergȨnzte die Autorin durch diverse gedruckte und ungedruckte Quellen, u.a. Heisters Medizinische, Chirurgische und Anatomische Wahrnehmungen, die gewisse Aussagen ɒber Hei- sters Konsultationspraxis ermɆglichen, sowie seine Chirurgie, die das zeitgenɆssische chirurgische Wissen und die chirurgischen Praktiken spiegeln und damit als Interpretationsmatrix der Briefe die- nen kɆnnen. Ruisinger vollzieht ihre ɒberzeugende Analyse in mehreren Schritten, die von allgemeinen Be- trachtungen zur ErɆrterung einzelner FȨlle fɒhren. Ausgehend von einem kenntnisreich geschriebe- nen Ƞberblick zum Forschungsstand und zu den einschlȨgigen QuellenbestȨnden diskutiert sie im ersten Abschnitt „Praxis per Post“ die historische Entwicklung der Konsiliarkorrespondenz, die sich im 18. Jahrhundert besonders entfaltete. Zudem wirft die Autorin – um der Gefahr zu entgehen, die Briefpraxis auf ein rein dialogisches Geschehen zwischen Patient und Arzt zu reduzieren – einen Blick auf die Funktion der Briefe fɒr „die Selbst- bildung und die Positionierung der Beteiligten in ihren jeweiligen LebenssphȨren“. Dabei bezieht sie sich ausdrɒcklich auf das in den 1980er Jahren von dem Literaturwissenschaftler Stephen Green- blatt – einem der Mitbegrɒnder des „New Histor- icism“ – entwickelte Konzept des „self-fashion- ing“. Konkret formuliert sie dann mit Blick auf die Hauptakteure einige zwar nicht sehr ɒberraschen- de, aber zweifellos sehr hilfreiche allgemeine The- sen zum Nutzen der Briefkonsultation fɒr die ein- zelnen Akteure: etwa besonders gute Steuerung des Informationsflusses auf Seiten der Patienten, Hilfe fɒr die vor Ort behandelnden Heilkundigen bei Meinungsverschiedenheiten sowie Erweite- rung der Praxis und damit der Einnahmen auf Sei- ten des Brief-Arztes. Darauf aufbauend analysiert die Autorin in einem nȨchsten Schritt die „Konsultationspraxis Heisters“: Nach einer kritischen Diskussion der Quellen skizziert sie dessen Biografie und unter- sucht quantitativ die in den Briefen fassbar wer- denden Patienten, wobei sie gendersensibel vor- geht und im Rɒckgriff auf bewȨhrte Verfahren souverȨn die Schwierigkeiten meistert, die bei der Klassifikation der Krankheiten und des sozialen Status auftreten. Im Detail ergeben sich beein- druckende Einblicke in die Struktur des Briefpa- tientenkollektivs, wobei die Interpretation des Da- tenmaterials an vielen Stellen durch sorgfȨltig er- stellte und fast immer deutliche Diagramme er- leichtert wird. Aus der Fɒlle der Details sollen hier nur einige wenige Ergebnisse hervorgehoben wer- den. Als Verfasser der Briefe treten nicht nur die Kranken, sondern auch FamilienangehɆrige, Freunde oder auch die vor Ort tȨtigen Heilkundi- gen in Erscheinung. Frauen schreiben nur selten selbst. 304 Kranke werden in den Briefen fassbar, 211 i 2010 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim Ber. Wissenschaftsgesch. 33 (2010) 211–223 www.bwg.wiley-vch.de

Rezension: Patientenwege. Die Konsiliarkorrespondenz Lorenz Heisters (1683–1758) in der Trew-Sammlung Erlangen von Marion Maria Ruisinger

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Page 1: Rezension: Patientenwege. Die Konsiliarkorrespondenz Lorenz Heisters (1683–1758) in der Trew-Sammlung Erlangen von Marion Maria Ruisinger

DOI: 10.1002/bewi.201001479

Rezensionen

Marion Maria Ruisinger, Patientenwege. Die Konsiliarkorrespondenz LorenzHeisters (1683–1758) in der Trew-Sammlung Erlangen. (Medizin, Gesellschaft undGeschichte; Beiheft 28). Stuttgart: Franz Steiner 2008. 308 S., 7 Abb., e 43,00.ISBN-13: 978-3-515-08806-0.

Seit Roy Porters programmatischen PublikationenMitte der 1980er Jahre wurden unter dem Schlag-wort „Patientengeschichte“ vermehrt Korrespon-denzen, Tageb�cher, Autobiographien und andereEgo-Dokumente ausgewertet. Die vorliegende,2005 als Habilitationsleistung an der Medizini-schen Fakult�t der Universit�t Erlangen-N�rn-berg anerkannte Studie erweitert die bereits vor-handenen Untersuchungen zu Konsiliarkorres-pondenzen, etwa von �tienne-Fran�ois Geoffrey(1672–1731), Albrecht von Haller (1708–1777), Sa-muel Auguste Tissot (1728–1797) und SamuelHahnemann (1755–1843), durch eine Analyse derFernkonsultationen des Helmstedter ProfessorsLorenz Heister (1683–1758). Heister besaß im Un-terschied zu vielen seiner Zeitgenossen eine Dop-pelqualifikation als „internistisch“ t�tiger Medicusund operativ t�tiger Chirurg. Dadurch r�ckt dieAutorin erstmals auch den „chirurgischen Patien-ten“ in den Blick der Forschung. Ruisinger ver-folgt mit ihrer Studie ein dreifaches Ziel: zur Pa-tientengeschichte beizutragen, die Chirurgiege-schichte zu bereichern und das bisherige Heister-Bild zu �berpr�fen.

Konsiliarbriefe Heisters sind innerhalb derBriefsammlung Trew der Universit�tsbibliothekErlangen-N�rnberg erhalten. Insgesamt handelt essich um 1295 Briefe, Anlagen und Antwortent-w�rfe, 888 von ihnen sind der „Praxis per Post“zuzuordnen. Ob der Bestand vollst�ndig �berlie-fert wurde, ist allerdings unsicher. Diesen Haupt-quellenbestand erg�nzte die Autorin durch diversegedruckte und ungedruckte Quellen, u.a. HeistersMedizinische, Chirurgische und AnatomischeWahrnehmungen, die gewisse Aussagen �ber Hei-sters Konsultationspraxis erm�glichen, sowie seineChirurgie, die das zeitgen�ssische chirurgischeWissen und die chirurgischen Praktiken spiegelnund damit als Interpretationsmatrix der Briefe die-nen k�nnen.

Ruisinger vollzieht ihre �berzeugende Analysein mehreren Schritten, die von allgemeinen Be-trachtungen zur Er�rterung einzelner F�lle f�hren.Ausgehend von einem kenntnisreich geschriebe-nen �berblick zum Forschungsstand und zu den

einschl�gigen Quellenbest�nden diskutiert sie imersten Abschnitt „Praxis per Post“ die historischeEntwicklung der Konsiliarkorrespondenz, die sichim 18. Jahrhundert besonders entfaltete. Zudemwirft die Autorin – um der Gefahr zu entgehen,die Briefpraxis auf ein rein dialogisches Geschehenzwischen Patient und Arzt zu reduzieren – einenBlick auf die Funktion der Briefe f�r „die Selbst-bildung und die Positionierung der Beteiligten inihren jeweiligen Lebenssph�ren“. Dabei beziehtsie sich ausdr�cklich auf das in den 1980er Jahrenvon dem Literaturwissenschaftler Stephen Green-blatt – einem der Mitbegr�nder des „New Histor-icism“ – entwickelte Konzept des „self-fashion-ing“. Konkret formuliert sie dann mit Blick auf dieHauptakteure einige zwar nicht sehr �berraschen-de, aber zweifellos sehr hilfreiche allgemeine The-sen zum Nutzen der Briefkonsultation f�r die ein-zelnen Akteure: etwa besonders gute Steuerungdes Informationsflusses auf Seiten der Patienten,Hilfe f�r die vor Ort behandelnden Heilkundigenbei Meinungsverschiedenheiten sowie Erweite-rung der Praxis und damit der Einnahmen auf Sei-ten des Brief-Arztes.

Darauf aufbauend analysiert die Autorin ineinem n�chsten Schritt die „KonsultationspraxisHeisters“: Nach einer kritischen Diskussion derQuellen skizziert sie dessen Biografie und unter-sucht quantitativ die in den Briefen fassbar wer-denden Patienten, wobei sie gendersensibel vor-geht und im R�ckgriff auf bew�hrte Verfahrensouver�n die Schwierigkeiten meistert, die bei derKlassifikation der Krankheiten und des sozialenStatus auftreten. Im Detail ergeben sich beein-druckende Einblicke in die Struktur des Briefpa-tientenkollektivs, wobei die Interpretation des Da-tenmaterials an vielen Stellen durch sorgf�ltig er-stellte und fast immer deutliche Diagramme er-leichtert wird. Aus der F�lle der Details sollen hiernur einige wenige Ergebnisse hervorgehoben wer-den. Als Verfasser der Briefe treten nicht nur dieKranken, sondern auch Familienangeh�rige,Freunde oder auch die vor Ort t�tigen Heilkundi-gen in Erscheinung. Frauen schreiben nur seltenselbst. 304 Kranke werden in den Briefen fassbar,

211i 2010 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim

Ber. Wissenschaftsgesch. 33 (2010) 211–223 www.bwg.wiley-vch.de

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Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 33 (2010): Rezensionen

etwa ein Drittel von ihnen sind Frauen. M�nnernsuchen besonders h�ufig wegen „Geschlechts-krankheiten“ und „Augenleiden“ Rat bei Heister,Frauen wegen „Frauenkrankheiten“ und ebenfallswegen „Augenleiden“. Die Wohnorte der meistenPatienten liegen im Umkreis von 100 Kilometernum Helmstedt. Die �berwiegende Zahl der Brief-patienten stammt aus h�heren sozialen Schichten.Die Fernkonsultationen besitzen damit den Cha-rakter eines medizinischen Luxusartikels. Wie dieAutorin vorsichtig abw�gend argumentiert, wardies in der Hausbesuchspraxis Heisters anders:Dort sind Patienten aus der lohnabh�ngigen, ge-werbetreibenden oder b�uerlichen Bev�lkerungzahlreicher.

Im dritten Abschnitt „Patientenwege“ – dasHauptkapitel der Studie – r�ckt Ruisinger noch n�-her an die Briefpatienten heran. In einer prozess-analytischen Betrachtung entwickelt sie das Mo-dell eines prototypischen Patientenwegs, in den dieBriefpraxis eingebunden ist. Vor diesem Hinter-grund dekonstruiert die Autorin die Briefinhalte�berzeugend und f�llt die einzelnen „Wegstre-cken“ mit zahlreichen Details. Heister erscheintetwa nicht nur als Arzt, sondern auch als Unter-nehmer, der die Briefe nutzt, um seinen Patienten-kreis zu vergr�ßern und sich im Kreis der Heilkun-digen zu positionieren, die Patienten steuern �berdas Kommunikationsmedium Brief den Informa-tionsfluss in ihrem Sinne. Zwischen Frauen undM�nnern werden Unterschiede deutlich, etwa inder Wahrnehmung und Deutung von krankhaftenZust�nden. Fast alle F�lle m�nden in ein „openend“; sei es, dass der Briefpatient vor Ort geheiltwurde, die Behandlung abbrach oder es zu einemTreffen mit Heister kam.

Im letzten Schritt „Chirurgie im Brief“ fragt dieAutorin nach der „historischen Praxis“ der Chi-

rurgie, der etwa jeder zweite Briefpatient zugeord-net werden kann. Im Mittelpunkt stehen dannzwei exemplarische, gut ausgew�hlte Fallgeschich-ten. Der Fall einer Sch�deltrepanation erlaubteinen besonderen Blick auf die Kommunikationunter den Heilkundigen, die den riskanten Eingriffschließlich durchf�hren, ihren bewusstlosen Pa-tienten aber nicht retten k�nnen. Der Briefwechselzwischen Heister und der an „Brustkrebs“ leiden-den Gr�fin Adelheid von Closen legt die Aus-handlung der empfohlenen Brustamputation of-fen, in der die Patientin selbstbestimmt und tonan-gebend ein weit gespanntes Netzwerk nutzt. Zu-dem m�chte Ruisinger durch dieses Beispiel – dassie durch andere Krankengeschichten erweitert –das Potenzial ihrer Quellen f�r genderspezifischeFragestellungen demonstrieren, was ihr auch ge-lingt.

Die Studie schließt mit einem sorgf�ltig erstell-ten Anhang, der neben den �blichen Literatur-,Abbildungs-, Diagramm- und Archivalienver-zeichnissen auch ein Personen- und Ortsregistersowie die Transkription eines exemplarischenQuellentextes und ein detailliertes tabellarischesVerzeichnis aller im Anmerkungsapparat erw�hn-ten Fernkonsultationen der Heister-Korrespon-denz umfasst, das eine vorz�gliche Basis f�r zu-k�nftige Forschungen bildet. Abschließend bleibtunter dem Strich festzuhalten, dass Ruisinger einesehr lesenswerte Studie vorgelegt hat, deren Lek-t�re besonders durch ihre detailreichen und me-thodisch reflektierten Einblicke in die BriefpraxisLorenz Heisters gewinnbringend ist und jedemempfohlen werden kann, der an der Medizin des18. Jahrhunderts, an Patientengeschichte oder ander Auswertung von Konsiliarkorrepondenzen in-teressiert ist.

Stefan Schulz (Bochum)

212 i 2010 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim Ber. Wissenschaftsgesch. 33 (2010) 211–223

DOI: 10.1002/bewi.201001476

Marion M�cke, Thomas Schnalke, Briefnetz Leopoldina. Die Korrespondenz derDeutschen Akademie der Naturforscher um 1750. Berlin, New York: Walter deGruyter 2009. 731 S., 12 Abb., e 99.95. ISBN-13: 978-3-11-020105-5.

Die Deutsche Akademie der Naturforscher Leo-poldina z�hlt zu den �ltesten der bis heute konti-nuierlich bestehenden wissenschaftlichen Akade-mien in Europa. Dennoch wurde sie von der Ge-schichtsschreibung bislang eher vernachl�ssigt.Dies mochte, so ist dem einleitenden Kapitel „Diekorrespondierende Akademie“ zu entnehmen,nicht zuletzt daran gelegen haben, dass die Leopol-dina sich von den anderen Akademien in wesent-

lichen, strukturellen Aspekten unterschied und da-her von fr�heren Historiographen als weniger ein-flussreich wahrgenommen wurde: Sie hatte sich1652 auf Initiative von vier Schweinfurter �rztenkonstituiert und behielt den Charakter einer priva-ten Vereinigung mit weitgehenden Freiheiten auchnach ihrer 1677 erfolgten Ernennung zur Kaiserli-chen Reichsakademie bei; sie besaß bis 1878 keinr�umliches Zentrum, sondern hatte als wandernde