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Roswitha Gruber

Großmütter erzählen

Geschichten aus der guten alten Zeit

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© 2012 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim.www.rosenheimer.com

Ungekürzte Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung des Rosenheimer Verlagshauses.

2016 Brunnen Verlag Gießenwww.brunnen-verlag.de

Umschlaggestaltung: Ingo RieckerUmschlagfoto: Shutterstock

Lektorat und Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad AiblingDruck und Bindung: CPI Ebner & Spiegel, Ulm

ISBN 978-3-7655-4288-6

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Die Schweinchenschmugglerin . . . . . . . . . . . . . . 9

Große Liebe zu kleinen Tieren . . . . . . . . . . . . . . 29

Auf dem Rittergut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

Heimweh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88

Eine überschattete Kindheit . . . . . . . . . . . . . . . . 109

Schäferstündchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

Die Fehlprognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142

Ein vorlautes Kind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

Viermäderlhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194

Dirndl vom Einödhof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208

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Allen Großmüttern gewidmet

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Vorwort

Aus den Märchen ist sie uns seit frühester Zeit ver-traut: die gütige, die verständnisvolle, manchmal auchdie sorgende Großmutter. Doch nicht nur die Mär-chen haben sich dieser liebevollen Figur angenom-men. Auch in anderer Literatur begegnet sie uns im-mer wieder. Nicht ohne Grund, denn die Großmutterspielt in unserem Leben eine wichtige Rolle.

Davon wird in diesem Buch nur am Rande die Redesein. Diesmal wollen wir die Großmutter aus einer an-deren Perspektive betrachten: Großmütter warenauch einmal jung, sie waren auch einmal Kinder. Auchsie hatten ihre Wünsche und Träume, ihre Hoffnun-gen und Sehnsüchte. In diesem Buch erzählen dieGroßmütter selbst aus ihrer Kindheit. Wir werden er-fahren, wie sie gelebt haben und wie ihr Umfeld gewe-sen ist.

Bei meinen Recherchen zu diesem Buch traf ich aufsehr unterschiedliche Großmütter. Es gab solche, diegleich munter von der Leber weg erzählten. Anderezierten sich: »Ach, ich weiß nicht, was ich Ihnen da er-zählen soll. Von früher weiß ich gar nichts mehr.«Nachdem ich aber durch gezielte Fragen nach derKindheit einen Quell angezapft hatte, sprudelte es nurso aus ihnen heraus.

Wahre Erinnerungsschätze sind dabei zu Tage ge-treten. Erstaunlich war für mich, wie unterschiedlichdie Erinnerungen der Großmütter an ihre Kindheit

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waren. Offenbar hatte jede beim Speichern ihrer eige-nen Geschichte andere Schwerpunkte gesetzt. VieleEpisoden aber zeigen Parallelen – nicht in der Spra-che, wohl aber im Inhalt.

In diesem Buch sind lebendige, authentische Ge-schichten von Großmüttern gesammelt, deren Kind-heit und Jugendzeit vom Leben auf dem Lande, vongesellschaftlichen Gegebenheiten in der Stadt undvom Moralkodex der unruhigen Jahre der erstenHälfte des 20. Jahrhunderts geprägt wurden. Sie sindso aufregend und so bunt wie das Leben selbst.

Ich hoffe, die Leser empfinden ebenso viel Vergnü-gen wie ich beim Zuhören dieser Lebenserinnerungen.Und sie können die Freude nachempfinden, die dieGroßmütter selbst beim Erzählen hatten.

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Die Schweinchenschmugglerin

Nandl, Jahrgang 1930, aus Bichlach/Tirol

Ich kam schon wenige Monate nach meiner Geburtvon zu Hause weg. Denn meine Eltern waren beideernstlich krank. Durch einen Unfall mit einem Pferdhatte mein Vater einen Lungenriss davongetragen.Und meine Mutter litt an Rotlauf, einer Krankheit,die häufiger bei Schweinen vorkommt, aber ganz sel-ten beim Menschen. Woher Mutter diese Krankheithatte, ist allen ein Rätsel geblieben. Unsere Schweinewaren nämlich gesund.

Meine Großmutter war mit ihrer jüngsten Tochterfür eine Zeit lang zu uns ins Haus gekommen, um sichum meine Eltern, das Haus und den Hof zu kümmern.Sobald es meinen Eltern wieder besser ging, packtendie Großmutter und meine Tante wieder ihre Reiseta-sche. Bei der Verabschiedung beschloss meine Groß-mutter spontan: »Das Dirndei nehm ich jetzt malmit.« Damit meinte sie mich. Sicher wollte sie meinegenesende Mutter entlasten, die ohnedies noch vierKinder im Alter von anderthalb bis sechs Jahren zuversorgen hatte. Vielleicht dachte meine Großmutteraber auch an mich. Vielleicht wollte sie mir ein besse-res Leben bieten, als ich es unter den gegebenen Um-ständen zu Hause gehabt hätte.

Ich blieb auf dem Hof meiner Großeltern, bis ichfast neun Jahre alt war. Bei meinen Eltern waren in-

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zwischen zwei weitere Geschwister auf die Welt ge-kommen. So war es für meine Mutter bestimmt eineEntlastung, dass ich bei der Großmutter blieb.

Mehr noch denke ich aber, dass die Großmuttermich nicht wieder hergeben wollte. Anfangs war ichnämlich das einzige Kind, vor allem das einzige Mäd-chen auf dem Hof. Es gab da noch meinen Großvaterund die vier fast erwachsenen Söhne, meine jungenOnkel. Alle liebten und verwöhnten mich, besondersmein ältester Onkel, der Pepi. Sie haben mit mir ge-spielt, gelacht und herumgealbert, wie das nur halb-wüchsige Burschen fertig bringen.

Dass mein Großvater in dieser Zeit starb, weiß ichnoch, obwohl ich erst zweieinhalb Jahre alt war. Dasist fast nicht zu glauben. Deutlich sehe ich noch vormir, wie der Postbote kam und ein Paket auf den Kü-chentisch legte. Diesen Vorgang kann mir niemand er-zählt haben, denn es war niemand dabei, als er das Pa-ket abstellte. Neugierig umkreiste ich den Tisch, bisdie Großmutter kam. Gespannt beobachtete ich, wiesie das Paket öffnete. Zu meiner Enttäuschung kamenaber nur die Sterbebilder vom Großvater heraus.

Nach seiner Beerdigung habe ich immer in seinemBett geschlafen, neben der Großmutter. Sie mochtenicht allein sein. Ich nannte sie Mutter – wie alle hierim Haus. Sicher, wir sprachen auch von meinen El-tern. Großmutter nannte sie Mami und Dati. Ichwusste, wo sie wohnten, und wir besuchten sie gele-gentlich. Aber ich hatte keine wirkliche Beziehung zuihnen. Sie waren für mich fremde Leute geworden.

Nach und nach verließen meine erwachsenen On-kel ihr Elternhaus. Nun wurde es daheim stiller undstiller, und das Verhältnis zwischen Großmutter und

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mir wurde noch enger. Der Letzte, der aus dem Hausging, war Onkel Pepi. Aber eigentlich ging er gar nichtaus dem Haus. Er zog nur innerhalb des Hofes in eineeigene Wohnung, weil er geheiratet hatte. Seine Frau,die Resi, hat mich sehr gern gemocht. Aber so nachund nach kamen bei Resi vier Buben an. Damit warPepis Frau voll beschäftigt. Sie war immer dankbar,wenn ich ab und zu die Kindsmagd machte und ihrden einen oder anderen Buben für ein paar Stundenabnahm.

Meine Großmutter brachte mir schon früh das Stri-cken bei. Mit sechs, sieben Jahren konnte ich schonStrümpfe stricken. Jeden Abend nach der Arbeitstrickte ich. Auch an Regentagen. Das habe ich abernie für Arbeit angesehen. Es hat mir Spaß gemacht.Die ›Mutter‹ und ich saßen dann so nett beisammen.Wir strickten beide um die Wette, und sie erzählte mirGeschichten von früher.

Es war gar keine Rede mehr davon, dass ich bei mei-ner Großmutter lebte, oder ob oder wann ich wiedernach Hause gehen würde. Ich fühlte mich äußerstwohl in ihrer Umgebung. Ich mochte alle, und allemochten mich. Meine Großmutter, der Pepi, seineFrau, die vier Buben und ich lebten miteinander, alsseien wir eine einzige Familie. Alles verlief harmo-nisch, ein geradezu paradiesischer Zustand. Aber injedem Paradies gibt es eine Schlange. Bei mir trat diesein Form eines harmlosen, kleinen Balles in Erschei-nung. Ein roter Gummiball mit weißen Tupfen solltemein Leben grundlegend verändern.

Onkel Pepi hatte mich von klein auf mit allerlei Ge-schenken verwöhnt. Von ihm bekam ich bereits ein

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Paar schwarze Lackschuhe, als noch kein Kind imDorf welche hatte. Mal brachte er mir eine Orangemit, mal Schokolade, mal Kekse. Auch als er schon ei-gene Kinder hatte, machte er keinen Unterschied. Erbedachte uns alle gleichermaßen.

Eines Tages nun brachte er besagten Gummiballmit. Der war kaum größer als eine dicke Apfelsineund sollte doch zum Zankapfel werden. Es war klar,dass er für uns fünf Kinder nicht fünf Bälle mit-brachte, wie das heute üblich ist, wo jedes Kind seineneigenen Ball bekommt.

Damals musste ein Ball für fünf Kinder reichen. Wirhatten das Geld nicht so üppig, und wir spielten eh ge-meinsam.

Der Fehler in meinen Augen war, dass der Onkelden Ball nicht mir, der Ältesten, überreichte, sondernseinem erstgeborenen Sohn. Ich fühlte mich arg zu-rückgesetzt. Bestimmt hatte sich Onkel Pepi nichtsBöses dabei gedacht. Er wollte bestimmt keinen Un-terschied zwischen mir und seiner eigenen Familie ma-chen. Wahrscheinlich hatte er angenommen, dass ichmit meinen fast neun Jahren gar nicht mehr an einemso kindlichen Spielzeug interessiert war. Ich aber warin meiner tiefsten Seele noch ein Kind und von demheißen Verlangen beseelt, mit diesem Ball zu spielen.Außerdem fühlte ich mich durch die Handlungsweisemeines Onkels ausgegrenzt.

Also reagierte ich heftiger, als ich das üblicherweisezu tun pflegte. Ich wollte unbedingt diesen Ball vonmeinem kleinen Cousin haben. Er war nicht bereit,mir den Ball zu geben, also versuchte ich, ihm den Ballzu entreißen. Der Kleine aber verteidigte ihn wie einLöwe. Und so kam es zu einem harmlosen kindlichen

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Gerangel zwischen einem Vierjährigen und einerAchtjährigen.

In diesem Moment betrat unsere Großmutter dieSzene.

»Nandl, ich meine, es ist jetzt an der Zeit, dass duwieder heim zu deinen Eltern kommst.«

Dieser Ausspruch traf mich wie ein Keulenhieb.War denn mein kleines Vergehen so schlimm, dass ichdafür gleich in die Verbannung gehen musste? Nichtanders empfand ich dieses Nach-Hause-geschickt-werden. Mein Cousin Peperl muss das ähnlich gese-hen haben. Unter Tränen flehte er Großmutter an:»Bittschön, schick die Nandl nicht weg. Sie kann jaden Ball haben.«

Auch Peperls Mutter mischte sich nun ein.»Mutter, deswegen brauchst die Nandl doch nicht

gleich heimschicken. Das war doch wirklich nichtschlimm. Ich mag sie doch so. Warum bist du so hartgegen das Dirndei?«

»Das weiß ich auch nicht«, brummte sie vor sichhin. »Die Nandl hat ja auch noch Eltern.«

Großmutters Antwort, die zu dem Zusammenhanggar nicht passte, und ihr trauriger Gesichtsausdruckhaben mich später oft über diese Geschichte nachden-ken lassen. Ich kam schließlich zu der Überzeugung,dass meine Eltern wahrscheinlich schon lange ummeine Rückkehr gebeten hatten. Vermutlich hatteGroßmutter aus eigennützigen Motiven diese Bitte im-mer wieder hinausgezögert. Womöglich hatte sie da-bei auch mein Wohl im Auge gehabt. Vielleicht wolltesie mir die unbeschwerte Kindheit so lange wie mög-lich erhalten. Vielleicht hatte sie es nicht übers Herzgebracht, mich einfach nach Hause zu bringen, und

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deshalb auf einen triftigen Trennungsgrund gewartet.Den hatte ihr der harmlose ›Zankapfel‹ nun beschert.Diese Erkenntnis kam mir, wie gesagt, erst später. Da-mals aber war ich todunglücklich über die Härte mei-ner Großmutter.

Weinend packte ich mein Zeug zusammen. Wei-nend saß ich neben Onkel Pepi auf dem Wagen, als ermit mir vom Hof fuhr. Meine Großmutter ließ sichzum Abschied nicht blicken, und meine Tante hattealle ihre Kinder ins Haus geholt. So sah niemandmeine Tränen.

Unterwegs genoss ich die Fahrt durch die grüneSommerlandschaft, zumal Pepi mich durch kleineScherze aufzuheitern wusste.

Der Empfang zu Hause war eigenartig. Er warnicht dazu angetan, mir ein Gefühl von Wärme undGeborgenheit zu vermitteln.

»Da bist du ja«, bemerkte mein Vater und ging insFeld.

»Pass auf, dass der Luggi und der Hansi nicht mit-einander raufen«, lautete die Anweisung meiner Mut-ter, ehe sie im Stall verschwand.

Da stand ich nun: mit zwei kleinen Brüdern, dreiund sechs Jahre alt, die ich kaum kannte. Natürlichließen sie sich von mir, der völlig Fremden, nichts sa-gen und rauften trotzdem.

Beim Abendessen starrten mich meine älteren Ge-schwister an, als sei ich ein Marsmensch. Da half esauch nichts, dass meine Mutter mich vorstellte.

»Das ist eure Schwester Nandl, sie wohnt jetzt auchbei uns.« Misstrauisch beäugten mich die Schwestern,als wollten sie ausdrücken: ›Die hat uns gerade nochgefehlt.‹

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Im Mädchenzimmer standen zwei Betten. Das einedavon wurde mir zugewiesen. Burgi schlüpfte zu Leniins andere Bett. Statt den Luxus zu genießen, ein Bettfür mich allein zu haben, weinte ich still in meine Kis-sen, denn ich fühlte mich wieder einmal ausgegrenzt.

Nach einigen Wochen wagte ich einen Vorstoß beimeinen Schwestern.

»Es kann doch auch mal eine von euch bei mirschlafen.«

Einmütig lehnten die beiden das ab, ›weil ich so ma-ger sei‹. Sicher, ich war ein dünnes Mädchen. Aber daswar nicht der wirkliche Grund. Mir war klar, dass diebeiden trotz des Altersunterschiedes von drei Jahreneine geschwisterliche Einheit bildeten. Altersmäßighätte Burgi besser zu mir gepasst. Sie war nur ein Jahrälter als ich. Aber die beiden akzeptierten mich nichtals Schwester. Sie sahen in mir nur die störende Dritte.Deshalb ging mein Sehnen und Trachten nur danach,wieder von hier wegzukommen.

Manchmal, wenn ich allein in der Stube war, legteich mich auf die Ofenbank und grübelte betrübt: ›Waskann ich tun, damit ich wieder zu Großmutter kom-me? Was mach ich nur? Wie kann das gehen?‹ Abermir fiel nichts ein. Also blieb mir nichts anderes übrig,als mich an die neue Situation zu gewöhnen. Anfangshabe ich noch oft geweint. Es ist nicht so einfach,plötzlich ein ungeliebter Teil einer Großfamilie zusein, wenn man acht Jahre lang quasi mit der Pflege-mutter allein gelebt hat. Ich musste es erst verdauen,von heute auf morgen mitten in einer siebenköpfigenGeschwisterschar zu sein, wo ich doch noch bis vorkurzem den Status eines Einzelkindes genossen hat-te. Hier fühlte ich mich als Eindringling. Alle in der

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Familie kannten sich untereinander. Sie waren seitJahren miteinander vertraut. Ich aber war ein Fremd-körper – und blieb es.

Erst als im Jahr darauf meine Schwester Cilli gebo-ren wurde, änderte sich etwas für mich. Cilli war jetzt›meine Schwester‹. Von Anfang an betraute mich un-sere Mutter, die ja Arbeit genug hatte, mit der Auf-gabe, dieses Kind zu versorgen und zu hüten. Cilliwurde ›mein Kind‹, die zog ich für mich auf. Das fülltemich aus und lenkte mich von meinem Kummer ab.

Und da gab es noch ein anderes Problem: die schu-lische Umstellung. Neue Lehrpersonen, an die ichmich gewöhnen musste, neue Mitschüler, andereLehrmethoden. Ich sackte leistungsmäßig plötzlichstark ab. Dieser Leistungsabfall mag aber auch darinbegründet gewesen sein, dass ich in meinem neuenZuhause todunglücklich war.

Auch in der Schule fand ich keinen Kontakt. DieBanknachbarin wollte mit mir nicht reden, in der Pau-se wollte niemand mit mir spielen. Betrübt schaute ichzu, wie die anderen Kinder Kreisspiele machten oderFangen spielten.

Mir wurde schnell klar, dass ich bei den Mädchenzu Hause und in der Schule keine Chancen hatte. Des-halb habe ich aufgehört, deren Gesellschaft zu suchen.Ich hielt mich fortan mehr an die Buben, bei denen ichschnell Anklang fand.

Auch als ich älter wurde, hatte ich keine Freundin-nen. Vielleicht es lag daran, dass ich von klein auf nurmit Buben zu tun gehabt hatte. Zuerst waren meinehalbwüchsigen Onkel meine Spielkameraden gewe-sen, später meine kleinen Cousins. Jedenfalls fand ichunter meinen Klassenkameraden eine ganze Menge

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Freunde. Die waren mir nach kurzer Zeit wichtiger alsmeine eigene Familie.

Wenn die Schule aus war, blieb nicht viel Zeit zumTraurigsein. Meine kleine Schwester war ja zu versor-gen. Und daneben warteten noch viele andere Tätig-keiten im Haushalt auf mich. Mit zunehmendem Alterwurden meine Pflichten auch auf Feld und Stall ausge-dehnt. Schon früh musste ich mich um die Rösserkümmern. Musste sie ausputzen, striegeln und mit ih-nen fuhrwerken wie ein Rossknecht. Pferde warenbald mein Leben.

Mittlerweile war Krieg. Jeder Mann, der einigerma-ßen arbeiten konnte, war eingezogen worden. ZuHause blieben nur die alten Männer, die Invalidenund die Frauen zurück. Auf den Höfen aber musstedie Arbeit weitergehen. Deshalb griff man auf die Kin-der zurück. Schon die zwölfjährigen Schulkinder ließman im Sommerhalbjahr zu Hause, weil jede Handgebraucht wurde. Da hieß es arbeiten, arbeiten, arbei-ten.

Als ich vierzehn war, ist mir nicht mal die Idee gekom-men, dass ich einen Beruf erlernen könnte odermüsste. Vor lauter Arbeit habe ich nicht nach rechtsund nicht nach links geschaut. Ich wusste gar nicht,dass es außer Landwirtschaft auch noch etwas ande-res gab. Selbst im Spätherbst gab es genug Arbeit fürmich. Wie ein Fuhrknecht musste ich mit den Rössernin den Wald und Brennholz für den Winter einfahren.

Als der Zweite Weltkrieg beendet war, begann einvöllig neues Leben für uns. Die Grenze zwischen

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Deutschland und Österreich wurde wieder geschlos-sen. Es herrschte Notzeit, hüben wie drüben. Deshalbblieb es nicht aus, dass die grenznahen Bewohner ver-suchten, für sich und ihre Familien Nahrungsmittel zubeschaffen. Es gab Sachen, die sie drüben hatten unddie wir brauchen konnten, und solche, die wir hatten,die man aber in Deutschland brauchte. Deshalb ent-stand bald ein lebhafter ›kleiner Grenzverkehr‹. WirKinder wurden rechtzeitig abgerichtet zu schweigen.Die Eltern schwiegen sowieso über ihre illegalenGrenzgänge.

An den offiziellen Stellen konnte man die Grenzefür Schmuggelgänge natürlich nicht überschreiten.Aber die grüne Grenze war ja lang genug, und es gabausreichend Schlupflöcher. Die kannten aber nichtnur wir – das war auch den Grenzbeamten bekannt.Deshalb patrouillierten sie in unregelmäßigen Zeitab-ständen Tag und Nacht entlang der Grenze. Wollteman etwas über die Grenze schmuggeln, galt es alsoeinen Zeitpunkt zu erwischen, an dem die Grenzer dieausgewählte Stelle gerade passiert hatten. Dann konn-te man davon ausgehen, dass man für eine kurze Zeitvor ihnen sicher war.

Kurzum: Schmuggeln war bald alltäglich und ge-hörte bei allen ›Anrainern‹ zum Alltag. Auch meine äl-teren Geschwister hatten ihre ›Grenzerfahrungen‹ ge-macht. Einige von ihnen hatten sogar Spaß an demSchmuggelgeschäft und machten sich einen gewissenSport daraus. Für sie war das ein gewisser Nervenkit-zel: Komme ich durch oder werde ich erwischt?

Ich war bis zu meinem fünfzehnten Geburtstag vorsolchen Schmuggelgängen verschont geblieben. Aberkurz danach war ich dran.

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»So, Nandl, jetzt bist du an der Reihe«, bestimmteder Vater. »Du gehst zum Moosbauern und holst zweiFerkel.« Er drückte mir mit der mageren Erklärung:»Da tut der Moosbauer die Schweindl rein«, einenRupfensack in die Hand. Alles andere hatte er wohlmit dem Moosbauer schon abgesprochen.

Bei diesem Auftrag war mir gar nicht wohl, ichwagte aber nicht, dem Vater zu widersprechen. Wirhatten ja nicht nur im Religionsunterricht gelernt: ›Dusollst Vater und Mutter ehren.‹ Es war mir auch vonder Großmutter und von der Mutter eingeimpft wor-den.

Bevor mich Vater mit dem Sack in die eisige Nachtentließ, beschrieb er mir noch genau, wo und wie ichzu gehen hatte. Er hatte eigens eine mondhelle Nachtabgewartet, damit ich mich besser zurechtfinden soll-te. Vater trat mit mir vors Haus und schaute sich wieein witterndes Wild nach allen Seiten um. Nichts Ver-dächtiges war zu sehen oder zu hören. Um aber ganzsicher zu sein, ging er zurück ins Haus und holte denHund. Den nahm er an die lange Leine. Sofort sausteder Hund in Richtung Grenze, zerrte an der Leine undbellte ganz fürchterlich. Der Vater hatte Mühe, ihnwieder zurück zu ziehen. Ohne ein Wort zu sagen, be-deutete mir der Vater, dass ich wieder ins Haus gehensollte. Erst hinter der geschlossenen Stubentür klärteer mich auf.

»Das hat jetzt keinen Wert. Die Grenzer sind ganzin der Nähe. Sonst hätte der Hund nicht angeschla-gen.«

Nach einer halben Stunde wagte mein Vater denzweiten Versuch. Mein Herz schlug bis zum Hals. Inder Wartezeit war mein bisschen Mut bis auf den

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Nullpunkt gesunken. Aber den Auftrag abzulehnen,wagte ich nicht. Diesmal blieb der Hund ruhig.

»Du kannst gehen«, entschied der Vater. »Die Luftist jetzt für mindestens eine halbe Stunde rein. In derZeit kannst du den Hin- und Rückweg leicht schaf-fen.«

Zaghaft tappte ich in die Nacht hinaus. Unter mirlag ein halber Meter Schnee. Aber ich sank nicht ein.Mein Vater hatte mit Absicht eine sehr frostige Nachtgewählt, in der der Schnee verharscht war. Das er-leichterte mir nicht nur das Gehen, es verhinderteauch, dass ich Spuren hinterließ. Schnell hatten sichmeine Augen an das Halbdunkel gewöhnt. Baldschritt ich auf dem Schnee so zügig voran, als gingeich über Beton. Ich hatte den Eindruck, es sei taghell,denn das Mondlicht wurde vom Schnee reflektiert.›Wenn ich aber so gut sehe, so werden mich die Grenz-beamten ebenso gut sehen können‹, fürchtete ich.Meine Angst steigerte sich. Immer schneller hasteteich meinem Ziel entgegen.

Unbehelligt erreichte ich den beschriebenen Bau-ernhof. Auch dort wurden keine überflüssigen Wortegemacht. Der Moosbauer steckte, ohne dass ich da-nach fragen musste, die beiden entzückendenSchweinchen in den Sack, band ihn zu und hängte ihnmir so geschickt über die Schulter, dass eines der Fer-kel auf meiner Brust zu liegen kam, das anderewärmte meinen Rücken.

Wortlos marschierte ich wieder hinaus in die Kälte.War es das Schütteln bei jedem Schritt? War es dieFinsternis in dem Sack? Oder war es die Kälte? Nachwenigen Metern jedenfalls fingen die Schweinchenfürchterlich an zu quieken. Mir blieb das Herz fast

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stehen. ›Du lieber Gott‹, dachte ich, ›was wird dennjetzt? Jetzt brauchen die Zöllner mich gar nicht erst zusehen, sie werden mich schon von der Ferne hören.‹

Wie ein gehetztes Wild jagte ich vorwärts. Nichtnach rechts und nicht nach links wagte ich zuschauen. Sobald mich die Beamten erblickt habenwürden, gab es keine Fluchtmöglichkeit mehr fürmich. Meine quiekende Last würde ihnen auf jedenFall meinen Standort verraten. Also schaute ich im-mer nur stur auf den Boden, damit ich nicht in eineVertiefung geriet oder über einen Buckel stolperte.Dann wäre ich ohnedies verloren gewesen. Alle Heili-gen im Himmel rief ich an. Ich flehte, sie mögen mirbeistehen, damit ich unbehelligt mit meiner Beutenach Hause komme.

Es war wirklich nicht weit vom Moosbauern bis zuuns. Aber diese Viertelstunde kam mir vor wie eineEwigkeit. In der mondhellen Nacht, auf dem strahlen-den Schnee, mit den quiekenden Ferkeln war ich dieideale Zielscheibe der Grenzer. Nie in meinem ganzenLeben, weder vorher noch nachher, habe ich eine sol-che Angst ausgestanden. Ich hatte keine genaue Vor-stellung davon, was geschehen würde, wenn manmich erwischte. Auf jeden Fall aber etwas Furchtba-res. Deshalb hastete ich, wie von Furien gejagt, weiterund weiter. Rundum blieb alles still. Nur das imperti-nente Quieken hinter mir und vor mir gellte durch dieNacht. Mein Herz pochte so heftig, dass ich mir ein-bildete, man könnte es hören. Aber ich hatte Glück.Es kam niemand. Es rief niemand. Es schoss niemand.

Mit Schweißperlen auf der Stirn, völlig außer Atem,erreichte ich unser Haus, erreichte ich die Stube.Sichtlich angespannt saß der Vater auf der Ofenbank.

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Ich nahm den Sack von der Schulter und legte ihm dieFerkel vorsichtig vor die Füße.

»Vater, da hast du deine Schweinderl«, keuchte ich,»aber das eine sag ich dir: Ferkel über die Grenze tra-gen, das tu ich nimmer.«

Das brauchte ich auch nicht mehr. Denn noch be-vor ich meinen sechzehnten Geburtstag beging, nahmmein Leben erneut eine Wende.

Wie ein Märchenprinz stand einige Monate nach demSchweinchenschmuggel mein Onkel Pepi vor mir. Ichhätte mir diese Situation selbst in meinen kühnstenTräumen nicht ausmalen können. Deshalb kam es mirvor, als wäre er gekommen, um die verwunschenePrinzessin zu erlösen.

»Ach, Nandl, ich tät dich halt so notwendig brau-chen, zum Stallgehen«, sagte er die inhaltsschwerenWorte.

Es war, als hätte der Himmel ihn geschickt. Geradejetzt war ich seit der Schweinchengeschichte in einembesonderen seelischen Tief, das mir das Leben in mei-nem Elternhaus, in dem ich mich noch immer nichtwohlfühlte, noch schwerer machte.

Am liebsten wäre ich stehenden Fußes mit meinem›Märchenprinzen‹ auf und davon gegangen. Aber daswar unmöglich. Onkel Pepi musste erst noch mit mei-nen Eltern reden. Meine Mutter, die ja seine Schwesterwar, jammerte, dass sie mich im nächsten Sommerdringend auf der Alm bräuchten. Der Pepi versicherteihr, dass ich im nächsten Frühjahr wieder zurück sei.Da gab sie ihr Einverständnis.

Diese Aussicht erfreute mich natürlich nicht. ›Aber

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erst bist du mal für eine Weile weg‹, redete ich mir gutzu und packte hastig meine Sachen zusammen. Aufdem Weg nach Bichlach war ich der glücklichsteMensch, den man sich denken konnte.

Mit offenen Armen nahm mich die Großmutter wie-der auf, und ich bezog wieder das Bett an ihrer Seite.Wohnen tat ich also wieder bei ihr, aber zur Arbeit gingich zu meinem Onkel. Ja, war das schön! Kaum warich dort, waren meine alten Wurzeln wieder neu ent-flammt. Es war, als sei ich nie weg gewesen.

Meine Cousins waren zu patenten und lebhaftenBuben herangewachsen, zwischen neun und zwölfwaren sie jetzt. Sie zogen ihre Freunde herbei, undgrad lustig war’s. Was haben wir für Spaß miteinandergehabt! Auch noch, als die Buben dann älter wurden.Da sind die jugendlichen Freunde zum Kartenspielengekommen. Der eine oder andere hätte schon Inter-esse an mir gehabt.

Vorsichtig fragten sie bei Peperl an.»Du kannst es versuchen«, war jedes Mal seine Ant-

wort. »Da geht aber nix.« Auf diese Weise blieb dieHarmonie in der Gruppe erhalten. Keiner brauchteauf den andern eifersüchtig zu sein. Und ich war die›Henne im Korb‹ und vor Zudringlichkeiten sicher.

Während ich auf dem Hof meiner Eltern für diePferde zuständig gewesen war, musste ich mich auf demHof des Onkels um die Kühe kümmern. Die Umstel-lung fiel mir nicht schwer. Zu Hause war ich danebennoch Kindsmagd gewesen und bei Bedarf Köchin. Inabsehbarer Zeit sollte ich auch noch Sennerin werden.

So ging das über mehrere Jahre hin: Im Winter arbei-tete ich bei meinem Onkel als Stallmagd, im Sommer

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arbeitete ich auf der elterlichen Alm als Sennerin. Mirkommt es heute so vor, als sei ich immer herumge-reicht worden. Ich habe mich herumreichen lassen. Je-den Posten, der mir zugeteilt wurde, habe ich voll undganz ausgefüllt.

Die Arbeit auf der Alm hat mir Freude gemacht,weil ich mein eigener Herr war. Faulenzen konnte ichnicht dort oben, es musste ja alles erledigt werden.Aber ich konnte mir meine Zeit einteilen, und nie-mand redete mir drein.

Der Nachteil des Almlebens war die Einsamkeit.Den ganzen Tag über hatte ich niemanden zum Re-den. Deshalb grübelte ich viel und wurde vielleicht einbisschen schwermütig. Vielleicht wirkte in meinemUnterbewusstsein auch noch nach, dass ich als Acht-jährige fortgeschickt worden war, und dass ich michzu Hause nie akzeptiert und immer ausgegrenzt ge-fühlt hatte. Jetzt war ich auf der Sennhütte wirklichausgegrenzt. Fernab von der Familie, fernab von allenVerwandten und Freunden hockte ich mutterseelenal-lein auf der Alm.

Die einzige Abwechslung des Tages war, wenn icham Abend die Sahne zu Tal brachte. Das machte mirnicht nur Freude, es ersparte mir auch die Mühe desButterstampfens. Weil die Alm nicht allzu weit vonmeinem Elternhaus entfernt lag, konnte man dieSahne leicht jeden Abend hinunterbringen. Das But-tern übernahm die Mutter selbst. Sie war nämlichschon so fortschrittlich, dass sie einen Motor an ihremButterfass hatte. So war das Buttermachen auch fürsie nicht mehr so anstrengend und zeitraubend. Wennich unten war, nahm ich am gemeinsamen Essen teil.Das ersparte mir nicht nur das Hinaufschleppen von

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meinen Lebensmitteln, es ersparte mir auch das Ko-chen auf der Alm. Kochen hätte ich eh nicht könnendort. Es gab keinen Herd. Nur Brot nahm ich auf demRückweg zur Alm mit, damit ich was fürs Frühstückund für die Brotzeit hatte.

In meinem zweiten Almsommer wurde es besser. Dawar meine Schwester Burgi immer wieder mal eineWoche lang bei mir auf der Alm. Dort kamen wir unsein bisschen näher. Endlich hatte ich das Gefühl, eineSchwester in ihr zu haben. Leider blieb es bei dem ei-nen Sommer. Mit achtzehn heiratete sie nämlich, undich war wieder verlassen.

Dass ich fast die Hälfte des Jahres auf der Alm ver-brachte und die andere Hälfte bei meinem Onkel, warnicht dazu angetan, die Familienbande zu festigen.Meine Mutter mochte mich sicher, aber sie blieb mirfremd. Mein Vater ebenso. Und ganz zu schweigenvon meinen Geschwistern. Nur zu meinem ältestenBruder, dem Matthias, entwickelte sich ab einem ge-wissen Alter so etwas wie ein geschwisterliches Ver-hältnis. Doch davon später.

Wenn mir die Tage auf der Alm lang und langweiligwurden, war die Aussicht auf den Winter mein einzi-ger Trost. Im Winter hatte ich wieder ›meine Familie‹,meine Wärme, meine Geborgenheit im Hause derGroßmutter.

Inzwischen war ich in dem Alter, wo ein Mädchenauch mal gerne ausgehen mochte. Aber Großmutterwar in diesem Punkt streng und unerbittlich. Sie hü-tete mich wie ihren Augapfel. Da ich ja nach wie vorin dem Bett neben dem ihren schlief, war an ein heim-liches Ausbrechen nicht zu denken.

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In dieser Zeit wurde mir mein Bruder Matthias einFreund und eine große Hilfe. An manchen Samstag-abenden durfte er mich zum Tanzen oder Ausgehen ab-holen. Wenn ich mit ihm ausging, hatte meine Groß-mutter nichts dagegen. Matthias führte mich zuverschiedenen Festlichkeiten mit Musik und Tanz. Wiejedes junge Mädchen genoss ich es, umschwärmt zuwerden. Vielleicht genoss ich es noch ein bisschen in-tensiver als andere, weil ich schon früh die Erfahrunggemacht hatte, ausgestoßen, abgeschoben und abge-lehnt zu werden. Jetzt gehörte ich dazu, endlich. Ichwar wer. Ich wurde geschätzt. Diesen Zustand fand ichso himmlisch, dass ich mich an keinen meiner Verehrerbinden wollte. Immer neu umworben zu werden, dasgenoss ich auf jedem Ball.

Dieser herrlichen Leichtigkeit, der ich mich nach einerschweren, arbeitsreichen Kindheit hingeben wollte,bereitete mein Bruder mit einem Machtwort ein Ende.

Es gab da einen Burschen, der schon seit längererZeit ernste Absichten mir gegenüber bekundete. Erwar mit meinem Bruder befreundet. Eines Tagesmachte mir mein Bruder Vorhaltungen.

»Was du bis jetzt mit den Burschen gemacht hast,war mir egal. Mit dem Adi aber spielst du nicht. Dermeint es ehrlich. Der ist ein Mann fürs Leben.«

›Red du nur‹, dachte ich.Kurz nach dieser Verwarnung waren Matthias und

ich zu einer Hochzeit eingeladen. Auch der Adi warda. Ich beachtete ihn kaum. Es gab ja so viele andere,die mich zum Tanzen holten und mir schmeichelhafteWorte zuflüsterten. Auch ein ganz Verwegener war

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dabei. Einer, der sogar schon ein Motorrad besaß! Erschwärmte mir unablässig von seiner tollen Maschinevor. Das machte mich neugierig, und ich bat ihn umeine Probefahrt. Den Wunsch erfüllte er mir nur garzu gerne.

Wir fuhren aber nicht nur ins Blaue, sondern derjunge Mann steuerte einen kleinen Gasthof im Nach-barort an. Dort trank er ein Bier und ich eine Limo-nade. Es war alles völlig harmlos. Wir plauderten eineZeit lang, und dann traten wir die Rückfahrt an.

Als wir von unserem Ausflug zur Hochzeitsgesell-schaft zurückkamen, war mein Bruder bereits aufge-brochen. Nun schlug mir das Gewissen aber doch einwenig. Deshalb bat ich meinen Begleiter, mich mitdem Motorrad nach Hause zu bringen.

Wir waren natürlich lange vor Matthias zu Hause,der den Weg zu Fuß zurückgegangen war. Ich empfingihn spöttisch.

»Ja, wo warst du denn so lange? Ich bin schon seiteiner Ewigkeit daheim.«

Matthias ging auf diesen Scherz nicht ein. In er-schreckend ernstem Ton sagte er nur einen einzigenSatz.

»Das hast du nur einmal gemacht.«Diese Worte beeindruckten mich zutiefst. Von die-

ser Stunde an waren alle anderen Männer für michabgeschrieben. Für mich existierte nur noch der Adi.Dass ich mich so entschieden habe, habe ich nie be-reut. Deshalb bin ich meinem Bruder für seine Zu-rechtweisung dankbar bis auf den heutigen Tag.

Was ich in meiner Kindheit und Jugend an Bildungalles versäumt habe, merkte ich erst im Erwachsenen-alter. Erst da sah ich, dass es noch viele andere Dinge

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gab, von denen nichts bis zu uns auf den Bergbauern-hof gedrungen war. Trotzdem hatte ich genug Selbst-bewusstsein, um nicht darunter zu leiden. Mein Lebenlang hatte ich das Gefühl, dass das, was ich mache,richtig ist. Alles, was mir aufgetragen wurde, erledigteich mit großer Selbstsicherheit. Diese Haltung ver-danke ich meinem Vater. Er hat zwar wenig geredet,und wir hatten auch nur wenige Berührungspunkte.Aber den einen entscheidenden Satz von ihm habe ichmir gemerkt, und der war wegweisend für mein gan-zes Leben:

»Kinder, an dem Stecken, an den man gebundenwird, muss man ziehen.«

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