29
PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Heft 155, 39. Jg., 2009, Nr. 2, //-// Alex Demirovic ________ Rätedemokratie oder das Ende der Politik 1. Das Versagen der liberalen Demokratie In der Novemberrevolution, deren 90jähriges Jubiläum dieses Jahr ge‐ feiert wird, konnten die Linke und die deutsche Gesellschaft wählen zwischen Sozialismus, der auf die Einheit von Politik und Produktions‐ verhältnissen in Gestalt einer Rätedemokratie zielte, und Sozialdemo‐ kratie, die auf die Herstellung der parlamentarischen, repräsentativen, liberalen Demokratie zielte, die die Emanzipation in der Durchsetzung formaler Gleichheits‐ und Freiheitsrechte, also in der Überwindung der Feudalität und der Herstellung der Trennung von Markt und politischer Sphäre sah. Das Scheitern der sozialistischen Revolution in Deutschland gab gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen Raum, die zu enormer Kapitalmacht führten und massgeblich zu einer autoritären Lösung der Weltwirtschaftskrise nach 1929 beitrugen. Die liberale, repräsentative Demokratie konnte solchen autoritären Tendenzen nicht nur nichts entgegensetzen, vielmehr wurde aus der Mitte des demokratisch ge‐ wählten Parlaments heraus und von den bürgerlichen Parteien getra‐ gen die Entscheidung für einen von den Nationalsozialisten regierten autoritären Ausnahmestaat getroffen. Wie wenig geeignet die liberale Demokratie ist, autoritären Tendenzen entgegenzutreten, wurde in den vergangenen Jahren von der US‐Regierung unter George W. Bush de‐ monstriert. Aber es sind nicht nur die USA, für die eine Schwächung, wenn nicht sogar Aushöhlung der parlamentarischen Demokratie beo‐ bachtet wurde. Wieder einmal wird dies auch in Deutschland beobach‐ tet. „Wirtschaftsführer wie Politiker schwärmen zunehmend offen vom Can‐do‐Spirit des au‐ toritären Lagers. Während sie in heimischen Landen vorwiegend Stagnation ausmachen, sehen sie anderswo nur den Boom und bewundern ihn oft kritiklos. … Stimmen also un‐ sere jahrzehntelang gehegten und gepflegten Grundannahmen nicht mehr, etwa jener be‐ rühmte Spruch von Winston Churchill, dass die Demokratie zwar unvollkommen und kri‐ tikwürdig, aber doch eindeutig das am wenigsten schlechte aller schlechten Regierungs‐ systeme sei? Sind Gewaltenteilung und Menschenrechte eben kein universales Erfolgs‐ modell – funktionieren repressive Systeme womöglich am besten, kurze Wege statt lan‐ ger Diskussionen, Sagen‐wo’s‐langgeht statt Kompromissen?“ (Der Spiegel, Nr. 19, 5.5.2008)

Rätedemokratie oder das Ende der Politik - · PDF fileüberholt. Colin Crouch stellt fest, dass die parlamentarische Demokratie nicht mehr

  • Upload
    vuongtu

  • View
    220

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Rätedemokratie oder das Ende der Politik -  · PDF fileüberholt. Colin Crouch stellt fest, dass die parlamentarische Demokratie nicht mehr

PROKLA.ZeitschriftfürkritischeSozialwissenschaft,Heft155,39.Jg.,2009,Nr.2,//­//

AlexDemirovic________

RätedemokratieoderdasEndederPolitik

1.DasVersagenderliberalenDemokratie

InderNovemberrevolution,deren90jähriges Jubiläumdieses Jahrge‐feiert wird, konnten die Linke und die deutsche Gesellschaft wählenzwischenSozialismus,deraufdieEinheitvonPolitikundProduktions‐verhältnissen inGestalt einerRätedemokratie zielte, und Sozialdemo‐kratie,dieaufdieHerstellungderparlamentarischen,repräsentativen,liberalenDemokratiezielte,diedieEmanzipationinderDurchsetzungformalerGleichheits‐undFreiheitsrechte,alsoinderÜberwindungderFeudalitätundderHerstellungderTrennungvonMarktundpolitischerSphäresah.DasScheiterndersozialistischenRevolutioninDeutschlandgab gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen Raum, die zu enormerKapitalmachtführtenundmassgeblichzueinerautoritärenLösungderWeltwirtschaftskrisenach1929beitrugen.Die liberale, repräsentativeDemokratie konnte solchen autoritären Tendenzen nicht nur nichtsentgegensetzen, vielmehr wurde aus der Mitte des demokratisch ge‐wählten Parlaments heraus und von den bürgerlichenParteien getra‐gen die Entscheidung für einen von denNationalsozialisten regiertenautoritären Ausnahmestaat getroffen.Wiewenig geeignet die liberaleDemokratieist,autoritärenTendenzenentgegenzutreten,wurdeindenvergangenen Jahren von der US‐Regierung unter GeorgeW. Bush de‐monstriert. Aber es sind nicht nur die USA, für die eine Schwächung,wenn nicht sogar Aushöhlung der parlamentarischen Demokratie beo‐bachtetwurde.WiedereinmalwirddiesauchinDeutschlandbeobach‐tet.„WirtschaftsführerwiePolitikerschwärmenzunehmendoffenvomCan‐do‐Spiritdesau‐toritärenLagers.WährendsieinheimischenLandenvorwiegendStagnationausmachen,sehensieanderswonurdenBoomundbewundernihnoftkritiklos.…Stimmenalsoun‐serejahrzehntelanggehegtenundgepflegtenGrundannahmennichtmehr,etwajenerbe‐rühmteSpruchvonWinstonChurchill,dassdieDemokratiezwarunvollkommenundkri‐tikwürdig,aberdocheindeutigdasamwenigstenschlechteallerschlechtenRegierungs‐systeme sei? Sind Gewaltenteilung undMenschenrechte eben kein universales Erfolgs‐modell– funktionierenrepressiveSystemewomöglichambesten,kurzeWegestatt lan‐ger Diskussionen, Sagen‐wo’s‐langgeht statt Kompromissen?“ (Der Spiegel, Nr. 19,5.5.2008)

Page 2: Rätedemokratie oder das Ende der Politik -  · PDF fileüberholt. Colin Crouch stellt fest, dass die parlamentarische Demokratie nicht mehr

2 AlexDemirovic

Was der „Spiegel“ hier beschreibt, ist in gewisserWeise selbst schonüberholt.ColinCrouchstelltfest,dassdieparlamentarischeDemokratienicht mehr funktioniert, sondern in das Stadium der Postdemokratieübergegangenist:dieFassadederWahlenunddesParlamentsfunktio‐niert, aberdiepolitischenProzessewerdenvondengewähltenPoliti‐kern entsprechenddenWünschender global operierendenUnterneh‐men gesteuert (Crouch 2008). Die Finanz‐ und Wirtschaftskrise de‐monstriert dies eindrucksvoll. Die politisch ergriffenen MaßnahmendienendenBankenundzumgeringerenTeildenproduzierendenUn‐ternehmen,jedochnichtdenen,diedengesellschaftlichenReichtumer‐zeugen. Die Gesetze, die die Hilfsmaßnahmen für die Banken regeln,ermächtigen einekleineGruppevonMännern, überHunderteMilliar‐den Euro zu entscheiden. Öffentliche, gar demokratischeKontrolle istderart außerKraft gesetzt, dassvoneinerArtNotstandsregierungge‐sprochenwird.„Im Gesetz zur Stabilisierung des Finanzmarktes hat diese Funktion eine neunköpfigeGruppe des Bundestags‐Haushaltsausschusses. Öffentlichkeit und Parlament delegierenihreKontrollfunktiondamitaneingeheimtagendesGremium.Dasistnichtrevolutionär.GeheimeKontrollegibtesvonderökokomischsensiblenAuftragsvergabeüberdieBun‐deswehrbiszudenGeheimdiensten.Bemerkenswertbleibtesdennoch.DenndieRegie‐rung schirmt ihrHandeln zur Rettungmaroder Finanzinstitute auch nach der anderenSeiteab:EsgibtkeinenAnspruchauf staatlicheHilfe.WannderSouveränwas fürwentut,entscheidetalleiner–indiesemFallallerdingswederdasVolknochseineparlamen‐tarischenVertreter,sonderndiegewählteRegierung.DasistdieklassischeLogikdesAus‐nahmezustandes.DiepolitischeNotstandsverfassungvon1968wurdenieangewendet.UnddasökonomischeNotstandsgesetzvon2008?“(FrankfurterRundschau,18.10.2008)

Der Neoliberalismus hat in kapitalistischer Manier versprochen, dieWohlfahrtzusteigern–eineWohlfahrt,vondenenalle,dieetwasleisten,etwas abbekommen würden. Doch im Reproduktionsprozess hat daswundersame finanzdominierte Akkumulationsregime, das endlich dieLösung eines sich immer weiter steigernden und selbsttragendenWachstumsbringensollte,zueinerKrisegeführt,die ineinerbeinaheunvorstellbaren Größenordnung gesellschaftlichen Reichtum vernich‐tetsowievieleMillionenMenschen inArbeitslosigkeit,Elend,Obdach‐losigkeit und Tod führt. Die Bundesrepublik Deutschland bezeichnetsichalssozialenunddemokratischenRechtsstaat.DochdefactokameszueinemRückgangderEinkommenausLohnarbeitundzueinersozia‐len Polarisierung. Während der vergangenen Jahrzehnte erreichteWohlfahrtsgewinne wurden und werden vernichtet. Der liberal‐demokratischeStaatwillGleichheitundFreiheitnurformalgewährlei‐sten.Nichteinmaldasistimmersicher;einendarüberhinausgehendensozialenGehaltdieserNormenwillundkannernichteinlösen.Die Beobachtungen der problematischen Aspekte der parlamentari‐

Page 3: Rätedemokratie oder das Ende der Politik -  · PDF fileüberholt. Colin Crouch stellt fest, dass die parlamentarische Demokratie nicht mehr

RätedemokratieoderdasEndederPolitik 3

schenDemokratiesindnichtneu.SeitderFranzösischenRevolutionge‐rätdiebürgerlicheDemokratieimmerwiederinKrisen.Kontinuierlichwird sie deswegen von gegen den Kapitalismus gerichteten sozialenBewegungenunddenmitihnenverbundenenIntellektuellenkritisiert,die allenAnlass sahen, die parlamentarischeDemokratie als bürgerli‐che in Zweifel zu ziehen – und als eine positive AlternativeKonzeptederRätedemokratieentwickelten.Unter kapitalistischen Bedingungen verkehre sich Gleichheit vor demGesetzindieGleichheitinderBeherrschungundAusbeutungdurchdasKapital,Freiheit indieFreiheitdesVerhungernsundBrüderlichkeit indieschmachvolleWohltätigkeitsprotzerei.MitderHerrschaftskritikandenMängelndesParlamentarismussolldieDemokratieüberdiekapi‐talistischeOrdnunghinausgetriebenwerden.„Einenwirklichen sozialen Inhaltkönnenallediese Ideen [wieGleichheit, FreiheitoderGerechtigkeit;AD]nurunderstdannerhalten,wennsieaufeinSystemderwirtschaftli‐chenGleichheitaufgebautwerden.…UndsoverlangtgeradedieVerwirklichungderDe‐mokratiedenentscheidendenSchritthinausüberdieWeltdesBürgertums,überdieWeltdesKapitalismuszueinerneuenGesellschaftsordnung.“(Adler1919,134)

DieliberaleDemokratiemitihrenInstitutionenderRepräsentation,desParlamentsundderpolitischenParteienistnichtnebenbeiundzufälligunzulänglich.AufdemBodenderKlassengesellschaftkönnedieVolks‐vertretung niemals Ausdruck eines Volkswillens sein. Das sich selbst‐bestimmendeVolk gebe es noch nicht, denn dasVolk ist gespalten insoziale Klassen (ebd., 137ff). Diese Spaltung reproduziert sich in denVerfahren der repräsentativen Demokratie, die darauf zielen, Bedin‐gungenzu schaffen,unterdenendiepolitischenEntscheidungenzwarinWahlendurchdieBürger legitimiertundKritikenundProtesteauf‐genommen, gleichzeitig aber gerade dieMehrheit derBürger von derrealen Beteiligung an den Entscheidungen fern gehalten werden. Siekönnen keine eigenen Kandidaten aufstellen. Wahlen zum Parlamentfindenperiodisch alle paar Jahre statt.DasMandat desAbgeordnetenistnichtgebunden,er istdeswegenauchnichtdurchdieWählerkon‐trollierbar.Erhältsichfürden„FachmannderPolitik“,denSpezialisten„inSachenderGesetzgebung;erkannsichnichtvondenInstruktionenunwissenderLeute leiten lassen“.AlsVertreterderAllgemeinheit,desganzen Volkes, lässt er sich angeblich nicht von privaten Interessen,sondern nur von höheren politischen Grundsätzen bestimmen, seineAufgaben in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung sind die Politik unddieallgemeineRegulierung.ObwohlessichumdieGesamtgesellschaftbindendeEntscheidungengeht,werdenjeneAufgabenzueinerausge‐sellschaftlicher Sicht betrachtet untergeordneten Aktivität einer klei‐nenGruppevonSpezialisten,währendderwesentlicheTeilderalltägli‐

Page 4: Rätedemokratie oder das Ende der Politik -  · PDF fileüberholt. Colin Crouch stellt fest, dass die parlamentarische Demokratie nicht mehr

4 AlexDemirovic

chengesellschaftlichenArbeitenderProduktionundReproduktionalsTätigkeitenvonPrivatpersonengilt.DieParlamenteentscheidennichtallein über Gesetze, sondernwerden ihrerseits von zweiten KammernundVerfassungsgerichteneingeschränkt; sie regierenauchnicht selbst,sondernentscheidennurüberGesetze,währenddieausführendeStaats‐gewaltinderBürokratieverkörpertist.Diesalleslegtesnahe,inderpar‐lamentarischen Demokratie kein der bürgerlichen Klasse entgegenste‐hendes Prinzip, sondern imParlamentarismus dieHerrschaftsformderBourgeoisiezusehen(Pannekoek1946,67f,266ff;Adler1919,134f).Angesichts der Tatsache, dass die parlamentarischeDemokratie nichtnurnebenbeiUnzulänglichkeitenaufweist,sonderndiesesystematischzurHerrschaftdesBürgertumsundseinerspezifischenEigentumsver‐hältnissebeitragen, stellt sich seit zweihundert JahrendieFragenachAlternativen.DiesehrweitreichendeAlternative,dievondensozialenBewegungenhervorgebrachtwurde,sinddieErfahrungenmitunddieDiskussionenüberRätedemokratie.DieRätedemokratiedehntdiekol‐lektive Selbstbestimmung auf den Bereich der Ökonomie, der gesell‐schaftlichenArbeitinsgesamt,dergesellschaftlichenArbeitsteilungunddamit auf die Anordnung von Ökonomie und Politik, von alltäglicherReproduktionsarbeit und gesellschaftlicher Entscheidung, von PrivatundÖffentlichaus.Sienimmt inAnspruch,diesnichtnur füreinzelneBetriebeoderRegionenzuleisten,sondernauchdasGemeinwesenins‐gesamtzureorganisieren:siewilldieplanmäßigeVerwaltungvonPro‐duktion und Verteilung durch die Gesellschaft mit der Kontrolle derProduktionvonuntenvereinbaren(vgl.Korsch1919a,164).2.DieRätealsSphärepolitischerFreiheitInderoffiziellenGeschichtederpolitischenTheorie–diewieauch inanderenFälleneineGeschichtederSiegerist–,kommtHannahArendtdasVerdienstzu,andierätedemokratischenTraditionenerinnertunddie demokratietheoretische Bedeutung der Räte herausgearbeitet zuhaben.GleichzeitigjedochgibtsiedenRäteneineBedeutung,durchdieihrsozialerGehalt,dieTransformationderProduktionsweise,verlorengeht, und sie gegen die sozialistische und kommunistische Traditionausgespieltwerdenkönnen.Damit enteignet siedieseTradition aller‐dings eineswesentlichen,wenn nicht entscheidenden Emanzipations‐potentials.In jederRevolution seit 1789 –undergänzendkönnte gesagtwerdenseitderenglischenRevolution–habensichspontanRätegebildet,„oh‐nedaßirgendeinerderBeteiligtenjewußte,daßesdiesschoneinmalgegeben hat“ (Arendt 1963, 336; vgl. Kottler 1925). Die Räte stehen,HannahArendt zufolge, für einProjekt, dasnicht „staats‐, regierungs‐

Page 5: Rätedemokratie oder das Ende der Politik -  · PDF fileüberholt. Colin Crouch stellt fest, dass die parlamentarische Demokratie nicht mehr

RätedemokratieoderdasEndederPolitik 5

undordnungsfeindlich ist, sondern imGegenteildieNeugründungdesStaatesunddieErrichtungeinerneuenOrdnungbezweckt“(ebd.,336).DieBerufsrevolutionäre, zudenen sieMarxundLenin,ProudhonundBakunin zählt, seien den revolutionären Ereignissen nicht gewachsengewesen,hättendieBedeutungderRätenichterkanntunddieInstitu‐tionderRäte „bis zurVergessenheit vernachlässigt“.Das sei ErgebnisderTatsache,dassRevolutionäreüblicherweiseanderEntstehungvonRevolutionenkeinenAnteilhätten,fürsiedeswegenauchsolchespon‐tanenErfindungenkeineBedeutunghätten, siedasNeuegarnichtse‐hen könnten, sondern sie vielmehr nur das Vergangene nachahmtenund das,was ihmwiderspreche, als konterrevolutionär denunzierten.Was istdiesesAlte?DerStaat,dasnationalstaatlicheRegime,daspar‐lamentarischeParteiensystem.AndiesenInstitutionenseiensieorien‐tiertundkönntensichdieRevolutionnuralsMachtergreifung,alsInbe‐sitznahmedesMonopolsderstaatlichenGewaltmittelvorstellen(ebd.,328). Aus der Sicht der Berufsrevolutionäre seien die Räte deswegennurKampforganefüreineÜbergangszeitbiszurErlangungderMacht.Das Neue an den Räten ist aus der republikanischen Sicht HannahArendts,dassessichbeiihnenumeineWiederbelebungderDemokra‐tie handelte und um das Gestaltungsprinzip einer neuen Gesellschaft:siestelltendenAnspruch,sichalsbleibendeStaatsorganezuetablieren.Sie erlaubten es den Einzelnen, möglichst unmittelbar und unbe‐schränktamöffentlichenLebenihrerZeitteilzunehmenundmitande‐ren gemeinsam zu handeln: in Nachbarschafts‐, Schriftsteller‐ undKünstler‐, in Studenten‐ und Jugendlichen‐, Arbeiter‐, Soldaten‐ undBeamtenräten. Dasmehr oderweniger zufällige Beisammenseinwirddurch die Bildung eines Rates zu einer politischen Institution (ebd.,343).IndenRätenselbstspieledieParteizugehörigkeitkeineRolle,eskommedeswegenauchnichtzuFraktionsbildung.AufgrunddieserEi‐genschaftbildendieRätefürHannahArendteinenneuenRaumderpo‐litischenFreiheit,indemdieBürgerdurchTeilhabeanderöffentlichenSphäreüberihrgemeinsamesLebenentscheiden.EsgehenichtumdieHerstellung eines Paradieses auf Erden, nicht um die klassenlose Ge‐sellschaftunddieAbschaffungdesEigentums,sondernumdieKonsti‐tuierungderRepublik.HannahArendttrugmitihremBuchvieldazubei,denRätebewegungeneine angemessene politische Bedeutung zu geben. Ihre positive Be‐trachtung der Räte steht jedoch in einem systematischen Zusammen‐hang,dernichtaußerAchtgelassenwerdendarf.Dennesgingihrdar‐um, auf demHöhepunktdesKaltenKrieges eineUnterscheidung zwi‐schen zweiArtenderRevolution zu konstruieren: auf der einen SeitedieTraditionderfranzösischenRevolution,diesichvomTerrorderJa‐

Page 6: Rätedemokratie oder das Ende der Politik -  · PDF fileüberholt. Colin Crouch stellt fest, dass die parlamentarische Demokratie nicht mehr

6 AlexDemirovic

kobinerüberMarxbis zuden russischenRevolutionärenhinzieht,diemit demZiel der klassenlosenGesellschaft eine Formdes autoritärenRegierensbetreiben;aufderanderenSeitedieRäte inRussland1905und1917,inDeutschland1918/19,inUngarn1956,dieineinerTradi‐tionsliniemit den föderativenRäten indenUSA stehen sollen, die alsElementarrepublikeneinenöffentlichenRaumderFreiheit konstituie‐ren,der fürdie amerikanischeRepublikkennzeichnend sei. So stehendieUSAineinerrevolutionärenTradition,diesichausArendtsSichtalsder französisch‐russischen als überlegen erwiesen hat, und im politi‐schenSystemderUSAfortlebt(vgl.Demirovic2003).ZweitensverstehtArendtdieBildungvonRäten–entsprechendihrenallgemeinenÜber‐legungen– allein alsGründungeinesRaumsderöffentlichenFreiheit,der von ihr entschieden von der sozialen Frage abgetrennt wird. DieRäteentscheidendemnachnichtüberdieArtundWeise,wiediePro‐duktionundVerteilunggeregeltwerdensoll,sondernsollendiepoliti‐scheÖffentlichkeitrevitalisieren,dieihrerAnsichtnachdurchdiekon‐sumistischeBefriedigungsozialerBedürfnissegeschwächtwordensei.DrittensentscheidendieRäteauchnichtdarüber,obdieliberaleTren‐nungderPolitikvonderÖkonomieunddemSozialen,dieArendtnichtinFragestellt,weiterBestandhabensoll.Fürsieistklar,dassdieRäteeinestaatlicheOrdnungwollen.DieÜberlegungenvonArendtverdich‐tensichzuderKritik,dassseitMarxdieihmfolgendeTradition–etati‐stischbefangen,wiesieangeblichgewesenist–fürdieFragederRätewenig Sinn hatte und sie allenfalls als Kampforgane während einerÜbergangsphase begreifen konnte, nicht aber als Keimzellen einergrundlegend umgestalteten, bürgerschaftlichen Gesellschaft, die sichals politisches Gemeinwesen konstituiert. Faktisch werden damit dasaufopferungsvolle Engagement vieler Linker im Rahmen der Rätebe‐wegung,dieZieleunddietheoretischenArbeitenignoriert,dievonAk‐tivistenvorgelegtwurden.VielewolltendiedemokratischeodersozialeRepublik, doch dies als Grundlage einerweiteren Emanzipation einesgesellschaftlichen Lebens ohne Staat und ohne die Knechtschaft derAusbeutung.3.Marx‘VerständnisvonPolitikunddieBewertungderKommuneZwischen Marx‘ Analysen der Pariser Kommune und seinen frühenSchriftengibteshinsichtlichderBewertungdesStaatesundderPolitikeine grosse Kohärenz. In den Massnahmen der Kommune sieht erSchritte inRichtung der Ziele, die er in den 1840er Jahren formulierthatte.MarxnimmtinAnspruch,denpolitischenStaataufderHöhesei‐nerPrinzipienzukritisieren.DasistderRepräsentativstaat,diedemo‐kratischeRepublikaufderGrundlagederVolkssouveränität(vgl.Marx

Page 7: Rätedemokratie oder das Ende der Politik -  · PDF fileüberholt. Colin Crouch stellt fest, dass die parlamentarische Demokratie nicht mehr

RätedemokratieoderdasEndederPolitik 7

1843,352;Marx1875,29).DiesesrepräsentativeSystemwillerdurchKritikübersichhinaustreiben.Charakteristischfürdenpolitischen,re‐präsentativenStaat istMarxzufolge,dassereinFreistaat ist,der sichvon der Gesellschaft emanzipiert, indem er gesellschaftliche Unter‐schiede wie den der Geburt, des Standes, der Bildung, der Beschäfti‐gungzuunpolitischenUnterschiedenerklärtundjedesGlieddesVolkeszu einem „gleichmäßigen Teilnehmer der Volkssouveränität ausruft“.ImGegensatzzudiesendemStaatnunalsprivatgeltendenBesonder‐heitenerhebterselbstdenAnspruchaufAllgemeinheit.Damitwirddasmoderne Leben in zwei Bereiche gegliedert, ein himmlisches und einirdisches Leben, ein Leben im politischen Gemeinwesen, in dem dieMenschen Bürger, und das Leben in der bürgerlichen Gesellschaft, indersiealsPrivatmenschentätigsind.MarxbeobachteteinenChiasmus:Das lebendige Individuum in seiner konkreten Wirklichkeit gilt alsbloss privat und partikular und deswegen als unwahr. Doch dort,woder Mensch als Gattungswesen, als Mitglied des Gemeinwesens, alsStaatsbürger gesehenwird, imStaat, ist er „das imaginäreGlied einereingebildeten Souveränität, ist er seines wirklichen individuellen Le‐bensberaubtundmiteinerunwirklichenAllgemeinheiterfüllt“ (Marx1843,355).So trittderRepräsentativstaataufeinemhöherenhistori‐schenNiveauandieStellederReligion:dieIndividuensetzensichzual‐lenanderenIndividuendurchdiesesMediumdesStaatesinBeziehung.Diesbedeutetaber,dasssiesichnur ineinerbeschränkten,partiellenWeise aufeinander beziehen und viele Aspekte ihres Lebens, nämlichalledie,diealsprivatgelten,ausserBetrachtlassenmüssen.Daderpo‐litische Staat zumMittler zwischendenMenschenwird, sie ihre Frei‐heitalleindurchdieGesetzedesStaateserlangen,bezeichnetMarxdie‐senStaatalsreligiösundchristlich.„ChristlichistdiepolitischeDemo‐kratie, indem in ihr derMensch, nicht nur einMensch, sondern jederMensch, als souveränes, als höchstesWesen gilt, aber der Mensch inseinerunkultivierten,unsozialenErscheinung,derMenschinseinerzu‐fälligenExistenz,derMensch,wieergehtundsteht…,miteinemWort,derMensch, der noch keinwirkliches Gattungswesen ist“ (ebd., 360).DieKonstitutiondes politischen Staates imAkt derRevolution trenntdiebürgerlicheGesellschaftvomStaat, sammeltalleFormenvonPoli‐tik,vonHerrschaftundkonstituiertsiealsSphäredesGemeinwesens,der allgemeinenVolksangelegenheit imGegensatz zudenbestimmtenLebenstätigkeitender Individuen.DiesepolitischeRevolution ist ihrerLogiknachautoritär, dennumdiepolitischeEmanzipation zuvollzie‐hen, versucht der Staat, die besonderen Lebenssphären aufzuhebenundsichalsdas „wirkliche,widerspruchsloseGattungslebendesMen‐schenzukonstituieren“.Dochdasgelingtihmallenfallskurzfristigund

Page 8: Rätedemokratie oder das Ende der Politik -  · PDF fileüberholt. Colin Crouch stellt fest, dass die parlamentarische Demokratie nicht mehr

8 AlexDemirovic

nurmitGewalt,indemdiePolitikdieRevolutiongegendiegesellschaft‐lichenBedingungen, auf denen sie ruht: das Privatleben der bürgerli‐chen Gesellschaft, für permanent erklärt. Das bleibt eine vergeblicheAnstrengung, dennwieMarx zeigt, folgt aufdenTerrorder Jakobinermit Notwendigkeit die „Wiederherstellung der Religion, des Privatei‐gentums,allerElementederbürgerlichenGesellschaft“(ebd.,357).EssindvierSchlussfolgerungen,diesichausdiesenÜberlegungenzie‐hen lassen. 1) Erst, wenn der wirkliche individuelle Mensch den ab‐straktenStaatsbürgerinsichzurücknimmt,wennderMenschseineei‐genenKräfte als gesellschaftlicheerkenntundorganisiert – alsonichtmehralsstaatlichesGemeinwesenjenseitsderisoliertenprivatenIndi‐viduen,sonderninGestaltderbewusstenKooperationmitallenande‐ren–sei„diemenschlicheEmanzipationvollbracht“(ebd.,370).Esgehtum die Herstellung deswirklichen kooperativen Gemeinwesens ohneKlassenundohneStaatalsoberhalbdersozialenKlassenundIndividu‐enstehendesMediumdesAllgemeinwohls.2) Dieser Gedanke der Zurücknahme wird von Marx immer wiederformuliert.Eswirdaberdeutlich,dassessichnichteinfachumdieZu‐rücknahmedesStaatesundderPolitikindieGesellschafthandelnkann,denndiebürgerlicheGesellschaftistalsmaterielleGrundlagekonstitu‐tivfürdieTrennungderbürgerlichenGesellschaftvomStaatundmussselbst grundlegend verändertwerden, ja, die Veränderung und Über‐windungdesStaateserfordernvorrangigeineVeränderungseinerge‐sellschaftlichenGrundlagen.Beide,sowohldiebürgerlicheGesellschaftalsauchderStaat,stelleninderbesonderenbürgerlichenArtundWei‐se,wiesieartikuliertwerden:alsSphärepartikularer,privater Indivi‐duenundalsabstraktesGemeinwesen,einProblemdar.DeswegengehtesMarxumeineÜberwindungderkonstitutivenDifferenzierungslinie,durchdie sichdiesebeidenSphärenvoneinander trennen.AberdieseDifferenzierungslinie fällt selbst in die Gesellschaft. Indem sich diesezukünftig um die bisher verleugneten Formen der gesellschaftlichenArbeitherumreorganisiert(alsodieangeeigneteMehrarbeitvonLohn‐abhängigen und die Familienarbeit), werden politische Herrschafts‐funktionenallmählichüberflüssig.„DasEingreifeneinerStaatsgewaltingesellschaftlicheVerhältnissewirdaufeinemGebie‐tenachdemandernüberflüssigundschläftdannvonselbstein.AndieStellederRegie‐rungüberPersonen tritt dieVerwaltung von Sachenunddie Leitung vonProduktions‐prozessen.DerStaatwirdnicht‚abgeschafft‘,erstirbtab.“(Engels1882,224).

Die für die Gesellschaft, in der die kapitalistische Produktionsweiseherrscht,bestimmendenAntinomien:dasBesondereunddasAllgemei‐ne, das konkrete, lebendige Individuum und das Gattungswesen, dasPrivateunddasÖffentliche,werdenaufgehoben.

Page 9: Rätedemokratie oder das Ende der Politik -  · PDF fileüberholt. Colin Crouch stellt fest, dass die parlamentarische Demokratie nicht mehr

RätedemokratieoderdasEndederPolitik 9

3)InsZentrumseinerÜberlegungrücktMarxdiemenschlicheEmanzi‐pation. Es geht ihm darum, dass weltgeschichtlich die Existenzbedin‐gungenderBildungvonKlassenüberwundenwerden.„SindimLaufederEntwicklungdieKlassenunterschiedeverschwundenundistallePro‐duktionindenHändenderassoziiertenIndividuenkonzentriert,soverliertdieöffentli‐cheGewaltdenpolitischenCharakter.“(Marx/Engels1848,482)

Mehrnoch,dieöffentlicheGewaltalsorganisierteGewalteinerKlassezurUnterdrückungeineranderenwirdselbstüberflüssig.Dieproletari‐sche Klasse soll Marx zufolge nicht mehr das Projekt der politischenEmanzipation und der politischen Revolution verfolgen. Diese würdeautoritäreFolgenhabenunddieGrundlagenderGesellschaftnichtän‐dern.DieRevolutionmussvonuntenausgehenundsichalseinesozialeRevolution vollziehen, die Lebens‐ und Arbeitsbedingungen derMen‐schenändern.„EinesozialeRevolutionbefindetsichdeswegenaufdemStandpunktdesGanzen,weilsie– fändesieauchnur ineinemFabrikdistrikt statt–weil sieeineProtestationdesMen‐schengegendas entmenschteLeben ist,weil sie vomStandpunktdes einzelnenwirkli‐chenIndividuumsausgeht,weildasGemeinwesen,gegendessenTrennungvonsichdasIndividuumreagiert,daswahreGemeinwesendesMenschenist,dasmenschlicheWesen.Die politische Seele einer Revolution besteht dagegen in der Tendenz der politischeinflusslosen Klassen, ihre Isolierung vom Staatswesen und von der Herrschaftaufzuheben.IhrStandpunktistderdesStaats,einesabstraktenGanzen,dasnurdurchdieTrennung vom wirklichen Leben besteht, das undenkbar ist ohne den organisiertenGegensatzzwischenderallgemeinenIdeeundderindividuellenExistenzdesMenschen.“(Marx1844,408)

4)AllerdingsistdasProblem,dassdiemenschlicheEmanzipationnichtunmittelbarzuerlangenist:einAppellandasMenschlicheineinemje‐den Individuum würde verhallen; die Menschenrechte reichen nichtüberdiekapitalistischeKnechtschafthinaus,weil siediebestehendenEigentumsverhältnisseverteidigen.IhrerrealenExistenzgrundlageundihrersymbolischenBedeutungimZusammenhangalleranderensozia‐lenKlassennachsiehtMarxinderArbeiterklassediejenigeKlasse,diedenÜbergangorganisierenmuss,denerals„DiktaturdesProletariats“bezeichnet(Marx1875,28).DieArbeiterklasseistdieuniverselleKlas‐se, weil sie universelles Leiden symbolisiert: In der Arbeiterklasse er‐kenntMarxdieKlasse,diedurch ihreArbeit inbesondererWeisezurErhaltungderGesellschaftbeiträgt.GleichzeitigwirdihrlebendigesAr‐beitsvermögenausgebeutetundalsPrivatreichtumvonwenigenange‐eignet,dieaufdieseAneignungihreHerrschaftstützen.WilldieArbei‐terklassesichemanzipieren,kannsiediesnurdurcheineEmanzipationvonsichselbstundvondengesellschaftlichenVerhältnissen,unterde‐nensieüberhauptArbeiterklasseist,alsonurdurchdieAufhebungderbürgerlichenGesellschaft,unterdenenauchalleanderenzu leidenha‐

Page 10: Rätedemokratie oder das Ende der Politik -  · PDF fileüberholt. Colin Crouch stellt fest, dass die parlamentarische Demokratie nicht mehr

10 AlexDemirovic

ben.„DieseAuflösungderGesellschaftalsbesondererStandistdasPro‐letariat.“ (Marx 1844a, 390) Die Arbeiterklasse ist demnach doppeltundwidersprüchlich bestimmt: einerseits gewinnt sie ihre bestimmteIdentität innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise und ist– de‐mokratietheoretische gesprochen – nur eine partikulare Gruppe mitpartikularenInteressen;andererseitssymbolisiertsieetwasUniversel‐lesundbildetinihrerExistenzdieGrundlagedafür,übersichselbsthi‐nauszugehen und ein radikales Anderes zu sein, Emanzipation derMenschenimallgemeinen,diesichnichtmehrinderbürgerlichenGe‐sellschaft einlösen lässt. Menschliche Emanzipation bedeutet in derKonsequenz, dass eswederdieKlasse gibtnochdenVolkssouverän–dieprivatenEinzelnen,diedieGrundlagedesStaatesbilden.Diese vier Schlussfolgerungen bestimmen auch Marx‘ Analyse derMassnahmenderPariserKommunevon1871.Marx legthierdar,wieersichdieerstenSchrittederTransformationderTrennungslinievonPolitikundÖkonomievorstellt.DamitwirddieseAnalyseeinederbe‐deutendenGrundlagenfürdieweitere„historischeEntfaltungdesmar‐xistischen Rätegedankens“ und darüber hinaus für „alle direkt‐demokratischen Organisationsansätze“ (Bermbach 1973, 19). AndersalsUdoBermbachwillichRätedemokratievondirekterDemokratieun‐terscheiden. Direkte Demokratie besteht aus Verfahren des Volksent‐scheids, die dasparlamentarischeVerfahren ergänzen.DirekteDemo‐kratiehältsichandieformaleDefinitiondesVolkssouveräns.DemnachhabendieWahlberechtigtendasRechtaufeineGesetzesinitiativeodersiekönnen ineinemReferendumüberEntscheidungenderLegislativeoder der Regierung entscheiden (obligatorisches Referendum) (vgl.Abromeit2003).RätedemokratiesollauchvonBasisdemokratieunter‐schiedenwerden,denndasVerständnisvon‚Basis‘warindenDiskus‐sionder 1980er Jahrehinsichtlichder gesellschaftlichenBereicheun‐spezifisch und meinte in der Topographie von ‚unten‘ und ‚oben‘ oftnichtmehralsdieMitspracherechtederAnwesendenunabhängigvonformellen Regelungen (so konnte sich auch die Landtagsfraktion derGrünen im hessischen Landtag als ‚Basis‘ definieren, um ihre Politik‐vorstellungen gegen Ansprüche der Parteimitgliederversammlungenalsbasisdemokratischezubehaupten,vgl.Demirovic1989).Marx zufolge zeigen die enttäuschenden Erfahrungen mit der Regie‐rungsformderRepublik,dassdiesenuralseinesozialemöglichist.Diesoziale Republikwird von der Pariser Kommune in die Praxis umge‐setzt, indem sie die StaatsmaschinederKapitalisten‐ undGrundbesit‐zerklasseentreisstsowie„die‚sozialeEmanzipation‘offenalsdasgroßeZielderRepublikbekenntundso jenesozialeUmgestaltungdurchdiekommunaleOrganisationgarantiert“(Marx1871,554,vgl.Marx1871a,

Page 11: Rätedemokratie oder das Ende der Politik -  · PDF fileüberholt. Colin Crouch stellt fest, dass die parlamentarische Demokratie nicht mehr

RätedemokratieoderdasEndederPolitik 11

338). Die Träger dieses Prozesses sind nichtmehr die verschiedenenbürgerlichenKlassenfraktionen,sonderndie„produzierendenMassen“(ebd.,556).ImUnterschiedzuvorangegangenenRevolutionenhabedas„Volk“–dieVerbindungvonArbeitern,kleinerundmittlererBourgeoi‐sie undBauern (ebd., 553;Marx 1871, 344) – aufgrund der InitiativederArbeiterdurchdieErrichtungderKommunedie„wirklicheLeitungseiner Revolution in seine eignen Hände genommen“ und die „Regie‐rungsmaschine der herrschenden Klassen durch seine eigne Regie‐rungsmaschineersetzt“.AberbeiderKommunehandeltessichgleich‐zeitigummehralsnurdieErsetzungeinerMaschinedurcheineandere.DenndieKommuneentsprichtdemvonMarxformuliertenZielderZu‐rücknahmedesStaates.„Die Kommune war eine Revolution gegen den Staat selbst, gegen diese übernatürlicheFehlgeburt der Gesellschaft; sie war eine Rücknahme des eignen gesellschaftlichen Le‐bensdesVolkesdurchdasVolkundfürdasVolk.SiewarnichteineRevolution,umdieStaatsmacht von einer Fraktion der herrschenden Klasse an die andre zu übertragen,sondern eineRevolution, umdiese abscheulicheMaschine derKlassenherrschaft selbstzuzerbrechen.“(Ebd.,541,vgl.auch543,591)

MarxgreiftaufAbrahamLincolnsBestimmungderDemokratiezurück:DemokratiealseineFormdesRegierens fürdasVolk,durchdasVolk,mit dem Volk, um den politischen Ort der Kommune zu bestimmen.Hauptmerkmalist,dassdasVolkundvorallemdieArbeiterklassesichin den Gemeinden wirklich selbst regiert (ebd., 595, 556). Aber dieKommuneistlediglicheinersterSchrittdersozialenEmanzipation.Diekommunale Form der politischen Organisation ermögliche es, sofortgrosseFortschrittefürdie„BewegungfürdieArbeiterklasseselbstunddieMenschheit“zuerreichen(ebd.,549).DochistdieKommuneimmernocheinepolitischeForm,nochnichtdie„BewegungeinerallgemeinenErneuerungderMenschheit“,nochnichtdieAbschaffungallerKlassen.Denn sievertritt einSonderinteresse:dieBefreiungderArbeit vonder„Usurpation…derMonopolistenderArbeitsmittel,dievondenArbei‐tern selbst geschaffen oder Gaben der Natur sind“ (ebd., 545). DieKommuneistimmernochKlassenkampf,„abersieschafftdasrationelleZwischenstadium, inwelchemdieserKlassenkampf seineverschiednenPhasen auf rationellste und humansteWeise durchlaufen kann“ (ebd.,546). Die ökonomischen Reformen, die Veränderung der VerteilungunddieReorganisationderProduktion,dieEinrichtungvonBedingun‐gen für das spontaneWirken der Gesetze der gesellschaftlichen Öko‐nomiederfreienundassoziiertenArbeit,benötigenZeit.MarxführteineReihevonEntscheidungenderKommunean.Alssozia‐leMassnahmenwerdendieAbschaffungderNachtarbeitfürBäckerge‐sellenoderdieÜbergabevongeschlossenenWerkstättenundFabriken

Page 12: Rätedemokratie oder das Ende der Politik -  · PDF fileüberholt. Colin Crouch stellt fest, dass die parlamentarische Demokratie nicht mehr

12 AlexDemirovic

an Arbeitergenossenschaften genannt (Marx 1871a, 347; 1871, 528).VorrangiggehtesihmjedochumdiepolitischenMassnahmen,denndieKommune versteht er als „Hebel, um die ökonomischen Grundlagenumzustürzen, aufdenenderBestandderKlassenunddamitderKlas‐senherrschaftruht“(Marx1871a,342).Dieunproduktivenundschädli‐chen Tätigkeiten des Staates, die einen „riesigen Anteil des National‐produkts“ inAnspruchnehmen,werdenbeseitigt und, soweit sienot‐wendigsind, ineineörtlicheundnationaleVerwaltungsarbeitüberge‐leitet. Dies bedeutet, den kostspieligenMilitärapparatmit einem vomVolk getrennten stehenden Heer, Berufsoffizieren und aufwendigerAusrüstungdurcheineVolksmilizzuersetzen.DieunabhängigePolizeiwird aufgelöst, die Sicherheits‐ und Ordnungsfunktionenwerden vondenBürgernselbstübernommen.DieskönnteAnlassgeben,Willkürzubefürchten. Doch Marx betont den demokratiepolitischen Kontext, indemdieseMassnahmen stehen.Das allgemeine Stimmrechtwird aus‐gedehnt und dient erstmals dem Volk (Marx 1871, 544;Marx 1871a,340).Eswirdnunnichtmehrnurwie inparlamentarischenSystemenaufdieWahlvonrepräsentativenVolksvertreternbeschränkt,dieein‐mal invielen Jahrengewähltwerden.DieKommunewählt indenver‐schiedenen Bezirken ihre Vertreter nach allgemeinem Stimmrecht indie Selbstregierungsorgane. Die Stadträte sind verantwortlich und je‐derzeitabsetzbar;sieübernehmendieAufgabenderGesetzgebungundderVerwaltung.ÖffentlicheÄmter sindkein „Privateigentum“derZen‐tralregierungmehr,diedieÄmterverleiht, alleöffentlichenFunktionenwerdenvonkommunalenBeamtenundunterderKontrollederGemein‐denwahrgenommen. Die allgemeinen und lebenswichtigen Funktionendes Landes sollen keinenAnlass zurHerausbildung einer über der Ge‐sellschaftstehendenhierarchischenBeamtenschaftgeben;vielmehrsol‐lenauchsievonkommunalenStellenwahrgenommenwerden.„Diewenigen, aberwichtigen Funktionen, welche dann noch für eine Zentralregierungübrigblieben,solltennicht,wiediesabsichtlichgefälschtworden,abgeschafft,sondernankommunale,d.h.strengverantwortlicheBeamteübertragenwerden.DieEinheitderNa‐tionsolltenichtgebrochen,sondernimGegenteilorganisiertwerdendurchdieKommu‐nalverfassung; sie sollte eineWirklichkeit werden durch die Vernichtung jener Staats‐macht, welche sich für die Verkörperung dieser Einheit ausgab, aber unabhängig undüberlegenseinwolltegegenüberderNation,anderenKörpersiedochnureinSchmarot‐zerauswuchswar.“(Marx1871a,340)

DasStaats‐undAmtsgeheimniswirdbeseitigt;dieBezahlungderkom‐munalen Räte entspricht der von Facharbeitern (Marx 1871, 544, 596;Marx1871a,339).Von besonderer demokratietheoretischer Bedeutung ist, dass dieKommunesichselbstregiertunddiegewähltenGremiensowohllegis‐lative als auch exekutive Funktion auf sich vereinigen.DieKommune,

Page 13: Rätedemokratie oder das Ende der Politik -  · PDF fileüberholt. Colin Crouch stellt fest, dass die parlamentarische Demokratie nicht mehr

RätedemokratieoderdasEndederPolitik 13

also die vereinigten Mandatsträger, sollte keine nur parlamentarische,sondern „eine arbeitende Körperschaft“ sein (ebd., 596; Marx 1871a,339), davon getrennt gibt es eine gewählte, verantwortliche und ab‐setzbareRichterschaft.DieZusammenführungvongesetzgebenderundausführenderFunktionkann imLichteder liberalenpolitischenTheo‐riealseinRückschritthinterdaserreichteNiveauderGewaltenteilungerscheinen,vondererwartetwird,dasssieeingewissesMassanFrei‐heitunddemokratischenRechtensichert.Demgegenüberwirdausrä‐tedemokratischerSicht inderGewaltenteilungeinantidemokratischesPrinzip gesehenunddie „Vereinigung allerGewalten inderHanddesVolkes“gefordert(Adler1919,160f).EsgibteineReihevonArgumen‐tengegendieGewaltenteilung.a)WieGewaltenteilunggefasstwird,istin der demokratietheoretischenDiskussion selbst keineswegs eindeu‐tig.JohnLockezufolgeistdasgewählteParlamentdashöchsteVertre‐tungsorgandesVolkes,dasdieGewaltabernichtverliert(Locke1689,§149).DieGewaltdesVolkesbleibtalso–andersalsimGrundgesetz–beimVolkundwirdnichtzwischenParlament,ExekutiveundJudikati‐veaufgeteilt. b) IndenhistorischenAnalysenzurDiskussionüberdieEinführungderGewaltenteilung indieVerfassungderUSAkonntege‐zeigtwerden, dass sie vomBürgertum erdachtwurde, umdie Äusse‐rungdesfreienWillensdesVolkesunddamitdieMöglichkeitzubehin‐dern, die Verfassungsinstitutionen und vor allem die Eigentumsver‐hältnisse verfassungsmässig in Frage zu stellen (vgl. Beard 1913). c)Die Gewaltenteilung ist aus dem Blickwinkel einer materialistischenpolitisch‐soziologischen Analyse eher eine Verteilung der Macht derverschiedenenFraktionenderherrschendenKlassenaufdieStaatsap‐parate.DerStaatinseinerGesamtheitjedocharbeitetdasGesamtinter‐esse der herrschenden Klassen gegenüber den Subalternen aus (vgl.Poulantzas1974,303ff).d)DieGewaltenteilungexistiertnuralsstrate‐gischesMomentderstaatlichenHerrschaftsausübung.FraktionelleundParteiinteressen durchdringen die einzelnen staatlichen Apparate (sowerden Staatsanwälte oder Richter von den Regierungsparteien vonUntersuchungen gegen Politiker oder Unternehmer abgehalten odergegebenenfalls versetzt; Positionen inMilitär undPolizei nachpartei‐politischen Gesichtspunkten besetzt; parlamentarische Gesetzes‐ undHaushaltsentscheidungen fallen nach Massgabe der Regierung undVerwaltung aus). Eine gewaltenteilige Unabhängigkeit eines Apparatsistnurdanngegeben,wennAmtsgrenzenundZuständigkeiten indenpolitischen Konflikten für besondere Interessen strategisch genutztwerden. e)Gewaltenteilung gilt als Schutz vor totalitärenÜbergriffen.Doch ist es eine abwegige Vorstellung, dass die Legislative durch dieExekutivekontrolliertwerdenmuss,dennÜbergriffeindieRechteder

Page 14: Rätedemokratie oder das Ende der Politik -  · PDF fileüberholt. Colin Crouch stellt fest, dass die parlamentarische Demokratie nicht mehr

14 AlexDemirovic

BürgergehenvonexekutivenApparatenaus:Polizei,Verwaltung,Mili‐tär.GeradedieGewaltenteilungermöglichtverselbständigtebürokrati‐scheVorgänge.Wennnun inderRätedemokratieLegislativeundExe‐kutive zusammenfallen, könntebefürchtetwerden,dassdie schwacheForm parlamentarischer Kontrolle der Exekutive noch weiter ge‐schwächtwirdunddieszuWillkürundderAustragungvonpolitischenEntscheidungenmitMittelnderGewaltführt.Demstehtentgegen,dassdiejenigen, die die Geschäfte für die Allgemeinheit wahrnehmen, sichandieBeschlüssederkommunalenRätehaltenmüssen,dasssieunterBedingungender öffentlichenKontrolle entscheidenundhandelnunddirektvonuntengewähltwerden.Willkür‐undGewalthandlungenwä‐ren weniger wahrscheinlich als unter der heutigen Form bürokrati‐scherHerrschaft:dortwosievorkommen,wärensienichthinterdemDienstweg und Amtsgeheimnis des formal‐rationalen Anstaltsstaatsversteckt,sondernoffenskandalisierbar.Auch aus einer demokratietheoretischen Sicht gibt es keine zwingen‐denGründe für dieGewaltenteilung.RousseausÜberlegungen zufolgesindderVolkssouveränundseinWilleunteilbar(Rousseau1762,85ff).Zugunsten der Gewaltenteilung kann argumentiert werden, dass dasVolksichdurchdieTrennungvonGesetzgebungundAusführungselbstan seine Entscheidungen bindet. Denn indem die Legislative sich aufGesetzgebungskompetenzbeschränktunddieAusführungderExekuti‐ve,alsoRegierungundVerwaltung,überlassenwird,vermeidetesderGesetzgeber,sichzusehrvonaktuellenSituationenbeeinflussenzulas‐sen. Der Allgemeinwille wird durch die Exekutive mediatisiert. Dochdemokratietheoretisch ist gerade diesmit Problemen verbunden. DerVolkssouveränwirdbeidiesemArgumentalseinkleines,launenhaftesKindverstanden,dochesistnichtplausibel,warumderVolkssouverännicht tatsächlich aufgrund von Einsicht oder Veränderung von Präfe‐renzen seine vorangegangenen Entscheidungen umstossen könnensollte.WenndieExekutiveihndabeibehindert,wirdsiezueinertrans‐zendentenMachtunddemParlamentgegenüberselbstzueinerpoliti‐schenPartei oder zueinemOrtderParteibildung. Sowohldie empiri‐schenalsauchdiedemokratietheoretischenArgumentesprechendafür,denNutzenderGewaltenteilung fürdieDemokratie fürgeringzuhal‐ten. Die Zusammenlegung von legislativer und exekutiver Macht ver‐hindert, dass sich in StaatsapparatenMachtgruppen organisieren undihreMacht steigern können, indem sie ihreKompetenzen vermehren.ImSinnederÜberlegungvonMarxsindalleGremienvonuntendurchdieStimmbürgerund–bürgerinnenkontrolliert,dieRäteübenihreTä‐tigkeitenöffentlichundohneRückgriffaufdasAmtsgeheimnisaus,dieMandatsträgersindverantwortlichundjederzeitabwählbar.Esgehtal‐

Page 15: Rätedemokratie oder das Ende der Politik -  · PDF fileüberholt. Colin Crouch stellt fest, dass die parlamentarische Demokratie nicht mehr

RätedemokratieoderdasEndederPolitik 15

so darum, politische Bedingungen zu schaffen, die die HerausbildungvonMachtverhindern.Diesistinsbesonderedeswegenmöglich,weileskeinenpolitischenOrtmehrgibt,andemsicheineMachtbündelt,dieim Namen des Volkssouveräns spricht. Auf diesen entscheidendenPunktmöchteichkurzeingehen.Marx spricht von den wahlberechtigten Bürgern in den Kommunen,aberauchvondenArbeiternunddenVolksmassen.WiedasVerhältnisdieserverschiedenenKategorien zu fassen ist,wirdvon ihmnicht er‐läutert. Im Sinne eines demokratischen Verfahrens ist eine legitimeKörperschaft die Gruppe der Wahlberechtigten. Marx erläutert nicht,werWahlrechthat.SindzudenWahlberechtigtenalleErwachsenenabeinem bestimmten Alter zu rechnen, gehören dazu auch Migranten,zählen dazu nur Arbeiter oder auch die Noch‐ oder die Nicht‐Mehr‐EigentümervonProduktionsmitteln?VomVolkssouverän leitenpoliti‐scheDemokratiendieGewaltdeszentralisiertenStaatesundderLegi‐timität seinerOrgane ab. Offenkundig verfolgtMarx eine andere Vor‐stellunghinsichtlichdesStaates,unddeswegenmüssteerauchdenBe‐griff des Volkssouveräns in Frage stellen. Er äussert sich nicht dazu,aberesistdiefolgendeÜberlegungmöglich.DerVolkssouveränisteinpolitischerKörper.SeinenStatuserhältervonderExistenzdesNatio‐nalstaats, dem er Legitimität verleiht. Obwohl der Volkssouverän fürdas Selbstverständnis der demokratischenRepublik die letzte Instanzist,vondersichalleStaatsgewaltableitet,lässtersichnichtbegründen.Denn das Volk, das den Staat gründet, von dem sich die Staatsgewaltableitet,muss logisch dem Staat vorausgehen. Doch unter den Bedin‐gungen, unter denen es den Staat noch nicht gibt, ist noch nicht ent‐schieden,werzudemVolkgehört.DenndieZugehörigkeitzumVolk,zuden Bürgern wird erst durch den Staat definiert. Der VolkssouveränundderdemokratischeStaatlassensichnurzirkulärbegründen.Damiterweist sichderBegriffdesVolkssouveränsals eine irrationelleKate‐gorie,dieirrationalwird,wennzurBegründungdesVolksaufvorpoliti‐sche Vorstellungen wie dem Volk als Herkunfts‐ und Schicksals‐, alsSprach‐ und Kulturgemeinschaft zurückgegriffen wird (vgl. Balibar2002). InsolchenFällennimmtdasVolkvollendsdenCharaktereinesMythos an. Aus dem Blickwinkel der Marxschen Theorie betrachtetlässt sich sagen, dass sowohl die bürgerliche Ökonomie als auch diedemokratisch‐repräsentative Republik irrationell‐religiöse gesell‐schaftlicheFormensind.DennbeideFormennehmeneineGrundlageinAnspruch,diesienichtbegründenkönnen.ImFallderÖkonomiewirdunterstellt,dassPreisevonWarenrationalsind.PreisemüsseneinemWertentsprechen.WasdieserWertist,kanndiebürgerlicheÖkonomienichterkennenunderklären.DerWertderWarenverkörpertdenge‐

Page 16: Rätedemokratie oder das Ende der Politik -  · PDF fileüberholt. Colin Crouch stellt fest, dass die parlamentarische Demokratie nicht mehr

16 AlexDemirovic

sellschaftlichenZusammenhangderprivaterfolgendenProduktionundwird in der bürgerlichen Gesellschaft auf die verausgabte Arbeitszeitzurückgeführt.DochauchdaslebendigeArbeitsvermögenhatsowenigwie irgendein anderer Gebrauchswert einen intrinsischen Wert; derWertderWareArbeitskraftistinsoferneinirrationellerAusdruck,dernur unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen sinnvoll ist. Diedemokratische Republik als irrationell‐religiöse Form der Allgemein‐heitoberhalbderprivatenEinzelwillensoll imVolkssouveränbegrün‐detsein.DochgeradediesenVolkssouverängibtesnicht,er lässtsichnichtbegründen,sondernwirdselbstdurchdenpolitischenStaaterstgeschaffen.DemgegenüberargumentiertMarxausdemBlickwinkelderMenschheit und mit Vorgriff auf sie. Menschheit wird von ihm aus‐drücklich als eine Kategorie jenseits der sozialen Klassen, der PolitikunddesStaatesbestimmt.DasZielistderVereinfreierMenschen.Marxlegt nahe, dass die politische Kategorie des Volkssouveräns hinfälligwird.Diesmarkiert eineweitreichendeDifferenz inderTraditionderLinken.DereinenRichtunggehtesdarum,anÜberlegungenvonRous‐seau anschliessend, den wirklichen und einheitlichen Volkssouverän,das solidarische Volksganze herzustellen, der den Gemeinwillen ver‐körpert (vgl.Adler1919,137f). InderArbeiterklasse,diedieserRich‐tungnachdieproduzierenden,dasgesellschaftlicheLeben sicherndenFunktionenrepräsentiertundeine(relative)Mehrheit inderBevölke‐rungbildet,könntenindiesemSinnedieGrundlagefüreineneinheitli‐chen Volkswillen gesehen werden. Die andere Richtung strebt einensolchenGemeinwillennichtmehran,dennsiesiehtinihmdieGrundla‐ge für die Reproduktion von Staat, Politik und Regierung, die dochüberwundenwerdensoll.„UnterderRäteorganisationistdiepolitischeDemokratieverschwunden,dadiePolitikselbstverschwundenundimgesellschaftlichenWirtschaftsbetriebaufgegangenist.“„RätesindkeineRegierung; nicht einmal die zentralen Räte haben regierungsartigenCharakter,dennsieverfügenüberkeinOrgan,denMassenihrenWillenaufzuerlegen.“ (Pannekoek 1946, 70f). Ganz richtig fragt Pannekoek(ebd.,271),obfürdieRäte‚Demokratie‘überhauptnochdieangemes‐seneBezeichnung ist,dasichdasVolkselbstregiert.DiesesVolkaberistkeinpolitischerKörpermehr,weilderStaatfehlt,deresvereinheit‐lichtundes regiert.Mit vielgestaltigenSelbstverwaltungskörperschaf‐ten von Kommunen und Produktions‐ oder VertriebsgemeinschaftenentstündeeineArtweitverzweigtes, räumlichgrenzenlosesundsozialoffeneshorizontalesNetzvonAssoziationen,diesichihrerseitsassozi‐ieren, ohne die Gestalt eines Volkes anzunehmen (vgl. Hardt/Negri2002,377ff; vgl.Korsch1920,225). JürgenHabermaskonnteHannahArendt vorwerfen, dass ihrer Konzeption nach die Gesellschaft durch

Page 17: Rätedemokratie oder das Ende der Politik -  · PDF fileüberholt. Colin Crouch stellt fest, dass die parlamentarische Demokratie nicht mehr

RätedemokratieoderdasEndederPolitik 17

eineregenerierteBürgerschaftalspolitischeGesellschaftundTotalitätkonstituiertwürde (Habermas 1992, 360). Das hält er angesichts derfunktionalenDifferenzierungmodernerGesellschaftfürnichtmehran‐gemessen,diekeinZentrumundkeinepolitischeSpitzemehrkennen.DasRätesystemlegtdemgegenübernahe,dasseszueinersolchenAuf‐spreizungderPolitik,diesichalsdasGanzederGesellschaftsetzt,nichtmehrkäme.DieRätekonstituiereneinevölligneueArtvonKomplexi‐tät, in der öffentliches und privates, politisches und soziales Handelnzusammenkommen, während sich dieses Handeln dezentriert und de‐zentralisiert.Die Analyse von Marx bleibt in einem entscheidenden Punkt blass.Dennersagtwenigdarüber,wiederStaat indierealeProduktiondesGemeinwesenszurückgenommenwird.DerentscheidendeHinweis istder,dassnundieVolksmassenundvorallemdieArbeiterklasseselbstdie InitiativeunddieRegierungsgeschäfteübernommenhaben– inso‐fern istdieKommunedie„endlichentdeckteForm,unterderdieöko‐nomischeBefreiungderArbeitsichvollziehenkann“(Marx1871a,342,347).DamitwirdaberdieFragederDemokratiezueinerFragealleinder Klassentheorie: demokratisch sind Verhältnisse dann, wenn dieVolksmassen sich selbst regieren. Das ist ein wichtiger Schritt, ent‐spricht jedochnichtderdemokratietheoretischenForderung,dassalleanderSelbstregierungbeteiligtsind.AbernichteinmalfürdieAngehö‐rigenderArbeiterklasseistdieBeteiligungsicher.Dennnochistmitei‐ner kommunalen Arbeiterregierung nicht die Arbeitsteilung vonÖko‐nomieundPolitiküberwunden.Es liegtvielmehrnahe,dassdieAnge‐hörigenderArbeiterklassepraktischinMehrfachfunktionenaktivsind.Es sindviele, aber siemachennunalles: sieproduzieren, entscheidenundführendieEntscheidungenaus.Damitkommtaufsieeineerhebli‐cheArbeitsbelastungzu,diesieaufDauernichthättenaufrechterhal‐tenkönnen–hättedieKommunelangegenugGelegenheitgehabt,mitdenFormender Selbstregierung zu experimentieren.DieKonsequenzhättedurchausdieseinkönnen,dasseinzelnePersonenoderGruppenzu politischenExperten für dieRegierungsgeschäfte in den Selbstver‐waltungskörperschaften geworden wären, die im Namen der Volks‐massenundderArbeiterklasseregieren.SelbsteinepermanenteKon‐trolleundWählbarkeitaufBürgerversammlungenhättesichallmählichalszuzeitaufwendigherausgestellt.InderFolgehätteesdurchauswie‐der zu verselbständigten Formen politischen Entscheidens kommenkönnen,dievonallenBeteiligtenalsEntlastung,alsEffizienz‐,Effektivi‐täts‐undRationalitätssteigerungerlebtwerdenkönnen,diejedochdenAnspruchaufSelbstregierunguntergraben.DieseProblemestellensichdenVertreternderRätedemokratie inden JahrzehntennachMarx,ei‐

Page 18: Rätedemokratie oder das Ende der Politik -  · PDF fileüberholt. Colin Crouch stellt fest, dass die parlamentarische Demokratie nicht mehr

18 AlexDemirovic

nigederAntworten vor allemaus demdeutschenKontextwill ich imFolgendenbehandeln.4.EinigeAspektederDiskussionüberRätedemokratieIndenRätekonzeptionennachdemErstenWeltkriegwirdinähnlicherWeisewiebeiMarxdieArbeiterklassezurGrundlagestaatlicherMachtundGewalt.Esgibt jedocheine folgenreicheDifferenz.WährendMarxdieRäteaufderEbenederKommuneansiedelt,handeltessichimPro‐zessderRevolution inDeutschland zunächstumArbeiter‐undSolda‐ten‐,imLaufedesJahres1919nurnochumArbeiterräte.EntsprechendheisstesineinemFlugblattdesVollzugsratderGroß‐BerlinerArbeiter‐und Soldatenräte vom 23. November 1918 – bis zum Januar 1919 imformalen Sinn die Regierung des Deutschen Reiches – „Die politischeGewalt liegt in den Händen der Arbeiter‐ und Soldatenräte der deut‐schensozialistischenRepublik.“(Zit.nachMüller1921).DieRäteorga‐nisation, so Ernst Däumig, „ist praktischer Sozialismus“, ein „proleta‐risch‐sozialistisches Kampfgebilde, dazu bestimmt, die kapitalistischeProduktionunddenaufihrerrichtetenObrigkeitsstaat,selbstwennereinerepublikanischeFassadehat, zubeseitigen,undan ihreStellediesozialistischeProduktionundeinsichselbstverwaltendesGemeinwe‐senzusetzen“(Däumig1920,79).FürdieVertreterdesRätegedankensist diese Verlagerung der das Gemeinwesen konstituierenden EinheitaufdieArbeiterschaftderentscheidendeGesichtspunkt.„TrägerdesRätegedankenskannnurdasProletariatsein,d.h.alledieHand‐undKopfar‐beiter, die gezwungen sind, ihreArbeitskraft zuverkaufen,um leben zukönnen.DamitstehtderRätegedankeineinemebensoscharfenwienatürlichenGegensatzzudemland‐läufigendemokratischenGedanken,derdieStaatsbürgeralseineeinheitlicheMassewer‐tet“(ebd.,80).

Anton Pannekoek (1946, 269f) äussert die Ansicht, dass ein grosserTeilderArbeiterInneninDeutschlandwährendderRevolutionsperiodediesen entscheidendenGesichtspunkt nicht verstand.Dennüber Jahr‐zehntewardiesozialdemokratischgeführteArbeiterbewegungandemdemokratietheoretischen Ziel der Durchsetzung der demokratischenRepublikunddesallgemeinengleichenWahlrechtorientiert gewesen.DieMachtindenRätenzumonopolisieren,mussteausdieserSichtalseineUsurpationerscheinen.Demgegenüber,soPannekoek(ebd.,271),müsstendieArbeiterdie„tiefeÜberzeugungentwickeln,daßdieRäte‐organisation eine viel höhere und vollkommenere Form der Rechts‐gleichheitist“.Mankönnesagen,dassdasRätesystemdiehöchsteFormderDemokratieundjeneFormsei,„diezueinerGesellschaftgehört,dieselbstHerrinüberihreProduktionundihrLebenist“(vgl.Adler1919,144).

Page 19: Rätedemokratie oder das Ende der Politik -  · PDF fileüberholt. Colin Crouch stellt fest, dass die parlamentarische Demokratie nicht mehr

RätedemokratieoderdasEndederPolitik 19

Demokratietheoretisch werfen diese Überlegungen aber ein ernstesProblemauf.DennwieimFalldesWahlrechtsbestimmtwerdenmuss,werinseinenGenusskommt,stelltsichnundieFrage,wereinArbeiterist. Diese klassentheoretische Frage gewinnt eine folgenreiche politi‐scheBedeutung.HandeltessichnurumdiemanuellenArbeiterindengrossen Fabriken? Dies würde bedeuten, dass Frauen, Lehrlinge, Mi‐grantenmitentscheidenkönnten–aberwasistmitTechnikernundAn‐gestellten?DurcheineengeDefinitionbestehtdieGefahr,dass grosseGruppenvonLohnabhängigenunddaraufbezogenegewerkschaftlicheundsozialistischeStrömungenvonderdemokratischenTeilhabeanderSelbstverwaltung derWirtschaft ausgeschlossen werden. Schon MarxhatteeinbreitesBündnisvorAugen,ErnstDäumig (1920,87)sprichtvoneinemBundvonHand‐undKopfarbeiternundzähltzudenen,diemitentscheiden können als die, die ihreArbeitskraft demKapital ver‐kaufen: Ingenieure, Techniker, Buchhalter, Wissenschaftler (vgl. auchKorsch 1919). Ähnliche Beschäftigtengruppen hat Max Adler vor Au‐gen, wenn er von der Notwendigkeit spricht, alle „ökonomisch ent‐scheidendenSchichten“einzubeziehen.DäumigwieAdler istbewusst,dassesdarumgeht,dieBildungeinermächtigenMinderheitzuverhin‐dern,die,umdeneigenenWillendurchzusetzen,zuMittelndesTerrorseinesTeilsderKlassederUnterdrücktengegeneinenanderenTeil,ei‐nersozialistischenStrömunggegeneineanderegreift.DieBestimmun‐genmüssensobeschaffensein,dassessichwirklichumdieMehrheitdererhandelt, diedie gesellschaftlicheArbeit leistenundderMinder‐heit der bürgerlichen Klasse gegenüberstehen. Darüber hinaus darfauchnicht unterstelltwerden, dass dieDefinition derKlasse, die ent‐scheidungsberechtigtist,einfürallemalfestgelegtist.DenndasZielderRäteistderUmbauderProduktionundderGesellschaft,sodassalleei‐nenAnteil andergesellschaftlichenArbeitübernehmenkönnen. „Ein‐mal die Arbeit emanzipiert, so wird jeder Mensch ein Arbeiter, undproduktive Arbeit hört auf, eine Klasseneigenschaft zu sein.“ (Marx1871a,342).IndemMaße,wiediesderFallist,müssensichdiebislangausgeschlossenenIndividuenandenEntscheidungenbeteiligenkönnen(Pannekoek1946,272).DochführtdieszueinemProblem,dassdieBe‐stimmung von Technikern, Ingenieuren, Managern als Arbeiter, dieverhindernsoll,dasssieausdenEntscheidungsprozessenausgeschlos‐senwerden,ihrerseitsdazubeitragenkann,fortbestehendeKlassendif‐ferenzen zu verbergen. Mit ihrem Wissens‐ und Kompetenzmonopolkönnen sich diese Kategorien den Produktionsprozess unterwerfenundderartgestalten,dasserihremInteresseentspricht.Deswegenfor‐dertenGramsciundKorsch,dassimweiterenProzessauchdie„bishe‐rige bürgerliche ‚Arbeitsteilung‘ zwischen körperlicher und geistiger

Page 20: Rätedemokratie oder das Ende der Politik -  · PDF fileüberholt. Colin Crouch stellt fest, dass die parlamentarische Demokratie nicht mehr

20 AlexDemirovic

Produktion“überwundenwerdenmüsse(Korsch1919b,173).SehrengmitdieserFrageisteinweiteresProblemverbunden,dassichmitdemInstitutdesArbeiter‐undSoldatenratsundderForderung‚Al‐leMachtdenRäten‘verbindet.InsbesondereMaxAdlerwarfdieFrageauf,obtatsächlichArbeiteralsArbeiter,SoldatenalsSoldatenüberdieProduktion und gesellschaftlichen Belange entscheiden sollen. Solltensich–wieesHannahArendtvertrat–inallengesellschaftlichenBerei‐chenundin jedemBerufszweigRätebilden:RätederBauarbeiter,derArchitekten, der Studenten, der Uniformschneider, der Beamten undBauern, dann bestünde die Gefahr, dass das System der Arbeiterrätesich aus einem „Instrument zum Sturze der kapitalistischen Gesell‐schaft in ein Institut der Interessenvertretung in dieser Gesellschaft“verwandelte (Adler1919,153).Mehrnoch, es sei zubefürchten,dasssich kleinliche berufliche und ständische Interessen bildeten oderstabilisierten. Die Räte dürften also nicht als „dauerndesGestaltungsprinzip“missverstandenwerden, da auf dieseWeise auchder Klassencharakter des Proletariats festgeschrieben und verstetigtwürde. Dadurch käme es lediglich zu einem Umkehrung derMachtpositionenohneeineVeränderungderVerhältnisseselbst:wärendie Arbeiter früher die Bedrückten gewesen, so würden sie sich imRahmenderRätedemokratiealsHerrenfühlen(ebd.,149).DieseSorgevor den reaktionären Möglichkeiten, die in den Rätekonzeptionenenthalten seinkönnen, ist für allehier genanntenRätetheoretikerdertiefere Grund, sie nur als vorübergehende Kampfform zu begreifen,nicht, wie Arendt vermutet, ihre Geringschätzung. Entsprechendvertritt Adler die Ansicht, dass die Räte nicht als Arbeiterzusammenträten, sondern als Sozialisten; er empfiehlt, dass beiArbeiterratswahlen nur diejenigen wählbar sein sollten, die sichausdrücklich auf das Ziel der Überwindung der Klassenspaltung, alsodas Ziel des Sozialismus, verpflichteten, während berufliche undgegenwartsinteressierte Standpunkte an die zweite Stelle zurückgestelltwerdenmüssten(ebd.,155f).WürdendieArbeiterräte nur alsArbeiterräte handeln, bestünde auchdieGefahr,dasssie InteressenbesondererBetriebeverträten.Dochineiner emanzipatorischen Perspektive sollen sich die Räte nicht verfe‐stigen. Die einzelnen Betriebe sollen dem Gesamtzusammenhang un‐tergeordnetwerden, sodasseszueinergesellschaftlichenGesamtpla‐nung kommen kann. Dafürwurde von den Vertretern der Rätebewe‐gungeineentsprechendeGliederungderWillensbildungundEntschei‐dungsfindung von unten nach oben vorgeschlagen. Die Arbeiter‐ undSoldatenräte bilden die Einheiten politischen Entscheidens und Han‐delns.WieimFallderkommunalenRätesindauchdieseRätedemokra‐tischgewählt,siesindverantwortlichundjederzeitabrufbar.DieArbei‐

Page 21: Rätedemokratie oder das Ende der Politik -  · PDF fileüberholt. Colin Crouch stellt fest, dass die parlamentarische Demokratie nicht mehr

RätedemokratieoderdasEndederPolitik 21

terrätebildenlegislativeundexekutiveKörperschaften.Direktgewähltwerden die Delegierten auf der untersten Ebene: Arbeiter und Ange‐stellte wählen die Betriebsräte; diese kontrollieren und organisierengemeinsam mit den Betriebsleitern die Angelegenheiten des Unter‐nehmens.SelbständigeundandereBerufsgruppen,dienicht inBetrie‐benerfasstwerdenkönnen,wählenbezirksweiseeinengemeinschaftli‐chen Berufsrat. Aus den Betriebs‐ und Berufsräten werden die Kon‐trollorganefürdasProduktionsgebietgewählt,dieBezirksgruppenräte,die auch die Betriebsleiter einsetzen. Ein Bezirksgruppenrat vertrittjeweils die Betriebe einer Branche auf der Ebene des Wirtschaftsbe‐zirks.RichardMüller–derVorsitzendedesVollzugsratsderArbeiter‐undSoldatenräteGroß‐BerlinundnebenErnstDäumigeinerdertheo‐retischen Köpfe der rätedemokratischen Bewegung (vgl. Bermbach1973,10;Hoffrogge2008undindiesemHeft)–nennt14Branchen,un‐ter anderen: Landwirtschaft, Bergbau, Metall‐, Chemische, Textilindu‐strie,BankenundHandel,Staats‐undKommunalbeamteundArbeiter,FreieBerufe(vgl.Müller1921)1.DieBezirksgruppenrätebildenihrer‐seits ein eigenes Planungs‐ und Entscheidungsgremium, den Bezirks‐wirtschaftsrat, und entsendenDelegierte in die Reichsgruppenräte, indenen jeweils eine Branche auf nationaler Ebene organisiert ist. DieReichsgruppenräteihrerseitssindnocheinmalimReichswirtschaftsratzusammengefasst. InMüllersÜberlegungen treten politische oder gardemokratiepolitische Überlegungen völlig in den Hintergrund. Er be‐tontvorallemdieNotwendigkeit,dieProduktionaufrechtzuerhaltenund ihreOrganisationamAllgemeinwohlzuorientieren.Damitunter‐stellteralsselbstverständlich,was imrätedemokratischenProzessei‐gentlich erst hergestellt werden soll, nämlich eine demokratisch be‐wusst vollzogene Abstimmung zwischen den Arbeiten der einzelnenProduktions‐ und Verteilungsstätten und dem gesellschaftlichen Be‐darf. Dies bedeutet, dass mindestens drei Aspekte der Demokratisie‐rungBerücksichtigung findenmüssen,die inMüllersModellkeineEr‐wähnungfinden.1)DerersteAspektbetrifftdieunmittelbarenMitsprache‐undMitent‐scheidungsrechte der einzelnenArbeiter undArbeiterinnenunterBe‐dingungenderRätedemokratie.UmeinesolcheMitsprachezuermögli‐chen,mussdieHerrschaftundKontrollederKapitaleigneraufbetrieb‐licherEbeneindreiHinsichtenüberwundenwerden:a)Kontrolleüberdie Produkte, die Erträge der Produktion und ihre weitere Verwen‐dung;b)dieHerrschaftüberdenProduktionsprozess(Produktionsmit‐tel,Arbeitsabläufe,Tempo,Hierarchien);c)dieFestsetzungderBedin‐ 1 FürdenHinweisaufdiesenTextdankeichRalfHoffrogge.

Page 22: Rätedemokratie oder das Ende der Politik -  · PDF fileüberholt. Colin Crouch stellt fest, dass die parlamentarische Demokratie nicht mehr

22 AlexDemirovic

gungen, unter denen die menschliche Arbeitskraft eingesetzt wird(Löhne, Hygiene, Arbeitsschutz) (vgl. Korsch 1919, 92).Mit der Räte‐demokratie verbindet sichdasZiel, diesedrei FormenvonHerrschaftaufbetrieblicherundUnternehmensebenezuüberwinden,sodassdieunmittelbaren Produzenten darüber entscheiden können,was undwievielproduziertwird,mitwelchenProduktionsmittelnaufwelcheWeiseund unter welchen Bedingungen für die Arbeitenden produziert wird.DeswegenmussesaufdieserEbenezuFormenderdemokratischenBe‐teiligung durch die unmittelbaren Produzenten kommen. Erstaunli‐cherweise findet sich dazu in der rätedemokratischenDiskussionwe‐nig.MüllerzufolgebestehtdieBeteiligunginderWahlvonDelegierten,dieihrerseitsinBezirksrätenaufdieProduktionunddieWahlderBe‐triebsleiter Einfluss nehmen; von einer weitergehenden direkten Ent‐scheidungsbeteiligung auf betrieblicher Ebene ist nicht die Rede. Pan‐nekoek zufolge ist die leitendeKörperschaft desBetriebsdieGesamt‐heitdermiteinanderundzusammenwirkendenArbeiter.„SietretenzurBeratung ihrer Angelegenheiten zusammen und treffen ihre Entschei‐dungeninVersammlungen.AufdieseWeisenimmtjeder,dersichanderArbeit beteiligt, auch an der Regelung der gemeinschaftlichen Arbeitteil.“(Pannekoek1946,40).WenndieZahlderArbeitersehrgrossist,kommt es zur Bildung von Versammlungen auf Abteilungsebene undVersammlung zentraler Delegiertenkomitees. Die Delegierten nehmenals einfacheMitglieder an den Diskussionen der Abteilungen teil undstellen die Verbindung zwischen diesen und den Komitees her. AusPannekoeks Sicht gibt es keine Leiter, besondere Fragenwerden ein‐zelnen Personen zur Durchführung in voller Verantwortung übertra‐gen.KorschgibtdenHinweis,dasswährendderArbeitdieMassederArbeitendendemalleinentscheidendenLeiterdesProduktionsprozes‐ses„inwillenloserAbhängigkeitunterworfensein“soll; jedochsollsiejederzeit darüber entscheiden können, wer dieser Leiter ist und wielangeerinderleitendenStellungbleibt(Korsch1919c,179).2)DieAbsprachezwischendeneinzelnenBetriebenaufBranchen‐,Be‐zirks‐ und nationaler Ebene soll die blinde Koordination durch denMarktunddieEntscheidungendesKapitaleigners ersetzen.EinerseitssolldergesellschaftlicheBedarfmittelsbewussterPlanungundVerwal‐tung befriedigt und andererseits sollen Betriebsegoismen verhindertwerden.„BodenundAnlagensindauchimFallederdirektenSozialisie‐rungdenarbeitendenProduktionsteilnehmerndeseinzelnenBetriebes(Produktionszweigs)nurgeliehen, sie gehörenals gemeinwirtschaftli‐che Grundlage der gesamten Produktion und Konsumtion nicht einereinzelnenGruppevonArbeitern,sondernderalleSondergruppenver‐einendenGemeinschaft.“(Korsch1919,90).DieFabriken„sollenalsge‐

Page 23: Rätedemokratie oder das Ende der Politik -  · PDF fileüberholt. Colin Crouch stellt fest, dass die parlamentarische Demokratie nicht mehr

RätedemokratieoderdasEndederPolitik 23

trennteGliedereinesKörperszueinemgutorganisiertenProduktions‐systemzusammengefaßtwerden“(Pannekoek1946,33).EsbedarfderBuchführung,derStatistiken,derRechnungsbüros.Dochwichtiger ist,dass die Betriebe an denEntscheidungen der übergeordneten Instan‐zenbeteiligt sindund sindnicht einfachnur inFormvonKennziffernentgegennehmen.DieAufmerksamkeit,dasWissenderIndividuen,dieKommunikation zwischen ihnen, die Absprache zwischen den Betrie‐benträgtzurHerstellungdesgemeinwirtschaftlichenZusammenhangsundseinerRegulierungbei(ebd.,37,67).3)AuchwenndieunmittelbarenProduzentendieProduktionsprozessederart aufeinander abstimmen, dass sie sich zu einem gesellschaftli‐chen Gesamtarbeiter zusammenschliessen, kann es noch zu einemgrundlegendenWiderspruchzudenKonsumentenkommen:dieProdu‐zentenwollenvielleichtdenUmfangihrerArbeitsleistungeinschränkenoder einengeringerenAnteil derErträge ihrerArbeit andasGemein‐wesenabführen.Korschnimmtan,dasserstmitdemWegfallderKapi‐taleigner, die zwischen Lohnabhängigen und Konsumenten vermittelthaben, dieser Interessenkonflikt mit den Konsumenten GegenstandausdrücklichergesellschaftlicherKoordinationwird(Korsch1919,94).ObwohlerdiesesProblemanspricht,findensichbeiihmkeineweiterenVorschläge zueiner solchenKoordinationvonunten.ErstbeiMichaelAlbertwirddieIdeederRätedemokratieauchaufdenBereichdesKon‐sumsundderAbsprachezwischenProduktionundKonsumtionerwei‐tert(Albert2006;vgl.Demirovic2007).Mit der Rätedemokratiewird der gesellschaftliche Gesamtarbeiter alsder Bereich des Gemeinwesens konstituiert, wo die alle betreffendenEntscheidungen unter Beteiligung aller getroffen werden. Auf dieseWeisesolldieSphärederPolitik indieGesellschaft zurückgenommenundderKampf umMachtanteile überflüssig gemachtwerden. Es ent‐stehen neue Gegensätze zwischen den Produzierenden und den Kon‐sumierenden. Es gibt allerdings einen weiteren Gegensatz, der ange‐sprochenwird, der jedoch nicht Gegenstand demokratietheoretischerÜberlegungist.EshandeltsichumGegensätzeinnerhalbderKlassederunmittelbarenProduzentenselbst.HannahArendtäussertdieAnsicht,dasses indenRätenkeineStreitigkeitenzwischenParteienund ihrenFraktionengibt.DassehenauchVertreterderRätebewegungso.„DaderRätegedankedieBefreiungdesgesamtenProletariatsvonderkapitalistischenAus‐beutungzumZielehat,kanndieRäteorganisationnichtdieDomäneeinereinzelnenPar‐tei oder einzelner Berufsgruppen sein, sondernmuß das Proletariat als Ganzes umfas‐sen.“(Däumig1973,81).

DiessahauchMaxAdlerso:„DerArbeiterratumfaßtdieArbeitereinesganzenBetriebesohneRücksichtaufdieRich‐

Page 24: Rätedemokratie oder das Ende der Politik -  · PDF fileüberholt. Colin Crouch stellt fest, dass die parlamentarische Demokratie nicht mehr

24 AlexDemirovic

tung ihrerParteizugehörigkeit imSozialismus,dasheißtalsoebensowohldenSozialde‐mokratenwiedenKommunistenetc.,undohneSpaltung ineinegewerkschaftlicheundpolitische Richtung. Damit vollzieht sich nun viel rascher und intensiver als früher dieErweckungdespolitischenInteressesdurchdieSchaffungeinerMassenteilnahmeanderpolitischenDiskussion.IndemjedereinzelnesichhiermithandelndfindetundseinenBei‐tragindenErgebnissendesTagesgleichsamvorAugensieht,schlingtsichnundasBandengerzwischendenMassenunddenvonihrgewählten,dieunterihrertäglichen,jastündli‐chenwirksamenKontrollestehen.“(Adler1919,149,auch159)

Faktisch kommt es, wie Adler beobachtet, zur Bildung verschiedenerStrömungenundFraktionen,zuvielenKonfliktenindenRätenundzurDurchsetzungder InteressenvonParteien.Däumig(1920,83f) istderAnsicht,dassdiesdasErgebnis eineshistorischenZufalls sei,weildieArbeiterräte nicht aus der proletarischen Revolution hervorgegangenseien,sondernihr„EntstehenzufälligenParteikonstellationenverdank‐ten“. Unterstellt wird, dass es unter den unmittelbaren ProduzentennureinenWillengäbe.SoweitdiesnichtderFall ist,wirddieUrsachebeidenParteienderArbeiterbewegunggesucht.Dassaberauchaufbe‐trieblicher Ebene, zwischen den Betrieben, zwischen Produzierendenund Konsumierenden neue Formen der MeinungsverschiedenheitenüberalleAspektederProduktionentstehenkönnen,wirdnichtweiterin Rechnung gestellt. Diese Konflikte sind keine Konflikte zwischenKlassenmehr,siemüssenauchnichtmehrdieFormderPolitikundderstaatlichen Herrschaftsausübung annehmen. Aber sie werfen FragennachderFormenderKoordinationundderEntscheidungauf,indiealleeinbezogensind.WenndiekollektivenEntscheidungen indenBetriebengetroffenwer‐den,wennanihnennurArbeiterteilnehmen,isteineVielzahlvonMen‐schenausgeschlossen.DasistbeidemjenigenTeilvonihnenbeabsich‐tigt, die bislang über die gesellschaftlichen Produktionsmittel verfügthaben,alsoeinekleineMinderheit.DochesgibtdieGruppenderFrei‐beruflichen, Selbständigen, Kleingewerbetreibenden, Bauern, Arbeits‐losen.Esgibtdarüberhinausdiejenigen,dieHausarbeit leisten–nacheiner verbreiteten Arbeitsteilung die Frauen, es gibt die Rentner, diePflegebedürftigen, die Kinder und Jugendlichen. Angesichts dieserGruppenstelltesichdenVertreternderRätedemokratiedieFragenacheiner territorialen Vertretung. Die klassische Form der territorialenVertretung ist das Parlament. Die Beurteilung seiner Bedeutung bliebkontrovers.AusderSichtvonErnstDäumig(1973,82)handeltessichum eine klare Alternative, er plädiert für Rätedemokratie, stellt sichdem Problem der Interessenvertretung und demokratischen Lebens‐verhältnisseinanderengesellschaftlichenBereichenalsderWirtschaftjedochnicht.RosaLuxemburgargumentiertdafür,dassessichumeineScheinalternative handelt. Sie plädiert dafür, das Parlament nicht als

Page 25: Rätedemokratie oder das Ende der Politik -  · PDF fileüberholt. Colin Crouch stellt fest, dass die parlamentarische Demokratie nicht mehr

RätedemokratieoderdasEndederPolitik 25

OrtderpolitischenAuseinandersetzungzuignorierenunddamitzuei‐ner Selbstmarginalisierungder Linkenbeizutragen (Luxemburg1919,484f).IhreArgumentationisttaktischgemeint,aberesistnichtauszu‐schliessen, dass sie das Problem sieht,wie eine breite öffentliche, dieganze Gesellschaft ergreifende Diskussion über dieWirtschaft hinausgewährleistet werden kann. Max Adler, der die Mitgliedschaft in denArbeiterrätennichtnurandenStatusdesunmittelbarenProduzenten,sondernauchaneinBekenntniszumSozialismusbindet,willeineAus‐schliessungalleranderenvomGemeinwesendadurchvermeiden,dasserfürdieFortexistenzderNationalversammlungplädiert.FürRichardMüller istderReichs‐Wirtschaftsrat, „deralleszurSicherungundAuf‐rechterhaltung des gesamten Wirtschaftslebens Erforderliche“ veran‐lasst,mitseinenKompetenzenderNationalversammlungnebengeord‐net.BeideKörperschaftenmüssendievonihnenbeschlossenenGesetzeundVerordnungenjeweilsderanderenunterbreiten(Müller1919,90).DasdamitaufgeworfeneProblem,dasseszueinerArtdoppelterSouve‐ränität, imBereich derWirtschaftmit den funktional bestimmtenRä‐ten, inderPolitikmitden territorial verankertenParteien, unddamitzu komplizierten Macht‐ und Herrschaftsbeziehungen kommen kann,wirdvonihmebensowenigwievonAdlerweitererörtert.Imdemokra‐tietheoretischenRückblick stellt sichderEindruckein, dassdieFrage‚RäteoderParlament‘einErgebnisderbesonderenpolitischenKonstel‐lation ist. Marx hatte die Räte der Kommune als territoriale Vertre‐tungs‐undAusführungsorganegefasst.DemgegenüberwerdendieRätevondenspäterenRätetheorienalsVertretungsorganederBetriebebe‐stimmt.Damit lässt sich auf das Problemder betrieblichen Selbstver‐waltung durch die unmittelbaren Produzenten in den Blick nehmen.DasbeiMarxunklarbleibendeProblemderZeit,diefürBeteiligungundKoordinationaufgebrachtwerdenmuss,kannhierunmittelbar imbe‐trieblichen und zwischenbetrieblichen Alltag gelöst werden. Doch istdamitvonvornhereineinUnterschiedzwischendenBetriebenundih‐rem gesellschaftlichen Umfeld in der Kommune oder der Region ge‐setzt,sodasssichdannauchdasProblemstellt,wiedieMenschen,diedortleben,andenEntscheidungenbeteiligtsind.DasbleibtnichtohneFolgen.DennaufderEntscheidungsebenederKommunerückensofortweitere Fragen in den Blick: öffentliche Sicherheit, Verkehr, Müllent‐sorgung, medizinische Betreuung, Bildung oder Kultur, denen MarxauchentsprechendeAufmerksamkeitwidmet.DieslässtsichnichtallesimRahmenvonRätenbearbeiten,dieimwesentlichenfürwirtschaftli‐cheFragenderProduktion,derVerteilungunddesKonsumszuständigsind. In allen diesen Bereichen könnten und sollten Prozesse der De‐mokratisierung und der demokratischen Selbstverwaltung organisiert

Page 26: Rätedemokratie oder das Ende der Politik -  · PDF fileüberholt. Colin Crouch stellt fest, dass die parlamentarische Demokratie nicht mehr

26 AlexDemirovic

werden,sodasssichdieGesellschaftinsgesamtdemokratisiertunddieRäte in der Produktion und Verteilung breite gesellschaftliche Unter‐stützung finden. Doch in den rätedemokratischen Texten finden jenegesellschaftlichen Bereiche und ihre Demokratisierung kaum Erwäh‐nung.DerBegriffdesArbeiterratshatseineeigeneDynamikundführtzueinemunübersehbarenÖkonomismus:„DieRäteorganisation isteinewirklicheDemokratie,dieDemokratiederArbeit,diedasarbeitendeVolkzumHerrnundMeisterseinerArbeitmacht.UnterderRäteorganisationistdiepolitischeDemokratieverschwunden,dadiePolitikselbstverschwundenundimgesellschaftlichenWirtschaftsbetriebaufgegangenist.“(Pannekoek1946,70;Herv.AD)

Esist,wenndiepolitischeDemokratie–imSinnevonMarx–überflüs‐sig werden soll, äusserst fragwürdig anzunehmen, dass vom gesell‐schaftlichenLebennurnochderWirtschaftsbetriebübrigbleibt.Dennmit der Rücknahme der allgemeingesellschaftlichen Gesichtspunktevom Staat in die Gesellschaft selbst kann auch die Wirtschaft nichtmehr Wirtschaft bleiben, sondern wird zum realen Gemeinwesen, indemdieMenschen ihr gemeinsames Leben produzieren, organisierenundverwalten.5.SchlussbemerkungInseinerStudieüberdieArbeiterräte,dieseineigeneslangjährigesEn‐gagementinderRätebewegungresümiert,hältPannekoekfest,dasses„diese neue Arbeitsorganisation zu erforschen und uns und anderenklarzumachen“gilt.DieneueFormdesgesellschaftlichenZusammen‐lebens, indemdieMenschenüber ihreVerhältnisseselbstbestimmenundderenspontanwirkendeGesetzmässigkeitensiegemeinsaminal‐ler Freiheit einrichten, könne „nicht als Phantasiegebilde ersonnenwerden.…SiekannnatürlichauchnichtinEinzelheitenaufgezeigtundgeschildertwerden;diekünftigenBedingungen,die ihregenauenFor‐menbestimmenwerden, sindunsunbekannt.“ (Pannekoek1946,39).Erwarzuversichtlich,dasseinesolcheneueFormdieRätedemokratieseinwird.DieZukunftistjedochsounbestimmt,dassnichteinmaldassicher ist;abervielleichtgibtes jeneGesetzmässigkeit,vonderenExi‐stenz sowohl Hannah Arendt als auch Marx und die vielen anderenüberzeugtwaren, dass in den grossen Umwälzungen der GesellschaftsichRätebilden.Nichtnurdeswegenistessinnvoll,überdieKonzeptederRätedemokratiealseineAlternativezurkapitalistischenVergesell‐schaftungweiternachzudenken.DierätedemokratischenVersuchehat‐tenzukeinemhistorischenZeitpunktdieMöglichkeit,das ihnen inne‐wohnendeEmanzipationspotentialzubeweisen.ImNamenvonDemo‐kratie oder Sozialismuswurden siemit Gewalt niedergeschlagen undihreVertreterverfolgt.DieKritikanihnendarfnichtsolchenNiederla‐

Page 27: Rätedemokratie oder das Ende der Politik -  · PDF fileüberholt. Colin Crouch stellt fest, dass die parlamentarische Demokratie nicht mehr

RätedemokratieoderdasEndederPolitik 27

gen noch nachträglich zuarbeiten und der Repression die Rechtferti‐gung geben. Ebensowenig aber dürfen sie deswegenmystifiziertwer‐den.DieKritikistrettendgemeint,nichtsdestowenigerKritik.Siemün‐detdarin,dassdieRätebewegungdieDiskussionbiszueinerSchwellegetragen hat, an der siemit erheblichen Problemen bei derweiterenDurchführungkonfrontiertwordenwäre.DieVertreterderRätedemo‐kratie sahen indenRätendieErmöglichungsbedingungeinervondenArbeitendenverwaltetenundkoordiniertenProduktion.AufdieseWei‐sesolltestaatlicheHerrschaftebensowiedasKommandoüberdas le‐bendigeArbeitsvermögenundseineAusbeutungdurchdieKapitaleig‐nerabgebautwerden.DieeinzelnenFertigungs‐undDistributionsstel‐lenverstehensichalsMomentedesgesellschaftlichenGesamtarbeiters.DamitaberstelltsichdasProblemderKoordinationzwischendenein‐zelnenEinheitendesGesamtarbeiters.DieVermittlungzwischenihnensollnichtmehrüberdenMarktoderüberdenStaatgeleistetwerden–dieKoordinationisteineLeistung,dievonallenselbstgeleistetwerdenmuss.ErstaunlicherweisewirdaussereinemModellderRäteinstitutio‐nen–dassichvonspäterenVorschlägenzueinerWirtschaftsdemokra‐tiekaumunterscheidet–wenigüberdieseArtderKoordinationange‐boten; und diesesModell, das vom Vollzugsrat der Berliner Arbeiter‐undSoldatenrätevertretenwird,bleibt formal.EsbehandeltnichtdieFrage der Selbstverwaltung derArbeitenden, sie habennur einRechtaufdieindirekteWahlderjenigen,diedieBetriebelenkenundkontrol‐lieren.DochdieProblemesindhiernichtgeringeralsinderparlamen‐tarischen Demokratie: auf Dauer besteht die Gefahr, dass bestimmteGruppen der Arbeiterschaft, die gewählten Betriebsleiter, Technikeroder Ingenieure sich allmählich unternehmerische Macht aneignen.Wiewirdverhindert,dasserneuteine„hierarchischeInvestitur“(Marx1871,340)entsteht?DieInteressendereinzelnenBetriebemüssenmitden Interessen vieler anderer Betriebe vereinbart werden. Wird fürdieses Problem keine demokratische Antwort gefunden, kann es zuMachtbildung und Konflikt zwischen verschiedenen Betrieben, Bran‐chenundSektorenkommen,dieumRohstoffe,ArtundMengederPro‐dukte oder Arbeitsbelastung streiten. Auf Dauer könnten sich erneutdiewenig kontrollierbarenMechanismenderKoordinationdurchdenMarkt, durch staatlich‐bürokratische oder Expertenherrschaft einstel‐len.EinzweiterkritischerGesichtspunktist,dassdasProblemderKo‐ordinationzwischenProduzierendenundKonsumierendenkaumerör‐tertwird.KorschentfaltetdasProblemundweist aufdiegegensätzli‐chenInteressenhin,eineAntwortaufdiedarausentstehendeFragederKoordinationgibternicht.DrittensschliesslichbestehteinProbleminder Berufs‐ und Arbeitszentriertheit und imÖkonomismus vieler An‐

Page 28: Rätedemokratie oder das Ende der Politik -  · PDF fileüberholt. Colin Crouch stellt fest, dass die parlamentarische Demokratie nicht mehr

28 AlexDemirovic

sätze.MaxAdlerweistaufdiegefährlichen,nämlichständischenFolgenhin,die sichdarausergebenkönnen.AberausserknappenHinweisensetztauchersichnichtmitdenBereichenderKinderbetreuung,derEr‐ziehung,desHaushalts,derPflegeauseinander.WennMarktundStaatwegfallen, dann fallen damit paternalistische Mechanismen weg, diebislang die Koordination übernommen haben – im wesentlichen vonmächtigenpartikularenGruppenzugunstenihrerpartikularenInteres‐sen organisiert.Damit fällt den IndividuennundieAufgabe zu, selbstohne Bevormundung durch andere mit voller Verantwortung die ge‐meinsamen Probleme zu lösen. Das kostet viel individuelle Lebenszeit.Die Individuenwürden zwar auch viel Zeit gewinnen, und ihr Engage‐ment fürdieKoordination, fürdasgemeinsameLebenwürdezueinemBestandteildesBegriffsder„Arbeit“,dersichinsofernselbstveränderte.Dochzur freienEntwicklungeines jedenIndividuumsgehörenauchdiepositiv verstandene Möglichkeit des Rückzugs vom Gemeinwesen undeinRechtaufFaulheit.WiekannsichdasGemeinwesenselbstbegrenzenundvondeneinzelnennichtimmerweiterzufordern,immernochmehrzu produzieren, immer nochmehr Konsum zu befriedigen, sich immernochmehrzuengagieren?LiteraturAbromeit, Heidrun (2003): Nutzen und Risiken direktdemokratischer Instrumente, in:Claus Offe (Hg.):Demokratisierung der Demokratie. Diagnosen und Reformvorschläge,Frankfurt/M.

Adler, Max (1919): Demokratie und Rätesystem, in: ders.: Ausgewählte Schriften, hrsg.vonNorbertLeserundAlfredPfabigan,Wien1981.

Albert,Michael(2006):Parecon.LebennachdemKapitalismus,Frankfurt/M.Arendt,Hannah(1963):ÜberRevolution,München1974.Balibar, Etienne (2002): Kultur und Identität (Arbeitsnotizen), in: Alex Demirovic, Ma‐nuelaBojadžijev(Hrsg.):KonjunkturendesRassismus,Münster.

Beard,CharlesA.(1913):EineökonomischeInterpretationderamerikanischenVerfassung,Frankfurt/M.1974.

Bermbach,Udo(1973):Einleitung,in:Bermbach(1973a).Bermbach,Udo(Hrsg.)(1973a):TheorieundPraxisderdirektenDemokratie,Opladen.Crouch,Colin(2008):Postdemokratie,Frankfurt/M.Däumig,Ernst(1920):DerRätegedankeundseineVerwirklichung,in:Bermbach(1973a).Demirovic, Alex (1989): Demokratie, Ökologie, Ökologische Demokratie. Demokratievor‐stellungenund–konzeptederneuensozialenBewegungenundderPartei„DIEGRÜNEN“,Frankfurt/M.

Demirovic,Alex (2003):RevolutionundFreiheit. ZumProblemder radikalenTransfor‐mation bei Arendt und Adorno, in: Dirk Auer, Lars Rensmann, Julia SchulzeWessel(Hrsg.):TheodorW.AdornoundHannahArendt,Frankfurt/M.

Demirovic,Alex(2007):DemokratieinderWirtschaft.Positionen–Probleme–Perspekti­ven,Münster.

Engels,Friedrich(1882):DieEntwicklungdesSozialismusvonderUtopiezurWissenschaft,MEW19.

Habermas, Jürgen (1992):FaktizitätundGeltung.BeiträgezurDiskurstheoriedesRechts

Page 29: Rätedemokratie oder das Ende der Politik -  · PDF fileüberholt. Colin Crouch stellt fest, dass die parlamentarische Demokratie nicht mehr

RätedemokratieoderdasEndederPolitik 29

unddesdemokratischenRechtsstaats,Frankfurt/M.Hardt,Michael,Negri,Antonio(2002):GlobalisierungundDemokratie, in:OkwuiEnwe‐zoru.a.(Hrsg.):DemokratiealsunvollendeterProzess.Documenta11_Plattform1,Kas‐sel.

Hoffrogge,Ralf(2008):RichardMüller.DerMannhinterderNovemberrevolution,Berlin.Korsch,Karl(1919):SozialisierungundArbeiterbewegung,in:Korsch(1980).Korsch, Karl (1919a): Die Sozialisierungsfrage vor und nach der Revolution, in:Korsch(1980).

Korsch,Karl(1919b):DieArbeitsteilungzwischenkörperlicherundgeistigerArbeitundderSozialismus,in:Korsch(1980).

Korsch, Karl (1919c): Das sozialistische und das syndikalistische Sozialisierungspro‐gramm,in:Korsch(1980).

Korsch,Karl(1920):GrundsätzlichesüberSozialisierung,in:Korsch(1980).Korsch, Karl (1980): Gesamtausgabe, Bd. 2: Rätebewegung und Klassenkampf, Frank‐furt/M.

Kottler,Wilhelm(1925):DerRätegedankealsStaatsgedanke.1.Teil:DemokratieundRäte‐gedankeindergroßenenglischenRevolution,LeipzigerrechtswissenschaftlicheStudien,H.15,Leipzig.

Locke, John (1689): Abhandlung über den wahren Ursprung, Umfang und Zweck desstaatlichen Gemeinwesens, in: John Locke:Bürgerliche Gesellschaft und Staatsgewalt.SozialphilosophischeSchriften,hrsg.vonHermannKlenner,Westberlin1986.

Luxemburg, Rosa (1919): Rede für die Beteiligung der KPD an den Wahlen zurNationalversammlung,dies.:GesammelteWerke,Bd.4,Berlin1974.

Marx,Karl(1843):ZurJudenfrage,in:MEW1.Marx,Karl(1844):KritischeRandglossenzudemArtikeleinesPreußen,in:MEW1.Marx,Karl(1844a):ZurKritikderHegelschenRechtsphilosophie.Einleitung,in:MEW1.Marx,Karl(1871):ErsterEntwurfzum„BürgerkrieginFrankreich“,in:MEW17.Marx,Karl(1871a):BürgerkrieginFrankreich,in:MEW17.Marx,Karl (1875):KritikdesGothaerProgramms.RandglossenzumProgrammderdeut­schenArbeiterpartei,in:MEW19.

Marx,Karl,Engels,Friedrich(1848):ManifestderKommunistischenPartei,in:MEW4.Müller, Richard (1919): Das Rätesystem im künftigen Wirtschaftsleben, in: Bermbach(1973a).

Müller,Richard(1921):DieEntstehungdesRätegedankens,in:DieBefreiungderMenschheit,Leipzig.

Pannekoek,Anton (1946):Arbeiterräte, in:Arbeiterräte. Texte zur sozialenRevolution, Fern‐wald2008.

Poulantzas,Nicos(1974):PolitischeMachtundsozialeKlassen,Frankfurt/M.Rousseau,Jean‐Jacques(1762):Gesellschaftsvertrag,in:ders.:PolitischeSchriften,Bd.1,Pa‐derborn.