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RUDOLF STEINER GESAMTAUSGABE SCHRIFTEN Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 4 Seite: 1

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RUDOLF STEINER GESAMTAUSGABE

SCHRIFTEN

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RUDOLF STEINER

DIE PHILOSOPHIE

DER FREIHEIT

GRUNDZÜGE

EINER MODERNEN WELTANSCHAUUNG

Seelische Beobachtungsresultate

nach naturwissenschaftlicher Methode

1995

RUDOLF STEINER VERLAGDORNACH /SCHWEIZ

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Herausgegeben von der Rudolf Steiner-Nachlaßverwaltung,Dornach/Schweiz

16. Auflage, 75.-78. Tsd.Gesamtausgabe Dornach 1995

Bibliographischer Nachweis frühererAusgaben siehe Seite 285

Bibliographie-Nr. 4

Alle Rechte bei der Rudolf Steiner-Nachlaßverwaltung, Dornach/Schweiz© 1962 by Rudolf Steiner-Nachlaßverwaltung, Dornach/Schweiz

Printed in Germany by Konkordia Druck, Bühl/Baden

ISBN 3-7274-0040-3ISBN 3-7274-0049-8 durchschossene Ausgabe

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INHALT

Vorrede [zur Neuausgabe 1918] 7

Wissenschaft der Freiheit

I. Das bewußte menschliche Handeln 15II. Der Grundtrieb zur Wissenschaft 27

III. Das Denken im Dienste der Weltauffassung . . . 36IV. Die Welt als Wahrnehmung 57V. Das Erkennen der Welt 80

VI. Die menschliche Individualität 104VII. Gibt es Grenzen des Erkennens? 112

Die Wirklichkeit der Freiheit

VIII. Die Faktoren des Lebens 137IX. Die Idee der Freiheit 145X. Freiheitsphilosophie und Monismus 174

XL Weltzweck und Lebenszweck(Bestimmung des Menschen) 184

XII. Die moralische Phantasie(Darwinismus und Sittlichkeit) 191

XIII. Der Wert des Lebens(Pessimismus und Optimismus) 205

XIV. Individualität und Gattung 237

Die letzten Fragen

Die Konsequenzen des Monismus 245Erster Anhang 258Zweiter Anhang 267

Himweise der Herausgeber 272Namen-Register 283Übersicht über die Rudolf Steiner Gesamtausgabe . . . 287

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VORREDE ZUR NEUAUSGABE [1918]

Zwei Wurzelfragen des menschlichen Seelenlebens sind es,nach denen hingeordnet ist alles, was durch dieses Buch be-sprochen werden soll. Die eine ist, ob es eine Möglichkeitgibt, die menschliche Wesenheit so anzuschauen, daß dieseAnschauung sich als Stütze erweist für alles andere, wasdurch Erleben oder Wissenschaft an den Menschen heran-kommt, wovon er aber die Empfindung hat, es könne sichnicht selber stützen. Es könne von Zweifel und kritischemUrteil in den Bereich des Ungewissen getrieben werden. Dieandere Frage ist die: Darf sich der Mensch als wollendesWesen die Freiheit zuschreiben, oder ist diese Freiheit einebloße Illusion, die in ihm entsteht, weil er die Fäden derNotwendigkeit nicht durchschaut, an denen sein Wollenebenso hängt wie ein Natur geschehen? Nicht ein künstlichesGedankengespinst ruft diese Frage hervor. Sie tritt ganznaturgemäß in einer bestimmten Verfassung der Seele vordiese hin. Und man kann fühlen, es ginge der Seele etwasab von dem, was sie sein soll, wenn sie nicht vor die zweiMöglichkeiten: Freiheit oder Notwendigkeit des Wollens,einmal mit einem möglichst großen Frageernst sich gestelltsähe. In dieser Schrift soll gezeigt werden, daß die Seelen-erlebnisse, welche der Mensch durch die zweite Frage er-fahren muß, davon abhängen, welchen Gesichtspunkt ergegenüber der ersten einzunehmen vermag. Der Versuchwird gemacht, nachzuweisen, daß es eine Anschauung überdie menschliche Wesenheit gibt, welche die übrige Erkennt-nis stützen kann; und der weitere, darauf hinzudeuten, daßmit dieser Anschauung für die Idee der Freiheit des Willenseine volle Berechtigung gewonnen wird, wenn nur erst das

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Seelengebiet gefunden ist, auf dem das freie Wollen sichentfalten kann.

Die Anschauung, von der hier mit Bezug auf diese beidenFragen die Rede ist, stellt sich als eine solche dar, welche,einmal gewonnen, ein Glied lebendigen Seelenlebens selbstwerden kann. Es wird nicht eine theoretische Antwort ge-geben, die man, einmal erworben, bloß als vom Gedächtnisbewahrte Überzeugung mit sich trägt. Für die Vorstellungs-art, die diesem Buche zugrunde liegt, wäre eine solche Ant-wort nur eine scheinbare. Nicht eine solch fertige, abge-schlossene Antwort wird gegeben, sondern auf ein Erlebnis-gebiet der Seele wird verwiesen, auf dem sich durch dieinnere Seelentätigkeit selbst in jedem Augenblicke, in demder Mensch dessen bedarf, die Frage erneut lebendig be-antwortet. Wer das Seelengebiet einmal gefunden hat, aufdem sich diese Fragen entwickeln, dem gibt eben die wirk-liche Anschauung dieses Gebietes dasjenige, was er für diesebeiden Lebensrätsel braucht, um mit dem Errungenen dasrätselvolle Leben weiter in die Breiten und in die Tiefenzu wandeln, in die ihn zu wandeln Bedürfnis und Schick-sal veranlassen. - Eine Erkenntnis, die durch ihr Eigen-leben und durch die Verwandtschaft dieses Eigenlebens mitdem ganzen menschlichen Seelenleben ihre Berechtigungund Geltung erweist, scheint damit aufgezeigt zu sein.

So dachte ich über den Inhalt dieses Buches, als ich ihn vorfünfundzwanzig Jähren niederschrieb. Auch heute muß ichsolche Sätze niederschreiben, wenn ich die Zielgedanken derSchrift kennzeichnen will. Ich habe mich bei der damaligenNiederschrift darauf beschränkt, nicht mehr zu sagen alsdasjenige, was im engsten Sinne mit den gekennzeichnetenbeiden Wurzelfragen zusammenhängt. Wenn jemand ver-

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wundert darüber sein sollte, daß man in diesem Buche nochkeinen Hinweis findet auf das Gebiet der geistigen Er-fahrungswelt, das in späteren Schriften von mir zur Dar-stellung gekommen ist, so möge er bedenken, daß ich damalseben nicht eine Schilderung geistiger Forschungsergebnissegeben, sondern erst die Grundlage erbauen wollte, auf dersolche Ergebnisse ruhen können. Diese «Philosophie derFreiheit» enthält keine solchen speziellen Ergebnisse, eben-sowenig als sie spezielle naturwissenschaftliche Ergebnisseenthält; aber was sie enthält, wird derjenige nach meinerMeinung nicht entbehren können, der Sicherheit für solcheErkenntnisse anstrebt. Was in dem Buche gesagt ist, kannauch für manchen Menschen annehmbar sein, der aus irgendwelchen ihm geltenden Gründen mit meinen geisteswissen-schaftlichen Forschungsergebnissen nichts zu tun haben will.Demjenigen aber, der diese geisteswissenschaftlichen Ergeb-nisse als etwas betrachten kann, zu dem es ihn hinzieht, demwird auch wichtig sein können, was hier versucht wurde. Esist dies: nachzuweisen, wie eine unbefangene Betrachtung,die sich bloß über die beiden gekennzeichneten für alles Er-kennen grundlegenden Fragen erstreckt, zu der Anschauungführt, daß der Mensch in einer wahrhaftigen Geistwelt drin-nen lebt. In diesem Buche ist erstrebt, eine Erkenntnis desGeistgebietes vor dem Eintritte in die geistige Erfahrung zurechtfertigen. Und diese Rechtfertigung ist so unternommen,daß man wohl nirgends bei diesen Ausführungen schon aufdie später von mir geltend gemachten Erfahrungen hinzu-schielen braucht, um, was hier gesagt ist, annehmbar zu fin-den, wenn man auf die Art dieser Ausführungen selbst ein-gehen kann oder mag.

So scheint mir denn dieses Buch auf der einen Seite eine

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von meinen eigentlich geisteswissenschaftlichen Schriften völ-lig abgesonderte Stellung einzunehmen; und auf der andernSeite doch auch aufs allerengste mit ihnen verbunden zusein. Dies alles hat mich veranlaßt, jetzt, nach fünfund-zwanzig Jahren, den Inhalt der Schrift im wesentlichen fastganz unverändert wieder zu veröffentlichen. Nur längereZusätze habe ich zu einer ganzen Reihe von Abschnittengemacht. Die Erfahrungen, die ich über mißverständlicheAuffassungen des von mir Gesagten gemacht habe, ließenmir solche ausführliche Erweiterungen nötig erscheinen. Ge-ändert habe ich nur da, wo mir heute das ungeschickt gesagtschien, was ich vor einem Vierteljahrhundert habe sagenwollen. (Aus dem so Geänderten wird wohl nur ein Übel-wollender sich veranlaßt finden zu sagen, ich habe meineGrundüberzeugung geändert.)

Das Buch ist schon seit vielen Jahren ausverkauft. Trotz-dem, wie aus dem eben Gesagten hervorgeht, mir scheint,daß heute ebenso noch ausgesprochen werden soll, was ichvor fünfundzwanzig Jahren über die gekennzeichneten Fra-gen ausgesprochen habe, zögerte ich durch lange Zeit mit derFertigstellung dieser Neuauflage. Ich fragte mich immerwieder, ob ich nicht müsse an dieser oder jener Stelle michmit den zahlreichen seit dem Erscheinen der ersten Auflagezutage getretenen philosophischen Anschauungen auseinan-dersetzen. Dies in der mir wünschenswerten Weise zu tun,verhinderte mich die Inanspruchnahme durch meine reingeisteswissenschaftlichen Forschungen in der letzten Zeit.Allein ich habe mich nun nach möglichst gründlicher Um-schau in der philosophischen Arbeit der Gegenwart da-von überzeugt, daß, so verlockend eine solche Auseinander-setzung an sich wäre, sie für das, was durch mein Buch gesagt

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werden soll, nicht in dasselbe aufzunehmen ist. Was vondem in der «Philosophie der Freiheit» eingenommenen Ge-sichtspunkt aus über neuere philosophische Richtungen mirnötig schien, gesagt zu werden, findet man im zweiten Bandemeiner «Rätsel der Philosophie».

April 1918 Rudolf Steiner

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WISSENSCHAFT DER FREIHEIT

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IDAS BEWUSSTE MENSCHLICHE HANDELN

Ist der Mensch in seinem Denken und Handeln ein geistigfreies Wesen oder steht er unter dem Zwange einer reinnaturgesetzlichen ehernen Notwendigkeit? Auf wenige Fra-gen ist so viel Scharfsinn gewendet worden als auf diese. DieIdee der Freiheit des menschlichen Willens hat warme An-hänger wie hartnäckige Gegner in reicher Zahl gefunden.Es gibt Menschen, die in ihrem sittlichen Pathos jeden füreinen beschränkten Geist erklären, der eine so offenkundigeTatsache wie die Freiheit zu leugnen vermag. Ihnen stehenandere gegenüber, die darin den Gipfel der Unwissenschaft-lichkeit erblicken, wenn jemand die Gesetzmäßigkeit derNatur auf dem Gebiete des menschlichen Handelns undDenkens unterbrochen glaubt. Ein und dasselbe Ding wirdhier gleich oft für das kostbarste Gut der Menschheit wie fürdie ärgste Illusion erklärt. Unendliche Spitzfindigkeit wurdeaufgewendet, um zu erklären, wie sich die menschliche Frei-heit mit dem Wirken in der Natur, der doch auch der Menschangehört, verträgt. Nicht geringer ist die Mühe, mit der vonanderer Seite begreiflich zu machen gesucht wurde, wie einesolche Wahnidee hat entstehen können. Daß man es hier miteiner der wichtigsten Fragen des Lebens, der Religion, derPraxis und der Wissenschaft zu tun hat, das fühlt jeder, beidem nicht das Gegenteil von Gründlichkeit der hervor-stechendste Zug seines Charakters ist. Und es gehört zu dentraurigen Zeichen der Oberflächlichkeit gegenwärtigen Den-kens, daß ein Buch, das aus den Ergebnissen neuerer Natur-forschung einen «neuen Glauben» prägen will (David Fried-rich Strauß, Der alte und der neue Glaube), über diese Frage

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nichts enthält als die Worte: «Auf die Frage nach der Frei-heit des menschlichen Willens haben wir uns hiebei nicht ein-zulassen. Die vermeintlich indifferente Wahlfreiheit ist vonjeder Philosophie, die des Namens wert war, immer als einleeres Phantom erkannt worden; die sittliche Wertbestim-mung der menschlichen Handlungen und Gesinnungen aberbleibt von jener Frage unberührt.» Nicht weil ich glaube,daß das Buch, in dem sie steht, eine besondere Bedeutung hat,führe ich diese Stelle hier an, sondern weil sie mir die Mei-nung auszusprechen scheint, bis zu der sich in der fraglichenAngelegenheit die Mehrzahl unserer denkenden Zeitgenossenaufzuschwingen vermag. Daß die Freiheit darin nicht be-stehen könne, von zwei möglichen Handlungen ganz nachBelieben die eine oder die andere zu wählen, scheint heutejeder zu wissen, der darauf Anspruch macht, den wissen-schaftlichenKinderschuhen entwachsen zu sein. Es ist immer,so behauptet man, ein ganz bestimmter Grund vorhanden,warum man von mehreren möglichen Handlungen geradeeine bestimmte zur Ausführung bringt.

Das scheint einleuchtend. Trotzdem richten sich bis zumheutigen Tage die Hauptangriffe der Freiheitsgegner nurgegen die Wahlfreiheit. Sagt doch Herbert Spencer, der inAnsichten lebt, die mit jedem Tage an Verbreitung gewinnen(Die Prinzipien der Psychologie, von Herbert Spencer,deutsche Ausgabe von Dr. B. Vetter, Stuttgart 1882): «Daßaber Jedermann auch nach Belieben begehren oder nicht be-gehren könne, was der eigentliche im Dogma vom freienWillen liegende Satz ist, das wird freilich ebensosehr durchdie Analyse des Bewußtseins, als durch den Inhalt der vor-hergehenden Kapitel (der Psychologie) verneint.» Von dem-selben Gesichtspunkte gehen auch andere aus, wenn sie den

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Begriff des freien Willens bekämpfen. Im Keime finden sichalle diesbezüglichen Ausführungen schon bei Spinoza. Wasdieser klar und einfach gegen die Idee der Freiheit vor-brachte, das wurde seitdem unzählige Male wiederholt, nureingehüllt zumeist in die spitzfindigsten theoretischen Leh-ren, so daß es schwer wird, den schlichten Gedankengang,auf den es allein ankommt, zu erkennen. Spinoza schreibtin einem Briefe vom Oktober oder November 1674: «Ichnenne nämlich die Sache frei, die aus der bloßen Notwen-digkeit ihrer Natur besteht und handelt, und gezwungennenne ich die, welche von etwas anderem zum Dasein undWirken in genauer und fester Weise bestimmt wird. So be-steht zum Beispiel Gott, obgleich notwendig, doch frei, weiler nur aus der Notwendigkeit seiner Natur allein besteht.Ebenso erkennt Gott sich selbst und alles andere frei, weil esaus der Notwendigkeit seiner Natur allein folgt, daß er alleserkennt. Sie sehen also, daß ich die Freiheit nicht in ein freiesBeschließen, sondern in eine freie Notwendigkeit setze.

Doch wir wollen zu den erschaffenen Dingen herabstei-gen, welche sämtlich von äußern Ursachen bestimmt wer-den, in fester und genauer Weise zu bestehen und zu wirken.Um dies deutlicher einzusehen, wollen wir uns eine ganzeinfache Sache vorstellen. So erhält zum Beispiel ein Steinvon einer äußeren, ihn stoßenden Ursache eine gewisseMenge von Bewegung, mit der er nachher, wenn der Stoßder äußern Ursache aufgehört hat, notwendig fortfährt,sich zu bewegen. Dieses Beharren des Steines in seiner Bewe-gung ist deshalb ein erzwungenes und kein notwendiges, weiles durch den Stoß einer äußern Ursache definiert werdenmuß. Was hier von dem Stein gilt, gilt von jeder anderneinzelnen Sache, und mag sie noch so zusammengesetzt und

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zu vielem geeignet sein, nämlich, daß jede Sache notwendigvon einer äußern Ursache bestimmt wird, in fester und ge-nauer Weise zu bestehen und zu wirken.

Nehmen Sie nun, ich bitte, an, daß der Stein, während ersich bewegt, denkt und weiß, er bestrebe sich, soviel er kann,in dem Bewegen fortzufahren. Dieser Stein, der nur seinesStrebens sich bewußt ist und keineswegs gleichgültig sichverhält, wird glauben, daß er ganz frei sei und daß er auskeinem andern Grunde in seiner Bewegung fortfahre, alsweil er es wolle. Dies ist aber jene menschliche Freiheit, diealle zu besitzen behaupten und die nur darin besteht, daßdie Menschen ihres Begehrens sich bewußt sind, aber dieUrsachen, von denen sie bestimmt werden, nicht kennen.So glaubt das Kind, daß es die Milch frei begehre und derzornige Knabe, daß er frei die Rache verlange, und derFurchtsame die Flucht. Ferner glaubt der Betrunkene, daßer nach freiem Entschluß dies spreche, was er, wenn er nüch-tern geworden, gern nicht gesprochen hätte; und da diesesVorurteil allen Menschen angeboren ist, so kann man sichnicht leicht davon befreien. Denn wenn auch die Erfahrunggenügend lehrt, daß die Menschen am wenigsten ihr Be-gehren mäßigen können und daß sie, von entgegengesetztenLeidenschaften bewegt, das Bessere einsehen und das Schlech-tere tun, so halten sie sich doch für frei und zwar, weil siemanches weniger stark begehren und manches Begehrenleicht durch die Erinnerung an anderes, dessen man sich oftentsinnt, gehemmt werden kann.» -

Weil hier eine klar und bestimmt ausgesprochene Ansichtvorliegt, wird es auch leicht, den Grundirrtum, der darinsteckt, aufzudecken. So notwendig, wie der Stein auf einenAnstoß hin eine bestimmte Bewegung ausführt, ebenso not-

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wendig soll der Mensch eine Handlung ausführen, wenn erdurch irgendeinen Grund dazu getrieben wird. Nur weilder Mensch ein Bewußtsein von seiner Handlung hat, halteer sich für den freien Veranlasser derselben. Er übersehedabei aber, daß eine Ursache ihn treibt, der er unbedingtfolgen muß. Der Irrtum in diesem Gedankengange ist baldgefunden. Spinoza und alle, die denken wie er, übersehen,daß der Mensch nicht nur ein Bewußtsein von seiner Hand-lung hat, sondern es auch von den Ursachen haben kann,von denen er geleitet wird. Niemand wird es bestreiten, daßdas Kind unfrei ist, wenn es die Milch begehrt, daß der Be-trunkene es ist, wenn er Dinge spricht, die er später bereut.Beide wissen nichts von den Ursachen, die in den Tiefenihres Organismus tätig sind, und unter deren unwidersteh-lichem Zwange sie stehen. Aber ist es berechtigt, Handlungendieser Art in einen Topf zu werfen mit solchen, bei denensich der Mensch nicht nur seines Handelns bewußt ist, son-dern auch der Gründe, die ihn veranlassen? Sind die Hand-lungen der Menschen denn von einerlei Art? Darf die Tatdes Kriegers auf dem Schlachtfelde, die des wissenschaft-lichen Forschers im Laboratorium, des Staatsmannes in ver-wickelten diplomatischen Angelegenheiten wissenschaftlichauf gleiche Stufe gestellt werden mit der des Kindes, wennes nach Milch begehrt? Wohl ist es wahr, daß man dieLosung einer Aufgabe da am besten versucht, wo die Sacheam einfachsten ist. Aber oft schon hat der Mangel an Unter-scheidungsvermögen endlose Verwirrung gebracht. Und eintiefgreifender Unterschied ist es doch, ob ich weiß, warumich etwas tue, oder ob das nicht der Fall ist. Zunächst scheintdas eine ganz selbstverständliche Wahrheit zu sein. Unddoch wird von den Gegnern der Freiheit nie danach gefragt,

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ob denn ein Beweggrund meines Handelns, den ich erkenneund durchschaue, für mich in gleichem Sinne einen Zwangbedeutet, wie der organische Prozeß, der das Kind ver-anlaßt, nach Milch zu schreien.

Eduard von Hartmann behauptet in seiner «Phänomeno-logie des sittlichen Bewußtseins» (S. 451), das menschlicheWollen hänge von zwei Hauptfaktoren ab: von den Beweg-gründen und von dem Charakter. Betrachtet man die Men-schen alle als gleich oder doch ihre Verschiedenheiten als un-erheblich, so erscheint ihr Wollen als von außen bestimmt,nämlich durch die Umstände, die an sie herantreten. Erwägtman aber, daß verschiedene Menschen eine Vorstellung erstdann zum Beweggrund ihres Handelns machen, wenn ihrCharakter ein solcher ist, der durch die entsprechende Vor-stellung zu einer Begehrung veranlaßt wird, so erscheint derMensch von innen bestimmt und nicht von außen. DerMensch glaubt nun, weil er, gemäß seinem Charakter, eineihm von außen aufgedrängte Vorstellung erst zum Beweg-grund machen muß: er sei frei, das heißt unabhängig vonäußeren Beweggründen. Die Wahrheit aber ist, nach Eduardvon Hartmann, daß: «Wenn aber auch wir selbst die Vor-stellungen erst zu Motiven erheben, so tun wir dies dochnicht willkürlich, sondern nach der Notwendigkeit unserercharakterologischen Veranlagung, also nichts weniger alsfrei». Auch hier bleibt der Unterschied ohne alle Berück-sichtigung, der besteht zwischen Beweggründen, die ich erstauf mich wirken lasse, nachdem ich sie mit meinem Bewußt-sein durchdrungen habe, und solchen, denen ich folge, ohnedaß ich ein klares Wissen von ihnen besitze.

Und dies führt unmittelbar auf den Standpunkt, vondem aus hier die Sache angesehen werden soll. Darf die

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Frage nach der Freiheit unseres Willens überhaupt einseitigfür sich gestellt werden? Und wenn nicht: mit welcher an-dern muß sie notwendig verknüpft werden?

Ist ein Unterschied zwischen einem bewußten Beweg-grund meines Handelns und einem unbewußten Antrieb,dann wird der erstere auch eine Handlung nach sich ziehen,die anders beurteilt werden muß als eine solche aus blindemDrange. Die Frage nach diesem Unterschied wird also dieerste sein. Und was sie ergibt, davon wird es erst abhängen,wie wir uns zu der eigentlichen Freiheitsfrage zu stellenhaben.

Was heißt es, ein Wissen von den Gründen seines Han-delns haben? Man hat diese Frage zu wenig berücksichtigt,weil man leider immer in zwei Teile zerrissen hat, was einuntrennbares Ganzes ist: den Menschen. Den Handelndenund den Erkennenden unterschied man, und leer ausgegan-gen ist dabei nur der, auf den es vor allen andern Dingen an-kommt: der aus Erkenntnis Handelnde.

Man sagt: frei sei der Mensch, wenn er nur unter derHerrschaft seiner Vernunft stehe und nicht unter der deranimalischen Begierden. Oder auch: Freiheit bedeute, seinLeben und Handeln nach Zwecken und Entschlüssen be-stimmen zu können.

Mit Behauptungen solcher Art ist aber gar nichts gewon-nen. Denn das ist ja eben die Frage, ob die Vernunft, obZwecke und Entschlüsse in gleicher Weise auf den Menscheneinen Zwang ausüben wie animalische Begierden. Wennohne mein Zutun ein vernünftiger Entschluß in mir auf-taucht, gerade mit derselben Notwendigkeit wie Hungerund Durst, dann kann ich ihm nur notgedrungen folgen,und meine Freiheit ist eine Illusion.

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Eine andere Redewendung lautet: Freisein heißt nichtwollen können, was man will, sondern tun können, wasman will. Diesen Gedanken hat der Dichterphilosoph RobertHamerltng in seiner «Atomistik des Willens» in scharf -umrissenen Worten gekennzeichnet: «Der Mensch kannallerdings tun, was er will - aber er kann nicht wollen, waser will, weil sein Wille durch Motive bestimmt ist! - Erkann nicht wollen, was er will? Sehe man sich diese Wortedoch einmal näher an. Ist ein vernünftiger Sinn darin?Freiheit des Willens müßte also darin bestehen, daß manohne Grund, ohne Motiv etwas wollen könnte? Aber washeißt denn Wollen anders, als einen Grund haben, dies lieberzu tun oder anzustreben als jenes? Ohne Grund, ohne Motivetwas wollen, hieße etwas wollen, ohne es zu wollen. Mitdem Begriffe des Wollens ist der des Motivs unzertrennlichverknüpft. Ohne ein bestimmendes Motiv ist der Wille einleeres Vermögen: erst durch das Motiv wird er tätig undreell. Es ist also ganz richtig, daß der menschliche Wille in-sofern nicht <frei> ist, als seine Richtung immer durch dasstärkste der Motive bestimmt ist. Aber es muß andererseitszugegeben werden, daß es absurd ist, dieser <Unfreiheit>gegenüber von einer denkbaren <Freiheit> des Willens zureden, welche dahin ginge, wollen zu können, was mannicht will.» (Atomistik des Willens, 2. Band S. 213 f.)

Auch hier wird nur von Motiven im allgemeinen ge-sprochen, ohne auf den Unterschied zwischen unbewußtenund bewußten Rücksicht zu nehmen. Wenn ein Motiv aufmich wirkt und ich gezwungen bin, ihm zu folgen, weil essich als das «stärkste» unter seinesgleichen erweist, dannhört der Gedanke an Freiheit auf, einen Sinn zu haben. Wiesoll es für mich eine Bedeutung haben, ob ich etwas tun kann

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oder nicht, wenn ich von dem Motive gezwungen werde,es zu tun? Nicht darauf kommt es zunächst an: ob ich dann,wenn das Motiv auf mich gewirkt hat, etwas tun kann odernicht, sondern ob es nur solche Motive gibt, die mit zwingen-der Notwendigkeit wirken. Wenn ich etwas wollen mußy

dann ist es mir unter Umständen höchst gleichgültig, obich es auch tun kann. Wenn mir wegen meines Charaktersund wegen der in meiner Umgebung herrschenden Umständeein Motiv aufgedrängt wird, das sich meinem Denken gegen-über als unvernünftig erweist, dann müßte ich sogar frohsein, wenn ich nicht könnte, was ich will.

Nicht darauf kommt es an, ob ich einen gefaßten Ent-schluß zur Ausführung bringen kann, sondern wie derEntschluß in mir entsteht.

Was den Menschen von allen andern organischen Wesenunterscheidet, ruht auf seinem vernünftigen Denken. Tätigzu sein, hat er mit anderen Organismen gemein. Nichts istdamit gewonnen, wenn man zur Aufhellung des Freiheits-begriffes für das Handeln des Menschen nach Analogien imTierreiche sucht. Die moderne Naturwissenschaft liebt solcheAnalogien. Und wenn es ihr gelungen ist, bei den Tierenetwas dem menschlichen Verhalten Ähnliches gefunden zuhaben, glaubt sie, die wichtigste Frage der Wissenschaft vomMenschen berührt zu haben. Zu welchen Mißverständnissendiese Meinung führt, zeigt sich zum Beispiel in dem Buche:«Die Illusion der Willensfreiheit» von P. Ree, 1885, der(S. 5) über die Freiheit folgendes sagt: «Daß es uns soscheint, als ob die Bewegung des Steines notwendig, desEsels Wollen nicht notwendig wäre, ist leicht erklärlich.Die Ursachen, welche den Stein bewegen, sind ja draußenund sichtbar. Die Ursachen aber, vermöge deren der Esel

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will, sind drinnen und unsichtbar: zwischen uns und derStätte ihrer Wirksamkeit befindet sich die Hirnschale desEsels.... Man sieht die kausale Bedingtheit nicht, und meintdaher, sie sei nicht vorhanden. Das Wollen, erklärt man,sei zwar die Ursache der Umdrehung (des Esels), selbst abersei es unbedingt; es sei ein absoluter Anfang.» Also auchhier wieder wird über Handlungen des Menschen, beidenen er ein Bewußtsein von den Gründen seines Handelnshat, einfach hinweggegangen, denn Ree erklärt: «Zwischenuns und der Stätte ihrer Wirksamkeit befindet sich die Hirn-schale des Esels.» Daß es, zwar nicht Handlungen des Esels,wohl aber solche der Menschen gibt, bei denen zwischen unsund der Handlung das bewußt gewordene Motiv liegt, da-von hat, schon nach diesen Worten zu schließen, Re*e keineAhnung. Er beweist das einige Seiten später auch noch durchdie Worte: «Wir nehmen die Ursachen nicht wahr, durchwelche unser Wollen bedingt wird, daher meinen wir, essei überhaupt nicht ursächlich bedingt.»

Doch genug der Beispiele, welche beweisen, daß vielegegen die Freiheit kämpfen, ohne zu wissen, was Freiheitüberhaupt ist.

Daß eine Handlung nicht frei sein kann, von der derTäter nicht weiß, warum er sie vollbringt, ist ganz selbst-verständlich. Wie verhält es sich aber mit einer solchen, vonderen Gründen gewußt wird? Das führt uns auf die Frage:welches ist der Ursprung und die Bedeutung des Denkens?Denn ohne die Erkenntnis der denkenden Betätigung derSeele ist ein Begriff des Wissens von etwas, also auch voneiner Handlung nicht möglich. Wenn wir erkennen, wasDenken im allgemeinen bedeutet, dann wird es auch leichtsein, klar darüber zu werden, was für eine Rolle das Den-

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ken beim menschlichen Handeln spielt. «Das Denken machtdie Seele, womit auch das Tier begabt ist, erst zum Geiste»,sagt Hegel mit Recht, und deshalb wird das Denken auchdem menschlichen Handeln sein eigentümliches Geprägegeben.

Keineswegs soll behauptet werden, daß all unser Han-deln nur aus der nüchternen Überlegung unseres Verstandesfließe. Nur diejenigen Handlungen als im höchsten Sinnemenschlich hinzustellen, die aus dem abstrakten Urteil her-vorgehen, liegt mir ganz fern. Aber sobald sich unser Han-deln herauferhebt aus dem Gebiete der Befriedigung reinanimalischer Begierden, sind unsere Beweggründe immervon Gedanken durchsetzt. Liebe, Mitleid, Patriotismus sindTriebfedern des Handelns, die sich nicht in kalte Ver-standesbegriffe auflösen lassen. Man sagt: das Herz, dasGemüt treten da in ihre Rechte. Ohne Zweifel. Aber dasHerz und das Gemüt schaffen nicht die Beweggründe desHandelns. Sie setzen dieselben voraus und nehmen sie inihren Bereich auf. In meinem Herzen stellt sich das Mitleidein, wenn in meinem Bewußtsein die Vorstellung einermitleiderregenden Person aufgetreten ist. Der Weg zumHerzen geht durch den Kopf. Davon macht auch die Liebekeine Ausnahme. Wenn sie nicht die bloße Äußerung desGeschlechtstriebes ist, dann beruht sie auf den Vorstellun-gen, die wir uns von dem geliebten Wesen machen. Und jeidealistischer diese Vorstellungen sind, desto beseligenderist die Liebe. Auch hier ist der Gedanke der Vater des Ge-fühles. Man sagt: die Liebe mache blind für die Schwächendes geliebten Wesens. Die Sache kann auch umgekehrt ange-faßt werden und behauptet: die Liebe öffne gerade für des-sen Vorzüge das Auge. Viele gehen ahnungslos an diesen

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Vorzügen vorbei, ohne sie zu bemerken. Der eine sieht sie,und eben deswegen erwacht die Liebe in seiner Seele. "Washat er anderes getan: als von dem sich eine Vorstellung ge-macht, wovon hundert andere keine haben. Sie haben dieLiebe nicht, weil ihnen die Vorstellung mangelt.

Wir mögen die Sache anfassen wie wir wollen: immerklarer muß es werden, daß die Frage nach dem Wesen desmenschlichen Handelns die andere voraussetzt nach demUrsprünge des Denkens. Ich wende mich daher zunächstdieser Frage zu.

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IIDER GRUNDTRIEB ZUR W I S S E N S C H A F T

«Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust,Die eine will sich von der andern trennen;Die eine hält, in derber Liebeslust,Sich an die Welt mit klammernden Organen;Die andre hebt gewaltsam sich vom DustZu den Gefilden hoher Ahnen.»

(Faust I, 1112-1117)

Mit diesen Worten spricht Goethe einen tief in der mensch-lichen Natur begründeten Charakterzug aus. Nicht ein ein-heitlich organisiertes Wesen ist der Mensch. Er verlangt stetsmehr, als die Welt ihm freiwillig gibt. Bedürfnisse hat dieNatur uns gegeben; unter diesen sind solche, deren Befriedi-gung sie unserer eigenen Tätigkeit überläßt. Reichlich sinddie Gaben, die uns zugeteilt, aber noch reichlicher ist unserBegehren. Wir scheinen zur Unzufriedenheit geboren. Nurein besonderer Fall dieser Unzufriedenheit ist unser Er-kenntnisdrang. Wir blicken einen Baum zweimal an. Wirsehen das eine Mal seine Äste in Ruhe, das andere Mal inBewegung. Wir geben uns mit dieser Beobachtung nicht zu-frieden. Warum stellt sich uns der Baum das eine Malruhend, das andere Mal in Bewegung dar? So fragen wir.Jeder Blick in die Natur erzeugt in uns eine Summe vonFragen. Mit jeder Erscheinung, die uns entgegentritt, ist unseine Aufgabe mitgegeben. Jedes Erlebnis wird uns zumRätsel. Wir sehen aus dem Ei ein dem Muttertiere ähnlichesWesen hervorgehen; wir fragen nach dem Grunde dieserÄhnlichkeit. Wir beobachten an einem Lebewesen Wachs-tum und Entwickelung bis zu einem bestimmten Grade der

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Vollkommenheit: wir suchen nach den Bedingungen dieserErfahrung. Nirgends sind wir mit dem zufrieden, was dieNatur vor unseren Sinnen ausbreitet. Wir suchen überallnach dem, was wir Erklärung der Tatsachen nennen.

Der Überschuß dessen, was wir in den Dingen suchen,über das, was uns in ihnen unmittelbar gegeben ist, spaltetunser ganzes Wesen in zwei Teile; wir werden uns unseresGegensatzes zur Welt bewußt. Wir stellen uns als ein selb-ständiges Wesen der Welt gegenüber. Das Universum er-scheint uns in den zwei Gegensätzen: Ich und Welt.

Diese Scheidewand zwischen uns und der Welt errichtenwir, sobald das Bewußtsein in uns aufleuchtet. Aber niemalsverlieren wir das Gefühl, daß wir doch zur Welt gehören,daß ein Band besteht, das uns mit ihr verbindet, daß wirnicht ein Wesen außerhalb, sondern innerhalb des Univer-sums sind.

Dieses Gefühl erzeugt das Streben, den Gegensatz zuüberbrücken. Und in der Überbrückung dieses Gegensatzesbesteht im letzten Grunde das ganze geistige Streben derMenschheit. Die Geschichte des geistigen Lebens ist ein fort-währendes Suchen der Einheit zwischen uns und der Welt.Religion, Kunst und Wissenschaft verfolgen gleichermaßendieses Ziel. Der Religiös-Gläubige sucht in der Offenbarung,die ihm Gott zuteil werden läßt, die Lösung der Welträtsel,die ihm sein mit der bloßen Erscheinungswelt unzufriedenesIch aufgibt. Der Künstler sucht dem Stoffe die Ideen seinesIch einzubilden, um das in seinem Innern Lebende mit derAußenwelt zu versöhnen. Auch er fühlt sich unbefriedigtvon der bloßen Erscheinungswelt und sucht ihr jenes Mehreinzuformen, das sein Ich, über sie hinausgehend, birgt. DerDenker sucht nach den Gesetzen der Erscheinungen, er strebt

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denkend zu durchdringen, was er beobachtend erfahrt. Erstwenn wir den Weltinkalt zu unserem Gedankeninhalt ge-macht haben, erst dann finden wir den Zusammenhang wie-der, aus dem wir uns selbst gelöst haben. Wir werden spätersehen, daß dieses Ziel nur erreicht wird, wenn die Aufgabedes wissenschaftlichen Forschers allerdings viel tiefer auf-gefaßt wird, als dies oft geschieht. Das ganze Verhältnis,das ich hier dargelegt habe, tritt uns in einer weltgeschicht-lichen Erscheinung entgegen: in dem Gegensatz der einheit-lichen Weltauffassung oder des Monismus und der Zwei-weltentheorie oder des Dualismus. Der Dualismus richtetden Blick nur auf die von dem Bewußtsein des Menschenvollzogene Trennung zwischen Ich und Welt. Sein ganzesStreben ist ein ohnmächtiges Ringen nach der Versöhnungdieser Gegensätze, die er bald Geist und Materie, bald Sub-jekt und Objekt, bald Denken und Erscheinung nennt. Erhat ein Gefühl, daß es eine Brücke geben muß zwischen denbeiden Welten, aber er ist nicht imstande, sie zu finden. In-dem der Mensch sich als «Ich» erlebt, kann er nicht andersals dieses «Ich» auf der Seite des Geistes denken; und indemer diesem Ich die Welt entgegensetzt, muß er zu dieser dieden Sinnen gegebene Wahrnehmungsweit rechnen, die mate-rielle Welt. Dadurch stellt sich der Mensch selbst in denGegensatz Geist und Materie hinein. Er muß dies um somehr tun, als zur materiellen Welt sein eigener Leib gehört.Das «Ich» gehört so dem Geistigen als ein Teil an; die mate-riellen Dinge und Vorgänge, die von den Sinnen wahr-genommen werden, der «Welt». Alle Rätsel, die sich aufGeist und Materie beziehen, muß der Mensch in dem Grund-rätsel seines eigenen Wesens wiederfinden. Der Monismusrichtet den Blick allein auf die Einheit und sucht die einmal

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vorhandenen Gegensätze zu leugnen oder zu verwischen.Keine von den beiden Anschauungen kann befriedigen, dennsie werden den Tatsachen nicht gerecht. Der Dualismus siehtGeist (Ich) und Materie (Welt) als zwei grundverschiedeneWesenheiten an, und kann deshalb nicht begreifen, wiebeide aufeinander wirken können. Wie soll der Geist wissen,was in der Materie vorgeht, wenn ihm deren eigentümlicheNatur ganz fremd ist? Oder wie soll er unter diesen Um-ständen auf sie wirken, so daß sich seine Absichten in Tatenumsetzen? Die scharfsinnigsten und die widersinnigstenHypothesen wurden aufgestellt, um diese Fragen zu lösen.Aber auch mit dem Monismus steht es bis heute nicht vielbesser. Er hat sich bis jetzt in einer dreifachen Art zu helfengesucht: Entweder er leugnet den Geist und wird zumMaterialismus; oder er leugnet die Materie, um im Spiri-tualismus sein Heil zu suchen; oder aber er behauptet, daßauch schon in dem einfachsten Weltwesen Materie und Geistuntrennbar verbunden seien, weswegen man gar nicht er-staunt zu sein brauchte, wenn in dem Menschen diese zweiDaseinsweisen auftreten, die ja nirgends getrennt sind.

Der Materialismus kann niemals eine befriedigende Welt-erklärung liefern. Denn jeder Versuch einer Erklärung mußdamit beginnen, daß man sich Gedanken über die Welt-erscheinungen bildet. Der Materialismus macht deshalb denAnfang mit dem Gedanken derMaterie oder der materiellenVorgänge. Damit hat er bereits zwei verschiedene Tat-sachengebiete vor sich: die materielle Welt und die Gedan-ken über sie. Er sucht die letzteren dadurch zu begreifen,daß er sie als einen rein materiellen Prozeß auffaßt. Erglaubt, daß das Denken im Gehirne etwa so zustande komme,wie die Verdauung in den animalischen Organen. So wie er

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der Materie mechanische und organische Wirkungen zu-schreibt, so legt er ihr auch die Fähigkeit bei, unter bestimm-ten Bedingungen zu denken. Er vergißt, daß er nun dasProblem nur an einen andern Ort verlegt hat. Statt sichselbst, schreibt er die Fähigkeit des Denkens der Materie zu.Und damit ist er wieder an seinem Ausgangspunkte. Wiekommt die Materie dazu, über ihr eigenes Wesen nachzu-denken? Warum ist sie nicht einfach mit sich zufrieden undnimmt ihr Dasein hin? Von dem bestimmten Subjekt, vonunserem eigenen Ich hat der Materialist den Blick abge-wandt und auf ein unbestimmtes, nebelhaftes Gebilde ister gekommen. Und hier tritt ihm dasselbe Rätsel entgegen.Die materialistische Anschauung vermag das Problem nichtzu lösen, sondern nur zu verschieben.

Wie steht es mit der spiritualistischen? Der reine Spiri-tualist leugnet die Materie in ihrem selbständigen Daseinund faßt sie nur als Produkt des Geistes auf .Wendet er dieseWeltanschauung auf die Enträtselung der eigenen mensch-lichen Wesenheit an, so wird er in die Enge getrieben. DemIch, das auf die Seite des Geistes gestellt werden kann, stehtunvermittelt gegenüber die sinnliche Welt. Zu dieser scheintein geistiger Zugang sich nicht zu eröffnen, sie muß durchmaterielle Prozesse von dem Ich wahrgenommen und erlebtwerden. Solche materielle Prozesse findet das «Ich» in sichnicht, wenn es sich nur als geistige Wesenheit gelten lassenwill. Was es geistig sich erarbeitet, in dem ist nie die Sinnes-welt drinnen. Es scheint das «Ich» zugeben zu müssen, daßihm die Welt verschlossen bliebe, wenn es nicht sich auf un-geistige Art zu ihr in ein Verhältnis setzte. Ebenso müssenwir, wenn wir ans Handeln gehen, unsere Absichten mitHilfe der materiellen Stoffe und Kräfte in Wirklichkeit um-

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setzen. Wir sind also auf die Außenwelt angewiesen. Derextremste Spiritualist, oder wenn man will, der durch denabsoluten Idealismus sich als extremer Spiritualist darstel-lende Denker ist Johann Gottlieb Fichte. Er versuchte dasganze Weltgebäude aus dem «Ich» abzuleiten. Was ihmdabei wirklich gelungen ist, ist ein großartiges Gedankenbildder Welt, ohne allen Erfahrungsinhalt. So wenig es demMaterialisten möglich ist, den Geist, ebensowenig ist es demSpiritualisten möglich, die materielle Außenwelt wegzu-dekretieren.

Weil der Mensch, wenn er die Erkenntnis auf das «Ich»lenkt, zunächst das Wirken dieses «Ich» in der gedanklichenAusgestaltung der Ideenwelt wahrnimmt, kann sich die spi-ritualistisch gerichtete Weltanschauung beim Hinblicke aufdie eigene menschliche Wesenheit versucht fühlen, von demGeiste nur diese Ideenwelt anzuerkennen. Der Spiritualis-mus wird auf diese Art zum einseitigen Idealismus. Erkommt nicht dazu, durch die Ideenwelt eine geistige Weltzu suchen; er sieht in der Ideenwelt selbst die geistige Welt.Dadurch wird er dazu getrieben, innerhalb der Wirksam-keit des «Ich» selbst, wie festgebannt, mit seiner Welt-anschauung stehen bleiben zu müssen.

Eine merkwürdige Abart des Idealismus ist die Anschau-ung Friedrich Albert Langes, wie er sie in seiner vielgelese-nen «Geschichte des Materialismus» vertreten hat, er nimmtan, daß der Materialismus ganz recht habe, wenn er alleWelterscheinungen, einschließlich unseres Denkens, für dasProdukt rein stofflicher Vorgänge erklärt; nur sei umge-kehrt die Materie und ihre Vorgänge selbst wieder ein Pro-dukt unseres Denkens. «Die Sinne geben uns . . . Wirkungender Dinge, nicht getreue Bilder, oder gar die Dinge selbst. Zu

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diesen bloßen Wirkungen gehören aber auch die Sinne selbstsamt dem Hirn und den in ihm gedachten Molekular-bewegungen.» Das heißt, unser Denken wird von den ma-teriellen Prozessen erzeugt und diese von dem Denkendes «Ich». Langes Philosophie ist somit nichts anderes, alsdie in Begriffe umgesetzte Geschichte des wackeren Münch-hausen, der sich an seinem eigenen Haarschopf frei in derLuft festhält.

Die dritte Form des Monismus ist die, welche in demeinfachsten Wesen (Atom) bereits die beiden Wesenheiten,Materie und Geist, vereinigt sieht. Damit ist aber auchnichts erreicht, als daß die Frage, die eigentlich in unseremBewußtsein entsteht, auf einen anderen Schauplatz versetztwird. Wie kommt das einfache Wesen dazu, sich in einerzweifachen Weise zu äußern, wenn es eine ungetrennteEinheit ist?

Allen diesen Standpunkten gegenüber muß geltend ge-macht werden, daß uns der Grund- und Urgegensatz zuerstin unserem eigenen Bewußtsein entgegentritt. Wir sind esselbst, die wir uns von dem Mutterboden der Natur los-lösen, und uns als «Ich» der «Welt» gegenüberstellen. Klas-sisch spricht das Goethe in seinem Aufsatz «Die Natur» aus,wenn auch seine Art zunächst als ganz unwissenschaftlichgelten mag: «Wir leben mitten in ihr (der Natur) und sindihr fremde. Sie spricht unaufhörlich mit uns und verrat unsihr Geheimnis nicht.» Aber auch die Kehrseite kennt Goethe:«Die Menschen sind alle in ihr und sie in allen.»

So wahr es ist, daß wir uns der Natur entfremdet haben,so wahr ist es, daß wir fühlen: wir sind in ihr und gehörenzu ihr. Es kann nur ihr eigenes Wirken sein, das auch in unslebt.

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Wir müssen den Weg zu ihr zurück wieder finden. Eineeinfache Überlegung kann uns diesen Weg weisen. Wir habenuns zwar losgerissen von der Natur; aber wir müssen dochetwas mit herübergenommen haben in unser eigenes Wesen.Dieses Naturwesen in uns müssen wir aufsuchen, dann wer-den wir den Zusammenhang auch wieder finden. Das ver-säumt der Dualismus. Er hält das menschliche Innere für einder Natur ganz fremdes Geistwesen und sucht dieses an dieNatur anzukoppeln. Kein Wunder, daß er das Bindegliednicht finden kann. Wir können die Natur außer uns nur fin-den, wenn wir sie in uns erst kennen. Das ihr Gleiche inunserem eigenen Innern wird uns der Führer sein. Damitist uns unsere Bahn vorgezeichnet. Wir wollen keine Speku-lationen anstellen über die Wechselwirkung von Natur undGeist. Wir wollen aber hinuntersteigen in die Tiefen unsereseigenen Wesens, um da jene Elemente zu finden, die wirherübergerettet haben bei unserer Flucht aus der Natur.

Die Erforschung unseres Wesens muß uns die Lösung desRätsels bringen. Wir müssen an einen Punkt kommen, wowir uns sagen können: Hier sind wir nicht mehr bloß «Ich»,hier liegt etwas, was mehr als «Ich» ist.

Ich bin darauf gefaßt, daß mancher, der bis hierher ge-lesen hat, meine Ausführungen nicht «dem gegenwärtigenStande der Wissenschaft» gemäß findet. Ich kann dem gegen-über nur erwidern, daß ich es bisher mit keinerlei wissen-schaftlichen Resultaten zu tun haben wollte, sondern mitder einfachen Beschreibung dessen, was jedermann in seinemeigenen Bewußtsein erlebt. Daß dabei auch einzelne Sätzeüber Versöhnungsversuche des Bewußtseins mit der Welteingeflossen sind, hat nur den Zweck, die eigentlichen Tat-sachen zu verdeutlichen. Ich habe deshalb auch keinen Wert

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daraufgelegt, die einzelnen Ausdrücke, wie «Ich», «Geist»,«Welt», «Natur» und so weiter in der präzisen Weise zugebrauchen, wie es in der Psychologie und Philosophie üblichist. Das alltägliche Bewußtsein kennt die scharfen Unter-schiede der Wissenschaft nicht, und um eine Aufnahme desalltäglichen Tatbestandes handelte es sich bisher bloß. Nichtwie die Wissenschaft bisher das Bewußtsein interpretierthat, geht mich an, sondern wie sich dasselbe stündlichdarlebt.

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IIIDAS DENKEN

IM DIENSTE DER WELTAUFFASSUNG

Wenn ich beobachte, wie eine Billardkugel, die gestoßen wird,ihre Bewegung auf eine andere überträgt, so bleibe ich aufden Verlauf dieses beobachteten Vorganges ganz ohne Ein-fluß. Die Bewegungsrichtung und Schnelligkeit der zweitenKugel ist durch die Richtung und Schnelligkeit der erstenbestimmt. Solange ich mich bloß als Beobachter verhalte,weiß ich über die Bewegung der zweiten Kugel erst dannetwas zu sagen, wenn dieselbe eingetreten ist. Anders ist dieSache, wenn ich über den Inhalt meiner Beobachtung nach-zudenken beginne. Mein Nachdenken hat den Zweck, vondem Vorgange Begriffe zu bilden. Ich bringe den Begriffeiner elastischen Kugel in Verbindung mit gewissen anderenBegriffen der Mechanik und ziehe die besonderen Umständein Erwägung, die in dem vorkommenden Falle obwalten.Ich suche also zu dem Vorgange, der sich ohne mein Zutunabspielt, einen zweiten hinzuzufügen, der sich in der begriff-lichen Sphäre vollzieht. Der letztere ist von mir abhängig.Das zeigt sich dadurch, daß ich mich mit der Beobachtungbegnügen und auf alles Begriffesuchen verzichten kann, wennich kein Bedürfnis danach habe. Wenn dieses Bedürfnis abervorhanden ist, dann beruhige ich mich erst, wenn ich dieBegriffe: Kugel, Elastizität, Bewegung, Stoß, Geschwindig-keit usw. in eine gewisse Verbindung gebracht habe, zuwelcher der beobachtete Vorgang in einem bestimmten Ver-hältnisse steht. So gewiß es nun ist, daß sich der Vorgangunabhängig von mir vollzieht, so gewiß ist es, daß sich derbegriffliche Prozeß ohne mein Zutun nicht abspielen kann.

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Ob diese meine Tätigkeit wirklich der Ausfluß meinesselbständigen Wesens ist, oder ob die modernen Physiologenrecht haben, welche sagen, daß wir nicht denken können,wie wir wollen, sondern denken müssen, wie es die geradein unserem Bewußtsein vorhandenen Gedanken und Ge-dankenverbindungen bestimmen (vergleiche Ziehen, Leit-faden der physiologischen Psychologie, Jena 1893, S. 171),wird Gegenstand einer späteren Auseinandersetzung sein.Vorläufig wollen wir bloß die Tatsache feststellen, daß wiruns fortwährend gezwungen fühlen, zu den ohne unser Zu-tun uns gegebenen Gegenständen und Vorgängen Begriffeund Begriffsverbindungen zu suchen, die zu jenen in einergewissen Beziehung stehen. Ob dies Tun in Wahrheit unserTun ist, oder ob wir es einer unabänderlichen Notwendig-keit gemäß vollziehen, lassen wir vorläufig dahingestellt.Daß es uns zunächst als das unsrige erscheint, ist ohne Frage.Wir wissen ganz genau, daß uns mit den Gegenständen nichtzugleich deren Begriffe mitgegeben werden. Daß ich selbstder Tätige bin, mag auf einem Schein beruhen; der unmittel-baren Beobachtung stellt sich die Sache jedenfalls so dar.Die Frage ist nun: was gewinnen wir dadurch, daß wir zueinem Vorgange ein begriffliches Gegenstück hinzufinden?

Es ist ein tiefgreifender Unterschied zwischen der Art,wie sich für mich die Teile eines Vorganges zueinander ver-halten vor und nach der Auffindung der entsprechendenBegriffe. Die bloße Beobachtung kann die Teile eines gegebe-nen Vorganges in ihrem Verlaufe verfolgen; ihr Zusammen-hang bleibt aber vor der Zuhilfenahme von Begriffen dun-kel. Ich sehe die erste Billardkugel in einer gewissen Rich-tung und mit einer bestimmten Geschwindigkeit gegen diezweite sich bewegen; was nach erfolgtem Stoß geschieht,

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muß ich abwarten und kann es dann auch wieder nur mitden Augen verfolgen. Nehmen wir an, es verdecke mir imAugenblicke des Stoßes jemand das Feld, auf dem der Vor-gang sich abspielt, so bin ich - als bloßer Beobachter - ohneKenntnis, was nachher geschieht. Anders ist das, wenn ichfür die Konstellation der Verhältnisse vor dem Verdeckendie entsprechenden Begriffe gefunden habe. In diesem Fallekann ich angeben, was geschieht, auch wenn die Möglichkeitder Beobachtung aufhört. Ein bloß beobachteter Vorgangoder Gegenstand ergibt aus sich selbst nichts über seinenZusammenhang mit anderen Vorgängen oder Gegenständen.Dieser Zusammenhang wird erst ersichtlich, wenn sich dieBeobachtung mit dem Denken verbindet.

Beobachtung und Denken sind die beiden Ausgangspunktefür alles geistige Streben des Menschen, insoferne er sicheines solchen bewußt ist. Die Verrichtungen des gemeinenMenschenverstandes und die verwickeltesten wissenschaft-lichen Forschungen ruhen auf diesen beiden Grundsäulenunseres Geistes. Die Philosophen sind von verschiedenenUrgegensätzen ausgegangen: Idee und Wirklichkeit, Subjektund Objekt, Erscheinung und Ding an sich, Ich und Nicht-Ich, Idee und Wille, Begriff und Materie, Kraft und Stoff,Bewußtes und Unbewußtes. Es läßt sich aber leicht zeigen,daß allen diesen Gegensätzen der von Beobachtung undDenken, als der für den Menschen wichtigste, vorangehenmuß.

Was für ein Prinzip wir auch aufstellen mögen: wir müs-sen es irgendwo als von uns beobachtet nachweisen, oder inForm eines klaren Gedankens, der von jedem anderen nach-gedacht werden kann, aussprechen. Jeder Philosoph, deranfängt über seine Urprinzipien zu sprechen, muß sich der

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begrifflichen Form, und damit des Denkens bedienen. Ergibt damit indirekt zu, daß er zu seiner Betätigung dasDenken bereits voraussetzt. Ob das Denken oder irgendetwas anderes Hauptelement der Weltentwickelung ist, dar-über werde hier noch nichts ausgemacht. Daß aber der Philo-soph ohne das Denken kein Wissen darüber gewinnen kann,das ist von vornherein klar. Beim Zustandekommen derWelterscheinungen mag das Denken eine Nebenrolle spie-len, beim Zustandekommen einer Ansicht darüber kommtihm aber sicher eine Hauptrolle zu.

Was nun die Beobachtung betrifft, so liegt es in unsererOrganisation, daß wir derselben bedürfen. Unser Denkenüber ein Pferd und der Gegenstand Pferd sind zwei Dinge,die für uns getrennt auftreten. Und dieser Gegenstand istuns nur durch Beobachtung zugänglich. So wenig wir durchdas bloße Anstarren eines Pferdes uns einen Begriff vondemselben machen können, ebensowenig sind wir imstande,durch bloßes Denken einen entsprechenden Gegenstand her-vorzubringen.

Zeitlich geht die Beobachtung sogar dem Denken voraus.Denn auch das Denken müssen wir erst durch Beobachtungkennenlernen. Es war wesentlich die Beschreibung einer Be-obachtung, als wir am Eingange dieses Kapitels darstellten,wie sich das Denken an einem Vorgange entzündet und überdas ohne sein Zutun Gegebene hinausgeht. Alles was inden Kreis unserer Erlebnisse eintritt, werden wir durch dieBeobachtung erst gewahr. Der Inhalt von Empfindungen,Wahrnehmungen, Anschauungen, die Gefühle, Willensakte,Traum- und Phantasiegebilde, Vorstellungen, Begriffe undIdeen, sämtliche Illusionen und Halluzinationen werdenuns durch die Beobachtung gegeben.

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Nur unterscheidet sich das Denken als Beobachtungs-objekt doch wesentlich von allen andern Dingen. Die Be-obachtung eines Tisches, eines Baumes tritt bei mir ein,sobald diese Gegenstände auf dem Horizonte meiner Erleb-nisse auftauchen. Das Denken aber über diese Gegenständebeobachte ich nicht gleichzeitig. Den Tisch beobachte ich,das Denken über den Tisch führe ich aus, aber ich beobachtees nicht in demselben Augenblicke. Ich muß mich erst aufeinen Standpunkt außerhalb meiner eigenen Tätigkeit ver-setzen, wenn ich neben dem Tische auch mein Denken überden Tisch beobachten will. Während das Beobachten derGegenstände und Vorgänge und das Denken darüber ganzalltägliche, mein fortlaufendes Leben ausfüllende Zuständesind, ist die Beobachtung des Denkens eine Art Ausnahme-zustand. Diese Tatsache muß in entsprechender Weise be-rücksichtigt werden, wenn es sich darum handelt, das Ver-hältnis des Denkens zu allen anderen Beobachtungsinhaltenzu bestimmen. Man muß sich klar darüber sein, daß manbei der Beobachtung des Denkens auf dieses ein Verfahrenanwendet, das für die Betrachtung des ganzen übrigen Welt-inhaltes den normalen Zustand bildet, das aber im Verfolgedieses normalen Zustandes für das Denken selbst nicht ein-tritt.

Es könnte jemand den Einwand machen, daß das gleiche,

was ich hier von dem Denken bemerkt habe, auch von dem

Fühlen und den übrigen geistigen Tätigkeiten gelte. Wenn

wir zum Beispiel das Gefühl der Lust haben, so entzünde

sich das auch an einem Gegenstande, und ich beobachte zwar

diesen Gegenstand, nicht aber das Gefühl der Lust. Dieser

Einwand beruht aber auf einem Irrtum. Die Lust steht

durchaus nicht in demselben Verhältnisse zu ihrem Gegen-

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Stande wie der Begriff, den das Denken bildet. Ich bin mirauf das bestimmteste bewußt, daß der Begriff einer Sachedurch meine Tätigkeit gebildet wird, während die Lust inmir auf ähnliche Art durch einen Gegenstand erzeugt wird,wie zum Beispiel die Veränderung, die ein fallender Steinin einem Gegenstande bewirkt, auf den er auffällt. Für dieBeobachtung ist die Lust in genau derselben Weise gegeben,wie der sie veranlassende Vorgang. Ein gleiches gilt nichtvom Begriffe. Ich kann fragen: warum erzeugt ein bestimm-ter Vorgang bei mir das Gefühl der Lust? Aber ich kanndurchaus nicht fragen: warum erzeugt ein Vorgang bei mireine bestimmte Summe von Begriffen? Das hätte einfachkeinen Sinn. Bei dem Nachdenken über einen Vorganghandelt es sich gar nicht um eine Wirkung auf mich. Ichkann dadurch nichts über mich erfahren, daß ich für die be-obachtete Veränderung, die ein gegen eine Fensterscheibegeworfener Stein in dieser bewirkt, die entsprechenden Be-griffe kenne. Aber ich erfahre sehr wohl etwas über meinePersönlichkeit, wenn ich das Gefühl kenne, das ein bestimm-ter Vorgang in mir erweckt. Wenn ich einem beobachtetenGegenstand gegenüber sage: dies ist eine Rose, so sage ichüber mich selbst nicht das geringste aus; wenn ich aber vondemselben Dinge sage: es bereitet mir das Gefühl der Lust,so habe ich nicht nur die Rose, sondern auch mich selbst inmeinem Verhältnis zur Rose charakterisiert.

Von einer ^Gleichstellung des Denkens mit dem Fühlender Beobachtung gegenüber kann also nicht die Rede sein.Dasselbe ließe sich leicht auch für die andern Tätigkeitendes menschlichen Geistes ableiten. Sie gehören dem Denkengegenüber in eine Reihe mit anderen beobachteten Gegen-ständen und Vorgängen. Es gehört eben zu der eigentüm-

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liehen Natur des Denkens5 daß es eine Tätigkeit ist, die bloßauf den beobachteten Gegenstand gelenkt ist und nicht aufdie denkende Persönlichkeit. Das spricht sich schon in derArt aus, wie wir unsere Gedanken über eine Sache zumAusdruck bringen im Gegensatz zu unseren Gefühlen oderWillensakten. Wenn ich einen Gegenstand sehe und diesenals einen Tisch erkenne, werde ich im allgemeinen nichtsagen: ich denke über einen Tisch, sondern: dies ist ein Tisch.Wohl aber werde ich sagen: ich freue mich über den Tisch.Im ersteren Falle kommt es mir eben gar nicht darauf an,auszusprechen, daß ich zu dem Tisch in ein Verhältnis trete;in dem zweiten Falle handelt es sich aber gerade um diesesVerhältnis. Mit dem Ausspruch: ich denke über einen Tisch,trete ich bereits in den oben charakterisierten Ausnahme-zustand ein, wo etwas zum Gegenstand der Beobachtunggemacht wird, was in unserer geistigen Tätigkeit immer mit-enthalten ist, aber nicht als beobachtetes Objekt.

Das ist die eigentümliche Natur des Denkens, daß derDenkende das Denken vergißt, während er es ausübt. Nichtdas Denken beschäftigt ihn, sondern der Gegenstand desDenkens, den er beobachtet.

Die erste Beobachtung, die wir über das Denken machen,ist also die, daß es das unbeobachtete Element unseres ge-wöhnlichen Geisteslebens ist.

Der Grund, warum wir das Denken im alltäglichenGeistesleben nicht beobachten, ist kein anderer als der, daßes auf unserer eigenen Tätigkeit beruht. Was ich nicht selbsthervorbringe, tritt als ein Gegenständliches in mein Beob-achtungsfeld ein. Ich sehe mich ihm als einem ohne michzustande Gekommenen gegenüber; es tritt an mich heran;ich muß es als die Voraussetzung meines Denkprozesses hin-

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nehmen. Während ich über den Gegenstand nachdenke, binich mit diesem beschäftigt, mein Bück ist ihm zugewandt.Diese Beschäftigung ist eben die denkende Betrachtung.Nicht auf meine Tätigkeit, sondern auf das Objekt dieserTätigkeit ist meine Aufmerksamkeit gerichtet. Mit anderenWorten: wahrend ich denke, sehe ich nicht auf mein Den-ken, das ich selbst hervorbringe, sondern auf das Objekt desDenkens, das ich nicht hervorbringe.

Ich bin sogar in demselben Fall, wenn ich den Ausnahme-zustand eintreten lasse, und über mein Denken selbst nach-denke. Ich kann mein gegenwärtiges Denken nie beobachten;sondern nur die Erfahrungen, die ich über meinen Denk-prozeß gemacht habe, kann ich nachher zum Objekt desDenkens machen. Ich müßte mich in zwei Persönlichkeitenspalten: in eine, die denkt, und in die andere, welche sichbei diesem Denken selbst zusieht, wenn ich mein gegenwär-tiges Denken beobachten wollte. Das kann ich nicht. Ichkann das nur in zwei getrennten Akten ausführen. DasDenken, das beobachtet werden soll, ist nie das dabei inTätigkeit befindliche, sondern ein anderes. Ob ich zu diesemZwecke meine Beobachtungen an meinem eigenen früherenDenken mache, oder ob ich den Gedankenprozeß einer an-deren Person verfolge, oder endlich, ob ich, wie im obigenFalle mit der Bewegung der Billardkugeln, einen fingiertenGedankenprozeß voraussetze, darauf kommt es nicht an.

Zwei Dinge vertragen sich nicht: tätiges Hervorbringenund beschauliches Gegenüberstellen. Das weiß schon daserste Buch Moses. An den ersten sechs Welttagen läßt esGott die Welt hervorbringen, und erst als sie da ist, ist dieMöglichkeit vorhanden, sie zu beschauen: «Und Gott sähean alles, was er gemacht hatte; und siehe da, es war sehr

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gut.» So ist es auch mit unserem Denken. Es muß erst dasein, wenn wir es beobachten wollen.

Der Grund, der es uns unmöglich macht, das Denken inseinem jeweilig gegenwärtigen Verlauf zu beobachten, istder gleiche wie der, der es uns unmittelbarer und intimererkennen läßt als jeden andern Prozeß der Welt. Eben weilwir es selbst hervorbringen, kennen wir das Charakteri-stische seines Verlaufs, die Art, wie sich das dabei in Betrachtkommende Geschehen vollzieht. Was in den übrigen Beob-achtungssphären nur auf mittelbare Weise gefunden werdenkann: der sachlich-entsprechende Zusammenhang und dasVerhältnis der einzelnen Gegenstände, das wissen wir beimDenken auf ganz unmittelbare Weise. Warum für meineBeobachtung der Donner auf den Blitz folgt, weiß ich nichtohne weiteres; warum mein Denken den Begriff Donnermit dem des Blitzes verbindet, weiß ich unmittelbar aus denInhalten der beiden Begriffe. Es kommt natürlich, gar nichtdarauf an, ob ich die richtigen Begriffe von Blitz und Don-ner habe. Der Zusammenhang derer, die ich habe, ist mirklar, und zwar durch sie selbst.

Diese durchsichtige Klarheit in bezug auf den Denk-prozeß ist ganz unabhängig von unserer Kenntnis der phy-siologischen Grundlagen des Denkens. Ich spreche hier vondem Denken, insoferne es sich aus der Beobachtung unserergeistigen Tätigkeit ergibt. Wie ein materieller Vorgangmeines Gehirns einen andern veranlaßt oder beeinflußt,während ich eine Gedankenoperation ausführe, kommt da-bei gar nicht in Betracht. Was ich am Denken beobachte, istnicht: welcher Vorgang in meinem Gehirne den Begriff desBlitzes mit dem des Donners verbindet, sondern, was michveranlaßt, die beiden Begriffe in ein bestimmtes Verhältnis

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zu bringen. Meine Beobachtung ergibt, daß mir für meineGedankenverbindungen nichts vorliegt, nach dem ich michrichte, als der Inhalt meiner Gedanken; nicht nach denmateriellen Vorgängen in meinem Gehirn richte ich mich.Für ein weniger materialistisches Zeitalter als das unsrigewäre diese Bemerkung natürlich vollständig überflüssig.Gegenwärtig aber, wo es Leute gibt, die glauben: wenn wirwissen, was Materie ist, werden wir auch wissen, wie dieMaterie denkt, muß doch gesagt werden, daß man vomDenken reden kann, ohne sogleich mit der Gehirnphysio-logie in Kollision zu treten. Es wird heute sehr vielen Men-schen schwer, den Begriff des Denkens in seiner Reinheit zufassen. Wer der Vorstellung, die ich hier vom Denken ent-wickelt habe, sogleich den Satz des Cabanis entgegensetzt:«Das Gehirn sondert Gedanken ab wie die Leber Galle, dieSpeicheldrüse Speichel usw.», der weiß einfach nicht, wovonich rede. Er sucht das Denken durch einen bloßen Beobach-tungsprozeß zu finden in derselben Art, wie wir bei anderenGegenständen des Weltinhaltes verfahren. Er kann es aberauf diesem Wege nicht finden, weil es sich, wie ich nach-gewiesen habe, gerade da der normalen Beobachtung ent-zieht. Wer den Materialismus nicht überwinden kann, demfehlt die Fähigkeit, bei sich den geschilderten Ausnahme-zustand herbeizuführen, der ihm zum Bewußtsein bringt,was bei aller andern Geistestätigkeit unbewußt bleibt. Werden guten Willen nicht hat, sich in diesen Standpunkt zuversetzen, mit dem könnte man über das Denken so wenigwie mit dem Blinden über die Farbe sprechen. Er möge nuraber nicht glauben, daß wir physiologische Prozesse fürDenken halten. Er erklärt das Denken nicht, weil er es über-haupt nicht sieht.

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Für jeden aber, der die Fähigkeit hat, das Denken zubeobachten - und bei gutem Willen hat sie jeder normalorganisierte Mensch —, ist diese Beobachtung die allerwich-tigste, die er machen kann. Denn er beobachtet etwas, dessenHervorbringer er selbst ist; er sieht sich nicht einem zunächstfremden Gegenstande, sondern seiner eigenen Tätigkeitgegenüber. Er weiß, wie das zustande kommt, was er beob-achtet. Er durchschaut die Verhältnisse und Beziehungen.Es ist ein fester Punkt gewonnen, von dem aus man mitbegründeter Hoffnung nach der Erklärung der übrigenWelterscheinungen suchen kann.

Das Gefühl, einen solchen festen Punkt zu haben, ver-anlaßte den Begründer der neueren Philosophie, RenatusCartesius, das ganze menschliche Wissen auf den Satz zugründen: Ich denke, also bin ich. Alle andern Dinge, allesandere Geschehen ist ohne mich da; ich weiß nicht, ob alsWahrheit, ob als Gaukelspiel und Traum. Nur eines weißich ganz unbedingt sicher, denn ich bringe es selbst zu seinemsichern Dasein: mein Denken. Mag es noch einen andernUrsprung seines Daseins haben, mag es von Gott oderanderswoher kommen; daß es in dem Sinne da ist, in demich es selbst hervorbringe, dessen bin ich gewiß. Einen an-dern Sinn seinem Satze unterzulegen hatte Cartesius zu-nächst keine Berechtigung. Nur daß ich mich innerhalb desWeltinhaltes in meinem Denken als in meiner ureigenstenTätigkeit erfasse, konnte er behaupten. Was das daran-gehängte: also bin ich heißen soll, darüber ist viel gestrittenworden. Einen Sinn kann es aber nur unter einer einzigenBedingung haben. Die einfachste Aussage, die ich von einemDinge machen kann, ist die, daß es ist, daß es existiert. Wiedann dieses Dasein näher zu bestimmen ist, das ist bei

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keinem Dinge, das in den Horizont meiner Erlebnisse ein-tritt, sogleich im Augenblicke zu sagen. Es wird jeder Gegen-stand erst in seinem Verhältnisse zu andern zu untersuchensein, um bestimmen zu können, in welchem Sinne von ihmals einem existierenden gesprochen werden kann. Ein er-lebter Vorgang kann eine Summe von Wahrnehmungen,aber auch ein Traum, eine Halluzination und so weiter sein.Kurz, ich kann nicht sagen, in welchem Sinne er existiert.Das werde ich dem Vorgange selbst nicht entnehmen kön-nen, sondern ich werde es erfahren, wenn ich ihn im Ver-hältnisse zu andern Dingen betrachte. Da kann ich aberwieder nicht mehr wissen, als wie er im Verhältnisse zu die-sen Dingen steht. Mein Suchen kommt erst auf einen festenGrund, wenn ich ein Objekt finde, bei dem ich den Sinnseines Daseins aus ihm selbst schöpfen kann. Das bin ichaber selbst als Denkender, denn ich gebe meinem Dasein denbestimmten, in sich beruhenden Inhalt der denkenden Tätig-keit. Nun kann ich von da ausgehen und fragen: Existierendie andern Dinge in dem gleichen oder in einem andernSinne?

Wenn man das Denken zum Objekt der Beobachtungmacht, fügt man zu dem übrigen beobachteten Weltinhalteetwas dazu, was sonst der Aufmerksamkeit entgeht; manändert aber nicht die Art, wie sich der Mensch auch denandern Dingen gegenüber verhält. Man vermehrt die Zahlder Beobachtungsobjekte, aber nicht die Methode des Be-obachtens. Während wir die andern Dinge beobachten,mischt sich in das Weltgeschehen - zu dem ich jetzt das Be-obachten mitzähle - ein Prozeß, der übersehen wird. Es istetwas von allem andern Geschehen verschiedenes vorhan-den, das nicht mitberücksichtigt wird. Wenn ich aber mein

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Denken betrachte, so ist kein solches unberücksichtigtes Ele-ment vorhanden. Denn was jetzt im Hintergrunde schwebt,ist selbst wieder nur das Denken. Der beobachtete Gegen-stand ist qualitativ derselbe wie die Tätigkeit, die sich aufihn richtet. Und das ist wieder eine charakteristische Eigen-tümlichkeit des Denkens. Wenn wir es zum Betrachtungs-objekt machen, sehen wir uns nicht gezwungen, dies mitHilfe eines Qualitativ-Verschiedenen zu tun, sondern wirkönnen in demselben Element verbleiben.

Wenn ich einen ohne mein Zutun gegebenen Gegenstandin mein Denken einspinne, so gehe ich über meine Beob-achtung hinaus, und es wird sich darum handeln: was gibtmir ein Recht dazu? Warum lasse ich den Gegenstand nichteinfach auf mich einwirken? Auf welche Weise ist es mög-lich, daß mein Denken einen Bezug zu dem Gegenstandehat? Das sind Fragen, die sich jeder stellen muß, der überseine eigenen Gedankenprozesse nachdenkt. Sie fallen weg,wenn man über das Denken selbst nachdenkt. Wir fügenzu dem Denken nichts ihm Fremdes hinzu, haben uns alsoauch über ein solches Hinzufügen nicht zu rechtfertigen.

Schelling sagt: Die Natur erkennen, heißt die Naturschaffen. - Wer diese Worte des kühnen Naturphilosophenwörtlich nimmt, wird wohl zeitlebens auf alles Naturerken-nen verzichten müssen. Denn die Natur ist einmal da, undum sie ein zweites Mal zu schaffen, muß man die Prinzipienerkennen, nach denen sie entstanden ist. Für die Natur, dieman erst schaffen wollte, müßte man der bereits bestehendendie Bedingungen ihres Daseins abgucken. Dieses Abgucken,das dem Schaffen vorausgehen müßte, wäre aber das Er-kennen der Natur, und zwar auch dann, wenn nach erfolg-tem Abgucken das Schaffen ganz unterbliebe. Nur eine noch

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nicht vorhandene Natur könnte man schaffen, ohne sie vor-her zu erkennen.

Was bei der Natur unmöglich ist: das Schaffen vor demErkennen; beim Denken vollbringen wir es. Wollten wirmit dem Denken warten, bis wir es erkannt haben, dannkämen wir nie dazu. Wir müssen resolut darauf losdenken,um hinterher mittels der Beobachtung des Selbstgetanen zuseiner Erkenntnis zu kommen. Der Beobachtung des Den-kens schaffen wir selbst erst ein Objekt. Für das Vorhanden-sein aller anderen Objekte ist ohne unser Zutun gesorgtworden.

Leicht könnte jemand meinem Satze: wir müssen denken,bevor wir das Denken betrachten können, den andern alsgleichberechtigt entgegenstellen: wir können auch mit demVerdauen nicht warten, bis wir den Vorgang des Verdauensbeobachtet haben. Das wäre ein Einwand ähnlich dem, denPascal dem Cartesius machte, indem er behauptete, mankönne auch sagen: ich gehe spazieren, also bin ich. Ganz ge-wiß muß ich auch resolut verdauen, bevor ich den physiolo-gischen Prozeß der Verdauung studiert habe. Aber mit derBetrachtung des Denkens ließe sich das nur vergleichen,wenn ich die Verdauung hinterher nicht denkend betrachten,sondern essen und verdauen wollte. Das ist doch eben auchnicht ohne Grund, daß das Verdauen zwar nicht Gegen-stand des Verdauens, das Denken aber sehr wohl Gegen-stand des Denkens werden kann.

Es ist also zweifellos: in dem Denken halten wir das Welt-geschehen an einem Zipfel, wo wir dabei sein müssen, wennetwas Zustandekommen soll. Und das ist doch gerade das,worauf es ankommt. Das ist gerade der Grund, warum mirdie Dinge so rätselhaft gegenüberstehen: daß ich an ihrem

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Zustandekommen so unbeteiligt bin. Ich finde sie einfachvor; beim Denken aber weiß ich, wie es gemacht wird. Da-her gibt es keinen ursprünglicheren Ausgangspunkt für dasBetrachten alles Weltgeschehens als das Denken.

Ich möchte nun einen weitverbreiteten Irrtum noch er-wähnen, der in bezug auf das Denken herrscht. Er bestehtdarin, daß man sagt: das Denken, so wie es an sich selbst ist,ist uns nirgends gegeben. Das Denken, das die Beobachtun-gen unserer Erfahrungen verbindet und mit einem Netzvon Begriffen durchspinnt, sei durchaus nicht dasselbe, wiedasjenige, das wir hinterher wieder von den Gegenständender Beobachtung herausschälen und zum Gegenstande unse-rer Betrachtung machen. Was wir erst unbewußt in dieDinge hineinweben, sei ein ganz anderes, als was wir dannmit Bewußtsein wieder herauslösen.

Wer so schließt, der begreift nicht, daß es ihm auf dieseArt gar nicht möglich ist, dem Denken zu entschlüpfen. Ichkann aus dem Denken gar nicht herauskommen, wenn ichdas Denken betrachten will. Wenn man das vorbewußteDenken von dem nachher bewußten Denken unterscheidet,so sollte man doch nicht vergessen, daß diese Unterscheidungeine ganz äußerliche ist, die mit der Sache selbst gar nichtszu tun hat. Ich mache eine Sache dadurch überhaupt nichtzu einer andern, daß ich sie denkend betrachte. Ich kannmir denken, daß ein Wesen mit ganz anders gearteten Sinnes-organen und mit einer anders funktionierenden Intelligenzvon einem Pferde eine ganz andere Vorstellung habe als ich,aber ich kann mir nicht denken, daß mein eigenes Denkendadurch ein anderes wird, daß ich es beobachte. Ich beob-achte selbst, was ich selbst vollbringe. Wie mein Denken sichfür eine andere Intelligenz ausnimmt als die meine, davon

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ist jetzt nicht die Rede; sondern davon, wie es sich für michausnimmt. Jedenfalls aber kann das Bild meines Denkensin einer andern Intelligenz nicht ein wahreres sein als meineigenes. Nur wenn ich nicht selbst das denkende Wesenwäre, sondern das Denken mir als Tätigkeit eines mir fremd-artigen Wesens gegenüber träte, könnte ich davon sprechen,daß mein Bild des Denkens zwar auf eine bestimmte Weiseauftrete; wie das Denken des Wesens aber an sich selber sei,das könne ich nicht wissen.

Mein eigenes Denken von einem anderen Standpunkte ausanzusehen, liegt aber vorläufig für mich nicht die geringsteVeranlassung vor. Ich betrachte ja die ganze übrige Weltmit Hilfe des Denkens. Wie sollte ich bei meinem Denkenhiervon eine Ausnahme machen?

Damit betrachte ich für genügend gerechtfertigt, wennich in meiner Weltbetrachtung von dem Denken ausgehe.Als Ardiimedes den Hebel erfunden hatte, da glaubte ermit seiner Hilfe den ganzen Kosmos aus den Angeln hebenzu können, wenn er nur einen Punkt fände, wo er seinInstrument aufstützen könnte. Er brauchte etwas, was durchsich selbst, nicht durch anderes getragen wird. Im Denkenhaben wir ein Prinzip, das durch sich selbst besteht. Vonhier aus sei es versucht, die Welt zu begreifen. Das Denkenkönnen wir durch es selbst erfassen. Die Frage ist nur, obwir durch dasselbe auch noch etwas anderes ergreifenkönnen.

Ich habe bisher von dem Denken gesprochen, ohne aufseinen Träger, das menschliche Bewußtsein, Rücksicht zunehmen. Die meisten Philosophen der Gegenwart werdenmir einwenden: bevor es ein Denken gibt, muß es ein Be-wußtsein geben. Deshalb sei vom Bewußtsein und nicht

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vom Denken auszugehen. Es gebe kein Denken ohne Be-wußtsein. Ich muß dem gegenüber erwidern: Wenn ich dar-über Aufklärung haben will, welches Verhältnis zwischenDenken und Bewußtsein besteht, so muß ich darüber nach-denken. Ich setze das Denken damit voraus. Nun kann mandarauf allerdings antworten: Wenn der Philosoph das Be-wußtsein begreifen will, dann bedient er sich des Denkens;er setzt es insoferne voraus; im gewöhnlichen Verlaufe desLebens aber entsteht das Denken innerhalb des Bewußt-seins und setzt also dieses voraus. Wenn diese Antwort demWeltschöpfer gegeben würde, der das Denken schaffen will,so wäre sie ohne Zweifel berechtigt. Man kann natürlich dasDenken nicht entstehen lassen, ohne vorher das Bewußtseinzustande zu bringen. Dem Philosophen aber handelt es sichnicht um die Weltschöpfung, sondern um das Begreifenderselben. Er hat daher auch nicht die Ausgangspunkte fürdas Schaffen, sondern für das Begreifen der Welt zu suchen.Ich finde es ganz sonderbar, wenn man dem Philosophenvorwirft, daß er sich vor allen andern Dingen um die Rich-tigkeit seiner Prinzipien, nicht aber sogleich um die Gegen-stände bekümmert, die er begreifen will. Der Weltschöpfermußte vor allem wissen, wie er einen Träger für das Den-ken findet, der Philosoph aber muß nach einer sichernGrundlage suchen, von der aus er das Vorhandene begreifenkann. Was frommt es uns, wenn wir vom Bewußtsein aus-gehen und es der denkenden Betrachtung unterwerfen, wennwir vorher über die Möglichkeit, durch denkende Betrach-tung Aufschluß über die Dinge zu bekommen, nichts wissen?

Wir müssen erst das Denken ganz neutral, ohne Be-ziehung auf ein denkendes Subjekt oder ein gedachtes Ob-jekt betrachten. Denn in Subjekt und Objekt haben wir

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bereits Begriffe, die durch das Denken gebildet sind. Es istnicht zu leugnen: Ehe anderes begriffen werden kann, mußes das Denken werden. Wer es leugnet, der übersieht, daßer als Mensch nicht ein Anfangsglied der Schöpfung, sondernderen Endglied ist. Man kann deswegen behufs Erklärungder Welt durch Begriffe nicht von den zeitlich ersten Ele-menten des Daseins ausgehen, sondern von dem, was uns alsdas Nächste, als das Intimste gegeben ist. Wir können unsnicht mit einem Sprunge an den Anfang der Welt versetzen,um da unsere Betrachtung anzufangen, sondern wir müssenvon dem gegenwärtigen Augenblick ausgehen und sehen,ob wir von dem Späteren zu dem Früheren aufsteigen kön-nen. Solange die Geologie von erdichteten Revolutionengesprochen hat, um den gegenwärtigen Zustand der Erdezu erklären, solange tappte sie in der Finsternis. Erst als sieihren Anfang damit machte, zu untersuchen, welche Vor-gänge gegenwärtig noch auf der Erde sich abspielen und vondiesen zurückschloß auf das Vergangene, hatte sie einensicherenBoden gewonnen. Solange die Philosophie alle mög-lichen Prinzipien annehmen wird, wie Atom, Bewegung,Materie, Wille, Unbewußtes, wird sie in der Luft schweben.Erst wenn der Philosoph das absolut Letzte als sein Erstesansehen wird, kann er zum Ziele kommen. Dieses absolutLetzte, zu dem es die Weltentwickelung gebracht hat, istaber das Denken.

Es gibt Leute, die sagen: ob unser Denken an sich richtigsei oder nicht, können wir aber doch nicht mit Sicherheit fest-stellen. Insoferne bleibt also der Ausgangspunkt jedenfallsein zweifelhafter. Das ist gerade so vernünftig gesprochen,wie wenn man Zweifel hegt, ob ein Baum an sich richtig seioder nicht. Das Denken ist eine Tatsache; und über die Rich-

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tigkeit oder Falschheit einer solchen zu sprechen, ist sinnlos.Ich kann höchstens darüber Zweifel haben, ob das Denkenrichtig verwendet wird, wie ich zweifeln kann, ob ein ge-wisser Baum ein entsprechendes Holz zu einem zweckmäßi-gen Gerät gibt. Zu zeigen, inwieferne die Anwendung desDenkens auf die Welt eine richtige oder falsche ist, wirdgerade Aufgabe dieser Schrift sein. Ich kann es verstehen,wenn jemand Zweifel hegt, daß durch das Denken über dieWelt etwas ausgemacht werden kann; das aber ist mir unbe-greiflich, wie jemand die Richtigkeit des Denkens an sichanzweifeln kann.

Zusatz zur Neuauflage (1918). In den vorangehendenAusführungen wird auf den bedeutungsvollen Unterschiedzwischen dem Denken und allen andern Seelentätigkeitenhingewiesen als auf eine Tatsache, die sich einer wirklichunbefangenen Beobachtung ergibt. Wer diese unbefangeneBeobachtung nicht anstrebt, der wird gegen diese Ausfüh-rungen versucht sein, Einwendungen zu machen wie diese:wenn ich über eine Rose denke, so ist damit doch auch nurein Verhältnis meines «Ich» zur Rose ausgedrückt, wie wennich die Schönheit der Rose fühle. Es bestehe geradeso einVerhältnis zwischen «Ich» und Gegenstand beim Denken,wie zum Beispiel beim Fühlen oder Wahrnehmen. Wer die-sen Einwand macht, der zieht nicht in Erwägung, daß nurin der Betätigung des Denkens das «Ich» bis in alle Ver-zweigungen der Tätigkeit sich mit dem Tätigen als ein Wesenweiß. Bei keiner andern Seelentätigkeit ist dies restlos derFall. Wenn zum Beispiel eine Lust gefühlt wird, kann einefeinere Beobachtung sehr wohl unterscheiden, inwiefernedas «Ich» sich mit einem Tätigen eins weiß und inwiefernin ihm ein Passives vorhanden ist, so daß die Lust für das

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«Ich» bloß auftritt. Und so ist es auch bei den andern Seelen-betätigungen. Man sollte nur nicht verwechseln: «Gedanken-bilder haben» und Gedanken durch das Denken verarbeiten.Gedankenbilder können traumhaft, wie vage Eingebungenin der Seele auftreten. Ein Denken ist dieses nicht. - Aller-dings könnte nun jemand sagen: wenn das Denken so ge-meint ist, steckt das Wollen in dem Denken drinnen, undman habe es dann nicht bloß mit dem Denken, sondern auchmit dem Wollen des Denkens zu tun. Doch würde dies nurberechtigen zu sagen: das wirkliche Denken muß immergewollt sein. Nur hat dies mit der Kennzeichnung des Den-kens, wie sie in diesen Ausführungen gemacht ist, nichts zuschaffen. Mag es das Wesen des Denkens immerhin notwen-dig machen, daß dieses gewollt wird: es kommt darauf an,daß nichts gewollt wird, was, indem es sich vollzieht, vordem «Ich» nicht restlos als seine eigene, von ihm überschau-bare Tätigkeit erscheint. Man muß sogar sagen, wegen derhier geltend gemachten Wesenheit des Denkens erscheintdieses dem Beobachter als durch und durch gewollt. Weralles, was für die Beurteilung des Denkens in Betrachtkommt, wirklich zu durchschauen sich bemüht, der wirdnicht umhin können, zu bemerken, daß dieser Seelenbetäti-gung die Eigenheit zukommt, von der hier gesprochen ist.

Von einer Persönlichkeit, welche der Verfasser diesesBuches als Denker sehr hochschätzt, ist ihm eingewendetworden, daß so, wie es hier geschieht, nicht über das Denkengesprochen werden könne, weil es nur ein Schein sei, wasman als tätiges Denken zu beobachten glaube. In Wirklich-keit beobachte man nur die Ergebnisse einer nicht bewußtenTätigkeit, die dem Denken zugrunde liegt. Nur weil diesenicht bewußte Tätigkeit eben nicht beobachtet werde, ent-

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stehe die Täuschung, es bestehe das beobachtete Denkendurch sich selbst, wie wenn man bei rasch aufeinanderfolgen-der Beleuchtung durch elektrische Funken eine Bewegung zusehen glaubt. Auch dieser Einwand beruht nur auf einerungenauen Anschauung der Sachlage. Wer ihn macht, be-rücksichtigt nicht, daß es das «Ich» selbst ist, das im Denkendrinnen stehend seine Tätigkeit beobachtet. Es müßte das«Ich» außer dem Denken stehen, wenn es so getäuscht wer-den könnte, wie bei rasch aufeinanderfolgender Beleuchtungdurch elektrische Funken. Man könnte vielmehr sagen: wereinen solchen Vergleich macht, der täuscht sich gewaltsametwa wie jemand, der von einem in Bewegung begriffenenLicht durchaus sagen wollte: es wird an jedem Orte, an demes erscheint, von unbekannter Hand neu angezündet. -Nein, wer in dem Denken etwas anderes sehen will als dasim «Ich» selbst als überschaubare Tätigkeit Hervorgebrachte,der muß sich erst für den einfachen, der Beobachtung vor-liegenden Tatbestand blind machen, um dann eine hypo-thetische Tätigkeit dem Denken zugrunde legen zu können.Wer sich nicht so blind macht, der muß erkennen, daß alles,was er in dieser Art zu dem Denken «hinzudenkt», aus demWesen des Denkens herausführt. Die unbefangene Beobach-tung ergibt, daß nichts zum Wesen des Denkens gerechnetwerden kann, was nicht im Denken selbst gefunden wird.Man kann nicht zu etwas kommen, was das Denken be-wirkt, wenn man den Bereich des Denkens verläßt.

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IVDIE WELT ALS WAHRNEHMUNG

Durch das Denken entstehen Begriffe und Ideen, Was einBegriff ist, kann nicht mit Worten gesagt werden. Wortekönnen nur den Menschen darauf aufmerksam machen, daßer Begriffe habe. Wenn jemand einen Baum sieht, so reagiertseinDenken auf seineBeobachtung; zu dem Gegenstande trittein ideelles Gegenstück hinzu, und er betrachtet den Gegen-stand und das ideelle Gegenstück als zusammengehörig.Wennder Gegenstand aus seinem Beobachtungsfelde verschwindet,so bleibt nur das ideelle Gegenstück davon zurück. Das letz-tere ist der Begriff des Gegenstandes. Je mehr sich unsere Er-fahrung erweitert, desto größer wird die Summe unserer Be-griffe. Die Begriffe stehen aber durchaus nicht vereinzelt da.Sie schließen sich zu einem gesetzmäßigen Ganzen zusam-men. Der Begriff «Organismus» schließt sich zum Beispiel andie andern: «gesetzmäßige Entwickelung, Wachstum» an.Andere an Einzeldingen gebildete Begriffe fallen völlig ineins zusammen. Alle Begriffe, die ich mir von Löwen bilde,fallen in den Gesamtbegriff «Löwe» zusammen. Auf dieseWeise verbinden sich die einzelnen Begriffe zu einem ge-schlossenen Begriffssystem, in dem jeder seine besondereStelle hat. Ideen sind qualitativ von Begriffen nicht verschie-den. Sie sind nur inhaltsvollere, gesättigtere und umfang-reichere Begriffe. Ich muß einen besonderen Wert darauflegen, daß hier an dieser Stelle beachtet werde, daß ich alsmeinen Ausgangspunkt das Denken bezeichnet habe undnicht Begriffe und Ideen, die erst durch das Denken gewonnenwerden. Diese setzen das Denken bereits voraus. Es kann da-her, was ich in bezug auf die in sich selbst ruhende, durch

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nichts bestimmte Natur des Denkens gesagt habe, nicht ein-fach auf die Begriffe übertragen werden. (Ich bemerke dashier ausdrücklich, weil hier meine Differenz mit Hegel liegt.Dieser setzt den Begriff als Erstes und Ursprüngliches.)

Der Begriff kann nicht aus der Beobachtung gewonnenwerden. Das geht schon aus dem Umstände hervor, daß derheranwachsende Mensch sich langsam und allmählich erstdie Begriffe zu den Gegenständen bildet, die ihn umgeben.Die Begriffe werden zu der Beobachtung hinzugefügt.

Ein vielgelesener Philosoph der Gegenwart (HerbertSpencer) schildert den geistigen Prozeß, den wir gegenüberder Beobachtung vollziehen, folgendermaßen:

«Wenn wir an einem Septembertag durch die Felderwandelnd, wenige Schritte vor uns ein Geräusch hören undan der Seite des Grabens, von dem es herzukommen schien,das Gras in Bewegung sehen, so werden wir wahrscheinlichauf die Stelle losgehen, um zu erfahren, was das Geräuschund die Bewegung hervorbrachte. Bei unserer Annäherungflattert ein Rebhuhn in den Graben, und damit ist unsereNeugierde befriedigt: wir haben, was wir eine Erklärungder Erscheinungen nennen. Diese Erklärung läuft, wohl-gemerkt, auf folgendes hinaus: weil wir im Leben unendlichoft erfahren haben, daß eine Störung der ruhigen Lagekleiner Körper die Bewegung anderer zwischen ihnen be-findlicher Körper begleitet, und weil wir deshalb die Be-ziehungen zwischen solchen Störungen und solchen Be-wegungen verallgemeinert haben, so halten wir diese beson-dere Störung für erklärt, sobald wir finden, daß sie ein Bei-spiel eben dieser Beziehung darbietet.» Genauer besehenstellt sich die Sache ganz anders dar, als sie hier beschriebenist. Wenn ich ein Geräusch höre, so suche ich zunächst den

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Begriff für diese Beobachtung. Dieser Begriff erst weist michüber das Geräusch hinaus. Wer nicht weiter nachdenkt, derhört eben das Geräusch und gibt sich damit zufrieden. Durchmein Nachdenken aber ist mir klar, daß ich ein Geräuschals Wirkung aufzufassen habe. Also erst wenn ich den Be-griff der Wirkung mit der Wahrnehmung des Geräuschesverbinde, werde ich veranlaßt, über die Einzelbeobachtunghinauszugehen und nach der Ursache zu suchen. Der Begriffder Wirkung ruft den der Ursache hervor, und ich suchedann nach dem verursachenden Gegenstande, den ich in derGestalt des Rebhuhns finde. Diese Begriffe, Ursache undWirkung, kann ich aber niemals durch bloße Beobachtung,und erstrecke sie sich auf noch so viele Fälle, gewinnen. DieBeobachtung fordert das Denken heraus, und erst dieses istes, das mir den Weg weist, das einzelne Erlebnis an ein an-deres anzuschließen.

Wenn man von einer «streng objektiven Wissenschaft»fordert, daß sie ihren Inhalt nur der Beobachtung entnehme,so muß man zugleich fordern, daß sie auf alles Denken ver-zichte. Denn dieses geht seiner Natur nach über das Beob-achtete hinaus.

Nun ist es am Platze, von dem Denken auf das denkendeWesen überzugehen. Denn durch dieses wird das Denkenmit der Beobachtung verbunden. Das menschliche Bewußt-sein ist der Schauplatz, wo Begriff und Beobachtung einan-der begegnen und wo sie miteinander verknüpft werden.Dadurch ist aber dieses (menschliche) Bewußtsein zugleichcharakterisiert. Es ist der Vermittler zwischen Denken undBeobachtung. Insoferne der Mensch einen Gegenstand beob-achtet, erscheint ihm dieser als gegeben, insoferne er denkt,erscheint er sich selbst als tätig. Er betrachtet den Gegen-

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stand als Objekt, sich selbst als das denkende Subjekt. Weiler sein Denken auf die Beobachtung richtet, hat er Bewußt-sein von den Objekten; weil er sein Denken auf sich richtet,hat er Bewußtsein seiner selbst oder Selbstbewußtsein. Dasmenschliche Bewußtsein muß notwendig zugleich Selbst-bewußtsein sein, weil es denkendes Bewußtsein ist. Dennwenn das Denken den Blick auf seine eigene Tätigkeit rich-tet, dann hat es seine ureigene Wesenheit, also sein Subjekt,als Objekt zum Gegenstande.

Nun darf aber nicht übersehen werden, daß wir uns nurmit Hilfe des Denkens als Subjekt bestimmen und uns denObjekten entgegensetzen können. Deshalb darf das Denkenniemals als eine bloß subjektive Tätigkeit aufgefaßt wer-den. Das Denken ist jenseits von Subjekt und Objekt. Esbildet diese beiden Begriffe ebenso wie alle anderen. Wennwir als denkendes Subjekt also den Begriff auf ein Objektbeziehen, so dürfen wir diese Beziehung nicht als etwas bloßSubjektives auffassen. Nicht das Subjekt ist es, welches dieBeziehung herbeiführt, sondern das Denken. Das Subjektdenkt nicht deshalb, weil es Subjekt ist; sondern es erscheintsich als ein Subjekt, weil es zu denken vermag. Die Tätig-keit, die der Mensch als denkendes Wesen ausübt, ist alsokeine bloß subjektive, sondern eine solche, die weder sub-jektiv noch objektiv ist, eine über diese beiden Begriffe hin-ausgehende. Ich darf niemals sagen, daß mein individuellesSubjekt denkt; dieses lebt vielmehr selbst von des DenkensGnaden. Das Denken ist somit ein Element, das mich übermein Selbst hinausführt und mit den Objekten verbindet.Aber es trennt mich zugleich von ihnen, indem es mich ihnenals Subjekt gegenüberstellt.

Darauf beruht die Doppelnatur des Menschen: er denkt

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und umschließt damit sich selbst und die übrige Welt; aberer muß sich mittels des Denkens zugleich als ein den Dingengegenüberstehendes Individuum bestimmen.

Das nächste wird nun sein, uns zu fragen: Wie kommtdas andere Element, das wir bisher bloß als Beobachtungs-objekt bezeichnet haben, und das sich mit dem Denken imBewußtsein begegnet, in das letztere?

Wir müssen, um diese Frage zu beantworten, aus unseremBeobachtungsfelde alles aussondern, was durch das Denkenbereits in dasselbe hineingetragen worden ist. Denn unserjeweiliger Bewußtseinsinhalt ist immer schon mit Begriffenin der mannigfachsten Weise durchsetzt.

Wir müssen uns vorstellen, daß ein Wesen mit vollkom-men entwickelter menschlicher Intelligenz aus dem Nichtsentstehe und der Welt gegenübertrete. Was es da gewahrwürde, bevor es das Denken in Tätigkeit bringt, das ist derreine Beobachtungsinhalt. Die Welt zeigte dann diesemWesen nur das bloße zusammenhanglose Aggregat vonEmpfindungsobjekten: Farben, Töne, Druck-, Wärme-, Ge-schmacks- und Geruchsempfindungen; dann Lust- und Un-lustgefühle. Dieses Aggregat ist der Inhalt der reinen, ge-dankenlosen Beobachtung. Ihm gegenüber steht das Den-ken, das bereit ist, seine Tätigkeit zu entfalten, wenn sichein Angriffspunkt dazu findet. Die Erfahrung lehrt bald,daß er sich findet. Das Denken ist imstande, Fäden zu ziehenvon einem Beobachtungselement zum andern. Es verknüpftmit diesen Elementen bestimmte Begriffe und bringt sie da-durch in ein Verhältnis. Wir haben oben bereits gesehen,wie ein uns begegnendes Geräusch mit einer anderen Beob-achtung dadurch verbunden wird, daß wir das erstere alsWirkung der letzteren bezeichnen.

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Wenn wir uns nun daran erinnern, daß die Tätigkeit desDenkens durchaus nicht als eine subjektive aufzufassen ist,so werden wir auch nicht versucht sein zu glauben, daßsolche Beziehungen, die durch das Denken hergestellt sind,bloß eine subjektive Geltung haben.

Es wird sich jetzt darum handeln, durch denkende Über-legung die Beziehung zu suchen, die der oben angegebeneunmittelbar gegebene Beobachtungsinhalt zu unserem be-wußten Subjekt hat.

Bei dem Schwanken des Sprachgebrauches erscheint esmir geboten, daß ich mich mit meinem Leser über den Ge-brauch eines Wortes verständige, das ich im folgenden an-wenden muß. Ich werde die unmittelbaren Empfindungs-objekte, die ich oben genannt habe, insoferne das bewußteSubjekt von ihnen durch Beobachtung Kenntnis nimmt,Wahrnehmungen nennen. Also nicht den Vorgang der Be-obachtung, sondern das Objekt dieser Beobachtung be-zeichne ich mit diesem Namen.

Ich wähle den Ausdruck Empfindung nicht, weil dieser inder Physiologie eine bestimmte Bedeutung hat, die engerist als die meines Begriffes von Wahrnehmung. Ein Gefühlin mir selbst kann ich wohl als Wahrnehmung, nicht aberals Empfindung im physiologischen Sinne bezeichnen. Auchvon meinem Gefühle erhalte ich dadurch Kenntnis, daß esWahrnehmung für mich wird. Und die Art, wie wir durchBeobachtung Kenntnis von unserem Denken erhalten, isteine solche, daß wir auch das Denken in seinem ersten Auf-treten für unser Bewußtsein Wahrnehmung nennen können.

Der naive Mensch betrachtet seine Wahrnehmungen indem Sinne, wie sie ihm unmittelbar erscheinen, als Dinge,die ein von ihm ganz unabhängiges Dasein haben. Wenn er

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einen Bauin sieht, so glaubt er zunächst, daß dieser in derGestalt, die er sieht, mit den Farben, die seine Teile habenusw., dort an dem Orte stehe, wohin der Blick gerichtet ist.Wenn derselbe Mensch morgens die Sonne als eine Scheibeam Horizonte erscheinen sieht und den Lauf dieser Scheibeverfolgt, so ist er der Meinung, daß das alles in dieser Weise(an sich) bestehe und vorgehe, wie er es beobachtet. Er hältso lange an diesem Glauben fest, bis er anderen Wahrneh-mungen begegnet, die jenen widersprechen. Das Kind, dasnoch keine Erfahrungen über Entfernungen hat, greift nachdem Monde und stellt das, was es nach dem ersten Augen-schein für wirklich gehalten hat, erst richtig, wenn einezweite Wahrnehmung sich mit der ersten im Widerspruchbefindet. Jede Erweiterung des Kreises meiner Wahrneh-mungen nötigt mich, mein Bild der Welt zu berichtigen. Daszeigt sich im täglichen Leben ebenso wie in der Geistes-entwickelung der Menschheit. Das Bild, das sich die Altenvon der Beziehung der Erde zu der Sonne und den andernHimmelskörpern machten, mußte von Kopernikus durchein anderes ersetzt werden, weil es mit Wahrnehmungen,die früher unbekannt waren, nicht zusammenstimmte. AlsDr. Franz einen Blindgeborenen operierte, sagte dieser, daßer sich vor seiner Operation durch die Wahrnehmungenseines Tastsinnes ein ganz anderes Bild von der Große derGegenstände gemacht habe. Er mußte seine Tastwahrneh-mungen durch seine Gesichts Wahrnehmungen berichtigen.

Woher kommt es, daß wir zu solchen fortwährendenRichtigstellungen unserer Beobachtungen gezwungen sind?

Eine einfache Überlegung bringt die Antwort auf dieseFrage. Wenn ich an dem einen Ende einer Allee stehe, soerscheinen mir die Bäume an dem andern, von mir entfern-

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ten Ende kleiner und näher aneinandergerückt als da, woich stehe. Mein Wahrnehmungsbild wird ein anderes, wennich den Ort ändere, von dem aus ich meine Beobachtungenmache. Es ist also in der Gestalt, in der es an mich heran-tritt, abhängig von einer Bestimmung, die nicht an demObjekte hängt, sondern die mir, dem Wahrnehmenden, zu-kommt. Es ist für eine Allee ganz gleichgültig, wo ich stehe.Das Bild aber, das ich von ihr erhalte, ist wesentlich davonabhängig. Ebenso ist es für die Sonne und das Planeten-system gleichgültig, daß die Menschen sie gerade von derErde aus ansehen. Das Wahrnehmungsbild aber, das sichdiesen darbietet, ist durch diesen ihren Wohnsitz bestimmt.Diese Abhängigkeit des Wahrnehmungsbildes von unseremBeobachtungsorte ist diejenige, die am leichtesten zu durch-schauen ist. Schwieriger wird die Sache schon, wenn wir dieAbhängigkeit unserer Wahrnehmungswelt von unserer leib-lichen und geistigen Organisation kennen lernen. Der Phy-siker zeigt uns, daß innerhalb des Raumes, in dem wir einenSchall hören, Schwingungen der Luft stattfinden, und daßauch der Körper, in dem wir den Ursprung des Schallessuchen, eine schwingende Bewegung seiner Teile aufweist.Wir nehmen diese Bewegung nur als Schall wahr, wenn wirein normal organisiertes Ohr haben. Ohne ein solches bliebeuns die ganze Welt ewig stumm. Die Physiologie belehrt unsdarüber, daß es Menschen gibt, die nichts wahrnehmen vonder herrlichen Farbenpracht, die uns umgibt. Ihr Wahr-nehmungsbild weist nur Nuancen von Hell und Dunkelauf. Andere nehmen nur eine bestimmte Farbe, zum Beispieldas Rot, nicht wahr. Ihrem Weltbilde fehlt dieser Farben-ton, und es ist daher tatsächlich ein anderes als das einesDurchschnittsmenschen. Ich möchte die Abhängigkeit meines

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Wahrnehmungsbildes von meinem Beobachtungsorte einemathematische, die von meiner Organisation eine qualita-tive nennen. Durch jene werden die Größenverhältnisse undgegenseitigen Entfernungen meiner Wahrnehmungen be-stimmt, durch diese die Qualität derselben. Daß ich eine roteFläche rot sehe - diese qualitative Bestimmung — hängt vonder Organisation meines Auges ab.

Meine Wahrnehmungsbilder sind also zunächst subjektiv.Die Erkenntnis von dem subjektiven Charakter unsererWahrnehmungen kann leicht zu Zweifeln darüber führen,ob überhaupt etwas Objektives denselben zum Grunde liegt.Wenn wir wissen, daß eine Wahrnehmung, zum Beispiel dieder roten Farbe, oder eines bestimmten Tones nicht möglichist ohne eine bestimmte Einrichtung unseres Organismus, sokann man zu dem Glauben kommen, daß dieselbe, abge-sehen von unserem subjektiven Organismus, keinen Bestandhabe, daß sie ohne den Akt des Wahrnehmens, dessen Ob-jekt sie ist, keine Art des Daseins hat. Diese Ansicht hat inGeorge Berkeley einen klassischen Vertreter gefunden, derder Meinung war, daß der Mensch von dem Augenblicke an,wo er sich der Bedeutung des Subjekts für die Wahrnehmungbewußt geworden ist, nicht mehr an eine ohne den bewußtenGeist vorhandene Welt glauben könne. Er sagt: «EinigeWahrheiten liegen so nahe und sind so einleuchtend, daßman nur die Augen zu öffnen braucht, um sie zu sehen. Füreine solche halte ich den wichtigen Satz, daß der ganze Choram Himmel und alles, was zur Erde gehört, mit einemWorte alle die Körper, die den gewaltigen Bau der Weltzusammensetzen, keine Subsistenz außerhalb des Geisteshaben, daß ihr Sein in ihrem Wahrgenommen- oder Er-kanntwerden besteht, daß sie folglich, solange sie nicht

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wirklich von mir wahrgenommen werden oder in meinemBewußtsein oder dem eines anderen geschaffenen Geistesexistieren, entweder überhaupt keine Existenz haben oderin dem Bewußtsein eines ewigen Geistes existieren.» Fürdiese Ansicht bleibt von der Wahrnehmung nichts mehrübrig, wenn man von dem Wahrgenommenwerden absieht.Es gibt keine Farbe, wenn keine gesehen, keinen Ton, wennkeiner gehört wird. Ebensowenig wie Farbe und Ton exi-stieren Ausdehnung, Gestalt und Bewegung außerhalb desWahrnehmungsaktes. Wir sehen nirgends bloße Ausdeh-nung oder Gestalt, sondern diese immer mit Farbe oderandern unbestreitbar von unserer Subjektivität abhängigenEigenschaften verknüpft. Wenn die letzteren mit unsererWahrnehmung verschwinden, so muß das auch bei den erste-ren der Fall sein, die an sie gebunden sind.

Dem Einwand, daß, wenn auch Figur, Farbe, Ton usw.keine andere Existenz als die innerhalb des Wahrnehmungs-aktes haben, es doch Dinge geben müsse, die ohne das Be-wußtsein da sind und denen die bewußten Wahrnehmungs-bilder ähnlich seien, begegnet die geschilderte Ansicht damit,daß sie sagt: eine Farbe kann nur ähnlich einer Farbe, eineFigur ähnlich einer Figur sein. Unsere Wahrnehmungenkönnen nur unseren Wahrnehmungen, aber keinerlei ande-ren Dingen ähnlich sein. Auch was wir einen Gegenstandnennen, ist nichts anderes als eine Gruppe von Wahrneh-mungen, die in einer bestimmten Weise verbunden sind.Nehme ich von einem Tische Gestalt, Ausdehnung, Farbeusw., kurz alles, was nur meine Wahrnehmung ist, weg, sobleibt nichts mehr übrig. Diese Ansicht führt, konsequentverfolgt, zu der Behauptung: Die Objekte meiner Wahr-nehmungen sind nur durch mich vorhanden, und zwar nur

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insoferne und solange ich sie wahrnehme; sie verschwindenmit dem Wahrnehmen und haben keinen Sinn ohne dieses.Außer meinen Wahrnehmungen weiß ich aber von keinenGegenständen und kann von keinen wissen.

Gegen diese Behauptung ist so lange nichts einzuwenden,als ich bloß im allgemeinen den Umstand in Betracht ziehe,daß die Wahrnehmung von der Organisation meines Sub-jektes mitbestimmt wird. Wesentlich anders stellte sich dieSache aber, wenn wir imstande waren, anzugeben, welchesdie Funktion unseres Wahrnehmens beim Zustandekommeneiner Wahrnehmung ist. Wir wüßten dann, was an derWahrnehmung während des Wahrnehmens geschieht, undkönnten auch bestimmen, was an ihr schon sein muß, bevorsie wahrgenommen wird.

Damit wird unsere Betrachtung von dem Objekt derWahrnehmung auf das Subjekt derselben abgeleitet. Ichnehme nicht nur andere Dinge wahr, sondern ich nehmemich selbst wahr. Die Wahrnehmung meiner selbst hat zu-nächst den Inhalt, daß ich das Bleibende bin gegenüber denimmer kommenden und gehenden Wahrnehmungsbildern.Die Wahrnehmung des Ich kann in meinem Bewußtseinstets auftreten, während ich andere Wahrnehmungen habe.Wenn ich in die Wahrnehmung eines gegebenen Gegenstan-des vertieft bin, so habe ich vorläufig nur von diesem einBewußtsein. Dazu kann dann die Wahrnehmung meinesSelbst treten. Ich bin mir nunmehr nicht bloß des Gegen-standes bewußt, sondern auch meiner Persönlichkeit, diedem Gegenstand gegenüber steht und ihn beobachtet. Ichsehe nicht bloß einen Baum, sondern ich weiß auch, daß iches bin, der ihn sieht. Ich erkenne auch, daß in mir etwasvorgeht, während ich den Baum beobachte. Wenn der Baum

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aus meinem Gesichtskreise verschwindet, bleibt für meinBewußtsein ein Rückstand von diesem Vorgange: ein Bilddes Baumes. Dieses Bild hat sich während meiner Beob-achtung mit meinem Selbst verbunden. Mein Selbst hat sichbereichert; sein Inhalt hat ein neues Element in sich auf-genommen. Dieses Element nenne ich meine Vorstellung vondem Baume. Ich käme nie in die Lage, von Vorstellungenzu sprechen, wenn ich diese nicht in der Wahrnehmungmeines Selbst erlebte. Wahrnehmungen würden kommenund gehen; ich ließe sie vorüberziehen. Nur dadurch, daßich mein Selbst wahrnehme und merke, daß mit jeder Wahr-nehmung sich auch dessen Inhalt ändert, sehe ich mich ge-zwungen, die Beobachtung des Gegenstandes mit meinereigenen Zustandsveränderung in Zusammenhang zubringenund von meiner Vorstellung zu sprechen.

Die Vorstellung nehme ich an meinem Selbst wahr, indem Sinne, wie Farbe, Ton usw. an andern Gegenständen.Ich kann jetzt auch den Unterschied machen, daß ich dieseandern Gegenstände, die sich mir gegenüberstellen, Außen-welt nenne, wahrend ich den Inhalt meiner Selbstwahrneh-mung als Innenwelt bezeichne. Die Verkennung des Ver-hältnisses von Vorstellung und Gegenstand hat die größtenMißverständnisse in der neueren Philosophie herbeigeführt.Die Wahrnehmung einer Veränderung in uns, die Modi-fikation, die mein Selbst erfährt, wurde in den Vordergrundgedrängt und das diese Modifikation veranlassende Objektganz aus dem Auge verloren. Man hat gesagt: wir nehmennicht die Gegenstände wahr, sondern nur unsere Vorstel-lungen. Ich soll nichts wissen von dem Tische an sich, derGegenstand meiner Beobachtung ist, sondern nur von derVeränderung, die mit mir selbst vorgeht, während ich den

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Tisch wahrnehme. Diese Anschauung darf nicht mit dervorhin erwähnten Berkeleyschen verwechselt werden. Ber-keley behauptet die subjektive Natur meines Wahrneh-mungsinhaltes, aber er sagt nicht, daß ich nur von meinenVorstellungen wissen kann. Er schränkt mein Wissen aufmeine Vorstellungen ein, weil er der Meinung ist, daß eskeine Gegenstände außerhalb des Vorstellens gibt. Was ichals Tisch ansehe, das ist im Sinne Berkeleys nicht mehr vor-handen, sobald ich meinen Blick nicht mehr darauf richte.Deshalb läßt Berkeley meine Wahrnehmungen unmittelbardurch die Macht Gottes entstehen. Ich sehe einen Tisch, weilGott diese Wahrnehmung in mir hervorruft. Berkeley kenntdaher keine anderen realen Wesen als Gott und die mensch-lichen Geister. Was wir Welt nennen, ist nur innerhalb derGeister vorhanden. Was der naive Mensch Außenwelt, kör-perliche Natur nennt, ist für Berkeley nicht vorhanden.Dieser Ansicht steht die jetzt herrschende Kantsche gegen-über, welche unsere Erkenntnis von der Welt nicht deshalbauf unsere Vorstellungen einschränkt, weil sie überzeugt ist,daß es außer diesen Vorstellungen keine Dinge geben kann,sondern weil sie uns so organisiert glaubt, daß wir nur vonden Veränderungen unseres eigenen Selbst, nicht von dendiese Veränderungen veranlassenden Dingen an sich erfah-ren können. Sie folgert aus dem Umstände, daß ich nurmeine Vorstellungen kenne, nicht, daß es keine von diesenVorstellungen unabhängige Existenz gibt, sondern nur, daßdas Subjekt eine solche nicht unmittelbar in sich aufnehmen,sie nicht anders als durch das «Medium seiner subjektiven Ge-danken imaginieren, fingieren, denken, erkennen, vielleichtauch nicht erkennen kann» (O. Liebmann, Zur Analysis derWirklichkeit, Seite 28). Diese Anschauung glaubt etwas

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unbedingt Gewisses zu sagen, etwas, was ohne alle Beweiseunmittelbar einleuchtet. «Der erste Fundamentalsatz, densich der Philosoph zu deutlichem Bewußtsein zu bringenhat, besteht in der Erkenntnis, daß unser Wissen sich zu-nächst auf nichts weiter als auf unsere Vorstellungen er-streckt. Unsere Vorstellungen sind das Einzige, was wirunmittelbar erfahren, unmittelbar erleben; und eben weilwir sie unmittelbar erfahren, deswegen vermag uns auch derradikalste Zweifel das Wissen von denselben nicht zu ent-reißen. Dagegen ist das Wissen, das über unser Vorstellen- ich nehme diesen Ausdruck hier überall im weitesten Sinne,so daß alles psychische Geschehen darunter fällt - hinaus-geht, vor dem Zweifel nicht geschützt. Daher muß zu Be-ginn des Philosophierens alles über die Vorstellungen hin-ausgehende Wissen ausdrücklich als bezweifelbar hingestelltwerden», so beginnt Volkelt sein Buch über «ImmanuelKants Erkenntnistheorie». Was hiermit so hingestellt wird,als ob es eine unmittelbare und selbstverständliche Wahrheitsei, ist aber in Wirklichkeit das Resultat einer Gedankenope-ration, die folgendermaßen verläuft: Der naive Menschglaubt, daß die Gegenstände, so wie er sie wahrnimmt, auchaußerhalb seines Bewußtseins vorhanden sind. Die Physik,Physiologie und Psychologie scheinen aber zu lehren, daß zuunseren Wahrnehmungen unsere Organisation notwendigist, daß wir folglich von nichts wissen können, als von dem,was unsere Organisation uns von den Dingen überliefert.Unsere Wahrnehmungen sind somit Modifikationen unse-rer Organisation, nicht Dinge an sich. Den hier angedeute-ten Gedankengang hat Eduard von Hartmann in der Tat alsdenjenigen charakterisiert, der zur Überzeugung von demSatze führen muß, daß wir ein direktes Wissen nur von

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unseren Vorstellungen haben können (vergleiche dessen«Grundproblem der Erkenntnistheorie», S. 16-40). Weilwir außerhalb unseres Organismus Schwingungen der Kör-per und der Luft finden, die sich uns als Schall darstellen, sowird gefolgert, daß das, was wir Schall nennen, nichts weitersei als eine subjektive Reaktion unseres Organismus aufjene Bewegungen in der Außenwelt. In derselben Weisefindet man, daß Farbe und Wärme nur Modifikationenunseres Organismus seien. Und zwar ist man der Ansicht,daß diese beiden Wahrnehmungsarten in uns hervorgerufenwerden durch die Wirkung von Vorgängen in der Außen-welt, die von dem, was Wärmeerlebnis oder Farbenerlebnisist, durchaus verschieden sind. Wenn solche Vorgänge dieHautnerven meines Körpers erregen, so habe ich die subjek-tive Wahrnehmung der Wärme, wenn solche Vorgänge denSehnerv treffen, nehme ich Licht und Farbe wahr. Licht,Farbe und Wärme sind also das, womit meine Sinnesnervenauf den Reiz von außen antworten. Auch der Tastsinnliefert mir nicht die Gegenstände der Außenwelt, sondernnur meine eigenen Zustände. Im Sinne der modernen Physikkönnte man etwa denken, daß die Körper aus unendlichkleinen Teilen, den Molekülen bestehen, und daß dieseMoleküle nicht unmittelbar aneinandergrenzen, sondern ge-wisse Entfernungen voneinander haben. Es ist also zwischenihnen der leere Raum. Durch diese wirken sie aufeinandermittelst anziehender und abstoßender Kräfte. Wenn ichmeine Hand einem Körper nähere, so berühren die Mole-küle meiner Hand keineswegs unmittelbar diejenigen desKörpers, sondern es bleibt eine gewisse Entfernung zwischenKörper und Hand, und was ich als Widerstand des Körpersempfinde, das ist nichts weiter als die Wirkung der ab-

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stoßenden Kraft, die seine Moleküle auf meine Hand aus-üben. Ich bin schlechthin außerhalb des Körpers und nehmenur seine Wirkung auf meinen Organismus wahr.

Ergänzend zu diesen Überlegungen tritt die Lehre vonden sogenannten spezifischen Sinnesenergien, die /. Müller(1801-1858) aufgestellt hat. Sie besteht darin, daß jederSinn die Eigentümlichkeit hat, auf alle äußeren Reize nurin einer bestimmten Weise zu antworten. Wird auf den Seh-nerv eine Wirkung ausgeübt, so entsteht Lichtwahrnehmung,gleichgültig ob die Erregung durch das geschieht, was wirLicht nennen, oder ob ein mechanischer Druck oder einelektrischer Strom auf den Nerv einwirkt. Andrerseits wer-den in verschiedenen Sinnen durch die gleichen äußerenReize verschiedene Wahrnehmungen hervorgerufen. Darausscheint hervorzugehen, daß unsere Sinne nur das überliefernkönnen, was in ihnen selbst vorgeht, nichts aber von derAußenwelt. Sie bestimmen die Wahrnehmungen je nachihrer Natur.

Die Physiologie zeigt, daß auch von einem direkten Wis-sen dessen keine Rede sein kann, was die Gegenstände inunseren Sinnesorganen bewirken. Indem der Physiologedie Vorgänge in unserem eigenen Leibe verfolgt, findet er,daß schon in den Sinnesorganen die Wirkungen der äußerenBewegung in der mannigfaltigsten Weise umgeändert wer-den. Wir sehen das am deutlichsten an Auge und Ohr. Beidesind sehr komplizierte Organe, die den äußeren Reiz wesent-lich verändern, ehe sie ihn zum entsprechenden Nerv brin-gen. Von dem peripherischen Ende des Nervs wird nun derschon veränderte Reiz weiter zum Gehirn geleitet. Hiererst müssen wieder die Zentralorgane erregt werden. Dar-aus wird geschlossen, daß der äußere Vorgang eine Reihe

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von Umwandlungen erfahren hat, ehe er zum Bewußtseinkommt. Was da im Gehirne sich abspielt, ist durch so vieleZwischenvorgänge mit dem äußeren Vorgang verbunden,daß an eine Ähnlichkeit mit demselben nicht mehr gedachtwerden kann. Was das Gehirn der Seele zuletzt vermit-telt, sind weder äußere Vorgänge, noch Vorgänge in denSinnesorganen, sondern nur solche innerhalb des Gehirnes.Aber auch die letzteren nimmt die Seele noch nicht unmittel-bar wahr. Was wir im Bewußtsein zuletzt haben, sind garkeine Gehirnvorgänge, sondern Empfindungen. Meine Emp-findung des Rot hat gar keine Ähnlichkeit mit dem Vor-gange, der sich im Gehirn abspielt, wenn ich das Rot ermp-finde. Das letztere tritt erst wieder als Wirkung in der Seeleauf und wird nur verursacht durch den Hirnvorgang. Des-halb sagt Hartmann (Grundproblem der Erkenntnistheorie,S. 37): «Was das Subjekt wahrnimmt, sind also immer nurModifikationen seiner eigenen psychischen Zustände undnichts anderes.» Wenn ich die Empfindungen habe, dannsind diese aber noch lange nicht zu dem gruppiert, was ichals Dinge wahrnehme. Es können mir ja nur einzelne Emp-findungen durch das Gehirn vermittelt werden. Die Emp-findungen der Härte und Weichheit werden mir durch denTast-, die Farben- und Lichtempfindungen durch den Ge-sichtssinn vermittelt. Doch finden sich dieselben an einemund demselben Gegenstande vereinigt. Diese Vereinigungmuß also erst von der Seele selbst bewirkt werden. Dasheißt, die Seele setzt die einzelnen durch das Gehirn ver-mittelten Empfindungen zu Körpern zusammen. Mein Ge-hirn überliefert mir einzeln die Gesichts-, Tast- und Gehör-empfindungen, und zwar auf ganz verschiedenen Wegen,die dann die Seele zu der Vorstellung Trompete zusammen-

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setzt. Dieses Endglied (Vorstellung der Trompete) einesProzesses ist es, was für mein Bewußtsein zu allererst ge-geben ist. Es ist in demselben nichts mehr von dem zu finden,was außer mir ist und ursprünglich einen Eindruck aufmeine Sinne gemacht hat. Der äußere Gegenstand ist aufdem Wege zum Gehirn und durch das Gehirn zur Seelevollständig verlorengegangen.

Es wird schwer sein, ein zweites Gedankengebäude in derGeschichte des menschlichen Geisteslebens zu finden, das mitgrößerem Scharfsinn zusammengetragen ist, und das beigenauerer Prüfung doch in nichts zerfällt. Sehen wir einmalnäher zu, wie es zustande kommt. Man geht zunächst vondem aus, was dem naiven Bewußtsein gegeben ist, von demwahrgenommenen Dinge. Dann zeigt man, daß alles, wasan diesem Dinge sich findet, für uns nicht da wäre, wenn wirkeine Sinne hätten. Kein Auge: keine Farbe. Also ist dieFarbe in dem noch nicht vorhanden, was auf das Augewirkt. Sie entsteht erst durch die Wechselwirkung des Augesmit dem Gegenstande. Dieser ist also farblos. Aber auch imAuge ist die Farbe nicht vorhanden; denn da ist ein chemi-scher oder physikalischer Vorgang vorhanden, der erst durchden Nerv zum Gehirn geleitet wird, und da einen andernauslöst. Dieser ist noch immer nicht die Farbe. Sie wird erstdurch den Hirnprozeß in der Seele hervorgerufen. Da trittsie mir noch immer nicht ins Bewußtsein, sondern wird erstdurch die Seele nach außen an einen Körper verlegt. An die-sem glaube ich sie endlich wahrzunehmen. Wir haben einenvollständigen Kreisgang durchgemacht. Wir sind uns einesfarbigen Körpers bewußt geworden. Das ist das Erste. Nunhebt die Gedankenoperation an. Wenn ich keine Augenhätte, wäre der Körper für mich farblos. Ich kann die Farbe

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also nicht in den Körper verlegen. Ich gehe auf die Suchenach ihr. Ich suche sie im Auge: vergebens; im Nerv: ver-gebens; im Gehirne: ebenso vergebens; in der Seele: hierfinde ich sie zwar, aber nicht mit dem Körper verbunden.Den farbigen Körper finde ich erst wieder da, wo ich aus-gegangen bin. Der Kreis ist geschlossen. Ich glaube das alsErzeugnis meiner Seele zu erkennen, was der naive Menschsich als draußen im Räume vorhanden denkt.

So lange man dabei stehen bleibt, scheint alles in schönsterOrdnung. Aber die Sache muß noch einmal von vorne an-gefangen werden. Ich habe ja bis jetzt mit einem Dinge ge-wirtschaftet: mit der äußeren Wahrnehmung, von dem ichfrüher, als naiver Mensch, eine ganz falsche Ansicht gehabthabe. Ich war der Meinung: sie hatte so, wie ich sie wahr-nehme, einen objektiven Bestand. Nun merke ich, daß siemit meinem Vorstellen verschwindet, daß sie nur eine Modi-fikation meiner seelischen Zustände ist. Habe ich nun über-haupt noch ein Recht, in meinen Betrachtungen von ihr aus-zugehen? Kann ich von ihr sagen, daß sie auf meine Seelewirkt? Ich muß von jetzt ab den Tisch, von dem ich frühergeglaubt habe, daß er auf mich wirkt und in mir eine Vor-stellung von sich hervorbringt, selbst als Vorstellung behan-deln. Konsequenterweise sind dann aber auch meine Sinnes-organe und die Vorgänge in ihnen bloß subjektiv. Ich habekein Recht, von einem wirklichen Auge zu sprechen, son-dern nur von meiner Vorstellung des Auges. Ebenso ist esmit der Nervenleitung und dem Gehirnprozeß und nichtweniger mit dem Vorgange in der Seele selbst, durch denaus dem Chaos der mannigfaltigen Empfindungen Dingeaufgebaut werden sollen. Durchlaufe ich unter Voraus-setzung der Richtigkeit des ersten Gedankenkreisganges die

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Glieder meines Erkenntnisaktes nochmals, so zeigt sich derletztere als ein Gespinst von Vorstellungen, die doch alssolche nicht aufeinander wirken können. Ich kann nichtsagen: meine Vorstellung des Gegenstandes wirkt auf meineVorstellung des Auges, und aus dieser Wechselwirkung gehtdie Vorstellung der Farbe hervor. Aber ich habe es auchnicht nötig. Denn sobald mir klar ist, daß mir meine Sinnes-organe und deren Tätigkeiten, mein Nerven- und Seelen-prozeß auch nur durch die Wahrnehmung gegeben werdenkönnen, zeigt sich der geschilderte Gedankengang in seinervollen Unmöglichkeit. Es ist richtig: für mich ist keineWahrnehmung ohne das entsprechende Sinnesorgan gegeben.Aber ebensowenig ein Sinnesorgan ohne Wahrnehmung.Ich kann von meiner Wahrnehmung des Tisches auf dasAuge übergehen, das ihn sieht, auf die Hautnerven, die ihntasten; aber was in diesen vorgeht, kann ich wieder nur ausder Wahrnehmung erfahren. Und da bemerke ich dennbald, daß in dem Prozeß, der sich im Auge vollzieht, nichteine Spur von Ähnlichkeit ist mit dem, was ich als Farbewahrnehme. Ich kann meine Farbenwahrnehmung nicht da-durch vernichten, daß ich den Prozeß im Auge aufzeige, dersich während dieser Wahrnehmung darin abspielt. Ebenso-wenig finde ich in den Nerven- und Gehirnprozessen dieFarbe wieder; ich verbinde nur neue Wahrnehmungen inner-halb meines Organismus mit der ersten, die der naive Menschaußerhalb seines Organismus verlegt. Ich gehe nur von einerWahrnehmung zur andern über.

Außerdem enthält die ganze Schlußfolgerung einenSprung. Ich bin in der Lage, die Vorgänge in meinem Orga-nismus bis zu den Prozessen in meinem Gehirne zu ver-folgen, wenn auch meine Annahmen immer hypothetischer

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werden, je mehr ich mich den zentralen Vorgängen des Ge-hirnes nähere. Der Weg der äußeren Beobachtung hört mitdem Vorgange in meinem Gehirne auf, und zwar mit jenem,den ich wahrnehmen würde, wenn ich mit physikalischen,chemischen usw. Hilfsmitteln und Methoden das Gehirnbehandeln könnte. Der Weg der inneren Beobachtung fängtmit der Empfindung an und reicht bis zum Aufbau derDinge aus dem Empfindungsmaterial. Beim Übergang vondem Hirnprozeß zur Empfindung ist der Beobachtungswegunterbrochen.

Die charakterisierte Denkart, die sich im Gegensatz zumStandpunkte des naiven Bewußtseins, den sie naiven Realis-mus nennt, als kritischen Idealismus bezeichnet, macht denFehler, daß sie die eine Wahrnehmung als Vorstellungcharakterisiert, aber die andere gerade in dem Sinne hin-nimmt, wie es der von ihr scheinbar widerlegte naive Realis-mus tut. Sie will den Vorstellungscharakter der Wahrneh-mungen beweisen, indem sie in naiver Weise die Wahr-nehmungen am eigenen Organismus als objektiv gültigeTatsachen hinnimmt und zu alledem noch übersieht, daß siezwei Beobachtungsgebiete durcheinander wirft, zwischendenen sie keine Vermittlung finden kann.

Der kritische Idealismus kann den naiven Realismus nurwiderlegen, wenn er selbst in naiv-realistischer Weise seineneigenen Organismus als objektiv existierend annimmt. Indemselben Augenblicke, wo er sich der vollständigen Gleich-artigkeit der Wahrnehmungen am eigenen Organismus mitden vom naiven Realismus als objektiv existierend ange-nommenen Wahrnehmungen bewußt wird, kann er sichnicht mehr auf die ersteren als auf eine sichere Grundlagestützen. Er müßte auch seine subjektive Organisation als

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bloßen Vorstellungskomplex ansehen. Damit geht aber dieMöglichkeit verloren, den Inhalt der wahrgenommenenWelt durch die geistige Organisation bewirkt zu denken.Man müßte annehmen, daß die Vorstellung «Farbe» nureine Modifikation der Vorstellung «Auge» sei. Der soge-nannte kritische Idealismus kann nicht bewiesen werden,ohne eine Anleihe beim naiven Realismus zu machen. Derletztere wird nur dadurch widerlegt, daß man dessen eigeneVoraussetzungen auf einem anderen Gebiete ungeprüftgelten läßt.

Soviel ist hieraus gewiß: durch Untersuchungen innerhalbdes Wahrnehmungsgebietes kann der kritische Idealismusnicht bewiesen, somit die Wahrnehmung ihres objektivenCharakters nicht entkleidet werden.

Noch weniger aber darf der Satz: «Die wahrgenommeneWelt ist meine Vor Stellung» als durch sich selbst einleuchtendund keines Beweises bedürftig hingestellt werden. Schopen-hauer beginnt sein Hauptwerk «Die Welt als Wille undVorstellung» mit den Worten: «<Die Welt ist meine Vorstel-lung :>-dies ist eine Wahrheit, welche in Beziehung auf jedeslebende und erkennende Wesen gilt; wiewohl der Menschallein sie in das reflektierte abstrakte Bewußtsein bringenkann: und tut er dies wirklich; so ist die philosophische Be-sonnenheit bei ihm eingetreten. Es wird ihm dann deutlichund gewiß, daß er keine Sonne kennt und keine Erde; son-dern immer nur ein Auge, das eine Sonne sieht, eine Hand,die eine Erde fühlt; daß die Welt, welche ihn umgibt, nurals Vorstellung da ist, d. h. durchweg nur in Beziehungauf ein Anderes, das Vorstellende, welches er selbst ist. -Wenn irgend eine Wahrheit a priori ausgesprochen werdenkann, so ist es diese: denn sie ist die Aussage derjenigen

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Form aller möglichen und erdenklichen Erfahrung, welcheallgemeiner, als alle andern, als Zeit, Raum und Kausalitätist: denn alle diese setzen jene eben schon voraus . . .» Derganze Satz scheitert an dem oben bereits von mir angeführ-ten Umstände, daß das Auge und die Hand nicht wenigerWahrnehmungen sind als die Sonne und die Erde. Und mankönnte im Sinne Schopenhauers und mit Anlehnung an seineAusdrucksweise seinen Sätzen entgegenhalten: Mein Auge,das die Sonne sieht, und meine Hand, die die Erde fühlt,sind meine Vorstellungen gerade so wie die Sonne und dieErde selbst. Daß ich damit aber den Satz wieder aufhebe,ist ohne weiteres klar. Denn nur mein wirkliches Auge undmeine wirkliche Hand könnten die Vorstellungen Sonneund Erde als ihre Modifikationen an sich haben, nicht abermeine Vorstellungen Auge und Hand. Nur von diesen aberdarf der kritische Idealismus sprechen.

Der kritische Idealismus ist völlig ungeeignet, eine An-sicht über das Verhältnis von Wahrnehmung und Vorstel-lung zu gewinnen. Die auf Seite 66 f. angedeutete Scheidungdessen, was an der Wahrnehmung während des Wahr-nehmens geschieht und was an ihr schon sein muß, bevor siewahrgenommen wird, kann er nicht vornehmen. Dazu mußalso ein anderer Weg eingeschlagen werden.

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V

DAS ERKENNEN DER WELT

Aus den vorhergehenden Betrachtungen folgt die Unmög-lichkeit, durch Untersuchung unseres Beobachtungsinhaltsden Beweis zu erbringen, daß unsere Wahrnehmungen Vor-stellungen sind. Dieser Beweis soll nämlich dadurch erbrachtwerden, daß man zeigt: wenn der Wahrnehmungsprozeß inder Art erfolgt, wie man ihn gemäß den naiv-realistischenAnnahmen über die psychologische und physiologische Kon-stitution unseres Individuums sich vorstellt, dann habenwir es nicht mit Dingen an sich, sondern bloß mit unserenVorstellungen von den Dingen zu tun. Wenn nun der naiveRealismus, konsequent verfolgt, zu Resultaten führt, diedas gerade Gegenteil seiner Voraussetzungen darstellen, somüssen diese Voraussetzungen als ungeeignet zur Begrün-dung einer Weltanschauung bezeichnet und fallen gelassenwerden. Jedenfalls ist es unstatthaft, die Voraussetzungenzu verwerfen und die Folgerungen gelten zu lassen, wie esder kritische Idealist tut, der seiner Behauptung: die Weltist meine Vorstellung, den obigen Beweisgang zugrundelegt. (Eduard von Hartmann gibt in seiner Schrift «DasGrundproblem der Erkenntnistheorie» eine ausführlicheDarstellung dieses Beweisganges.)

Ein anderes ist die Richtigkeit des kritischen Idealismus,ein anderes die Überzeugungskraft seiner Beweise. Wie esmit der ersteren steht, wird sich später im Zusammenhangeunserer Ausführungen ergeben. Die Überzeugungskraft sei-nes Beweises ist aber gleich Null. Wenn man ein Haus baut,und bei Herstellung des ersten Stockwerkes bricht das Erd-geschoß in sich zusammen, so stürzt das erste Stockwerk mit.

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Der naive Realismus und der kritische Idealismus verhaltensich wie dies Erdgeschoß zum ersten Stockwerk.

Wer der Ansicht ist, daß die ganze wahrgenommene Weltnur eine vorgestellte ist, und zwar die Wirkung der mirunbekannten Dinge auf meine Seele, für den geht die eigent-liche Erkenntnisfrage natürlich nicht auf die nur in derSeele vorhandenen Vorstellungen, sondern auf die jenseitsunseres Bewußtseins liegenden, von uns unabhängigen Dinge.Er fragt: Wieviel können wir von den letzteren mittelbarerkennen, da sie unserer Beobachtung unmittelbar nicht zu-gänglich sind? Der auf diesem Standpunkt Stehende küm-mert sich nicht um den inneren Zusammenhang seiner be-wußten Wahrnehmungen, sondern um deren nicht mehrbewußte Ursachen, die ein von ihm unabhängiges Daseinhaben, während, nach seiner Ansicht, die Wahrnehmungenverschwinden, sobald er seine Sinne von den Dingen ab-wendet. Unser Bewußtsein wirkt, von diesem Gesichts-punkte aus, wie ein Spiegel, dessen Bilder von bestimmtenDingen auch in dem Augenblicke verschwinden, in dem seinespiegelnde Fläche ihnen nicht zugewandt ist. Wer aber dieDinge selbst nicht sieht, sondern nur ihre Spiegelbilder, dermuß aus dem Verhalten der letzteren über die Beschaffen-heit der ersteren durch Schlüsse indirekt sich unterrichten.Auf diesem Standpunkte steht die neuere Naturwissenschaft,welche die Wahrnehmungen nur als letztes Mittel benutzt,um Aufschluß über die hinter denselben stehenden und alleinwahrhaft seienden Vorgänge des Stoffes zu gewinnen. Wennder Philosoph als kritischer Idealist überhaupt ein Seingelten läßt, dann geht sein Erkenntnisstreben mit mittel-barer Benutzung der Vorstellungen allein auf dieses Sein.Sein Interesse überspringt die subjektive Welt der Vorstel-

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lungen und geht auf das Erzeugende dieser Vorstellungenlos.

Der kritische Idealist kann aber so weit gehen, daß ersagt: ich bin in meine Vorstellungswelt eingeschlossen undkann aus ihr nicht hinaus. Wenn ich ein Ding hinter meinenVorstellungen denke, so ist dieser Gedanke doch auch weiternichts als meine Vorstellung. Ein solcher Idealist wird danndas Ding an sich entweder ganz leugnen oder wenigstensdavon erklären, daß es für uns Menschen gar keine Bedeu-tung habe, das ist, so gut wie nicht da sei, weil wir nichtsvon ihm wissen können.

Einem kritischen Idealisten dieser Art erscheint die ganzeWelt als ein Traum, dem gegenüber jeder Erkenntnisdrangeinfach sinnlos wäre. Für ihn kann es nur zwei Gattungenvon Menschen geben: Befangene, die ihre eigenen Traum-gespinste für wirkliche Dinge halten, und Weise, die dieNichtigkeit dieser Traumwelt durchschauen, und die nachund nach alle Lust verlieren müssen, sich weiter darum zubekümmern. Für diesen Standpunkt kann auch die eigenePersönlichkeit zum bloßen Traumbilde werden. Gerade sowie unter den Bildern des Schlaf traums unser eigenes Traum-bild erscheint, so tritt im wachen Bewußtsein die Vorstel-lung des eigenen Ich zu der Vorstellung der Außenwelt hin-zu. Wir haben im Bewußtsein dann nicht unser wirklichesIch, sondern nur unsere Ichvorstellung gegeben. Wer nunleugnet, daß es Dinge gibt, oder wenigstens, daß wir vonihnen etwas wissen können: der muß auch das Dasein be-ziehungsweise die Erkenntnis der eigenen Persönlichkeitleugnen. Der kritische Idealist kommt dann zu der Behaup-tung: «Alle Realität verwandelt sich in einen wunderbarenTraum, ohne ein Leben, von welchem geträumt wird, und

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ohne einen Geist, dem da träumt; in einen Traum, der ineinem Traume von sich selbst zusammenhängt» (vergleicheFichte, Die Bestimmung des Menschen).

Gleichgültig, ob derjenige, der das unmittelbare Lebenals Traum zu erkennen glaubt, hinter diesem Traum nichtsmehr vermutet, oder ob er seine Vorstellungen auf wirklicheDinge bezieht: das Leben selbst muß für ihn alles wissen-schaftliche Interesse verlieren. Während aber für denjenigen,der mit dem Traume das uns zugängliche All erschöpftglaubt, alle Wissenschaft ein Unding ist, wird für den an-dern, der sich befugt glaubt, von den Vorstellungen auf dieDinge zu schließen, die Wissenschaft in der Erforschung die-ser «Dinge an sich» bestehen. Die erstere Weltansicht kannmit dem Namen absoluter Illusionismus bezeichnet werden,die zweite nennt ihr konsequentester Vertreter, Eduard vonHartmann, transzendentalen Realismus*.

Diese beiden Ansichten haben mit dem naiven Realismusdas gemein, daß sie Fuß in der Welt zu fassen suchen durcheine Untersuchung der Wahrnehmungen. Sie können aberinnerhalb dieses Gebietes nirgends einen festen Punkt finden.

Eine Hauptfrage für den Bekenner des transzendentalenRealismus müßte sein: wie bringt das Ich aus sich selbst die

* Transzendental wird im Sinne dieser Weltanschauung eine Er-kenntnis genannt, welche sich bewußt glaubt, daß über die Dingean sich nicht direkt etwas ausgesagt werden könne, sondern welcheindirekt Schlüsse von dem bekannten Subjektiven auf das Unbekannte,jenseits des Subjektiven Liegende (Transzendente) macht. Das Dingan sich ist nach dieser Ansicht jenseits des Gebietes der uns unmittelbarerkennbaren Welt, d. i. transzendent. Unsere Welt kann aber auf dasTranszendente transzendental bezogen werden. Realismus heißt Hart-manns Anschauung, weil sie über das Subjektive, Ideale hinaus, aufdas Transzendente, Reale geht.

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Vorstellungswelt zustande? Für eine uns gegebene Welt vonVorstellungen, die verschwindet, sobald wir unsere Sinneder Außenwelt verschließen, kann ein ernstes Erkenntnis-streben sich insofern erwärmen, als sie das Mittel ist, dieWelt des an sich seienden Ich mittelbar zu erforschen. Wenndie Dinge unserer Erfahrung Vorstellungen wären, danngliche unser alltägliches Leben einem Traume und die Er-kenntnis des wahren Tatbestandes dem Erwachen. Auch un-sere Traumbilder interessieren uns so lange, als wir träumen,folglich die Traumnatur nicht durchschauen. In dem Augen-blicke d&s Erwachens fragen wir nicht mehr nach dem inne-ren Zusammenhange unserer Traumbilder, sondern nach denphysikalischen, physiologischen und psychologischen Vor-gängen, die ihnen zum Grunde liegen. Ebensowenig kannsich der Philosoph, der die Welt für seine Vorstellung hält,für den inneren Zusammenhang der Einzelheiten in der-selben interessieren. Falls er überhaupt ein seiendes Ichgelten läßt, dann wird er nicht fragen, wie hängt eine seinerVorstellungen mit einer anderen zusammen, sondern wasgeht in der von ihm unabhängigen Seele vor, während seinBewußtsein einen bestimmten Vorstellungsablauf enthält.Wenn ich träume, daß ich Wein trinke, der mir ein Brennenim Kehlkopf verursache und dann mit Hustenreiz aufwache(vergleiche Weygandt, Entstehung der Träume, 1893), sohört im Augenblicke des Erwachens die Traumhandlungauf, für mich ein Interesse zu haben. Mein Augenmerk istnur noch auf die physiologischen und psychologischen Pro-zesse gerichtet, durch die der Hustenreiz sich symbolisch indem Traumbilde zum Ausdruck bringt. In ähnlicher Weisemuß der Philosoph, sobald er von dem Vorstellungscharak-ter der gegebenen Welt überzeugt ist, von dieser sofort auf

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die dahinter steckende wirkliche Seele überspringen. Schlim-mer steht die Sache allerdings, wenn der Illusionismus dasIch an sich hinter den Vorstellungen ganz leugnet, oder eswenigstens für unerkennbar hält. Zu einer solchen Ansichtkann sehr leicht die Beobachtung führen, daß es dem Träu-men gegenüber zwar den Zustand des Wachens gibt, in demwir Gelegenheit haben, die Träume zu durchschauen undauf reale Verhältnisse zu beziehen, daß wir aber keinen zudem wachen Bewußtseinsleben in einem ähnlichen Verhält-nisse stehenden Zustand haben. Wer zu dieser Ansicht sichbekennt, dem geht die Einsicht ab, daß es etwas gibt, dassich in der Tat zum bloßen Wahrnehmen verhält wie dasErfahren im wachen Zustande zum Träumen. Dieses Etwasist das Denken.

Dem naiven Menschen kann der Mangel an Einsicht, aufden hier gedeutet wird, nicht angerechnet werden. Er gibtsich dem Leben hin und hält die Dinge so für wirklich, wiesie sich ihm in der Erfahrung darbieten. Der erste Schrittaber, der über diesen Standpunkt hinaus unternommen wird,kann nur in der Frage bestehen: wie verhält sich das Denkenzur Wahrnehmung? Ganz einerlei, ob die Wahrnehmung inder mir gegebenen Gestalt vor und nach meinem Vorstellenweiterbesteht oder nicht: wenn ich irgend etwas über sie aus-sagen will, so kann es nur mit Hilfe des Denkens geschehen.Wenn ich sage: die Welt ist meine Vorstellung, so habe ichdas Ergebnis eines Denkprozesses ausgesprochen, und wennmein Denken auf die Welt nicht anwendbar ist, so ist die-ses Ergebnis ein Irrtum. Zwischen die Wahrnehmung undjede Art von Aussage über dieselbe schiebt sich das Den-ken ein.

Den Grund, warum das Denken bei der Betrachtung der

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Dinge zumeist übersehen wird, haben wir bereits angegeben(vergleiche Seite 42 f.). Er liegt in dem Umstände, daß wirnur auf den Gegenstand, über den wir denken, nicht aberzugleich auf das Denken unsere Aufmerksamkeit richten.Das naive Bewußtsein behandelt daher das Denken wieetwas, das mit den Dingen nichts zu tun hat, sondern ganzabseits von denselben steht und seine Betrachtungen überdie Welt anstellt. Das Bild, das der Denker von den Er-scheinungen der Welt entwirft, gilt nicht als etwas, was zuden Dingen gehört, sondern als ein nur im Kopfe des Men-schen existierendes; die Welt ist auch fertig ohne dieses Bild.Die Welt ist fix und fertig in allen ihren Substanzen undKräften; und von dieser fertigen Welt entwirft der Menschein Bild. Die so denken, muß man nur fragen: mit welchemRechte erklärt ihr die Welt für fertig, ohne das Denken?Bringt nicht mit der gleichen Notwendigkeit die Welt dasDenken im Kopfe des Menschen hervor, wie die Blüte ander Pflanze? Pflanzet ein Samenkorn in den Boden. Es treibtWurzel und Stengel. Es entfaltet sich zu Blättern und Blüten.Stellet die Pflanze euch selbst gegenüber. Sie verbindet sichin eurer Seele mit einem bestimmten Begriffe. Warum gehörtdieser Begriff weniger zur ganzen Pflanze als Blatt undBlüte? Ihr saget: die Blätter und Blüten sind ohne ein wahr-nehmendes Subjekt da; der Begriff erscheint erst, wenn sichder Mensch der Pflanze gegenüberstellt. Ganz wohl. Aberauch Blüten und Blätter entstehen an der Pflanze nur, wennErde da ist, in die der Keim gelegt werden kann, wenn Lichtund Luft da sind, in denen sich Blätter und Blüten entfaltenkönnen. Gerade so entsteht der Begriff der Pflanze, wennein denkendes Bewußtsein an die Pflanze herantritt.

Es ist ganz willkürlich, die Summe dessen, was wir von

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einem Dinge durch die bloße Wahrnehmung erfahren, füreine Totalität, für ein Ganzes zu halten, und dasjenige, wassich durch die denkende Betrachtung ergibt, als ein solchesHinzugekommenes, das mit der Sache selbst nichts zu tunhabe. Wenn ich heute eine Rosenknospe erhalte, so ist dasBild, das sich meiner Wahrnehmung darbietet, nur zunächstein abgeschlossenes. Wenn ich die Knospe in Wasser setze»so werde ich morgen ein ganz anderes Bild meines Objekteserhalten. Wenn ich mein Auge von der Rosenknospe nichtabwende, so sehe ich den heutigen Zustand in den morgigendurch unzählige Zwischenstufen kontinuierlich übergehen.Das Bild, das sich mir in einem bestimmten Augenblickedarbietet, ist nur ein zufälliger Ausschnitt aus dem in einemfortwährenden Werden begriffenen Gegenstande. Setze ichdie Knospe nicht in Wasser, so bringt sie eine ganze Reihevon Zuständen nicht zur Entwickelung, die der Möglichkeitnach in ihr lagen. Ebenso kann ich morgen verhindert sein,die Blüte weiter zu beobachten und dadurch ein unvollstän-diges Bild haben.

Es ist eine ganz unsachliche, an Zufälligkeiten sich hef-tende Meinung, die von dem in einer gewissen Zeit sich dar-bietenden Bilde erklärte: das ist die Sache.

Ebensowenig ist es statthaft, die Summe der Wahrneh-mungsmerkmale für die Sache zu erklären. Es wäre sehrwohl möglich, daß ein Geist zugleich und ungetrennt vonder Wahrnehmung den Begriff mitempfangen könnte. Einsolcher Geist würde gar nicht auf den Einfall kommen, denBegriff als etwas nicht zur Sache Gehöriges zu betrachten.Er müßte ihm ein mit der Sache unzertrennlich verbundenesDasein zuschreiben.

Ich will mich noch durch ein Beispiel deutlicher machen.

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Wenn ich einen Stein in horizontaler Richtung durch dieLuft werfe, so sehe ich ihn nacheinander an verschiedenenOrten. Ich verbinde diese Orte zu einer Linie. In der Mathe-matik lerne ich verschiedene Linienformen kennen, darunterauch die Parabel. Ich kenne die Parabel als eine Linie, dieentsteht, wenn sich ein Punkt in einer gewissen gesetzmäßi-gen Art bewegt. Wenn ich die Bedingungen untersuche, unterdenen sich der geworfene Stein bewegt, so finde ich, daß dieLinie seiner Bewegung mit der identisch ist, die ich als Para-bel kenne. Daß sich der Stein gerade in einer Parabel bewegt,das ist eine Folge der gegebenen Bedingungen und folgt mitNotwendigkeit aus diesen. Die Form der Parabel gehört zurganzen Erscheinung, wie alles andere, was an derselben inBetracht kommt. Dem oben beschriebenen Geist, der nichtden Umweg des Denkens nehmen müßte, wäre nicht nureine Summe von Gesichtsempfindungen an verschiedenenOrten gegeben, sondern ungetrennt von der Erscheinungauch die parabolische Form der Wurf linie, die wir erst durchDenken zu der Erscheinung hinzufügen.

Nicht an den Gegenständen liegt es, daß sie uns zunächstohne die entsprechenden Begriffe gegeben werden, sondernan unserer geistigen Organisation. Unsere totale Wesenheitfunktioniert in der Weise, daß ihr bei jedem Dinge derWirklichkeit von zwei Seiten her die Elemente zufließen,die für die Sache in Betracht kommen: von Seiten des Wahr-nehmens und des Denkens.

Es hat mit der Natur der Dinge nichts zu tun, wie ichorganisiert bin, sie zu erfassen. Der Schnitt zwischen Wahr-nehmen und Denken ist erst in dem Augenblicke vorhanden,wo ich, der Betrachtende, den Dingen gegenübertrete. WelcheElemente dem Dinge angehören und welche nicht, kann

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aber durchaus nicht davon abhängen, auf welche Weise ichzur Kenntnis dieser Elemente gelange.

Der Mensch ist ein eingeschränktes Wesen. Zunächst ister ein Wesen unter anderen Wesen. Sein Dasein gehört demRaum und der Zeit an. Dadurch kann ihm auch immer nurein beschränkter Teil des gesamten Universums gegebensein. Dieser beschränkte Teil schließt sich aber ringsherumsowohl zeitlich wie räumlich an anderes an. Wäre unser Da-sein so mit den Dingen verknüpft, daß jedes Weltgeschehenzugleich unser Geschehen wäre, dann gäbe es den Unter-schied zwischen uns und den Dingen nicht. Dann aber gäbees für uns auch keine Einzeldinge. Da ginge alles Geschehenkontinuierlich ineinander über. Der Kosmos wäre eine Ein-heit und eine in sich beschlossene Ganzheit. Der Strom desGeschehens hätte nirgends eine Unterbrechung. Wegen unse-rer Beschränkung erscheint uns als Einzelheit, was in Wahr-heit nicht Einzelheit ist. Nirgends ist zum Beispiel die Einzel-qualität des Rot abgesondert für sich vorhanden. Sie istallseitig von anderen Qualitäten umgeben, zu denen sie ge-hört, und ohne die sie nicht bestehen könnte. Für uns aberist es eine Notwendigkeit, gewisse Ausschnitte aus der Weltherauszuheben, und sie für sich zu betrachten. Unser Augekann nur einzelne Farben nacheinander aus einem viel-gliedrigen Farbenganzen, unser Verstand nur einzelne Be-griffe aus einem zusammenhängenden Begriffssysteme er-fassen. Diese Absonderung ist ein subjektiver Akt, bedingtdurch den Umstand, daß wir nicht identisch sind mit demWeltprozeß, sondern ein Wesen unter anderen Wesen.

Es kommt nun alles darauf an, die Stellung des Wesens,das wir selbst sind, zu den anderen Wesen zu bestimmen.Diese Bestimmung muß unterschieden werden von dem

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bloßen Bewußtwerden unseres Selbst. Das letztere beruhtauf dem Wahrnehmen wie das Bewußtwerden jedes ande-ren Dinges. Die Selbstwahrnehmung zeigt mir eine Summevon Eigenschaften, die ich ebenso zu dem Ganzen meinerPersönlichkeit zusammenfasse, wie ich die Eigenschaften:gelb, metallglänzend, hart usw. zu der Einheit «Gold» zu-sammenfasse. Die Selbstwahrnehmung führt mich nicht ausdem Bereiche dessen hinaus, was zu mir gehört. Dieses Selbst-wahrnehmen ist zu unterscheiden von dem denkenden Selbst-bestimmen. Wie ich eine einzelne Wahrnehmung der Außen-welt durch das Denken eingliedere in den Zusammenhangder Welt, so gliedere ich die an mir selbst gemachten Wahr-nehmungen in den Weltprozeß durch das Denken ein. MeinSelbstwahrnehmen schließt mich innerhalb bestimmter Gren-zen ein; mein Denken hat nichts zu tun mit diesen Grenzen.In diesem Sinne bin ich ein Doppelwesen. Ich bin einge-schlossen in das Gebiet, das ich als das meiner Persönlichkeitwahrnehme, aber ich bin Träger einer Tätigkeit, die voneiner höheren Sphäre aus mein begrenztes Dasein bestimmt.Unser Denken ist nicht individuell wie unser Empfindenund Fühlen. Es ist universell. Es erhält ein individuelles Ge-präge in jedem einzelnen Menschen nur dadurch, daß es aufsein individuelles Fühlen und Empfinden bezogen ist. Durchdiese besonderen Färbungen des universellen Denkens unter-scheiden sich die einzelnen Menschen voneinander. Ein Drei-eck hat nur einen einzigen Begriff. Für den Inhalt dieses Be-griffes ist es gleichgültig, ob ihn der menschliche Bewußt-seinsträger A oder B faßt. Er wird aber von jedem der zweiBewußtseinsträger in individueller Weise erfaßt werden.

Diesem Gedanken steht ein schwer zu überwindendes Vor-urteil der Menschen gegenüber. Die Befangenheit kommt

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nicht bis zu der Einsicht, daß der Begriff des Dreieckes, denmein Kopf erfaßt, derselbe ist, wie der durch den Kopfmeines Nebenmenschen ergriffene. Der naive Mensch hältsich für den Bildner seiner Begriffe. Er glaubt deshalb, jedePerson habe ihre eigenen Begriffe. Es ist eine Grundforde-rung des philosophischen Denkens, dieses Vorurteil zu über-winden. Der eine einheitliche Begriff des Dreiecks wird nichtdadurch zu einer Vielheit, daß er von vielen gedacht wird.Denn das Denken der Vielen selbst ist eine Einheit.

In dem Denken haben wir das Element gegeben, dasunsere besondere Individualität mit dem Kosmos zu einemGanzen zusammenschließt. Indem wir empfinden und füh-len (auch wahrnehmen), sind wir einzelne, indem wir den-ken, sind wir das all-eine Wesen, das alles durchdringt. Diesist der tiefere Grund unserer Doppelnatur: Wir sehen inuns eine schlechthin absolute Kraft zum Dasein kommen,eine Kraft, die universell ist, aber wir lernen sie nicht beiihrem Ausströmen aus dem Zentrum der Welt kennen, son-dern in einem Punkte der Peripherie. Wäre das erstere derFall, dann wüßten wir in dem Augenblicke, in dem wir zumBewußtsein kommen, das ganze Welträtsel. Da wir aber ineinem Punkte der Peripherie stehen und unser eigenes Da-sein in bestimmte Grenzen eingeschlossen finden, müssenwir das außerhalb unseres eigenen Wesens gelegene Gebietmit Hilfe des aus dem allgemeinen Weltensein in uns her-einragenden Denkens kennen lernen.

Dadurch, daß das Denken in uns übergreift über unserSondersein und auf das allgemeine Weltensein sich bezieht,entsteht in uns der Trieb der Erkenntnis. Wesen ohne Den-ken haben diesen Trieb nicht. Wenn sich ihnen andere Dingegegenüberstellen, so sind dadurch keine Fragen gegeben.

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Diese anderen Dinge bleiben solchen Wesen äußerlich. Beidenkenden Wesen stößt dem Außendinge gegenüber derBegriff auf. Er ist dasjenige, was wir von dem Dinge nichtvon außen, sondern von innen empfangen. Den Ausgleich,die Vereinigung der beiden Elemente, des inneren und desäußeren, soll die Erkenntnis liefern.

Die Wahrnehmung ist also nichts Fertiges, Abgeschlosse-nes, sondern die eine Seite der totalen Wirklichkeit. Dieandere Seite ist der Begriff. Der Erkenntnisakt ist die Syn-these von Wahrnehmung und Begriff. Wahrnehmung undBegriff eines Dinges machen aber erst das ganze Ding aus.

Die vorangehenden Ausführungen liefern den Beweis,daß es ein Unding ist, etwas anderes Gemeinsames in denEinzelwesen der Welt zu suchen, als den ideellen Inhalt, denuns das Denken darbietet. Alle Versuche müssen scheitern,die nach einer anderen Welteinheit streben als nach diesemin sich zusammenhängenden ideellen Inhalt, welchen wiruns durch denkende Betrachtung unserer Wahrnehmungenerwerben. Nicht ein menschlich-persönlicher Gott, nichtKraft oder Stoff, noch der ideenlose Wille (Schopenhauers)können uns als eine universelle Welteinheit gelten. DieseWesenheiten gehören sämtlich nur einem beschränkten Ge-biet unserer Beobachtung an. Menschlich begrenzte Persön-lichkeit nehmen wir nur an uns, Kraft und Stoff an denAußendingen wahr. Was den Willen betrifft, so kann er nurals die Tätigkeitsäußerung unserer beschränkten Persönlich-keit gelten. Schopenhauer will es vermeiden, das «abstrakte»Denken zum Träger der Welteinheit zu machen und suchtstatt dessen etwas, das sich ihm unmittelbar als ein Realesdarbietet. Dieser Philosoph glaubt, daß wir der Welt nim-mermehr beikommen, wenn wir sie als Außenwelt ansehen.

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«In der Tat würde die nachgeforschte Bedeutung der mirlediglich als meine Vorstellung gegenüberstehenden Welt,oder der Übergang von ihr, als bloßer Vorstellung des er-kennenden Subjekts, zu dem, was sie noch außerdem seinmag, nimmermehr zu finden sein, wenn der Forscher selbstnichts weiter als das rein erkennende Subjekt (geflügelterEngelskopf ohne Leib) wäre. Nun aber wurzelt er selbst injener Welt, findet sich nämlich in ihr als Individuum, dasheißt sein Erkennen, welches der bedingende Träger derganzen Welt als Vorstellung ist, ist dennoch durchaus ver-mittelt durch einen Leib, dessen Affektionen, wie gezeigt,dem Verstande der Ausgangspunkt der Anschauung jenerWelt sind. Dieser Leib ist dem rein erkennenden Subjekt alssolchem eine Vorstellung wie jede andere, ein Objekt unterObjekten: die Bewegungen, die Aktionen desselben sindihm insoweit nicht anders, als wie die Veränderungen alleranderen anschaulichen Objekte bekannt, und wären ihmebenso fremd und unverständlich, wenn die Bedeutung der-selben ihm nicht etwa auf eine ganz andere Art enträtseltwäre. . . . Dem Subjekt des Erkennens, welches durch seineIdentität mit dem Leibe als Individuum auftritt, ist dieserLeib auf zwei ganz verschiedene Weisen gegeben: einmal alsVorstellung in verständiger Anschauung, als Objekt unterObjekten, und den Gesetzen dieser unterworfen; sodannaber auch zugleich auf eine ganz andere Weise, nämlich alsjenes jedem unmittelbar Bekannte, welches das Wort Willebezeichnet. Jeder wahre Akt seines Willens ist sofort undunausbleiblich auch eine Bewegung seines Leibes: er kannden Akt nicht wirklich wollen, ohne zugleich wahrzuneh-men, daß er als Bewegung des Leibes erscheint. Der Willens-akt und die Aktion des Leibes sind nicht zwei objektiv er-

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kannte versdiiedene Zustände, die das Band der Kausalitätverknüpft, stehen nicht im Verhältnis der Ursache und Wir-kung; sondern sie sind eines und dasselbe, nur auf zwei gänz-lich verschiedene Weisen gegeben: einmal ganz unmittelbarund einmal in der Anschauung für den Verstand.» Durchdiese Auseinandersetzungen glaubt sich Schopenhauer be-rechtigt, in dem Leibe des Menschen die «Objektität» desWillens zu finden. Er ist der Meinung, in den Aktionen desLeibes unmittelbar eine Realität, das Ding an sich in concretozu fühlen. Gegen diese Ausführungen muß eingewendet wer-den, daß uns die Aktionen unseres Leibes nur durch Selbst-wahrnehmungen zum Bewußtsein kommen und als solchenichts voraus haben vor anderen Wahrnehmungen. Wennwir ihre Wesenheit erkennen wollen, so können wir dies nurdurch denkende Betrachtung, das heißt durch Eingliederungderselben in das ideelle System unserer Begriffe und Ideen.

Am tiefsten eingewurzelt in das naive Menschheits-bewußtsein ist die Meinung: das Denken sei abstrakt, ohneallen konkreten Inhalt. Es könne höchstens ein «ideelles»Gegenbild der Welteinheit liefern, nicht etwa diese selbst.Wer so urteilt, hat sich niemals klar gemacht, was die Wahr-nehmung ohne den Begriff ist. Sehen wir uns nur diese Weltder Wahrnehmung an: als ein bloßes Nebeneinander imRaum und Nacheinander in der Zeit, ein Aggregat zusam-menhangloser Einzelheiten erscheint sie. Keines der Dinge,die da auftreten und abgehen auf der Wahrnehmungsbühne,hat mit dem andern unmittelbar etwas zu tun, was sichwahrnehmen läßt. Die Welt ist da eine Mannigfaltigkeitvon gleichwertigen Gegenständen. Keiner spielt eine größereRolle als der andere im Getriebe der Welt. Soll uns klarwerden, daß diese oder jene Tatsache größere Bedeutung

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hat als die andere, so müssen wir unser Denken befragen.Ohne das funktionierende Denken erscheint uns das rudi-mentäre Organ des Tieres, das ohne Bedeutung für dessenLeben ist, gleichwertig mit dem wichtigsten Körpergliede.Die einzelnen Tatsachen treten in ihrer Bedeutung in sichund für die übrigen Teile der Welt erst hervor, wenn dasDenken seine Fäden zieht von Wesen zu Wesen. Diese Tätig-keit des Denkens ist eine inhaltvolle. Denn nur durch einenganz bestimmten konkreten Inhalt kann ich wissen, warumdie Schnecke auf einer niedrigeren Organisationsstufe stehtals der Löwe. Der bloße Anblick, die Wahrnehmung gibtmir keinen Inhalt, der mich über die Vollkommenheit derOrganisation belehren könnte.

Diesen Inhalt bringt das Denken der Wahrnehmung ausder Begriffs- und Ideenwelt des Menschen entgegen. ImGegensatz zum Wahrnehmungsinhalte, der uns von außengegeben ist, erscheint der Gedankeninhalt im Innern. DieForm, in der er zunächst auftritt, wollen wir als Intuitionbezeichnen. Sie ist für das Denken, was die Beobachtung fürdie Wahrnehmung ist. Intuition und Beobachtung sind dieQuellen unserer Erkenntnis. Wir stehen einem beobachtetenDinge der Welt so lange fremd gegenüber, so lange wir inunserem Innern nicht die entsprechende Intuition haben,die uns das in der Wahrnehmung fehlende Stück der Wirk-lichkeit ergänzt. Wer nicht die Fähigkeit hat, die den Din-gen entsprechenden Intuitionen zu finden, dem bleibt dievolle Wirklichkeit verschlossen. Wie der Farbenblinde nurHelligkeitsunterschiede ohne Farbenqualitäten sieht, sokann der Intuitionslose nur unzusammenhängende Wahr-nehmungsfragmente beobachten.

Ein Ding erklären, verständlich machen heißt nichts an-

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deres, als es in den Zusammenhang hinein versetzen, ausdem es durch die oben geschilderte Einrichtung unserer Or-ganisation herausgerissen ist. Ein von dem Weltganzen ab-getrenntes Ding gibt es nicht. Alle Sonderung hat bloß sub-jektive Geltung für unsere Organisation. Für uns legt sichdas Weltganze auseinander in: oben und unten, vor undnach, Ursache und Wirkung, Gegenstand und Vorstellung,Stoff und Kraft, Objekt und Subjekt usw. Was uns in derBeobachtung an Einzelheiten gegenübertritt, das verbindetsich durch die zusammenhängende, einheitliche Welt unsererIntuitionen Glied für Glied; und wir fügen durch das Den-ken alles wieder in eins zusammen, was wir durch das Wahr-nehmen getrennt haben.

Die Rätselhaftigkeit eines Gegenstandes liegt in seinemSonderdasein. Diese ist aber von uns hervorgerufen undkann, innerhalb der Begriffswelt, auch wieder aufgehobenwerden.

Außer durch Denken und Wahrnehmen ist uns direktnichts gegeben. Es entsteht nun die Frage: wie steht es gemäßunseren Ausführungen mit der Bedeutung der Wahrneh-mung? Wir haben zwar erkannt, daß der Beweis, den derkritische Idealismus für die subjektive Natur der Wahr-nehmungen vorbringt, in sich zerfällt; aber mit der Einsichtin die Unrichtigkeit des Beweises ist noch nicht ausgemacht,daß die Sache selbst auf einem Irrtume beruht. Der kritischeIdealismus geht in seiner Beweisführung nicht von der ab-soluten Natur des Denkens aus, sondern stützt sich darauf,daß der naive Realismus, konsequent verfolgt, sich selbstaufhebe. Wie stellt sich die Sache, wenn die Absolutheit desDenkens erkannt ist?

Nehmen wir an, es trete eine bestimmte Wahrnehmung,

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zum Beispiel Rot, in meinem Bewußtsein auf. Die Wahr-nehmung erweist sich bei fortgehender Betrachtung in Zu-sammenhang stehend mit anderen Wahrnehmungen, zumBeispiel einer bestimmten Figur, mit gewissen Temperatur-und Tastwahrnehmungen. Diesen Zusammenhang bezeichneich als einen Gegenstand der Sinnenwelt. Ich kann mich nunfragen: was findet sich außer dem angeführten noch injenem Raumausschnitte, in dem mir obige Wahrnehmungenerscheinen. Ich werde mechanische, chemische und andereVorgänge innerhalb des Raumteiles finden. Nun gehe ichweiter und untersuche die Vorgänge, die ich auf dem Wegevon dem Gegenstande zu meinem Sinnesorgane finde. Ichkann Bewegungsvorgänge in einem elastischen Mittel fin-den, die ihrer Wesenheit nach nicht das geringste mit denursprünglichen Wahrnehmungen gemein haben. Das gleicheResultat erhalte ich, wenn ich die weitere Vermittelung vomSinnesorgane zum Gehirn untersuche. Auf jedem dieser Ge-biete mache ich neue Wahrnehmungen; aber was als binden-des Mittel sich durch alle diese räumlich und zeitlich ausein-anderliegenden Wahrnehmungen hindurchwebt, das ist dasDenken. Die den Schall vermittelnden Schwingungen derLuft sind mir gerade so als Wahrnehmungen gegeben wieder Schall selbst. Nur das Denken gliedert alle diese Wahr-nehmungen aneinander und zeigt sie in ihren gegenseitigenBeziehungen. Wir können nicht davon sprechen, daß esaußer dem unmittelbar Wahrgenommenen noch anderesgibt, als dasjenige, was durch die ideellen (durch das Denkenaufzudeckenden) Zusammenhänge der Wahrnehmungen er-kannt wird. Die über das bloß Wahrgenommene hinaus-gehende Beziehung der Wahrnehmungsobjekte zum Wahr-nehmungssubjekte ist also eine bloß ideelle, das heißt nur

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durch Begriffe ausdrückbare. Nur in dem Falle, wenn ichwahrnehmen könnte, wie das Wahrnehmungsobjekt dasWahrnehmungssubjekt affiziert, oder umgekehrt, wenn ichden Aufbau des Wahrnehmungsgebildes durch das Subjektbeobachten könnte, wäre es möglich, so zu sprechen, wie esdie moderne Physiologie und der auf sie gebaute kritischeIdealismus tun. Diese Ansicht verwechselt einen ideellenBezug (des Objekts auf das Subjekt) mit einem Prozeß, vondem nur gesprochen werden könnte, wenn er wahrzuneh-men wäre. Der Satz «Keine Farbe ohne farbenempfinden-des Auge» kann daher nicht die Bedeutung haben, daß dasAuge die Farbe hervorbringt, sondern nur die, daß eindurch das Denken erkennbarer ideeller Zusammenhang be-steht zwischen der Wahrnehmung Farbe und der Wahrneh-mung Auge. Die empirische Wissenschaft wird festzustellenhaben, wie sich die Eigenschaften des Auges und die der Far-ben zueinander verhalten; durch welche Einrichtungen dasSehorgan die Wahrnehmung der Farben vermittelt usw. Ichkann verfolgen, wie eine Wahrnehmung auf die anderefolgt, wie sie räumlich mit andern in Beziehung steht; unddies dann in einen begrifflichen Ausdruck bringen; aber ichkann nicht wahrnehmen, wie eine Wahrnehmung aus demUnwahrnehmbaren hervorgeht. Alle Bemühungen, zwischenden Wahrnehmungen andere als Gedankenbezüge zu suchen,müssen notwendig scheitern.

Was ist also die Wahrnehmung? Diese Frage ist, im all-gemeinen gestellt, absurd. Die Wahrnehmung tritt immerals eine ganz bestimmte, als konkreter Inhalt auf. DieserInhalt ist unmittelbar gegeben, und erschöpft sich in demGegebenen. Man kann in bezug auf dieses Gegebene nurfragen, was es außerhalb der Wahrnehmung, das ist: für

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das Denken ist. Die Frage nach dem «Was» einer Wahrneh-mung kann also nur auf die begriffliche Intuition gehen, dieihr entspricht. Unter diesem Gesichtspunkte kann die Fragenach der Subjektivität der Wahrnehmung im Sinne deskritischen Idealismus gar nicht aufgeworfen werden. Alssubjektiv darf nur bezeichnet werden, was als zum Subjektegehörig wahrgenommen wird. Das Band zu bilden zwischenSubjektivem und Objektivem kommt keinem im naivenSinn realen Prozeß, das heißt einem wahrnehmbaren Ge-schehen zu, sondern allein dem Denken. Es ist also für unsobjektiv, was sich für die Wahrnehmung als außerhalb desWahrnehmungssubjektes gelegen darstellt. Mein Wahrneh-mungssubjekt bleibt für mich wahrnehmbar, wenn der Tisch,der soeben vor mir steht, aus dem Kreise meiner Beobach-tung verschwunden sein wird. Die Beobachtung des Tischeshat eine, ebenfalls bleibende, Veränderung in mir hervor-gerufen. Ich behalte die Fähigkeit zurück, ein Bild des Tischesspäter wieder zu erzeugen. Diese Fähigkeit der Hervorbrin-gung eines Bildes bleibt mit mir verbunden. Die Psychologiebezeichnet dieses Bild als Erinnerungsvorstellung. Es istaber dasjenige, was allein mit Recht Vorstellung des Tischesgenannt werden kann. Es entspricht dies nämlich der wahr-nehmbaren Veränderung meines eigenen Zustandes durchdie Anwesenheit des Tisches in meinem Gesichtsfelde. Undzwar bedeutet sie nicht die Veränderung irgendeines hinterdem Wahrnehmungssubjekte stehenden «Ich an sich», son-dern die Veränderung des wahrnehmbaren Subjektes selbst.Die Vorstellung ist also eine subjektive Wahrnehmung imGegensatz zur objektiven Wahrnehmung bei Anwesenheitdes Gegenstandes im Wahrnehmungshorizonte. Das Zusam-

menwerfen jener subjektiven mit dieser objektiven Wahr-

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nehmung führt zu dem Mißverständnisse des Idealismus:die Welt ist meine Vorstellung.

Es wird sich nun zunächst darum handeln, den Begriffder Vorstellung näher zu bestimmen. Was wir bisher übersie vorgebracht haben, ist nicht der Begriff derselben, son-dern weist nur den Weg, wo sie im Wahrnehmungsfelde zurinden ist. Der genaue Begriff der Vorstellung wird es unsdann auch möglich machen, einen befriedigenden Aufschlußüber das Verhältnis von Vorstellung und Gegenstand zugewinnen. Dies wird uns dann auch über die Grenze führen,wo das Verhältnis zwischen menschlichem Subjekt und derWelt angehörigem Objekt von dem rein begrifflichen Feldedes Erkennens hinabgeführt wird in das konkrete indivi-duelle Leben. Wissen wir erst, was wir von der Welt zuhalten haben, dann wird es ein leichtes sein, auch uns danacheinzurichten. Wir können erst mit voller Kraft tätig sein,wenn wir das der Welt angehörige Objekt kennen, dem wirunsere Tätigkeit widmen.

Zusatz zur Neuauflage (1918). Die Anschauung, die hiergekennzeichnet ist, kann als eine solche angesehen werden,zu welcher der Mensch wie naturgemäß zunächst getrie-ben wird, wenn er beginnt, über sein Verhältnis zur Weltnachzudenken. Er sieht sich da in eine Gedankengestaltungverstrickt, die sich ihm auflöst, indem er sie bildet. DieseGedankengestaltung ist eine solche, mit deren bloßer theore-tischer Widerlegung nicht alles für sie Notwendige getanist. Man muß sie durchleben, um aus der Einsicht in die Ver-irrung, in die sie führt, den Ausweg zu finden. Sie muß ineiner Auseinandersetzung über das Verhältnis des Menschenzur Welt erscheinen nicht darum, weil man andere wider-legen will, von denen man glaubt, daß sie über dieses Ver-

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hältnis eine unrichtige Ansicht haben, sondern weil mankennen muß, in welche Verwirrung sich jedes erste Nach-denken über ein solches Verhältnis bringen kann. Man mußdie Einsicht gewinnen, wie man sich selbst in bezug auf die-ses erste Nachdenken widerlegt. Von einem solchen Gesichts-punkte aus sind die obigen Ausführungen gemeint.

Wer sich eine Anschauung über das Verhältnis des Men-schen zur Welt erarbeiten will, wird sich bewußt, daß ermindestens einen Teil dieses Verhältnisses dadurch herstellt,daß er sich über die Weltdinge und Weltvorgänge Vor-stellungen macht. Dadurch wird sein Blick von dem, wasdraußen in der Welt ist, abgezogen und auf seine Innenwelt,auf sein Vorstellungsleben gelenkt. Er beginnt sich zu sagen:ich kann zu keinem Ding und zu keinem Vorgang eine Be-ziehung haben, wenn nicht in mir eine Vorstellung auftritt.Von dem Bemerken dieses Tatbestandes ist dann nur einSchritt zu der Meinung: ich erlebe aber doch nur meine Vor-stellungen; von einer Welt draußen weiß ich nur, insofernsie Vorstellung in mir ist. Mit dieser Meinung ist der naiveWirklichkeitsstandpunkt verlassen, den der Mensch vorallem Nachsinnen über sein Verhältnis zur Welt einnimmt.Von diesem Standpunkt aus glaubt er, er habe es mit denwirklichen Dingen zu tun. Von diesem Standpunkt drängtdie Selbstbesinnung ab. Sie laßt den Menschen gar nicht hin-blicken auf eine Wirklichkeit, wie sie das naive Bewußtseinvor sich zu haben meint. Sie läßt ihn bloß auf seine Vor-stellungen blicken; diese schieben sich ein zwischen die eigeneWesenheit und eine etwa wirkliche Welt, wie sie der naiveStandpunkt glaubt behaupten zu dürfen. Der Mensch kannnicht mehr durch die eingeschobene Vorstellungswelt aufeine solche Wirklichkeit schauen. Er muß annehmen: er sei

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blind für diese Wirklichkeit. So entsteht der Gedanke voneinem für die Erkenntnis unerreichbaren «Ding an sich». -Solange man bei der Betrachtung des Verhältnisses stehen-bleibt, in das der Mensch durch sein Vorstellungsleben mitder Welt zu treten scheint, wird man dieser Gedanken-gestaltung nicht entgehen können. Auf dem naiven Wirk-lichkeitsstandpunkt kann man nicht bleiben, wenn man sichdem Drang nach Erkenntnis nicht künstlich verschließenwill. Daß dieser Drang nach Erkenntnis des Verhältnissesvon Mensch und Welt vorhanden ist, zeigt, daß dieser naiveStandpunkt verlassen werden muß. Gäbe der naive Stand-punkt etwas, was man als Wahrheit anerkennen kann, sokönnte man diesen Drang nicht empfinden. - Aber mankommt nun nicht zu etwas anderem, das man als Wahrheitansehen könnte, wenn man bloß den naiven Standpunktverläßt, aber - ohne es zu bemerken - die Gedankenart bei-behält, die er aufnötigt. Man verfällt in einen solchen Feh-ler, wenn man sich sagt: ich erlebe nur meine Vorstellungen,und während ich glaube, ich habe es mit Wirklichkeiten zutun, sind mir nur meine Vorstellungen von Wirklichkeitenbewußt; ich muß deshalb annehmen, daß außerhalb desUmkreises meines Bewußtseins erst wahre Wirklichkeiten,«Dinge an sich» liegen, von denen ich unmittelbar gar nichtsweiß, die irgendwie an mich herankommen und mich so be-einflussen, daß in mir meine Vorstellungswelt auflebt. Werso denkt, der setzt in Gedanken zu der ihm vorliegendenWelt nur eine andere hinzu; aber er müßte bezüglich dieserWelt eigentlich mit seiner Gedankenarbeit wieder von vornebeginnen. Denn das unbekannte «Ding an sich» wird dabeigar nicht anders gedacht in seinem Verhäl tn isse zu r Eigen-

wesenhei t des Menschen als das b e k a n n t e des na iven W i r k -

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lichkeitsstandpunktes. - Man entgeht der Verwirrung, indie man durch die kritische Besonnenheit in bezug auf diesenStandpunkt gerät, nur, wenn man bemerkt, daß es inner-halb dessen, was man innen in sich und außen in der Weltwahrnehmend erleben kann, etwas gibt, das dem Verhäng-nis gar nicht verfallen kann, daß sich zwischen Vorgang undbetrachtenden Menschen die Vorstellung einschiebt. Unddieses ist das Denken. Dem Denken gegenüber kann derMensch auf dem naiven Wirklichkeitsstandpunkt verblei-ben. Tut er es nicht, so geschieht das nur deshalb, weil erbemerkt hat, daß er für anderes diesen Standpunkt ver-lassen muß, aber nicht gewahr wird, daß die so gewonneneEinsicht nicht anwendbar auf das Denken ist. Wird er diesgewahr, dann eröffnet er sich den Zugang zu der anderenEinsicht, daß im Denken und durch das Denken dasjenigeerkannt werden muß, wofür sich der Mensch blind zu machenscheint, indem er zwischen der Welt und sich das Vorstel-lungsleben einschieben muß. - Von durch den Verfasser die-ses Buches sehr geschätzter Seite ist diesem der Vorwurfgemacht worden, daß er mit seiner Ausführung über dasDenken bei einem naiven Realismus des Denkens stehen-bleibe, wie ein solcher vorliege, wenn man die wirklicheWelt und die vorgestellte Welt für eines hält. Doch derVerfasser dieser Ausführungen glaubt eben in ihnen er-wiesen zu haben, daß die Geltung dieses «naiven Realismus»für das Denken sich aus einer unbefangenen "Beobachtungdesselben notwendig ergibt; und daß der für anderes nichtgeltende naive Realismus durch die Erkenntnis der wahrenWesenheit des Denkens überwunden wird.

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VI

DIE MENSCHLICHE INDIVIDUALITÄT

Die Hauptschwierigkeit bei der Erklärung der Vorstellun-gen wird von den Philosophen in dem Umstände gefunden,daß wir die äußeren Dinge nicht selbst sind, und unsereVorstellungen doch eine den Dingen entsprechende Gestalthaben sollen. Bei genauerem Zusehen stellt sich aber heraus,daß diese Schwierigkeit gar nicht besteht. Die äußeren Dingesind wir allerdings nicht, aber wir gehören mit den äußerenDingen zu ein und derselben Welt. Der Ausschnitt aus derWelt, den ich als mein Subjekt wahrnehme, wird von demStrome des allgemeinen Weltgeschehens durchzogen. Fürmein Wahrnehmen bin ich zunächst innerhalb der Grenzenmeiner Leibeshaut eingeschlossen. Aber was da drinnensteckt in dieser Leibeshaut, gehört zu dem Kosmos als einemGanzen. Damit also eine Beziehung bestehe zwischen mei-nem Organismus und dem Gegenstande außer mir, ist esgar nicht nötig, daß etwas von dem Gegenstande in michhereinschlüpfe oder in meinen Geist einen Eindruck mache,wie ein Siegelring in Wachs. Die Frage: wie bekomme ichKunde von dem Baume, der zehn Schritte von mir entferntsteht, ist völlig schief gestellt. Sie entspringt aus der An-schauung, daß meine Leibesgrenzen absolute Scheidewändeseien, durch die die Nachrichten von den Dingen in michhereinwandern. DieKräfte, welche innerhalb meiner Leibes-haut wirken, sind die gleichen wie die außerhalb bestehen-den. Ich bin also wirklich die Dinge; allerdings nicht Ich,insoferne ich Wahrnehmungssubjekt bin, aber Ich, insofernich ein Teil innerhalb des allgemeinen Weltgeschehens bin.Die Wahrnehmung des Baumes liegt mit meinem Ich in

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demselben Ganzen. Dieses allgemeine Weltgeschehen ruftin gleichem Maße dort die Wahrnehmung des Baumes her-vor, wie hier die Wahrnehmung meines Ich. Wäre ich nichtWeiterkenner, sondern Weltschöpfer, so entstünde Objektund Subjekt (Wahrnehmung und Ich) in einem Akte. Dennsie bedingen einander gegenseitig. Als Weiterkenner kannich das Gemeinsame der beiden als zusammengehörigerWesenseiten nur durch Denken finden, das durch Begriffebeide aufeinander bezieht.

Am schwierigsten aus dem Felde zu schlagen werden diesogenannten physiologischen Beweise für die Subjektivitätunserer Wahrnehmungen sein. Wenn ich einen Druck aufdie Haut meines Körpers ausführe, so nehme ich ihn alsDruckempfindung wahr. Denselben Druck kann ich durchdas Auge als Licht, durch das Ohr als Ton wahrnehmen.Einen elektrischen Schlag nehme ich durch das Auge alsLicht, durch das Ohr als Schall, durch die Hautnerven alsStoß, durch das Geruchsorgan als Phosphorgeruch wahr.Was folgt aus dieser Tatsache? Nur dieses: Ich nehme einenelektrischen Schlag wahr (respektive einen Druck) und dar-auf eine Lichtqualität, oder einen Ton beziehungsweise einengewissen Geruch und so weiter. Wenn kein Auge da wäre,so gesellte sich zu der Wahrnehmung der mechanischen Er-schütterung in der Umgebung nicht die Wahrnehmung einerLichtqualität, ohne die Anwesenheit eines Gehörorganskeine Tonwahrnehmung usw. Mit welchem Rechte kannman sagen, ohne Wahrnehmungsorgane wäre der ganzeVorgang nicht vorhanden? Wer von dem Umstände, daßein elektrischer Vorgang im Auge Licht hervorruft, zurück-schließt: also ist das, was wir als Licht empfinden, außerunserem Organismus nur ein mechanischer Bewegungsvor-

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gang, - der vergißt, daß er nur von einer Wahrnehmungauf die andere übergeht und durchaus nicht auf etwas außer-halb der Wahrnehmung. Ebensogut wie man sagen kann:das Auge nimmt einen mechanischen Bewegungsvorgangseiner Umgebung als Licht wahr, ebenso gut kann man be-haupten: eine gesetzmäßige Veränderung eines Gegenstan-des wird von uns als Bewegungsvorgang wahrgenommen.Wenn ich auf den Umfang einer rotierenden Scheibe einPferd zwölfmal male, und zwar genau in den Gestalten,die sein Körper im fortgehenden Laufe annimmt, so kannich durch Rotieren der Scheibe den Schein der Bewegunghervorrufen. Ich brauche nur durch eine Öffnung zu blickenund zwar so, daß ich in den entsprechenden Zwischenzeitendie aufeinanderfolgenden Stellungen des Pferdes sehe. Ichsehe nicht zwölf Pferdebilder, sondern das Bild eines dahin-eilenden Pferdes.

Die erwähnte physiologische Tatsache kann also keinLicht auf das Verhältnis von Wahrnehmung und Vorstel-lung werfen. Wir müssen uns auf andere Weise zurecht-finden.

In dem Augenblicke, wo eine Wahrnehmung in meinemBeobachtungshorizonte auftaucht, betätigt sich durch michauch das Denken. Ein Glied in meinem Gedankensysteme,eine bestimmte Intuition, ein Begriff verbindet sich mit derWahrnehmung. Wenn dann die Wahrnehmung aus meinemGesichtskreise verschwindet: was bleibt zurück? Meine In-tuition mit der Beziehung auf die bestimmte Wahrnehmung,die sich im Momente des Wahrnehmens gebildet hat. Mitwelcher Lebhaftigkeit ich dann später diese Beziehung mirwieder vergegenwärtigen kann, das hängt von der Art ab,in der mein geistiger und körperlicher Organismus funk-

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tioniert. Die Vorstellung ist nichts anderes als eine auf einebestimmte Wahrnehmung bezogene Intuition, ein Begriff,der einmal mit einer Wahrnehmung verknüpft war, unddem der Bezug auf diese Wahrnehmung geblieben ist. MeinBegriff eines Löwen ist nicht aus meinen Wahrnehmungenvon Löwen gebildet. Wohl aber ist meine Vorstellung vomLöwen an der Wahrnehmung gebildet. Ich kann jemandemden Begriff eines Löwen beibringen, der nie einen Löwengesehen hat. Eine lebendige Vorstellung ihm beizubringen,wird mir ohne sein eigenes Wahrnehmen nicht gelingen.

Die Vorstellung ist also ein individualisierter Begriff .Undnun ist es uns erklärlich, daß für uns die Dinge der Wirk-lichkeit durch Vorstellungen repräsentiert werden können.Die volle Wirklichkeit eines Dinges ergibt sich uns imAugenblicke der Beobachtung aus dem Zusammengehen vonBegriff und Wahrnehmung. Der Begriff erhält durch eineWahrnehmung eine individuelle Gestalt, einen Bezug zudieser bestimmten Wahrnehmung. In dieser individuellenGestalt, die den Bezug auf die Wahrnehmung als eine Eigen-tümlichkeit in sich trägt, lebt er in uns fort und bildet dieVorstellung des betreffenden Dinges. Treffen wir auf einzweites Ding, mit dem sich derselbe Begriff verbindet, soerkennen wir es mit dem ersten als zu derselben Art gehörig;treffen wir dasselbe Ding ein zweites Mal wieder, so findenwir in unserem Begriffssysteme nicht nur überhaupt einenentsprechenden Begriff, sondern den individualisierten Be-griff mit dem ihm eigentümlichen Bezug auf denselbenGegenstand, und wir erkennen den Gegenstand wieder.

Die Vorstellung steht also zwischen Wahrnehmung undBegriff. Sie ist der bestimmte, auf die Wahrnehmung deu-tende Begriff.

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Die Summe desjenigen, worüber ich Vorstellungen bildenkann, darf ich meine Erfahrung nennen. Derjenige Menschwird die reichere Erfahrung haben, der eine größere Zahlindividualisierter Begriffe hat. Ein Mensch, dem jedes In-tuitionsvermögen fehlt, ist nicht geeignet, sich Erfahrungzu erwerben. Er verliert die Gegenstände wieder aus seinemGesichtskreise, weil ihm die Begriffe fehlen, die er zu ihnenin Beziehung setzen soll. Ein Mensch mit gut entwickeltemDenkvermögen, aber mit einem infolge grober Sinneswerk-zeuge schlecht funktionierenden Wahrnehmen, wird eben-sowenig Erfahrung sammeln können. Er kann sich zwar aufirgendeine Weise Begriffe erwerben; aber seinen Intuitionenfehlt der lebendige Bezug auf bestimmte Dinge. Der ge-dankenlose Reisende und der in abstrakten Begriffssystemenlebende Gelehrte sind gleich unfähig, sich eine reiche Erfah-rung zu erwerben.

Als Wahrnehmung und Begriff stellt sich uns die Wirk-lichkeit, als Vorstellung die subjektive Repräsentation die-ser Wirklichkeit dar.

Wenn sich unsere Persönlichkeit bloß als erkennendäußerte, so wäre die Summe alles Objektiven in Wahr-nehmung, Begriff und Vorstellung gegeben.

Wir begnügen uns aber nicht damit, die Wahrnehmungmit Hilfe des Denkens auf den Begriff zu beziehen, sondernwir beziehen sie auch auf unsere besondere Subjektivität,auf unser individuelles Ich. Der Ausdruck dieses individuel-len Bezuges ist das Gefühl, das sich als Lust oder Unlustauslebt.

Denken und Fühlen entsprechen der Doppelnatur unseresWesens, der wir schon gedacht haben. Das Denken ist dasElement, durch das wir das allgemeine Geschehen des Kos-

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mos mitmachen; das Fühlen das, wodurch wir uns in dieEnge des eigenen Wesens zurückziehen können.

Unser Denken verbindet uns mit der Welt; unser Fühlenführt uns in uns selbst zurück, macht uns erst zum Individu-um. Wären wir bloß denkende und wahrnehmende Wesen,so müßte unser ganzes Leben in unterschiedloser Gleich-gültigkeit dahinfließen. Wenn wir uns bloß als Selbst erken-nen könnten, so wären wir uns vollständig gleichgültig. Erstdadurch, daß wir mit der Selbsterkenntnis das Selbstgefühl,mit der Wahrnehmung der Dinge Lust und Schmerz emp-finden, leben wir als individuelle Wesen, deren Dasein nichtmit dem Begriffsverhältnis erschöpft ist, in dem sie zu derübrigen Welt stehen, sondern die noch einen besonderenWert für sich haben.

Man könnte versucht sein, in dem Gefühlsleben ein Ele-ment zu sehen, das reicher mit Wirklichkeit gesättigt ist alsdas denkende Betrachten der Welt. Darauf ist zu erwidern,daß das Gefühlsleben eben doch nur für mein Individuumdiese reichere Bedeutung hat. Für das Weltganze kann meinGefühlsleben nur einen Wert erhalten, wenn das Gefühl,als Wahrnehmung an meinem Selbst, mit einem Begriffe inVerbindung tritt und sich auf diesem Umwege dem Kosmoseingliedert.

Unser Leben ist ein fortwährendes Hin- und Herpendelnzwischen dem Mitleben des allgemeinen Weltgeschehens undunserem individuellen Sein. Je weiter wir hinaufsteigen indie allgemeine Natur des Denkens, wo uns das Individuellezuletzt nur mehr als Beispiel, als Exemplar des Begriffesinteressiert, desto mehr verliert sich in uns der Charakterdes besonderen Wesens, der ganz bestimmten einzelnen Per-sönlichkeit. Je weiter wir herabsteigen in die Tiefen des

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Eigenlebens und unsere Gefühle mitklingen lassen mit denErfahrungen der Außenwelt, desto mehr sondern wir unsab von dem universellen Sein. Eine wahrhafte Individua-lität wird derjenige sein, der am weitesten hinaufreicht mitseinen Gefühlen in die Region des Ideellen. Es gibt Men-schen, bei denen auch die allgemeinsten Ideen, die in ihremKopfe sich festsetzen, noch jene besondere Färbung tragen,die sie unverkennbar als mit ihrem Träger im Zusammen-hange zeigt. Andere existieren, deren Begriffe so ohne jedeSpur einer Eigentümlichkeit an uns herankommen, als wärensie gar nicht aus einem Menschen entsprungen, der Fleischund Blut hat.

Das Vorstellen gibt unserem Begriffsleben bereits ein indi-viduelles Gepräge. Jedermann hat ja einen eigenen Stand-ort, von dem aus er die Welt betrachtet. An seine Wahr-nehmungen schließen sich seine Begriffe an. Er wird aufseine besondere Art die allgemeinen Begriffe denken. Diesebesondere Bestimmtheit ist ein Ergebnis unseres Standortesin der Welt, der an unseren Lebensplatz sich anschließendenWahrnehmungssphäre.

Dieser Bestimmtheit steht entgegen eine andere, von unse-rer besonderen Organisation abhängige. Unsere Organisa-tion ist ja eine spezielle, vollbestimmte Einzelheit. Wirverbinden jeder besondere Gefühle, und zwar in den ver-schiedensten Stärkegraden mit unseren Wahrnehmungen.Dies ist das Individuelle unserer Eigenpersönlichkeit. Esbleibt als Rest zurück, wenn wir die Bestimmtheiten desLebensschauplatzes alle in Rechnung gebracht haben.

Ein völlig gedankenleeres Gefühlsleben müßte allmählichallen Zusammenhang mit der Welt verlieren. Die Erkennt-nis der Dinge wird bei dem auf Totalität angelegten Men-

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sehen Hand in Hand gehen mit der Ausbildung und Ent-wicklung des Gefühlslebens.

Das Gefühl ist das Mittel, wodurch die Begriffe zunächstkonkretes Leben gewinnen.

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VII

GIBT ES GRENZEN DES ERKENNENS?

Wir haben festgestellt, daß die Elemente zur Erklärung derWirklichkeit den beiden Sphären: dem Wahrnehmen unddem Denken zu entnehmen sind. Unsere Organisation be-dingt es, wie wir gesehen haben, daß uns die volle, totaleWirklichkeit, einschließlich unseres eigenen Subjektes, zu-nächst als Zweiheit erscheint. Das Erkennen überwindetdiese Zweiheit, indem es aus den beiden Elementen derWirklichkeit: der Wahrnehmung und dem durch das Denkenerarbeiteten Begriff das ganze Ding zusammenfügt. Nennenwir die Weise, in der uns die Welt entgegentritt, bevor siedurch das Erkennen ihre rechte Gestalt gewonnen hat, dieWelt der Erscheinung im Gegensatz zu der aus Wahrneh-mung und Begriff einheitlich zusammengesetzten Wesenheit.Dann können wir sagen; Die Welt ist uns als Zweiheit(dualistisch) gegeben, und das Erkennen verarbeitet sie zurEinheit (monistisch). Eine Philosophie, welche von diesemGrundprinzip ausgeht, kann als monistische Philosophieoder Monismus bezeichnet werden. Ihr steht gegenüber dieZweiweltentheorie oder der Dualismus. Der letztere nimmtnicht etwa zwei bloß durch unsere Organisation auseinan-dergehaltene Seiten der einheitlichen Wirklichkeit an, son-dern zwei voneinander absolut verschiedene Welten. Er suchtdann Erklärungsprinzipien für die eine Welt in der andern.

Der Dualismus beruht auf einer falschen Auffassung des-sen, was wir Erkenntnis nennen. Er trennt das gesamte Seinin zwei Gebiete, von denen jedes seine eigenen Gesetze hat,und läßt diese Gebiete einander äußerlich gegenüberstehen.

Einem solchen Dualismus entspringt die durch Kant in

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die Wissenschaft eingeführte und bis heute nicht wieder her-ausgebrachte Unterscheidung von Wahrnehmungsobjekt und«Ding an sich». Unseren Ausführungen gemäß liegt es in derNatur unserer geistigen Organisation, daß ein besonderesDing nur als Wahrnehmung gegeben sein kann. Das Denkenüberwindet dann die Besonderung, indem es jeder Wahr-nehmung ihre gesetzmäßige Stelle im Weltganzen anweist.Solange die gesonderten Teile des Weltganzen als Wahr-nehmungen bestimmt werden, folgen wir einfach in derAussonderung einem Gesetze unserer Subjektivität. Betrach-ten wir aber die Summe aller Wahrnehmungen als den einenTeil und stellen diesem dann einen zweiten in den «Dingenan sich» gegenüber, so philosophieren wir ins Blaue hinein.Wir haben es dann mit einem bloßen Begriffsspiel zu tun.Wir konstruieren einen künstlichen Gegensatz, können aberfür das zweite Glied desselben keinen Inhalt gewinnen,denn ein solcher kann für ein besonderes Ding nur aus derWahrnehmung geschöpft werden.

Jede Art des Seins, das außerhalb des Gebietes von Wahr-nehmung und Begriff angenommen wird, ist in die Sphäreder unberechtigten Hypothesen zu verweisen. In diese Kate-gorie gehört das «Ding an sich». Es ist nur ganz natürlich,daß der dualistische Denker den Zusammenhang des hypo-thetisch angenommenen Weltprinzipes und des erfahrungs-mäßig Gegebenen nicht rinden kann. Für das hypothetischeWeltprinzip läßt sich nur ein Inhalt gewinnen, wenn manihn aus der Erfahrungswelt entlehnt und sich über dieseTatsache hinwegtäuscht. Sonst bleibt es ein inhaltsleerer Be-griff, ein Unbegriff, der nur die Form des Begriffes hat. Derdualistische Denker behauptet dann gewöhnlich: der In-halt dieses Begriffes sei unserer Erkenntnis unzugänglich;

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wir könnten nur wissen, daß ein solcher Inhalt vorhandenist, nicht was vorhanden ist. In beiden Fällen ist die Über-windung des Dualismus unmöglich. Bringt man ein paarabstrakte Elemente der Erfahrungswelt in den Begriff desDinges an sich hinein, dann bleibt es doch unmöglich, dasreiche konkrete Leben der Erfahrung auf ein paar Eigen-schaften zurückzuführen, die selbst nur aus dieser Wahr-nehmung entnommen sind. Du Bois-Reymond denkt, daßdie unwahrnehmbaren Atome der Materie durch ihre Lageund Bewegung Empfindung und Gefühl erzeugen, um dannzu dem Schlüsse zu kommen: Wir können niemals zu einerbefriedigenden Erklärung darüber kommen, wie Materieund Bewegung Empfindung und Gefühl erzeugen, denn «esist eben durchaus und für immer unbegreiflich, daß es einerAnzahl von Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Stickstoff-, Sauer-stoff- usw. Atomen nicht sollte gleichgültig sein, wie sieliegen und sich bewegen, wie sie lagen und sich bewegten,wie sie liegen und sich bewegen werden. Es ist in keinerWeise einzusehen, wie aus ihrem Zusammenwirken Bewußt-sein entstehen könne». Diese Schlußfolgerung ist charak-teristisch für die ganze Denkrichtung. Aus der reichenWelt der Wahrnehmungen wird abgesondert: Lage und Be-wegung. Diese werden auf die erdachte Welt der Atomeübertragen. Dann tritt die Verwunderung darüber ein, daßman aus diesem selbstgemachten und aus der Wahrneh-mungswelt entlehnten Prinzip das konkrete Leben nichtherauswickeln kann.

Daß der Dualist, der mit einem vollständig inhaltleerenBegriff vom An-sich arbeitet, zu keiner Welterklärung kom-men kann, folgt schon aus der oben angegebenen Definitionseines Prinzipes.

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In jedem Falle sieht sich der Dualist gezwungen, unseremErkenntnisvermögen unübersteigliche Schranken zu setzen.Der Anhänger einer monistischen Weltanschauung weiß,daß alles, was er zur Erklärung einer ihm gegebenen Er-scheinung der Welt braucht, im Bereiche der letztern liegenmüsse. Was ihn hindert, dazu zu gelangen, können nur zu-fällige zeitliche oder räumliche Schranken oder Mängel sei-ner Organisation sein. Und zwar nicht der menschlichenOrganisation im allgemeinen, sondern nur seiner beson-deren individuellen.

Es folgt aus dem Begriffe des Erkennens, wie wir ihnbestimmt haben, daß von Erkenntnisgrenzen nicht gespro-chen werden kann. Das Erkennen ist keine allgemeine Welt-angelegenheit, sondern ein Geschäft, das der Mensch mitsich selbst abzumachen hat. Die Dinge verlangen keine Er-klärung. Sie existieren und wirken aufeinander nach denGesetzen, die durch das Denken auffindbar sind. Sie existie-ren in unzertrennlicher Einheit mit diesen Gesetzen. Datritt ihnen unsere Ichheit gegenüber und erfaßt von ihnenzunächst nur das, was wir als Wahrnehmung bezeichnethaben. Aber in dem Innern dieser Ichheit findet sich dieKraft, um auch den andern Teil der Wirklichkeit zu finden.Erst wenn die Ichheit die beiden Elemente der Wirklichkeit,die in der Welt unzertrennlich verbunden sind, auch fürsich vereinigt hat, dann ist die Erkenntnisbefriedigung ein-getreten: das Ich ist wieder bei der Wirklichkeit angelangt.

Die Vorbedingungen zum Entstehen des Erkennens sindalso durch und für das Ich. Das letztere gibt sich selbst dieFragen des Erkennens auf. Und zwar entnimmt es sie ausdem in sich vollständig klaren und durchsichtigen Elementedes Denkens. Stellen wir uns Fragen, die wir nicht beant-

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worten können, so kann der Inhalt der Frage nicht in allenseinen Teilen klar und deutlich sein. Nicht die Welt stellt anuns die Fragen, sondern wir selbst stellen sie.

Ich kann mir denken, daß mir jede Möglichkeit fehlt, eineFrage zu beantworten, die ich irgendwo aufgeschriebenfinde, ohne daß ich die Sphäre kenne, aus der der Inhalt derFrage genommen ist.

Bei unserer Erkenntnis handelt es sich um Fragen, dieuns dadurch aufgegeben werden, daß einer durch Ort, Zeitund subjektive Organisation bedingten Wahrnehmungs-sphäre eine auf die Allheit der Welt weisende Begriffssphäregegenübersteht. Meine Aufgabe besteht in dem Ausgleichdieser beiden mir wohlbekannten Sphären. Von einer Grenzeder Erkenntnis kann da nicht gesprochen werden. Es kannzu irgendeiner Zeit dieses oder jenes unaufgeklärt bleiben,weil wir durch den Lebensschauplatz verhindert sind, dieDinge wahrzunehmen, die dabei im Spiele sind. Was aberheute nicht gefunden ist, kann es morgen werden. Die hier-durch bedingten Schranken sind nur vergängliche, die mitdem Fortschreiten von Wahrnehmung und Denken über-wunden werden können.

Der Dualismus begeht den Fehler, daß er den Gegensatzvon Objekt und Subjekt, der nur innerhalb des Wahrneh-mungsgebietes eine Bedeutung hat, auf rein erdachte Wesen-heiten außerhalb desselben überträgt. Da aber die innerhalbdes Wahrnehmungshorizontes gesonderten Dinge nur so-lange gesondert sind, als der Wahrnehmende sich des Den-kens enthält, das alle Sonderung aufhebt und als eine bloßsubjektiv bedingte erkennen läßt, so überträgt der DualistBestimmungen auf Wesenheiten hinter den Wahrnehmun-gen, die selbst für diese keine absolute, sondern nur eine

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relative Geltung haben. Er zerlegt dadurch die zwei für denErkenntnisprozeß in Betracht kommenden Faktoren, Wahr-nehmung und Begriff, in vier: 1. Das Objekt an sich; 2. dieWahrnehmung, die das Subjekt von dem Objekt hat; 3. dasSubjekt; 4. den Begriff, der die Wahrnehmung auf das Ob-jekt an sich bezieht. Die Beziehung zwischen dem Objektund Subjekt ist eine reale; das Subjekt wird wirklich (dyna-misch) durch das Objekt beeinflußt. Dieser reale Prozeß sollnicht in unser Bewußtsein fallen. Aber er soll im Subjekteine Gegenwirkung auf die vom Objekt ausgehende Wir-kung hervorrufen. Das Resultat dieser Gegenwirkung solldie Wahrnehmung sein. Diese falle erst ins Bewußtsein. DasObjekt habe eine objektive (vom Subjekt unabhängige), dieWahrnehmung eine subjektive Realität. Diese subjektiveRealität beziehe das Subjekt auf das Objekt. Die letztereBeziehung sei eine ideelle. Der Dualismus spaltet somit denErkenntnisprozeß in zwei Teile. Den einen, Erzeugung desWahrnehmungsobjektes aus dem «Ding an sich», läßt eraußerhalb, den andern, Verbindung der Wahrnehmung mitdem Begriff und Beziehung desselben auf das Objekt, inner-halb des Bewußtseins sich abspielen. Unter diesen Voraus-setzungen ist es klar, daß der Dualisjt in seinen Begriffen nursubjektive Repräsentanten dessen zu gewinnen glaubt, wasvor seinem Bewußtsein liegt. Der objektiv-realeVorgang imSubjekte, durch den die Wahrnehmung zustande kommt,und um so mehr die objektiven Beziehungen der «Dinge ansich» bleiben für einen solchen Dualisten direkt unerkenn-bar; seiner Meinung nach kann sich der Mensch nur begriff-liche Repräsentanten für das objektiv Reale verschaffen.Das Einheitsband der Dinge, das diese unter sich und objek-tiv mit unserem Individualgeist (als «Ding an sich») verbin-

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det, liegt jenseits des Bewußtseins in einem Wesen an sich,von dem wir in unserem Bewußtsein ebenfalls nur einen be-grifflichen Repräsentanten haben könnten.

Der Dualismus glaubt die ganze Welt zu einem abstrak-ten Begriffsschema zu verflüchtigen, wenn er nicht nebenden begrifflichen Zusammenhängen der Gegenstände nochreale Zusammenhänge statuiert. Mit andern Worten: demDualisten erscheinen die durch das Denken auffindbarenIdealprinzipien zu luftig, und er sucht noch Realprinzipien,von denen sie gestützt werden können.

Wir wollen uns diese Realprinzipien einmal näher an-schauen. Der naive Mensch (naive Realist) betrachtet dieGegenstände der äußeren Erfahrung als Realitäten. DerUmstand, daß er diese Dinge mit seinen Händen greifen,mit seinen Augen sehen kann, gilt ihm als Zeugnis derRealität. «Nichts existiert, was man nicht wahrnehmenkann», ist geradezu als das erste Axiom des naiven Men-schen anzusehen, das ebensogut in seiner Umkehrung an-erkannt wird: «Alles, was wahrgenommen werden kann,existiert.» Der beste Beweis für diese Behauptung ist der

»Unsterblichkeits- und Geisterglaube des naiven Menschen.Er stellt sich die Seele als feine sinnliche Materie vor, dieunter besonderen Bedingungen sogar für den gewöhnlichenMenschen sichtbar werden kann (naiver Gespensterglaube).

Dieser seiner realen Welt gegenüber ist für den naivenRealisten alles andere, namentlich die Welt der Ideen, un-real, «bloß ideell». Was wir zu den Gegenständen hinzu-denken, das ist bloßer Gedanke über die Dinge. Der Ge-danke fügt nichts Reales zu der Wahrnehmung hinzu.

Aber nicht nur in bezug auf das Sein der Dinge hält dernaive Mensch die Sinneswahrnehmung für das einzige Zeug-

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nis der Realität, sondern auch in bezug auf das Geschehen.Ein Ding kann, nach seiner Ansicht, nur dann auf ein an-deres wirken, wenn eine für die Sinneswahrnehmung vor-handene Kraft von dem einen ausgeht und das andere er-greift. Die ältere Physik glaubte, daß sehr feine Stoffe vonden Körpern ausströmen und durch unsere Sinnesorgane indie Seele eindringen. Das wirkliche Sehen dieser Stoffe istnur durch die Grobheit unserer Sinne im Verhältnis zu derFeinheit dieser Stoffe unmöglich. Prinzipiell gestand mandiesen Stoffen aus demselben Grunde Realität zu, warumman es den Gegenständen der Sinnenwelt zugesteht, näm-lich wegen ihrer Seinsform, die derjenigen der sinnenfälligenRealität analog gedacht wurde.

Die in sich beruhende Wesenheit des ideell Erlebbarengilt dem naiven Bewußtsein nicht in gleichem Sinne als realwie das sinnlich Erlebbare. Ein in der «bloßen Idee» ge-faßter Gegenstand gilt so lange als bloße Schimäre, bisdurch die Sinneswahrnehmung die Überzeugung von derRealität geliefert werden kann. Der naive Mensch verlangt,um es kurz zu sagen, zum ideellen Zeugnis seines Denkensnoch das reale der Sinne. In diesem Bedürfnisse des naivenMenschen liegt der Grund zur Entstehung der primitivenFormen des Offenbarungsglaubens. Der Gott, der durch dasDenken gegeben ist, bleibt dem naiven Bewußtsein immernur ein «gedachter» Gott. Das naive Bewußtsein verlangtdie Kundgebung durch Mittel, die der sinnlichen Wahr-nehmung zugänglich sind. Der Gott muß leibhaftig erschei-nen, und man will auf das Zeugnis des Denkens weniggeben, nur etwa darauf, daß die Göttlichkeit durch sinnen-fällig konstatierbares Verwandeln von Wasser in Wein er-wiesen wird.

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Auch das Erkennen selbst stellt sich der naive Menschals einen den Sinnesprozessen analogen Vorgang vor. DieDinge machen einen Eindruck in der Seele, oder sie sendenBilder aus, die durch die Sinne eindringen und so weiter.

Dasjenige, was der naive Mensch mit den Sinnen wahr-nehmen kann, das hält er für wirklich, und dasjenige, wo-von er keine solche Wahrnehmung hat (Gott, Seele, das Er-kennen usw.), das stellt er sich analog dem Wahrgenomme-nen vor.

Will der naive Realismus eine Wissenschaft begründen,so kann er eine solche nur in einer genauen Beschreibung desWahrnehmungsinhaltes sehen. Die Begriffe sind ihm nurMittel zum Zweck. Sie sind da, um ideelle Gegenbilder fürdie Wahrnehmungen zu schaffen. Für die Dinge selbst be-deuten sie nichts. Als real gelten dem naiven Realisten nurdie Tulpenindividuen, die gesehen werden, oder gesehenwerden können; die eine Idee der Tulpe gilt ihm als Ab-straktum, als das unreale Gedankenbild, das sich die Seeleaus den allen Tulpen gemeinsamen Merkmalen zusammen-gefügt hat.

Den naiven Realismus mit seinem Grundsatz von derWirklichkeit alles Wahrgenommenen widerlegt die Erfah-rung, welche lehrt, daß der Inhalt der Wahrnehmungenvergänglicher Natur ist. Die Tulpe, die ich sehe, ist heutewirklich; nach einem Jahr wird sie in Nichts verschwundensein. Was sich behauptet hat, ist die Gattung Tulpe. DieseGattung ist aber für den naiven Realismus «nur» eine Idee,keine Wirklichkeit. So sieht sich denn diese Weltanschauungin der Lage, ihre Wirklichkeiten kommen und verschwindenzu sehen, während sich das nach ihrer Meinung Unwirklichedem Wirklichen gegenüber behauptet. Der naive Realismus

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muß also neben den Wahrnehmungen auch noch etwasIdeelles gelten lassen. Er muß Wesenheiten in sich aufneh-men, die er nicht mit den Sinnen wahrnehmen kann. Erfindet sich dadurch mit sich selbst ab, daß er deren Daseins-form analog mit derjenigen der Sinnesobjekte denkt. Solchehypothetisch angenommenen Realitäten sind die unsicht-baren Kräfte, durch die die sinnlich wahrzunehmendenDinge aufeinander wirken. Ein solches Ding ist die Ver-erbung, die über das Individuum hinaus fortwirkt, und dieder Grund ist, daß sich aus dem Individuum ein neues ent-wickelt, das ihm ähnlich ist, wodurch sich die Gattung er-hält. Ein solches Ding ist das den organischen Leib durch-dringende Lebensprinzip, die Seele, für die man im naivenBewußtsein stets einen nach Analogie mit Sinnesrealitätengebildeten Begriff findet, und ist endlich das göttliche Wesendes naiven Menschen. Dieses göttliche Wesen wird in einerWeise wirksam gedacht, die ganz dem entspricht, was alsWirkungsart des Menschen selbst wahrgenommen werdenkann: anthropomorphisch.

Die moderne Physik führt die Sinnesempfindungen aufVorgänge der kleinsten Teile der Körper und eines unend-lich feinen Stoffes, des Äthers oder auf Ähnliches zurück.Was wir zum Beispiel als Wärme empfinden, ist innerhalbdes Raumes, den der wärmeverursachende Körper einnimmt,Bewegung seiner Teile. Auch hier wird wieder ein Unwahr-nehmbares in Analogie mit dem Wahrnehmbaren gedacht.Das sinnliche Analogon des Begriffs «Körper» ist in diesemSinne etwa das Innere eines allseitig geschlossenen Raumes,in dem sich nach allen Richtungen elastische Kugeln bewegen,die einander stoßen, an die Wände an- und von ihnen ab-prallen und so weiter.

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Ohne solche Annahmen zerfiele dem naiven Realismusdie Welt in ein unzusammenhängendes Aggregat von Wahr-nehmungen ohne gegenseitige Beziehungen, das sich zu kei-ner Einheit zusammenschließt. Es ist aber klar, daß dernaive Realismus nur durch eine Inkonsequenz zu dieserAnnahme kommen kann. Wenn er seinem Grundsatz: nurdas Wahrgenommene ist wirklich, treu bleiben will, danndarf er doch, wo er nichts wahrnimmt, kein Wirkliches an-nehmen. Die unwahrnehmbaren Kräfte, die von den wahr-nehmbaren Dingen aus wirken, sind eigentlich unberechtigteHypothesen vom Standpunkte des naiven Realismus. Undweil er keine anderen Realitäten kennt, so stattet er seinehypothetischen Kräfte mit Wahrnehmungsinhalt aus. Erwendet also eine Seinsform (das Wahrnehmungsdasein) aufein Gebiet an, wo ihm das Mittel fehlt, das allein über dieseSeinsform eine Aussage zu machen hat: das sinnliche Wahr-nehmen.

Diese in sich widerspruchsvolle Weltanschauung führtzum metaphysischen Realismus. Der konstruiert neben derwahrnehmbaren Realität noch eine unwahrnehmbare, dieer der erstem analog denkt. Der metaphysische Realismusist deshalb notwendig Dualismus.

Wo der metaphysische Realismus eine Beziehung zwischenwahrnehmbaren Dingen bemerkt (Annäherung durch Be-wegung, Bewußtwerden eines Objektiven usw.), da setzt ereine Realität hin. Die Beziehung, die er bemerkt, kann erjedoch nur durch das Denken ausdrücken, nicht aber wahr-nehmen. Die ideelle Beziehung wird willkürlich zu einemdem Wahrnehmbaren Ähnlichen gemacht. So ist für dieseDenkrichtung die wirkliche Welt zusammengesetzt aus denWahrnehmungsobjekten, die im ewigen Werden sind, kom-

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men und verschwinden, und aus den unwahrnehmbarenKräften, von denen die Wahrnehmungsobjekte hervorge-bracht werden, und die das Bleibende sind.

Der metaphysische Realismus ist eine widerspruchsvolleMischung des naiven Realismus mit dem Idealismus. Seinehypothetischen Kräfte sind unwahrnehmbare Wesenheitenmit Wahrnehmungsqualitäten. Er hat sich entschlossen, außerdem Weltgebiete, für dessen Daseinsform er in dem Wahr-nehmen ein Erkenntnismittel hat, noch ein Gebiet geltenzu lassen, bei dem dieses Mittel versagt, und das nur durchdas Denken zu ermitteln ist. Er kann sich aber nicht zu glei-cher Zeit auch entschließen, die Form des Seins, die ihm dasDenken vermittelt, den Begriff (die Idee), auch als gleich-berechtigten Faktor neben der Wahrnehmung anzuerken-nen. Will man den Widerspruch der unwahrnehmbarenWahrnehmung vermeiden, so muß man zugestehen, daß esfür die durch das Denken vermittelten Beziehungen zwi-schen den Wahrnehmungen für uns keine andere Existenz-form als die des Begriffes gibt. Als die Summe von Wahr-nehmungen und ihrer begrifflichen (ideellen) Bezüge stelltsich die Welt dar, wenn man aus dem metaphysischen Rea-lismus den unberechtigten Bestandteil hinauswirft. So läuftder metaphysische Realismus in eine Weltanschauung ein,welche für die Wahrnehmung das Prinzip der Wahrnehm-barkeit, für die Beziehungen unter den Wahrnehmungendie Denkbarkeit fordert. Diese Weltanschauung kann keindrittes Weltgebiet neben der Wahrnehmungs- und Begriffs-welt gelten lassen, für das beide Prinzipien, das sogenannteRealprinzip und das Idealprinzip, zugleich Geltung haben.

Wenn der metaphysische Realismus behauptet, daß nebender ideellen Beziehung zwischen dem Wahrnehmungsobjekt

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und seinem Wahrnehmungssubjekt noch eine reale Be-ziehung zwischen dem «Ding an sich» der Wahrnehmungund dem «Ding an sich» des wahrnehmbaren Subjektes (dessogenannten Individualgeistes) bestehen muß, so beruhtdiese Behauptung auf der falschen Annahme eines den Pro-zessen der Sinnenwelt analogen, nicht wahrnehmbarenSeinsprozesses. Wenn ferner der metaphysische Realismussagt: Mit meiner Wahrnehmungswelt komme ich in ein be-wußt-ideelles Verhältnis; mit der wirklichen Welt kann ichaber nur in ein dynamisches (Kräfte-) Verhältnis kommen, -so begeht er nicht weniger den schon gerügten Fehler. Voneinem Kräfteverhältnis kann nur innerhalb der Wahrneh-mungswelt (dem Gebiete des Tastsinnes), nicht aber außer-halb desselben die Rede sein.

Wir wollen die oben charakterisierte Weltanschauung, indie der metaphysische Realismus zuletzt einmündet, wenner seine widerspruchsvollen Elemente abstreift, Monismusnennen, weil sie den einseitigen Realismus mit dem Idealis-mus zu einer höheren Einheit vereinigt.

Für den naiven Realismus ist die wirkliche Welt eineSumme von Wahrnehmungsobjekten; für den metaphysi-schen Realismus kommt außer den Wahrnehmungen auchnoch den unwahrnehmbaren Kräften Realität zu; der Monis-mus setzt an die Stelle von Kräften die ideellen Zusammen-hänge, die er durch sein Denken gewinnt. Solche Zusammen-hänge aber sind die Naturgesetze. Ein Naturgesetz ist janichts anderes als der begriffliche Ausdruck für den Zusam-menhang gewisser Wahrnehmungen.

Der Monismus kommt gar nicht in die Lage, außer Wahr-nehmung und Begriff nach anderen Erklärungsprinzipiender Wirklichkeit zu fragen. Er weiß, daß sich im ganzen Be-

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reiche der Wirklichkeit kein Anlaß dazu findet. Er sieht inder Wahrnehmungswelt, wie sie unmittelbar dem Wahr-nehmen vorliegt, ein halbes Wirkliches; in der Vereinigungderselben mit der Begriffswelt findet er die volle Wirklich-keit. Der metaphysische Realist kann dem Anhänger desMonismus einwenden: Es mag sein, daß für deine Orga-nisation deine Erkenntnis in sich vollkommen ist, daß keinGlied fehlt; du weißt aber nicht, wie sich die Welt in einerIntelligenz abspiegelt, die anders organisiert ist als die dei-nige. Die Antwort des Monismus wird sein: Wenn es andereIntelligenzen gibt als die menschlichen, wenn ihre Wahrneh-mungen eine andere Gestalt haben als die unsrigen, so hatfür mich Bedeutung nur dasjenige, was von ihnen zu mirdurch Wahrnehmen und Begriff gelangt. Ich bin durch meinWahrnehmen, und zwar durch dieses spezifische menschlicheWahrnehmen als Subjekt dem Objekt gegenübergestellt.Der Zusammenhang der Dinge ist damit unterbrochen. DasSubjekt stellt durch das Denken diesen Zusammenhang wie-der her. Damit hat es sich dem Weltganzen wieder eingefügt.Da nur durch unser Subjekt dieses Ganze an der Stelle zwi-schen unserer Wahrnehmung und unserem Begriff zerschnit-ten erscheint, so ist in der Vereinigung dieser beiden aucheine wahre Erkenntnis gegeben. Für Wesen mit einer andernWahrnehmungswelt (zum Beispiel mit der doppelten An-zahl von Sinnesorganen) erschiene der Zusammenhang aneiner andern Stelle unterbrochen, und die Wiederherstellungmüßte demnach auch eine diesen Wesen spezifische Gestalthaben. Nur für den naiven und den metaphysischen Realis-mus, die beide in dem Inhalte der Seele nur eine ideelle Re-präsentation der Welt sehen, besteht die Frage nach derGrenze des Erkennens. Für sie ist nämlich das außerhalb

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des Subjektes Befindliche ein Absolutes, ein in sich Beruhen-des, und der Inhalt des Subjektes ein Bild desselben, dasschlechthin außerhalb dieses Absoluten steht. Die Vollkom-menheit der Erkenntnis beruht auf der größeren oder ge-ringeren Ähnlichkeit des Bildes mit dem absoluten Objekte.Ein Wesen, bei dem die Zahl der Sinne kleiner ist, als beimMenschen, wird weniger, eines, bei dem sie größer ist, mehrvon der Welt wahrnehmen. Das erstere wird demnach eineunvollkommenere Erkenntnis haben als das letztere.

Für den Monismus liegt die Sache anders. Durch dieOrganisation des wahrnehmenden Wesens wird die Gestaltbestimmt, wo der Weltzusammenhang in Subjekt und Ob-jekt auseinandergerissen erscheint. Das Objekt ist kein ab-solutes, sondern nur ein relatives, in bezug auf dieses be-stimmte Subjekt. Die Überbrückung des Gegensatzes kanndemnach auch nur wieder in der ganz spezifischen, geradedem menschlichen Subjekt eigenen Weise geschehen. Sobalddas Ich, das in dem Wahrnehmen von der Welt abgetrenntist, in der denkenden Betrachtung wieder in den Weltzusam-menhang sich einfügt, dann hört alles weitere Fragen, dasnur eine Folge der Trennung war, auf.

Ein anders geartetes Wesen hätte eine anders geartete Er-kenntnis. Die unsrige ist ausreichend, um die durch unsereigenes Wesen aufgestellten Fragen zu beantworten.

Der metaphysische Realismus muß fragen: Wodurch istdas als Wahrnehmung Gegebene gegeben; wodurch wirddas Subjekt affiziert?

Für den Monismus ist die Wahrnehmung durch das Sub-jekt bestimmt. Dieses hat aber in dem Denken zugleich dasMittel, die durch es selbst hervorgerufene Bestimmtheitwieder aufzuheben.

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Der metaphysische Realismus steht vor einer weiterenSchwierigkeit, wenn er die Ähnlichkeit der Weltbilder ver-schiedener menschlicher Individuen erklären will. Er mußsich fragen: Wie kommt es, daß das Weltbild, das ich ausmeiner subjektiv bestimmten Wahrnehmung und meinenBegriffen aufbaue, gleichkommt dem, das ein anderesmenschliches Individuum aus denselben beiden subjektivenFaktoren aufbaut? Wie kann ich überhaupt aus meinemsubjektiven Weltbilde auf das eines andern Menschen schlie-ßen? Daraus, daß die Menschen sich miteinander praktischabfinden, glaubt der metaphysische Realist die Ähnlichkeitihrer subjektiven Weltbilder erschließen zu können. Aus derÄhnlichkeit dieser Weltbilder schließt er dann weiter aufdie Gleichheit der den einzelnen menschlichen Wahrneh-mungssubjekten zugrunde liegenden Individualgeister oderder den Subjekten zugrunde liegenden «Ich an sich».

Dieser Schluß ist also ein solcher aus einer Summe vonWirkungen auf den Charakter der ihnen zugrunde liegen-den Ursachen. Wir glauben aus einer hinreichend großenAnzahl von Fällen den Sachverhalt so zu erkennen, daß wirwissen, wie sich die erschlossenen Ursachen in andern Fällenverhalten werden. Einen solchen Schluß nennen wir einenInduktionsschluß. Wir werden uns genötigt sehen, die Re-sultate desselben zu modifizieren, wenn in einer weiternBeobachtung etwas Unerwartetes sich ergibt, weil der Cha-rakter des Resultates doch nur durch die individuelle Gestaltder geschehenen Beobachtungen bestimmt ist. Diese bedingteErkenntnis der Ursachen reiche aber für das praktischeLeben vollständig aus, behauptet der metaphysische Realist.

Der Induktionsschluß ist die methodische Grundlage desmodernen metaphysischen Realismus. Es gab eine Zeit, in

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der man aus Begriffen glaubte etwas herauswickeln zu kön-nen, was nicht mehr Begriff ist. Man glaubte aus den Be-griffen die metaphysischen Realwesen, deren der metaphy-sische Realismus einmal bedarf, erkennen zu können. DieseArt des Philosophierens gehört heute zu den überwundenenDingen. Dafür aber glaubt man, aus einer genügend großenAnzahl von Wahrnehmungstatsachen auf den Charakterdes Dinges an sich schließen zu können, das diesen Tatsachenzugrunde liegt. Wie früher aus dem Begriffe, so meint manheute das Metaphysische aus den Wahrnehmungen heraus-wickeln zu können. Da man die Begriffe in durchsichtigerKlarheit vor sich hat, so glaubte man aus ihnen auch dasMetaphysische mit absoluter Sicherheit ableiten zu können.Die Wahrnehmungen liegen nicht mit gleich durchsichtigerKlarheit vor. Jede folgende stellt sich wieder etwas andersdar, als die gleichartigen vorhergehenden. Im Grunde wirddaher das aus den vorhergehenden Erschlossene durch jedefolgende etwas modifiziert. Die Gestalt, die man auf dieseWeise für das Metaphysische gewinnt, ist also nur eine rela-tiv richtige zu nennen; sie unterliegt der Korrektur durchkünftige Fälle. Einen durch diesen methodischen Grundsatzbestimmten Charakter tragt die Metaphysik Eduard vonHartmanns, der als Motto auf das Titelblatt seines erstenHauptwerkes gesetzt hat: «Spekulative Resultate nach in-duktiv naturwissenschaftlicher Methode.»

Die Gestalt, die der metaphysische Realist gegenwärtigseinen Dingen an sich gibt, ist eine durch Induktionsschlüssegewonnene. Von dem Vorhandensein eines objektiv-realenZusammenhanges der Welt neben dem «subjektiven» durchWahrnehmung und Begriff erkennbaren, ist er durch Er-wägungen über den Erkenntnisprozeß überzeugt. Wie diese

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objektive Realität beschaffen ist, das glaubt er durch Induk-tionsschlüsse aus seinen Wahrnehmungen heraus bestimmenzu können.

Zusatz zur Neuauflage (1918). Für die unbefangene Be-obachtung des Erlebens in Wahrnehmung und Begriff, wiesie in den vorangehenden Ausführungen zu schildern ver-sucht worden ist, werden gewisse Vorstellungen immer wie-der störend sein, die auf dem Boden der Naturbetrachtungentstehen. Man sagt sich, auf diesem Boden stehend, durchdas Auge werden im Lichtspektrum Farben wahrgenommenvom Rot bis zum Violett. Aber über das Violett hinausliegen im Strahlungsraum des Spektrums Kräfte, welchenkeine Farbwahrnehmung des Auges, wohl aber eine chemi-sche Wirkung entspricht; ebenso liegen über die Grenze derRotwirksamkeit hinaus Strahlungen, die nur Wärmewir-kungen haben. Man kommt durch Überlegungen, die aufsolche und ähnliche Erscheinungen gerichtet sind, zu der An-sicht: der Umfang der menschlichen Wahrnehmungswelt istdurch den Umfang der Sinne des Menschen bestimmt, unddieser würde eine ganz andere Welt vor sich haben, wenn erzu den seinigen noch andere, oder wenn er überhaupt andereSinne hätte. Wer sich ergehen mag in den ausschweifendenPhantasien, zu denen, nach dieser Richtung hin, namentlichdie glänzenden Entdeckungen der neueren Naturforschungeine recht verführerische Veranlassung bieten, der kannwohl zu dem Bekenntnisse kommen: In des Menschen Beob-achtungsfeld fällt doch nur dasjenige herein, was auf die ausseiner Organisation heraus gestalteten Sinne zu wirken ver-mag. Er hat kein Recht, dieses von ihm durch seine Orga-nisation begrenzte Wahrgenommene als irgendwie maßgeb-lich für die Wirklichkeit anzusehen. Jeder neue Sinn müßte

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ihn vor ein anderes Bild der Wirklichkeit stellen. - Diesalles ist, in den entsprechenden Grenzen gedacht, eine durch-aus berechtigte Meinung. Wenn aber jemand sich durch dieseMeinung in der unbefangenen Beobachtung des in diesenAusführungen geltend gemachten Verhältnisses von Wahr-nehmung und Begriff beirren läßt, so verbaut er sich denWeg zu einer in der Wirklichkeit wurzelnden Welt- undMenschenerkenntnis. Das Erleben der Wesenheit des Den-kens, also die tätige Erarbeitung der Begriffswelt ist etwasdurchaus anderes als das Erleben eines Wahrnehmbarendurch die Sinne. Welche Sinne immer der Mensch noch habenkönnte: keiner gäbe ihm eine Wirklichkeit, wenn er nichtdas durch ihn vermittelte Wahrgenommene denkend mitBegriffen durchsetzte; und jeder wie immer geartete Sinngibt, so durchsetzt, dem Menschen die Möglichkeit, in derWirklichkeit drinnen zu leben. Mit der Frage: wie derMensch in der wirklichen Welt steht, hat die Phantasie vondem möglichen ganz anderen Wahrnehmungsbild bei ande-ren Sinnen nichts zu tun. Man muß eben einsehen, daß jedesWahrnehmungsbild seine Gestalt erhält von der Organisa-tion des wahrnehmenden Wesens, daß aber das von der er-lebten denkenden Betrachtung durchsetzte Wahrnehmungs-bild den Menschen in die Wirklichkeit führt. Nicht die phan-tastische Ausmalung, wie anders eine Welt für andere alsdie menschlichen Sinne aussehen müßte, kann den Menschenveranlassen, Erkenntnis zu suchen über sein Verhältnis zurWelt, sondern die Einsicht, daß jede Wahrnehmung nureinen Teil der in ihr steckenden Wirklichkeit gibt, daß siealso von ihrer eigenen Wirklichkeit hinwegführt. DieserEinsicht tritt dann die andere zur Seite, daß das Denken inden durch die Wahrnehmung an ihr selbst verborgenen Teil

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der Wirklichkeit hineinführt. Störend für die unbefangeneBeobachtung des hier dargestellten Verhältnisses zwischenWahrnehmung und denkend erarbeitetem Begriff kann auchwerden, wenn im Gebiete der physikalischen Erfahrung sichdie Nötigung ergibt, gar nicht von unmittelbar anschaulich-wahrnehmbaren Elementen, sondern von unanschaulichenGrößen wie elektrischen oder magnetischen Kraftlinien undso weiter zu sprechen. Es kann scheinen, als ob die Wirk-lichkeitselemente, von denen die Physik spricht, weder mitdem Wahrnehmbaren, noch mit dem im tätigen Denkenerarbeiteten Begriff etwas zu tun hätten. Doch beruhte einesolche Meinung auf einer Selbsttäuschung. Zunächst kommtes darauf an, daß alles in der Physik Erarbeitete, insofernes nicht unberechtigte Hypothesen darstellt, die ausgeschlos-sen bleiben sollten, durch Wahrnehmung und Begriff ge-wonnen ist. Was scheinbar unanschaulicher Inhalt ist, daswird aus einem richtigen Erkenntnisinstinkt des Physikersheraus durchaus in das Feld versetzt, auf dem die Wahrneh-mungen liegen, und es wird in Begriffen gedacht, mit denenman sich auf diesem Felde betätigt. Die Kraftstärken imelektrischen und magnetischen Felde und so weiter werden,dem Wesen nach, nicht durch einen andern Erkenntnisvor-gang gewonnen als durch denjenigen, der sich zwischenWahrnehmung und Begriff abspielt. - Eine Vermehrungoder Andersgestaltung der menschlichen Sinne würde einanderes Wahrnehmungsbild ergeben, eine Bereicherung oderAndersgestaltung der menschlichen Erfahrung; aber einewirkliche Erkenntnis müßte auch dieser Erfahrung gegen-über durch die Wechselwirkung von Begriff und Wahr-nehmung gewonnen werden. Die Vertiefung der Erkenntnishängt von den im Denken sich auslebenden Kräften der In-

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tuition (vergleiche Seite 95) ab. Diese Intuition kann indemjenigen Erleben, das im Denken sich ausgestaltet, intiefere oder weniger tiefe Untergründe der Wirklichkeittauchen. Durch die Erweiterung des Wahrnehmungsbildeskann dieses Untertauchen Anregungen empfangen und aufdiese Art mittelbar gefördert werden. Allein niemals solltedas Tauchen in die Tiefe, als das Erreichen der Wirklichkeit,verwechselt werden mit dem Gegenüberstehen von weite-rem oder engerem Wahrnehmungsbild, in dem stets nur einehalbe Wirklichkeit, wie sie von der erkennenden Organisa-tion bedingt wird, vorliegt. Wer nicht in Abstraktionen sichverliert, der wird einsehen, wie auch die Tatsache für dieErkenntnis des Menschenwesens in Betracht kommt, daßfür die Physik im Wahrnehmungsfelde Elemente erschlossenwerden müssen, für welche nicht ein Sinn wie für Farbeoder Ton unmittelbar abgestimmt ist. Das konkrete Wesendes Menschen ist nicht nur durch dasjenige bestimmt, was erdurch seine Organisation sich als unmittelbare Wahrneh-mung gegenüberstellt, sondern auch dadurch, daß er anderesvon dieser unmittelbaren Wahrnehmung ausschließt. Wiedem Leben neben dem bewußten Wachzustande der unbe-wußte Schlafzustand notwendig ist, so ist dem Sich-Erlebendes Menschen neben dem Umkreis seiner Sinneswahrneh-mung notwendig ein - viel größerer sogar - Umkreis vonnicht sinnlich wahrnehmbaren Elementen in dem Felde, ausdem die Sinneswahrnehmungen stammen. Dies alles istmittelbar schon ausgesprochen in der ursprünglichen Dar-stellung dieser Schrift. Deren Verfasser fügt hier diese Er-weiterung des Inhaltes an, weil er die Erfahrung gemachthat, daß mancher Leser nicht genau genug gelesen hat. -Bedacht sollte auch werden, daß die Idee von der Wahr-

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nehmungy wie sie in dieser Schrift entwickelt wird, nichtverwechselt werden darf mit derjenigen von äußerer Sinnes-wahrnehmung, die nur ein Spezialfall von ihr ist. Man wirdaus dem schon Vorangehenden, aber noch mehr aus demspäter Ausgeführten ersehen, daß hier alles sinnlich undgeistig an den Menschen Herantretende als Wahrnehmungaufgefaßt wird, bevor es von dem tätig erarbeiteten Begrifferfaßt ist. Um Wahrnehmungen seelischer oder geistiger Artzu haben, sind nicht Sinne von gewöhnlich gemeinter Artnötig. Man konnte sagen, solche Erweiterung des üblichenSprachgebrauches sei unstatthaft. Allein sie ist unbedingtnotwendig, wenn man sich nicht auf gewissen Gebieten ebendurch den Sprachgebrauch in der Erkenntniserweiterungfesseln lassen will. Wer von Wahrnehmung nur im Sinnevon sinnlicher Wahrnehmung spricht, der kommt auch überdiese sinnliche Wahrnehmung nicht zu einem für die Er-kenntnis brauchbaren Begriff. Man muß manchmal einenBegriff erweitern, damit er auf einem engeren Gebiete sei-nen ihm angemessenen Sinn erhält. Man muß auch zuweilenzu dem, was in einem Begriffe zunächst gedacht wird, ande-res hinzufügen, damit das so Gedachte seine Rechtfertigungoder auch Zurechtrückung findet. So findet man auf Seite 107dieses Buches gesagt: «Die Vorstellung ist also ein indivi-dualisierter Begriff.» Demgegenüber wurde mir eingewen-det, das sei ein ungewöhnlicher Wortgebrauch. Aber dieserWortgebrauch ist notwendig, wenn man dahinterkommenwill, was Vorstellung eigentlich ist. Was sollte aus demFortgang der Erkenntnis werden, wenn man jedem, der indie Notwendigkeit versetzt ist, Begriffe zurechtzurücken,den Einwand machte: «Das ist ein ungewöhnlicher Wort-gebrauch.»

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DIE WIRKLICHKEIT DER FREIHEIT

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VIII

DIE FAKTOREN DES LEBENS

Rekapitulieren wir das in den vorangehenden Kapiteln Ge-wonnene. Die Welt tritt dem Menschen als eine Vielheitgegenüber, als eine Summe von Einzelheiten. Eine von die-sen Einzelheiten, ein Wesen unter Wesen, ist er selbst. DieseGestalt der Welt bezeichnen wir schlechthin als gegeben,und insofern wir sie nicht durch bewußte Tätigkeit ent-wickeln, sondern vorfinden, als Wahrnehmung. Innerhalbder Welt der Wahrnehmungen nehmen wir uns selbst wahr.Diese Selbstwahrnehmung bliebe einfach als eine unter denvielen anderen Wahrnehmungen stehen, wenn nicht aus derMitte dieser Selbstwahrnehmung etwas auftauchte, das sichgeeignet erweist, die Wahrnehmungen überhaupt, also auchdie Summe aller anderen Wahrnehmungen mit der unseresSelbst zu verbinden. Dieses auftauchende Etwas ist nichtmehr bloße Wahrnehmung; es wird auch nicht gleich denWahrnehmungen einfach vorgefunden. Es wird durch Tätig-keit hervorgebracht. Es erscheint zunächst an das gebunden,was wir als unser Selbst wahrnehmen. Seiner inneren Be-deutung nach greift es aber über das Selbst hinaus. Es fügtden einzelnen Wahrnehmungen ideelle Bestimmtheiten bei,die sich aber aufeinander beziehen, die in einem Ganzengegründet sind. Das durch Selbstwahrnehmung Gewonnenebestimmt es auf gleiche Weise ideell wie alle andern Wahr-nehmungen und stellt es als Subjekt oder «Ich» den Objek-ten gegenüber. Dieses Etwas ist das Denken, und die ideellenBestimmtheiten sind die Begriffe und Ideen. Das Denkenäußert sich daher zunächst an der Wahrnehmung des Selbst;ist aber nicht bloß subjektiv; denn das Selbst bezeichnet sich

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erst mit Hilfe des Denkens als Subjekt. Diese gedanklicheBeziehung auf sich selbst ist eine Lebensbestimmung unsererPersönlichkeit. Durch sie führen wir ein rein ideelles Dasein.Wir fühlen uns durch sie als denkende Wesen. Diese Lebens-bestimmung bliebe eine rein begriffliche (logische), wennkeine anderen Bestimmungen unseres Selbst hinzuträten.Wir wären dann Wesen, deren Leben sich in der Herstellungrein ideeller Beziehungen zwischen den Wahrnehmungenuntereinander und den letztern und uns selbst erschöpfte.Nennt man die Herstellung eines solchen gedanklichen Ver-hältnisses ein Erkennen, und den durch dieselbe gewonnenenZustand unseres Selbst Wissen, so müßten wir uns beim Ein-treffen der obigen Voraussetzung als bloß erkennende oderwissende Wesen ansehen.

Die Voraussetzung trifft aber nicht zu. Wir beziehen dieWahrnehmungen nicht bloß ideell auf uns, durch den Be-griff, sondern auch noch durch das Gefühl, wie wir gesehenhaben. Wir sind also nicht Wesen mit bloß begrifflichemLebensinhalt. Der naive Realist sieht sogar in dem Gefühls-leben ein wirklicheres Leben der Persönlichkeit als in demrein ideellen Element des Wissens. Und er hat von seinemStandpunkte aus ganz recht, wenn er in dieser Weise sichdie Sache zurechtlegt. Das Gefühl ist auf subjektiver Seitezunächst genau dasselbe, was die Wahrnehmung auf objek-tiver Seite ist. Nach dem Grundsatz des naiven Realismus:Alles ist wirklich, was wahrgenommen werden kann, istdaher das Gefühl die Bürgschaft der Realität der eigenenPersönlichkeit. Der hier gemeinte Monismus muß aber demGefühle die gleiche Ergänzung angedeihen lassen, die er fürdie Wahrnehmung notwendig erachtet, wenn sie als voll-kommene Wirklichkeit sich darstellen soll. Für diesen Monis-

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mus ist das Gefühl ein unvollständiges Wirkliches, das inder ersten Form, in der es uns gegeben ist, seinen zweitenFaktor, den Begriff oder die Idee, noch nicht mitenthält.Deshalb tritt im Leben auch überall das Fühlen gleichwiedas Wahrnehmen vor dem Erkennen auf. Wir fühlen unszuerst als Daseiende; und im Laufe der allmählichen Ent-wicklung ringen wir uns erst zu dem Punkte durch, wo unsin dem dumpf gefühlten eigenen Dasein der Begriff unseresSelbst aufgeht. Was für uns erst später hervortritt, ist aberursprünglich mit dem Gefühle unzertrennlich verbunden.Der naive Mensch gerät durch diesen Umstand auf denGlauben: in dem Fühlen stelle sich ihm das Dasein unmittel-bar, in dem Wissen nur mittelbar dar. Die Ausbildung desGefühlslebens wird ihm daher vor allen andern Dingenwichtig erscheinen. Er wird den Zusammenhang der Welterst erfaßt zu haben glauben, wenn er ihn in sein Fühlen auf-genommen hat. Er sucht nicht das Wissen, sondern das Füh-len zum Mittel der Erkenntnis zu machen. Da das Gefühl et-was ganz Individuelles ist, etwas der Wahrnehmung Gleich-kommendes, so macht der Gefühlsphilosoph ein Prinzip, dasnur innerhalb seiner Persönlichkeit eine Bedeutung hat,zum Weltprinzipe. Er sucht die ganze Welt mit seinemeigenen Selbst zu durchdringen. Was der hier gemeinteMonismus im Begriffe zu erfassen strebt, das sucht der Ge-fühlsphilosoph mit dem Gefühle zu erreichen, und siehtdieses sein Zusammensein mit den Objekten als das un-mittelbarere an.

Die hiermit gekennzeichnete Richtung, die Philosophiedes Gefühls, wird oft als Mystik bezeichnet. Der Irrtumeiner bloß auf das Gefühl gebauten mystischen Anschau-ungsweise besteht darinnen, daß sie erleben will, was sie

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wissen soll, daß sie ein Individuelles, das Gefühl, zu einemUniversellen erziehen will.

Das Fühlen ist ein rein individueller Akt, die Beziehungder Außenwelt auf unser Subjekt, insofern diese Beziehungihren Ausdruck findet in einem bloß subjektiven Erleben.

Es gibt noch eine andere Äußerung der menschlichen Per-sönlichkeit. Das Ich lebt durch sein Denken das allgemeineWeltleben mit; es bezieht durch dasselbe rein ideell (begriff-lich) die Wahrnehmungen auf sich, sich auf die Wahrneh-mungen. Im Gefühl erlebt es einen Bezug der Objekte aufsein Subjekt; im Willen ist das Umgekehrte der Fall. ImWollen haben wir ebenfalls eine Wahrnehmung vor uns,nämlich die des individuellen Bezugs unseres Selbstes aufdas Objektive. Was am Wollen nicht rein ideeller Faktor ist,das ist ebenso bloß Gegenstand des Wahrnehmens wie dasbei irgendeinem Dinge der Außenwelt der Fall ist.

Dennoch wird der naive Realismus auch hier wieder einweit wirklicheres Sein vor sich zu haben glauben, als durchdas Denken erlangt werden kann. Er wird in dem Willenein Element erblicken, in dem er ein Geschehen, ein Ver-ursachen unmittelbar gewahr wird, im Gegensatz zum Den-ken, das das Geschehen erst in Begriffe faßt. Was das Ichdurch seinen Willen vollbringt, stellt für eine solche An-schauungsweise einen Prozeß dar, der unmittelbar erlebtwird. In dem Wollen glaubt der Bekenner dieser Philo-sophie das Weltgeschehen wirklich an einem Zipfel erfaßtzu haben. Während er die anderen Geschehnisse nur durchWahrnehmen von außen verfolgen kann, glaubt er in sei-nem Wollen ein reales Geschehen ganz unmittelbar zu er-leben. Die Seinsform, in der ihm der Wille innerhalb desSelbst erscheint, wird für ihn zu einem Realprinzip der

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Wirklichkeit. Sein eigenes Wollen erscheint ihm als Spezial-fall des allgemeinen Weltgeschehens; dieses letztere somitals allgemeines Wollen. Der Wille wird zum Weltprinzipwie in der Gefühlsmystik das Gefühl zum Erkenntnisprin-zip. Diese Anschauungsweise ist Willensphilosophie (Theüs-mus). Was sich nur individuell erleben läßt, das wird durchsie zum konstituierenden Faktor der Welt gemacht.

So wenig die Gefühlsmystik Wissenschaft genannt wer-den kann, so wenig kann es die Willensphilosophie. Dennbeide behaupten mit dem begrifflichen Durchdringen derWelt nicht auskommen zu können. Beide fordern neben demIdealprinzip des Seins noch ein Realprinzip. Das mit einemgewissen Recht. Da wir aber für diese sogenannten Real-prinzipien nur das Wahrnehmen als Auffassungsmittelhaben, so ist die Behauptung der Gefühlsmystik und derWillensphilosophie identisch mit der Ansicht: Wir habenzwei Quellen der Erkenntnis: die des Denkens und die desWahrnehmens, welches letztere sich im Gefühl und Willenals individuelles Erleben darstellt. Da die Ausflüsse dereinen Quelle, die Erlebnisse, von diesen Weltanschauungennicht direkt in die der andern, des Denkens, aufgenommenwerden können, so bleiben die beiden Erkenntnisweisen,Wahrnehmen und Denken ohne höhere Vermittlung neben-einander bestehen. Neben dem durch das Wissen erreich-baren Idealprinzip soll es noch ein zu erlebendes nicht imDenken erfaßbares Realprinzip der Welt geben. Mit andernWorten: die Gefühlsmystik und Willensphilosophie sindnaiver Realismus, weil sie dem Satz huldigen: Das unmittel-bar Wahrgenommene ist wirklich. Sie begehen dem ur-sprünglichen naiven Realismus gegenüber nur noch die In-konsequenz, daß sie eine bestimmte Form des Wahrnehmens

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(das Fühlen, beziehungsweise Wollen) zum alleinigen Er-kenntnismittel des Seins machen, während sie das doch nurkönnen, wenn sie im allgemeinen dem Grundsatz huldigen:Das Wahrgenommene ist wirklich. Sie müßten somit auchdem äußeren Wahrnehmen einen gleichen Erkenntniswertzuschreiben.

Die Willensphilosophie wird zum metaphysischen Realis-mus, wenn sie den Willen auch in die Daseinssphären ver-legt, in denen ein unmittelbares Erleben desselben nicht wiein dem eigenen Subjekt möglich ist. Sie nimmt ein Prinzipaußer dem Subjekt hypothetisch an, für das das subjektiveErleben das einzige WirkÜchkeitskriterium ist. Als meta-physischer Realismus verfällt die Willensphilosophie der imvorhergehenden Kapitel angegebenen Kritik, welche daswiderspruchsvolle Moment jedes metaphysischen Realismusüberwinden und anerkennen muß, daß der Wille nur in-sofern ein allgemeines Weltgeschehen ist, als er sich ideellauf die übrige Welt bezieht.

Zusatz zur Neuauflage (1918). Die Schwierigkeit, dasDenken in seinem Wesen beobachtend zu erfassen, liegtdarin, daß dieses Wesen der betrachtenden Seele nur allzuleicht schon entschlüpft ist, wenn diese es in die Richtungihrer Aufmerksamkeit bringen will. Dann bleibt ihr nurdas tote Abstrakte, die Leichname des lebendigen Denkens.Sieht man nur auf dieses Abstrakte, so wird man leicht ihmgegenüber sich gedrängt finden, in das «lebensvolle» Ele-ment der Gefühlsmystik, oder auch der Willensmetaphysikeinzutreten. Man wird es absonderlich finden, wenn jemandin «bloßen Gedanken» das Wesen der Wirklichkeit ergrei-fen will. Aber wer sich dazu bringt, das Leben im Denkenwahrhaft zu haben, der gelangt zur Einsicht, daß dem inne-

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ren Reichtum und der in sich ruhenden, aber zugleich in sichbewegten Erfahrung innerhalb dieses Lebens das Weben inbloßen Gefühlen oder das Anschauen des Willenselementesnicht einmal verglichen werden kann, geschweige denn, daßdiese über jenes gesetzt werden dürften. Gerade von diesemReichtum, von dieser inneren Fülle des Erlebens rührt esher, daß sein Gegenbild in der gewöhnlichen Seeleneinstel-lung tot, abstrakt aussieht. Keine andere menschliche Seelen-betätigung wird so leicht zu verkennen sein wie das Denken.Das Wollen, das Fühlen, sie erwarmen die Menschenseeleauch noch im Nacherleben ihres Ursprungszustandes. DasDenken läßt nur allzuleicht in diesem Nacherleben kalt; esscheint das Seelenleben auszutrocknen. Doch dies ist ebennur der stark sich geltend machende Schatten seiner licht-durchwobenen, warm in die Welterscheinungen untertau-chenden Wirklichkeit. Dieses Untertauchen geschieht miteiner in der Denkbetätigung selbst dahinfließenden Kraft,welche Kraft der Liebe in geistiger Art ist. Man darf nichteinwendend sagen, wer so Liebe im tätigen Denken sieht,der verlegt ein Gefühl, die Liebe, in dasselbe. Denn dieserEinwand ist in Wahrheit eine Bestätigung des hier geltendGemachten. Wer nämlich zum wesenhaften Denken s\ch.hin-wendet, der findet in demselben sowohl Gefühl wie Willen,die letztern auch in den Tiefen ihrer Wirklichkeit; wer vondem Denken sich ab- und nur dem «bloßen» Fühlen undWollen zuwendet, der verliert aus diesen die wahre Wirk-lichkeit. Wer im Denken Intuitiv erleben will, der wird auchdem gefühlsmäßigen und willensartigen Erleben gerecht;nicht aber kann gerecht sein gegen die intuitiv-denkerischeDurchdringung des Daseins die Gefühlsmystik und die Wil-lensmetaphysik. Die letztern werden nur allzuleicht zu dem

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Urteil kommen, daß sie im Wirklichen stehen; der intuitivDenkende aber gefühllos und wirklichkeitsfremd in «ab-strakten Gedanken» ein schattenhaftes, kaltes Weltbildformt.

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IXDIE IDEE DER FREIHEIT

Der Begriff des Baumes ist für das Erkennen durch dieWahrnehmung des Baumes bedingt. Ich kann der bestimmtenWahrnehmung gegenüber nur einen ganz bestimmten Begriffaus dem allgemeinen Begriffssystem herausheben. Der Zu-sammenhang von Begriff und Wahrnehmung wird durch dasDenken an der Wahrnehmung mittelbar und objektiv be-stimmt. Die Verbindung der Wahrnehmung mit ihrem Be-griffe wird nach dem Wahrnehmungsakte erkannt; die Zu-sammengehörigkeit ist aber in der Sache selbst bestimmt.

Anders stellt sich der Vorgang dar, wenn die Erkenntnis,wenn das in ihr auftretende Verhältnis des Menschen zurWelt betrachtet wird. In den vorangehenden Ausführungenist der Versuch gemacht worden, zu zeigen, daß die Auf-hellung dieses Verhältnisses durch eine auf dasselbe gehendeunbefangene Beobachtung möglich ist. Ein richtiges Ver-ständnis dieser Beobachtung kommt zu der Einsicht, daß dasDenken als eine in sich beschlossene Wesenheit unmittelbarangeschaut werden kann. Wer nötig findet, zur Erklärungdes Denkens als solchem etwas anderes herbeizuziehen, wieetwa physische Gehirnvorgänge, oder hinter dem beobach-teten bewußten Denken liegende unbewußte geistige Vor-gänge, der verkennt, was ihm die unbefangene Beobachtungdes Denkens gibt. Wer das Denken beobachtet, lebt wäh-rend der Beobachtung unmittelbar in einem geistigen, sichselbst tragenden Wesensweben darinnen. Ja, man kannsagen, wer die Wesenheit des Geistigen in der Gestalt, inder sie sich dem Menschen zunächst darbietet, erfassen will,kann dies in dem auf sich selbst beruhenden Denken.

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Im Betrachten des Denkens selbst fallen in eines zusam-men, was sonst immer getrennt auftreten muß: Begriff undWahrnehmung. Wer dies nicht durchschaut, der wird in anWahrnehmungen erarbeiteten Begriffen, nur schattenhafteNachbildungen dieser Wahrnehmungen sehen können, unddie Wahrnehmungen werden ihm die wahre Wirklichkeitvergegenwärtigen. Er wird auch eine metaphysische Weltnach dem Muster der wahrgenommenen Welt sich aufer-bauen; er wird diese Welt Atomenwelt, Willenswelt, un-bewußte Geistwelt und so weiter nennen, je nach seinerVorstellungsart. Und es wird ihm entgehen, daß er sich mitalledem nur eine metaphysische Welt hypothetisch nach demMuster seiner Wahrnehmungswelt auf erbaut hat. Wer aberdurchschaut, was bezüglich des Denkens vorliegt, der wirderkennen, daß in der Wahrnehmung nur ein Teil der Wirk-lichkeit vorliegt und daß der andere zu ihr gehörige Teil,der sie erst als volle Wirklichkeit erscheinen läßt, in der den-kenden Durchsetzung der Wahrnehmung erlebt wird. Erwird in demjenigen, das als Denken im Bewußtsein auftritt,nicht ein schattenhaftes Nachbild einer Wirklichkeit sehen,sondern eine auf sich ruhende geistige Wesenhaftigkek. Undvon dieser kann er sagen, daß sie ihm durch Intuition im Be-wußtsein gegenwärtig wird. Intuition ist das im rein Geisti-gen verlaufende bewußte Erleben eines rein geistigen In-haltes. Nur durch eine Intuition kann die Wesenheit desDenkens erfaßt werden.

Nur wenn man sich zu der in der unbefangenen Beobach-tung gewonnenen Anerkennung dieser Wahrheit über dieintuitive Wesenheit des Denkens hindurchgerungen hat, ge-lingt es, den Weg frei zu bekommen für eine Anschauungder menschlichen leiblich seelischen Organisation. Man er-

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kennt, daß diese Organisation an dem Wesen des Denkensnichts bewirken kann. Dem scheint zunächst der ganz offen-bare Tatbestand zu widersprechen. Das menschliche Denkentritt für die gewöhnliche Erfahrung nur an und durch dieseOrganisation auf. Dieses Auftreten macht sich so starkgeltend, daß es in seiner wahren Bedeutung nur von dem-jenigen durchschaut werden kann, der erkannt hat, wie imWesenhaften des Denkens nichts von dieser Organisationmitspielt. Einem solchen wird es dann aber auch nicht mehrentgehen können, wie eigentümlich geartet das Verhältnisder menschlichen Organisation zum Denken ist. Diese be-wirkt nämlich nichts an dem Wesenhaften des Denkens, son-dern sie weicht, wenn die Tätigkeit des Denkens auftritt,zurück; sie hebt ihre eigene Tätigkeit auf, sie macht einenPlatz frei; und an dem freigewordenen Platz tritt das Den-ken auf. Dem Wesenhaften, das im Denken wirkt, obliegtein Doppeltes: Erstens drängt es die menschliche Organisa-tion in deren eigener Tätigkeit zurück, und zweitens setztes sich selbst an deren Stelle. Denn auch das erste, die Zu-rückdrängung der Leibesorganisation, ist Folge der Denk-tätigkeit. Und zwar desjenigen Teiles derselben, der dasErscheinen des Denkens vorbereitet. Man ersieht aus diesem,in welchem Sinne das Denken in der Leibesorganisation seinGegenbild findet. Und wenn man dieses ersieht, wird mannicht mehr die Bedeutung dieses Gegenbildes für das Den-ken selbst verkennen können. Wer über einen erweichtenBoden geht, dessen Fußspuren graben sich in dem Boden ein.Man wird nicht versucht sein, zu sagen, die Fußspurenfor-men seien von Kräften des Bodens, von unten herauf, ge-trieben worden. Man wird diesen Kräften keinen Anteilan dem Zustandekommen der Spurenformen zuschreiben.

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Ebensowenig wird, wer die Wesenheit des Denkens unbe-fangen beobachtet, den Spuren im Leibesorganismus an die-ser Wesenheit einen Anteil zuschreiben, die dadurch ent-stehen, daß das Denken sein Erscheinen durch den Leibvorbereitet"*.

Aber eine bedeutungsvolle Frage taucht hier auf. Wennan dem Wesen des Denkens der menschlichen Organisationkein Anteil zukommt, welche Bedeutung hat diese Organi-sation innerhalb der Gesamtwesenheit des Menschen? Nun,was in dieser Organisation durch das Denken geschieht, hatwohl mit der Wesenheit des Denkens nichts zu tun, wohlaber mit der Entstehung des Ich-Bewußtseins aus diesemDenken heraus. Innerhalb des Eigenwesens des Denkensliegt wohl das wirkliche «Ich», nicht aber das Ich-Bewußt-sein. Dies durchschaut derjenige, der eben unbefangen dasDenken beobachtet. Das «Ich» ist innerhalb des Denkenszu finden; das «Ich-Bewußtsein» tritt dadurch auf, daß imallgemeinen Bewußtsein sich die Spuren der Denktätigkeitin dem oben gekennzeichneten Sinne eingraben. (Durch dieLeibesorganisation entsteht also das Ich-Bewußtsein. Manverwechsele das aber nicht etwa mit der Behauptung, daßdas einmal entstandene Ich-Bewußtsein von der Leibes-organisation abhängig bleibe. Einmal entstanden, wird es indas Denken aufgenommen und teilt fortan dessen geistigeWesenheit.)

Das «Ich-Bewußtsein» ist auf die menschliche Organisa-

* Wie innerhalb der Psychologie, der Physiologie usw. sich die obigeAnschauung geltend macht, hat der Verfasser in Schriften, die aufdieses Buch gefolgt sind, nach verschiedenen Richtungen dargestellt.Hier sollte nur das gekennzeichnet werden, was die unbefangene Be-obachtung des Denkens selbst ergibt.

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tion gebaut. Aus dieser erfließen die Willenshandlungen. Inder Richtung der vorangegangenen Darlegungen wird einEinblick in den Zusammenhang zwischen Denken, bewuß-tem Ich und Willenshandlung nur zu gewinnen sein, wennerst beobachtet wird, wie die Willenshandlung aus dermenschlichen Organisation hervorgeht*.

Für den einzelnen Willensakt kommt in Betracht: dasMotiv und die Triebfeder. Das Motiv ist ein begrifflicheroder vorstellungsgemäßer Faktor; die Triebfeder ist der inder menschlichen Organisation unmittelbar bedingte Faktordes Wollens. Der begriffliche Faktor oder das Motiv ist deraugenblickliche Bestimmungsgrund des Wollens; die Trieb-feder der bleibende Bestimmungsgrund des Individuums.Motiv des Wollens kann ein reiner Begriff oder ein Begriffmit einem bestimmten Bezug auf das Wahrnehmen sein, dasist eine Vorstellung. Allgemeine und individuelle Begriffe(Vorstellungen) werden dadurch zu Motiven des Wollens,daß sie auf das menschliche Individuum wirken und das-selbe in einer gewissen Richtung zum Handeln bestimmen.Ein und derselbe Begriff, beziehungsweise eine und dieselbeVorstellung wirkt aber auf verschiedene Individuen ver-schieden. Sie veranlassen verschiedene Menschen zu verschie-denen Handlungen. Das Wollen ist also nicht bloß ein Er-gebnis des Begriffes oder der Vorstellung, sondern auch derindividuellen Beschaffenheit des Menschen. Diese indivi-duelle Beschaffenheit wollen wir - man kann in bezug dar-auf Eduard von Hartmann folgen - die charakterologischeAnlage nennen. Die Art, wie Begriff und Vorstellung auf

* S. 145 bis zur obigen Stelle ist Zusatz, beziehungsweise Umarbei-tung für diese Neuausgabe (1918).

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die charakterologische Anlage des Menschen wirken, gibtseinem Leben ein bestimmtes moralisches oder ethisches Ge-präge.

Die charakterologische Anlage wird gebildet durch denmehr oder weniger bleibenden Lebensgehalt unseres Sub-jektes, das ist durch unseren Vorstellungs- und Gefühls-inhalt. Ob mich eine in mir gegenwärtig auftretende Vor-stellung zu einem Wollen anregt, das hängt davon ab, wiesie sich zu meinem übrigen Vorstellungsinhalte und auch zumeinen Gefühlseigentümlichkeiten verhält. Mein Vorstel-lungsinhalt ist aber wieder bedingt durch die Summe der-jenigen Begriffe, die im Verlaufe meines individuellen Le-bens mit Wahrnehmungen in Berührung gekommen, dasheißt zu Vorstellungen geworden sind. Diese hängt wiederab von meiner größeren oder geringeren Fähigkeit der In-tuition und von dem Umkreis meiner Beobachtungen, dasist von dem subjektiven und dem objektiven Faktor der Er-fahrungen, von der inneren Bestimmtheit und dem Lebens-schauplatz. Ganz besonders ist meine charakterologischeAnlage durch mein Gefühlsleben bestimmt. Ob ich an einerbestimmten Vorstellung oder einem Begriff Freude oderSchmerz empfinde, davon wird es abhängen, ob ich sie zumMotiv meines Handelns machen will oder nicht. - Dies sinddie Elemente, die bei einem Willensakte in Betracht kom-men. Die unmittelbar gegenwärtige Vorstellung oder derBegriff, die zum Motiv werden, bestimmen das Ziel, denZweck meines Wollens; meine charakterologische Anlagebestimmt mich, auf dieses Ziel meine Tätigkeit zu richten.Die Vorstellung, in der nächsten halben Stunde einen Spa-ziergang zu machen, bestimmt das Ziel meines Handelns.Diese Vorstellung wird aber nur dann zum Motiv des Wol-

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lens erhoben, wenn sie auf eine geeignete charakterologisdieAnlage auftrifft, das ist, wenn sich durch mein bisherigesLeben in mir etwa die Vorstellungen gebildet haben vonder Zweckmäßigkeit des Spazierengehens, von dem Wertder Gesundheit, und ferner, wenn sich mit der Vorstellungdes Spazierengehens in mir das Gefühl der Lust verbindet.

Wir haben somit zu unterscheiden: 1. Die möglichen sub-jektiven Anlagen, die geeignet sind, bestimmte Vorstellun-gen und Begriffe zu Motiven zu machen; und 2. die mög-lichen Vorstellungen und Begriffe, die imstande sind, meinecharakterologisdie Anlage so zu beeinflussen, daß sich einWollen ergibt. Jene stellen die Triebfedern, diese die Zieleder Sittlichkeit dar.

Die Triebfedern der Sittlichkeit können wir dadurchfinden, daß wir nachsehen, aus welchen Elementen sich dasindividuelle Leben zusammensetzt.

Die erste Stufe des individuellen Lebens ist das Wahr-nehmen, und zwar das Wahrnehmen der Sinne. Wir stehenhier in jener Region unseres individuellen Lebens, wo sichdas Wahrnehmen unmittelbar, ohne Dazwischentreten einesGefühles oder Begriffes in Wollen umsetzt. Die Triebfederdes Menschen, die hierbei in Betracht kommt, wird als Triebschlechthin bezeichnet. Die Befriedigung unserer niederen,rein animalischen Bedürfnisse (Hunger, Geschlechtsverkehrusw.) kommt auf diesem Wege zustande. Das Charakteristi-sche des Trieblebens besteht in der Unmittelbarkeit, mit derdie Einzelwahrnehmung das Wollen auslöst. Diese Art derBestimmung des Wollens, die ursprünglich nur dem niedri-geren Sinnenleben eigen ist, kann auch auf die Wahrneh-mungen der höheren Sinne ausgedehnt werden. Wir lassenauf die Wahrnehmung irgendeines Geschehens in der Außen-

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weit, ohne weiter nachzudenken und ohne daß sich uns andie Wahrnehmung ein besonderes Gefühl knüpft, eine Hand-lung folgen, wie das namentlich im konventionellen Um-gange mit Menschen geschieht. Die Triebfeder dieses Han-delns bezeichnet man als Takt oder sittlichen Geschmack. Jeöfter sich ein solches unmittelbares Auslösen einer Handlungdurch eine Wahrnehmung vollzieht, desto geeigneter wirdsich der betreffende Mensch erweisen, rein unter dem Ein-fluß des Taktes zu handeln, das ist: der Takt wird zu seinercharakterologischen Anlage.

Die zweite Sphäre des menschlichen Lebens ist das Füh-len. An die Wahrnehmungen der Außenwelt knüpfen sichbestimmte Gefühle. Diese Gefühle können zu Triebfederndes Handelns werden. Wenn ich einen hungernden Men-schen sehe, so kann mein Mitgefühl mit demselben die Trieb-feder meines Handelns bilden. Solche Gefühle sind etwa:das Schamgefühl, der Stolz, das Ehrgefühl, die Demut, dieReue, das Mitgefühl, das Rache- und Dankbarkeitsgefühl,die Pietät, die Treue, das Liebes- und Pflichtgefühl"",

Die dritte Stufe des Lebens endlich ist das Denken undVorstellen. Durch bloße Überlegung kann eine Vorstellungoder ein Begriff zum Motiv einer Handlung werden. Vor-stellungen werden dadurch Motiv 2, daß wir im Laufe desLebens fortwährend gewisse Ziele des Wollens an Wahr-nehmungen knüpfen, die in mehr oder weniger modifizier-ter Gestalt immer wiederkehren. Daher kommt es, daß beiMenschen, die nicht ganz ohne Erfahrung sind, stets mit

* Eine vollständige Zusammenstellung der Prinzipien der Sittlich-keit findet man (vom Standpunkte des metaphysischen Realismus aus) inEduard von Hartmanns «Phänomenologie des sittlichen Bewußtseins».

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bestimmten Wahrnehmungen auch die Vorstellungen vonHandlungen ins Bewußtsein treten, die sie in einem ähn-lichen Fall ausgeführt oder ausführen gesehen haben. DieseVorstellungen schweben ihnen als bestimmende Muster beiallen späteren Entschließungen vor, sie werden Gliederihrer charakterologischen Anlage. Wir können die damitbezeichnete Triebfeder des Wollens die praktische Erfahrungnennen. Die praktische Erfahrung geht allmählich in dasrein taktvolle Handeln über. Wenn sich bestimmte typischeBilder von Handlungen mit Vorstellungen von gewissenSituationen des Lebens in unserem Bewußtsein so fest ver-bunden haben, daß wir gegebenen Falles mit Uberspringungaller auf Erfahrung sich gründenden Überlegung unmittel-bar auf die Wahrnehmung hin ins Wollen übergehen, dannist dies der Fall.

Die höchste Stufe des individuellen Lebens ist das begriff-liche Denken ohne Rücksicht auf einen bestimmten Wahr-nehmungsgehalt. Wir bestimmen den Inhalt eines Begriffesdurch reine Intuition aus der ideellen Sphäre heraus. Einsolcher Begriff enthält dann zunächst keinen Bezug auf be-stimmte Wahrnehmungen. Wenn wir unter dem Einflüsseeines auf eine Wahrnehmung deutenden Begriffes, das isteiner Vorstellung, in das Wollen eintreten, so ist es dieseWahrnehmung, die uns auf dem Umwege durch das begriff-liche Denken bestimmt. Wenn wir unter dem Einflüsse vonIntuitionen handeln, so ist die Triebfeder unseres Handelnsdas reine Denken. Da man gewohnt ist, das reine Denkver-mögen in der Philosophie als Vernunft zu bezeichnen, so istes wohl auch berechtigt, die auf dieser Stufe gekennzeich-nete moralische Triebfeder die praktischeVernunfl zu nennen.Am klarsten hat von dieser Triebfeder des Wollens Kreyen-

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buhl (Philosophische Monatshefte, Bd. XVIII, Heft 3) ge-handelt. Ich rechne seinen darüber geschriebenen Aufsatz zuden bedeutsamsten Erzeugnissen der gegenwärtigen Philo-sophie, namentlich der Ethik. Kreyenbühl bezeichnet die inRede stehende Triebfeder als praktisches Apriori, das heißtunmittelbar aus meiner Intuition fließenden Antrieb zumHandeln.

Es ist klar, daß ein solcher Antrieb nicht mehr im strengenWortsinne zu dem Gebiete der charakterologischen Anlagengerechnet werden kann. Denn was hier als Triebfeder wirkt,ist nicht mehr ein bloß Individuelles in mir, sondern derideelle und folglich allgemeine Inhalt meiner Intuition. So-bald ich die Berechtigung dieses Inhaltes als Grundlage undAusgangspunkt einer Handlung ansehe, trete ich in dasWollen ein, gleichgültig ob der Begriff bereits zeitlich vorherin mir da war, oder erst unmittelbar vor dem Handeln inmein Bewußtsein eintritt, das ist: gleichgültig, ob er bereitsals Anlage in mir vorhanden war oder nicht.

Zu einem wirklichen Willensakt kommt es nur dann,wenn ein augenblicklicher Antrieb des Handelns in Formeines Begriffes oder einer Vorstellung auf die charakterolo-gische Anlage einwirkt. Ein solcher Antrieb wird dann zumMotiv des Wollens.

Die Motive der Sittlichkeit sind Vorstellungen und Be-griffe. Es gibt Ethiker, die auch im Gefühle ein Motiv derSittlichkeit sehen; sie behaupten zum Beispiel, Ziel des sitt-lichen Handelns sei die Beförderung des größtmöglichenQuantums von Lust im handelnden Individuum. Die Lustselbst aber kann nicht Motiv werden, sondern nur eine vor-gestellte Lust. Die Vorstellung eines künftigen Gefühles,nicht aber das Gefühl selbst kann auf meine charakterologi-

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sehe Anlage einwirken. Denn das Gefühl selbst ist im Augen-blicke der Handlung noch nicht da, soll vielmehr erst durchdie Handlung hervorgebracht werden.

Die Vorstellung des eigenen oder fremden Wohles wirdaber mit Recht als ein Motiv des Wollens angesehen. DasPrinzip, durch sein Handeln die größte Summe eigener Lustzu bewirken, das ist: die individuelle Glückseligkeit zu errei-chen, heißt Egoismus. Diese individuelle Glückseligkeit wirdentweder dadurch zu erreichen gesucht, daß man in rück-sichtsloser Weise nur auf das eigene Wohl bedacht ist unddieses auch auf Kosten des Glückes fremder Individualitätenerstrebt (reiner Egoismus), oder dadurch, daß man dasfremde Wohl aus dem Grunde befördert, weil man sichdann mittelbar von den glücklichen fremden Individualitä-ten einen günstigen Einfluß auf die eigene Person verspricht,oder weil man durch Schädigung fremder Individuen aucheine Gefährdung des eigenen Interesses befürchtet (Klug-heitsmoral). Der besondere Inhalt der egoistischen Sittlich-keitsprinzipien wird davon abhängen, welche Vorstellungsich der Mensch von seiner eigenen oder der fremden Glück-seligkeit macht. Nach dem, was einer als ein Gut des Lebensansieht (Wohlleben, Hoffnung auf Glückseligkeit, Erlösungvon verschiedenen Übeln usw.), wird er den Inhalt seinesegoistischen Strebens bestimmen.

Als ein weiteres Motiv ist dann der rein begriffliche In-halt einer Handlung anzusehen. Dieser Inhalt bezieht sichnicht wie die Vorstellung der eigenen Lust auf die einzelneHandlung allein, sondern auf die Begründung einer Hand-lung aus einem Systeme sittlicher Prinzipien. Diese Moral-prinzipien können in Form abstrakter Begriffe das sittlicheLeben regeln, ohne daß der einzelne sich um den Ursprung

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der Begriffe kümmert. Wir empfinden dann einfach die Un-terwerfung unter den sittlichen Begriff, der als Gebot überunserem Handeln schwebt, als sittliche Notwendigkeit. DieBegründung dieser Notwendigkeit überlassen wir dem, derdie sittliche Unterwerfung fordert, das ist der sittlichenAutorität, die wir anerkennen (Familienoberhaupt, Staat,gesellschaftliche Sitte, kirchliche Autorität, göttliche Offen-barung). Eine besondere Art dieser Sittlichkeitsprinzipienist die, wo das Gebot sich nicht durch eine äußere Autoritätfür uns kundgibt, sondern durch unser eigenes Innere (sitt-liche Autonomie). Wir vernehmen dann die Stimme in un-serem eigenen Innern, der wir uns zu unterwerfen haben.Der Ausdruck dieser Stimme ist das Gewissen.

Es bedeutet einen sittlichen Fortschritt, wenn der Menschzum Motiv seines Handelns nicht einfach das Gebot eineräußeren oder der inneren Autorität macht, sondern wenner den Grund einzusehen bestrebt ist, aus dem irgendeineMaxime des Handelns als Motiv in ihm wirken soll. DieserFortschritt ist der von der autoritativen Moral zu demHandeln aus sittlicher Einsicht. Der Mensch wird auf dieserStufe der Sittlichkeit die Bedürfnisse des sittlichen Lebensaufsuchen und sich von der Erkenntnis derselben zu seinenHandlungen bestimmen lassen. Solche Bedürfnisse sind:1. das größtmögliche Wohl der Gesamtmenschheit rein umdieses Wohles willen; 2. der Kulturfortschritt oder die sitt-liche Entwicklung der Menschheit zu immer größerer Voll-kommenheit; 3. die Verwirklichung rein intuitiv erfaßterindividueller Sittlichkeitsziele.

Das größtmögliche Wohl der Gesamtmenschheit wirdnatürlich von verschiedenen Menschen in verschiedenerWeise aufgefaßt werden. Die obige Maxime bezieht sich

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nicht auf eine bestimmte Vorstellung von diesem Wohl, son-dern darauf, daß jeder einzelne, der dies Prinzip anerkennt,bestrebt ist, dasjenige zu tun, was nach seiner Ansicht dasWohl der Gesamtmenschheit am meisten fördert.

Der Kultur'fortschritt erweist sich für denjenigen, demsich an die Güter der Kultur ein Lustgefühl knüpft, als einspezieller Fall des vorigen Moralprinzips. Er wird nur denUntergang und die Zerstörung mancher Dinge, die auchzum Wohle der Menschheit beitragen, mit in Kauf nehmenmüssen. Es ist aber auch möglich, daß jemand in dem Kul-turfortschritt, abgesehen von dem damit verbundenen Lust-gefühl, eine sittliche Notwendigkeit erblickt. Dann ist der-selbe für ihn ein besonderes Moralprinzip neben demvorigen.

Sowohl die Maxime des Gesamtwohles wie auch jene desKulturfortschrittes beruht auf der Vorstellung, das ist aufder Beziehung, die man dem Inhalt der sittlichen Ideen zubestimmten Erlebnissen (Wahrnehmungen) gibt. Das höchstedenkbare Sittlichkeitsprinzip ist aber das, welches keinesolche Beziehung von vornherein enthält, sondern aus demQuell der reinen Intuition entspringt und erst nachher dieBeziehung zur Wahrnehmung (zum Leben) sucht. Die Be-stimmung, was zu wollen ist, geht hier von einer andernInstanz aus als in den vorhergehenden Fällen. Wer dem sitt-lichen Prinzip des Gesamtwohles huldigt, der wird bei allenseinen Handlungen zuerst fragen, was zu diesem Gesamt-wohl seine Ideale beitragen. Wer sich zu dem sittlichen Prin-zip des Kulturfortschrittes bekennt, wird es hier ebensomachen. Es gibt aber ein höheres, das in dem einzelnen Fallenicht von einem bestimmten einzelnen Sittlichkeitsziel aus-geht, sondern welches allen Sittlichkeitsmaximen einen ge-

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wissen Wert beilegt, und im gegebenen Falle immer fragt,ob denn hier das eine oder das andere Moralprinzip daswichtigere ist. Es kann vorkommen, daß jemand unter ge-gebenen Verhältnissen die Förderung des Kulturfortschrit-tes, unter andern die des Gesamtwohls, im dritten Falle dieFörderung des eigenen Wohles für das richtige ansieht undzum Motiv seines Handelns macht. Wenn aber alle andernBestimmungsgründe erst an zweite Stelle treten, dannkommt in erster Linie die begriffliche Intuition selbst inBetracht. Damit treten die andern Motive von der leitendenStelle ab, und nur der Ideengehalt der Handlung wirkt alsMotiv derselben.

Wir haben unter den Stufen der charakterologischen An-lage diejenige als die höchste bezeichnet, die als reines Den-ken, als praktische Vernunfl wirkt. Unter den Motivenhaben wir jetzt als das höchste die begriffliche Intuition be-zeichnet. Bei genauerer Überlegung stellt sich alsbald heraus,daß auf dieser Stufe der Sittlichkeit Triebfeder und Motivzusammenfallen, das ist, daß weder eine vorher bestimmtecharakterologische Anlage, noch ein äußeres, normativ an-genommenes sittliches Prinzip auf unser Handeln wirken.Die Handlung ist also keine schablonenmäßige, die nachirgendwelchen Regeln ausgeführt wird, und auch keinesolche, die der Mensch auf äußeren Anstoß hin automaten-haft vollzieht, sondern eine schlechthin durch ihren idealenGehalt bestimmte.

Zur Voraussetzung hat eine solche Handlung die Fähig-keit der moralischen Intuitionen. Wem die Fähigkeit fehlt,für den einzelnen Fall die besondere Sittlichkeitsmaxime zuerleben, der wird es auch nie zum wahrhaft individuellenWollen bringen.

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Der gerade Gegensatz dieses Sittlichkeitsprinzips ist dasKantsche: Handle so, daß die Grundsätze deines Handelnsfür alle Menschen gelten können. Dieser Satz ist der Todaller individuellen Antriebe des Handelns. Nicht wie alleMenschen handeln würden, kann für mich maßgebend sein,sondern was für mich in dem individuellen Falle zu tun ist.

Ein oberflächliches Urteil konnte vielleicht diesen Aus-führungen einwenden: Wie kann das Handeln zugleich in-dividuell auf den besonderen Fall und die besondere Situa-tion geprägt und doch rein ideell aus der Intuition herausbestimmt sein? Dieser Einwand beruht auf einer Verwechse-lung von sittlichem Motiv und wahrnehmbarem Inhalt derHandlung. Der letztere kann Motiv sein, und ist es auchzum Beispiel beim Kulturfortschritt, beim Handeln ausEgoismus usw.; beim Handeln auf Grund rein sittlicher In-tuition ist er es nicht. Mein Ich richtet seinen Blick natürlichauf diesen Wahrnehmungsinhalt, bestimmen läßt es sichdurch denselben nicht. Dieser Inhalt wird nur benützt, umsich einen Erkenntnisbegriff zu bilden, den dazu gehörigenmoralischen Begriff entnimmt das Ich nicht aus dem Ob-jekte. Der Erkenntnisbegriff aus einer bestimmten Situation,der ich gegenüberstehe, ist nur dann zugleich ein moralischerBegriff, wenn ich auf dem Standpunkte eines bestimmtenMoralprinzips stehe. Wenn ich auf dem Boden der allgemei-nen Kulturentwicklungsmoral allein stehen möchte, dannginge ich mit gebundener Marschroute in der Welt umher.Aus jedem Geschehen, das ich wahrnehme und das michbeschäftigen kann, entspringt zugleich eine sittliche Pflicht;nämlich mein Scherflein beizutragen, damit das betreffendeGeschehen in den Dienst der Kulturentwickelung gestelltwerde. Außer dem Begriff, der mir den naturgesetzlichen

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Zusammenhang eines Geschehens oder Dinges enthüllt,haben die letztern auch noch eine sittliche Etikette umge-hängt, die für mich, das moralische Wesen, eine ethische An-weisung enthält, wie ich mich zu benehmen habe. Diese sitt-liche Etikette ist in ihrem Gebiete berechtigt, sie fallt aberauf einem höheren Standpunkte mit der Idee zusammen,die mir dem konkreten Fall gegenüber aufgeht.

Die Menschen sind dem Intuitionsvermögen nach ver-schieden. Dem einen sprudeln die Ideen zu, der andere er-wirbt sie sich mühselig. Die Situationen, in denen die Men-schen leben, und die den Schauplatz ihres Handelns abgeben,sind nicht weniger verschieden. Wie ein Mensch handelt,wird also abhängen von der Art, wie sein Intuitionsvermö-gen einer bestimmten Situation gegenüber wirkt. Die Summeder in uns wirksamen Ideen, den realen Inhalt unserer In-tuitionen, macht das aus, was bei aller Allgemeinheit derIdeenwelt in jedem Menschen individuell geartet ist. Inso-fern dieser intuitive Inhalt auf das Handeln geht, ist er derSittlichkeitsgehalt des Individuums. Das Auslebenlassendieses Gehalts ist die höchste moralische Triebfeder und zu-gleich das höchste Motiv dessen, der einsieht, daß alle an-dern Moralprinzipien sich letzten Endes in diesem Gehaltevereinigen. Man kann diesen Standpunkt den ethischen In-dividualismus nennen.

Das Maßgebende einer intuitiv bestimmten Handlung imkonkreten Falle ist das Auffinden der entsprechenden, ganzindividuellen Intuition. Auf dieser Stufe der Sittlichkeitkann von allgemeinen Sittlichkeitsbegriffen (Normen, Ge-setzen) nur insofern die Rede sein, als sich diese aus der Ver-allgemeinerung der individuellen Antriebe ergeben. Allge-meine Normen setzen immer konkrete Tatsachen voraus,

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aus denen sie abgeleitet werden können. Durch das mensch-liche Handeln werden aber Tatsachen erst geschaffen.

Wenn wir das Gesetzmäßige (Begriffliche in dem Han-deln der Individuen, Völker und Zeitalter) aufsuchen, soerhalten wir eine Ethik, aber nicht als Wissenschaft von sitt-lichen Normen, sondern als Naturlehre der Sittlichkeit. Erstdie hierdurch gewonnenen Gesetze verhalten sich zummenschlichen Handeln so wie die Naturgesetze zu einer be-sonderen Erscheinung. Sie sind aber durchaus nicht identischmit den Antrieben, die wir unserm Handeln zugrundelegen. Will man erfassen, wodurch eine Handlung des Men-schen dessen sittlichem Wollen entspringt, so muß man zu-nächst auf das Verhältnis dieses Wollens zu der Handlungsehen. Man muß zunächst Handlungen ins Auge fassen, beidenen dieses Verhältnis das Bestimmende ist. Wenn ich oderein anderer später über eine solche Handlung nachdenken,kann es herauskommen, welche Sittlichkeitsmaximen beiderselben in Betracht kommen. Während ich handle, bewegtmich die Sittlichkeitsmaxime, insoferne sie intuitiv in mirleben kann; sie ist verbunden mit der Liebe zu dem Objekt,das ich durch meine Handlung verwirklichen will. Ich fragekeinen Menschen und auch keine Regel: soll ich diese Hand-lung ausführen? - sondern ich führe sie aus, sobald ich dieIdee davon gefaßt habe. Nur dadurch ist sie meine Hand-lung. Wer nur handelt, weil er bestimmte sittliche Normenanerkennt, dessen Handlung ist das Ergebnis der in seinemMoralkodex stehenden Prinzipien. Er ist bloß der Voll-strecker. Er ist ein höherer Automat. Werfet einen Anlaßzum Handeln in sein Bewußtsein, und alsbald setzt sich dasRäderwerk seiner Moralprinzipien in Bewegung und läuftin gesetzmäßiger Weise ab, um eine christliche, humane, ihm

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selbstlos geltende, oder eine Handlung des kulturgeschicht-lichen Fortschrittes zu vollbringen. Nur wenn ich meinerLiebe zu dem Objekte folge, dann bin ich es selbst, der han-delt. Ich handle auf dieser Stufe der Sittlichkeit nicht, weilich einen Herrn über mich anerkenne, nicht die äußere Au-torität, nicht eine sogenannte innere Stimme. Ich erkennekein äußeres Prinzip meines Handelns an, weil ich in mirselbst den Grund des Handelns, die Liebe zur Handlunggefunden habe. Ich prüfe nicht verstandesmäßig, ob meineHandlung gut oder böse ist; ich vollziehe sie, weil ich sieliebe. Sie wird «gut», wenn meine in Liebe getauchte Intui-tion in der rechten Art in dem intuitiv zu erlebenden Welt-zusammenhang drinnensteht; «böse», wenn das nicht derFall ist. Ich frage mich auch nicht: wie würde ein andererMensch in meinem Falle handeln? — sondern ich handle, wieich, diese besondere Individualität, zu wollen mich ver-anlaßt sehe. Nicht das allgemein Übliche, die allgemeineSitte, eine allgemein-menschliche Maxime, eine sittlicheNorm leitet mich in unmittelbarer Art, sondern meine Liebezur Tat. Ich fühle keinen Zwang, nicht den Zwang der Na-tur, die mich bei meinen Trieben leitet, nicht den Zwang dersittlichen Gebote, sondern ich will einfach ausführen, was inmir liegt.

Die Verteidiger der allgemeinen sittlichen Normen könn-ten etwa zu diesen Ausführungen sagen: Wenn jeder Menschnur darnach strebt, sich auszuleben und zu tun, was ihmbeliebt, dann ist kein Unterschied zwischen guter Handlungund Verbrechen; jede Gaunerei, die in mir liegt, hat gleichenAnspruch sich auszuleben, wie die Intention, dem allgemei-nen Besten zu dienen. Nicht der Umstand, daß ich eineHandlung der Idee nach ins Auge gefaßt habe, kann für

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mich als sittlichen Menschen maßgebend sein, sondern diePrüfung, ob sie gut oder böse ist. Nur im ersteren Fallewerde ich sie ausführen.

Meine Entgegnung auf diesen naheliegenden und dochnur aus einer Verkennung des hier Gemeinten entspringen-den Einwand ist diese: Wer das Wesen des menschlichenWollens erkennen will, der muß unterscheiden zwischendem Weg, der dieses Wollen bis zu einem bestimmten Gradder Entwickelung bringt, und der Eigenart, welche das Wol-len annimmt, indem es sich diesem Ziele annähert. Auf demWege zu diesem Ziele spielen Normen ihre berechtigte Rolle.Das Ziel besteht in der Verwirklichung rein intuitiv erfaß-ter Sittlichkeitsziele. Der Mensch erreicht solche Ziele in demMaße, in dem er die Fähigkeit besitzt, sich überhaupt zumintuitiven Ideengehalte der Welt zu erheben. Im einzelnenWollen wird zumeist anderes als Triebfeder oder Motivsolchen Zielen beigemischt sein. Aber Intuitives kann immenschlichen Wollen doch bestimmend oder mitbestimmendsein. Was man soll, das tut man; man gibt den Schauplatzab, auf dem das Sollen zum Tun wird; eigene Handlung ist,was man als solche aus sich entspringen läßt. Der Antriebkann da nur ein ganz individueller sein. Und in Wahrheitkann nur eine aus der Intuition entspringende Willenshand-lung eine individuelle sein. Daß die Tat des Verbrechers, daßdas Böse in gleichem Sinne ein Ausleben der Individualitätgenannt wird wie die Verkörperung reiner Intuition, ist nurmöglich, wenn die blinden Triebe zur menschlichen Indivi-dualität gezählt werden. Aber der blinde Trieb, der zum Ver-brechen treibt, stammt nicht aus Intuitivem, und gehört nichtzum Individuellen des Menschen, sondern zum Allgemein-sten in ihm, zu dem, was bei allen Individuen in gleichem

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Maße geltend ist und aus dem sich der Mensch durch seinIndividuelles heraus arbeitet. Das Individuelle in mir istnicht mein Organismus mit seinen Trieben und Gefühlen,sondern das ist die einige Ideenwelt, die in diesem Organis-mus aufleuchtet. Meine Triebe, Instinkte, Leidenschaftenbegründen nichts weiter in mir, als daß ich zur allgemeinenGattung Mensch gehöre; der Umstand, daß sich ein Ideellesin diesen Trieben, Leidenschaften und Gefühlen auf eine be-sondere Art auslebt, begründet meine Individualität. Durchmeine Instinkte, Triebe bin ich ein Mensch, von denen zwölfein Dutzend machen; durch die besondere Form der Idee,durch die ich mich innerhalb des Dutzend als Ich bezeichne,bin ich Individuum. Nach der Verschiedenheit meiner tieri-schen Natur konnte mich nur ein mir fremdes Wesen vonandern unterscheiden; durch mein Denken, das heißt durchdas tätige Erfassen dessen, was sich als Ideelles in meinemOrganismus auslebt, unterscheide ich mich selbst von an-dern. Man kann also von der Handlung des Verbrechers garnicht sagen, daß sie aus der Idee hervorgeht. Ja, das ist gera-de das Charakteristische der Verbrecherhandlungen, daß sieaus den außerideellen Elementen des Menschen sich herleiten.

Eine Handlung wird als eine freie empfunden, soweitderen Grund aus dem ideellen Teil meines individuellenWesens hervorgeht; jeder andere Teil einer Handlung,gleichgültig, ob er aus dem Zwange der Natur oder aus derNötigung einer sittlichen Norm vollzogen wird, wird alsunfrei empfunden.

Frei ist nur der Mensch, insofern er in jedem Augenblickeseines Lebens sich selbst zu folgen in der Lage ist. Eine sitt-liche Tat ist nur meine Tat, wenn sie in dieser Auffassungeine freie genannt werden kann. Hier ist zunächst die Rede

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davon, unter welchen Voraussetzungen eine gewollte Hand-lung als eine freie empfunden wird; wie diese rein ethischgefaßte Freiheitsidee in der menschlichen Wesenheit sichverwirklicht, soll im folgenden sich zeigen.

Die Handlung aus Freiheit schließt die sittlichen Gesetzenicht etwa aus, sondern ein; sie erweist sich nur als höher-stehend gegenüber derjenigen, die nur von diesen Gesetzendiktiert ist. Warum sollte meine Handlung denn wenigerdem Gesamtwohle dienen, wenn ich sie aus Liebe getanhabe, als dann, wenn ich sie nur aus dem Grunde vollbrachthabe, weil dem Gesamtwohle zu dienen ich als Pflicht emp-finde? Der bloße Pflichtbegriff schließt die Freiheit aus, weiler das Individuelle nicht anerkennen will, sondern Unter-werfung des letztern unter eine allgemeine Norm fordert.Die Freiheit des Handelns ist nur denkbar vom Stand-punkte des ethischen Individualismus aus.

Wie ist aber ein Zusammenleben der Menschen möglich,wenn jeder nur bestrebt ist, seine Individualität zur Geltungzu bringen? Damit ist ein Einwand des falsch verstandenenMoralismus gekennzeichnet. Dieser glaubt, eine Gemein-schaft von Menschen sei nur möglich, wenn sie alle vereinigtsind durch eine gemeinsam festgelegte sittliche Ordnung.Dieser Moralismus versteht eben die Einigkeit der Ideen-welt nicht. Er begreift nicht, daß die Ideenwelt, die in mirtätig ist, keine andere ist, als die in meinem Mitmenschen.Diese Einheit ist allerdings bloß ein Ergebnis der Welt-erfahrung. Allein sie muß ein solches sein. Denn wäre siedurch irgend etwas anderes als durch Beobachtung zu er-kennen, so wäre in ihrem Bereich nicht individuelles Er-leben, sondern allgemeine Norm geltend. Individualität istnur möglich, wenn jedes individuelle Wesen vom andern

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nur durch individuelle Beobachtung weiß. Der Unterschiedzwischen mir und meinem Mitmenschen liegt durchaus nichtdarin, daß wir in zwei ganz verschiedenen Geistesweltenleben, sondern daß er aus der uns gemeinsamen Ideenweltandere Intuitionen empfangt als ich. Er will seine Intuitio-nen ausleben, ich die meinigen. Wenn wir beide wirklich ausder Idee schöpfen und keinen äußeren (physischen oder gei-stigen) Antrieben folgen, so können wir uns nur in demgleichen Streben, in denselben Intentionen begegnen. Einsittliches Mißverstehen, ein Aufeinanderprallen ist bei sitt-lich freien Menschen ausgeschlossen. Nur der sittlich Un-freie, der dem Naturtrieb oder einem angenommenenPflichtgebot folgt, stößt den Nebenmenschen zurück, wenner nicht dem gleichen Instinkt und dem gleichen Gebot folgt.Leben in der Liebe zum Handeln und Lebenlassen im Ver-ständnisse des fremden Wollens ist die Grundmaxime derfreien Menschen. Sie kennen kein anderes Sollen als das-jenige, mit dem sich ihr Wollen in intuitiven Einklang ver-setzt; wie sie in einem besonderen Falle wollen werden, daswird ihnen ihr Ideenvermögen sagen.

Läge nicht in der menschlichen Wesenheit der Urgrundzur Verträglichkeit, man würde sie ihr durch keine äußerenGesetze einimpfen! Nur weil die menschlichen Individueneines Geistes sind, können sie sich auch nebeneinander aus-leben. Der Freie lebt in dem Vertrauen darauf, daß derandere Freie mit ihm einer geistigen Welt angehört und sichin seinen Intentionen mit ihm begegnen wird. Der Freieverlangt von seinen Mitmenschen keine Übereinstimmung,aber er erwartet sie, weil sie in der menschlichen Natur liegt.Damit ist nicht auf die Notwendigkeiten gedeutet, die fürdiese oder jene äußeren Einrichtungen bestehen, sondern auf

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die Gesinnung, auf die Seelenverfassung, durch die derMensch in seinem Sich-Erleben unter von ihm geschätztenMitmenschen der menschlichen Würde am meisten gerechtwird.

Es wird viele geben, die da sagen: der Begriff des freienMenschen, den du da entwirfst, ist eine Schimäre, ist nir-gends verwirklicht. Wir haben es aber mit wirklichen Men-schen zu tun, und bei denen ist auf Sittlichkeit nur zu hoffen,wenn sie einem Sittengebote gehorchen, wenn sie ihre sitt-liche Mission als Pflicht auffassen und nicht frei ihren Nei-gungen und ihrer Liebe folgen. - Ich bezweifle das keines-wegs. Nur ein Blinder könnte es. Aber dann hinweg mitaller Heuchelei der Sittlichkeit, wenn dieses letzte Einsichtsein sollte. Saget dann einfach: die menschliche Natur mußzu ihren Handlungen gezwungen werden, solange sie nichtfrei ist. Ob man die Unfreiheit durch physische Mittel oderdurch Sittengesetze bezwingt, ob der Mensch unfrei ist, weiler seinem maßlosen Geschlechtstrieb folgt oder darum, weiler in den Fesseln konventioneller Sittlichkeit eingeschnürtist, ist für einen gewissen Gesichtspunkt ganz gleichgültig.Man behaupte aber nur nicht, daß ein solcher Mensch mitRecht eine Handlung die seinige nennt, da er doch von einerfremden Gewalt dazu getrieben ist. Aber mitten aus derZwangsordnung heraus erheben sich dieMenschen, die freienGeister, die sich selbst finden in dem Wust von Sitte, Ge-setzeszwang, Religionsübung und so weiter. Frei sind sie, in-sofern sie nur sich folgen, unfrei, insofern sie sich unterwer-fen. Wer von uns kann sagen, daß er in allen seinen Hand-lungen wirklich frei ist? Aber in jedem von uns wohnt einetiefere Wesenheit, in der sich der freie Mensch ausspricht.

Aus Handlungen der Freiheit und der Unfreiheit setzt

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sich unser Leben zusammen. Wir können aber den Begriffdes Menschen nicht zuende denken, ohne auf den freienGeist als die reinste Ausprägung der menschlichen Natur zukommen. Wahrhaft Menschen sind wir doch nur, insofernwir frei sind.

Das ist ein Ideal, werden viele sagen. Ohne Zweifel, aberein solches, das sich in unserer Wesenheit als reales Elementan die Oberfläche arbeitet. Es ist kein erdachtes oder er-träumtes Ideal, sondern ein solches, das Leben hat und dassich auch in der unvollkommensten Form seines Daseinsdeutlich ankündigt. Wäre der Mensch ein bloßes Natur-wesen, dann wäre das Aufsuchen von Idealen, das ist vonIdeen, die augenblicklich unwirksam sind, deren Verwirk-lichung aber gefordert wird, ein Unding. An dem Dinge derAußenwelt ist die Idee durch die Wahrnehmung bestimmt;wir haben das unserige getan, wenn wir den Zusammen-hang von Idee und Wahrnehmung erkannt haben. BeimMenschen ist das nicht so. Die Summe seines Daseins istnicht ohne ihn selbst bestimmt; sein wahrer Begriff als sitt-licher Mensch (freier Geist) ist mit dem Wahrnehmungsbilde«Mensch» nicht im voraus objektiv vereinigt, um bloß nach-her durch die Erkenntnis festgestellt zu werden. Der Menschmuß selbsttätig seinen Begriff mit der Wahrnehmung Menschvereinigen. Begriff und Wahrnehmung decken sich hier nur,wenn sie der Mensch selbst zur Deckung bringt. Er kann esaber nur, wenn er den Begriff des freien Geistes, das istseinen eigenen Begriff gefunden hat. In der objektiven Weltist uns durch unsere Organisation ein Grenzstrich gezogenzwischen Wahrnehmung und Begriff; das Erkennen über-windet diese Grenze. In der subjektiven Natur ist dieseGrenze nicht minder vorhanden; der Mensch überwindet sie

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im Laufe seiner Entwicklung, indem er in seiner Erschei-nung seinen Begriff zur Ausgestaltung bringt. So führt unssowohl das intellektuelle wie das sittliche Leben des Men-schen auf seine Doppelnatur: das Wahrnehmen (unmittelba-res Erleben) und Denken. Das intellektuelle Leben überwin-det die Doppelnatur durch die Erkenntnis, das sittliche durchdie tatsächliche Verwirklichung des freien Geistes. JedesWesen hat seinen eingeborenen Begriff (das Gesetz seinesSeins und Wirkens); aber er ist in den Außendingen unzer-trennlich mit der Wahrnehmung verbunden und nur inner-halb unseres geistigen Organismus von dieser abgesondert.Beim Menschen selbst ist Begriff und Wahrnehmung zu-nächst tatsächlich getrennt, um von ihm ebenso tatsächlichvereinigt zu werden. Man kann einwenden: unserer Wahr-nehmung des Menschen entspricht in jedem Augenblickeseines Lebens ein bestimmter Begriff, so wie jedem anderenDinge auch. Ich kann mir den Begriff eines Schablonen-menschen bilden und kann einen solchen auch als Wahrneh-mung gegeben haben; wenn ich zu diesem auch noch denBegriff des freien Geistes bringe, so habe ich zwei Begriffefür dasselbe Objekt.

Das ist einseitig gedacht. Ich bin als Wahrnehmungs-objekt einer fortwährenden Veränderung unterworfen. AlsKind war ich ein anderer, ein anderer als Jüngling und alsMann. Ja, in jedem Augenblicke ist mein Wahrnehmungs-bild ein anderes als in den vorangehenden. Diese Verände-rungen können sich in dem Sinne vollziehen, daß sich inihnen nur immer derselbe (Schablonenmensch) ausspricht,oder daß sie den Ausdruck des freien Geistes darstellen.Diesen Veränderungen ist das Wahrnehmungsobjekt meinesHandelns unterworfen.

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Es ist in dem Wahrnehmungsobjekt Mensch die Möglich-keit gegeben, sich umzubilden, wie im Pflanzenkeim dieMöglichkeit liegt, zur ganzen Pflanze zu werden. Die Pflanzewird sich umbilden wegen der objektiven, in ihr liegendenGesetzmäßigkeit; der Mensch bleibt in seinem unvollende-ten Zustande, wenn er nicht den Umbildungsstoff in sichselbst aufgreift, und sich durch eigene Kraft umbildet. DieNatur macht aus dem Menschen bloß ein Naturwesen; dieGesellschaft ein gesetzmäßig handelndes; ein freies Wesenkann er nur selbst aus sich machen. Die Natur läßt den Men-schen in einem gewissen Stadium seiner Entwicklung ausihren Fesseln los; die Gesellschaft führt diese Entwicklungbis zu einem weiteren Punkte; den letzten Schliff kann nurder Mensch selbst sich geben.

Der Standpunkt der freien Sittlichkeit behauptet alsonicht, daß der freie Geist die einzige Gestalt ist, in der einMensch existieren kann. Sie sieht in der freien Geistigkeitnur das letzte Entwicklungsstadium des Menschen. Damitist nicht geleugnet, daß das Handeln nach Normen als Ent-wicklungsstufe seine Berechtigung habe. Es kann nur nichtals absoluter Sittlichkeitsstandpunkt anerkannt werden. Derfreie Geist aber überwindet die Normen in dem Sinne, daßer nicht nur Gebote als Motive empfindet, sondern seinHandeln nach seinen Impulsen (Intuitionen) einrichtet.

Wenn Kant von der Pflicht sagt: «Pflicht! du erhabener,großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelungbei sich führt, in dir fassest, sondern Unterwerfung ver-langst», der du «ein Gesetz aufstellst..., vor dem alle Nei-gungen verstummen, wenn sie gleich in Geheim ihm ent-gegenwirken», so erwidert der Mensch aus dem Bewußtseindes freien Geistes: «Freiheit! du freundlicher, menschlicher

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Name, der du alles sittlich Beliebte, was mein Menschentumam meisten würdigt, in dir fassest, und mich zu niemandesDiener machst, der du nicht bloß ein Gesetz aufstellst, son-dern abwartest, was meine sittliche Liebe selbst als Gesetzerkennen wird, weil sie jedem nur auf erzwungenen Gesetzegegenüber sich unfrei fühlt.»

Das ist der Gegensatz von bloß gesetzmäßiger und freierSittlichkeit.

Der Philister, der in einem äußerlich Festgestellten dieverkörperte Sittlichkeit sieht, wird in dem freien Geist viel-leicht sogar einen gefährlichen Menschen sehen. Er tut esaber nur, weil sein Blick eingeengt ist in eine bestimmte Zeit-epoche. Wenn er über dieselbe hinausblicken könnte, somüßte er alsbald finden, daß der freie Geist ebenso wenignötig hat, über die Gesetze seines Staates hinauszugehen,wie der Philister selbst, nie aber sich mit ihnen in einenwirklichen Widerspruch zu setzen. Denn die Staatsgesetzesind sämtlich aus Intuitionen freier Geister entsprungen,ebenso wie alle anderen objektiven Sittlichkeitsgesetze. KeinGesetz wird durch Familienautorität ausgeübt, das nichteinmal von einem Ahnherrn als solches intuitiv erfaßt undfestgesetzt worden wäre; auch die konventionellen Gesetzeder Sittlichkeit werden von bestimmten Menschen zuerstaufgestellt; und die Staatsgesetze entstehen stets im Kopfeeines Staatsmannes. Diese Geister haben die Gesetze überdie anderen Menschen gesetzt, und unfrei wird nur der,welcher diesen Ursprung vergißt, und sie entweder zu außer-menschlichen Geboten, zu objektiven vom Menschlichen un-abhängigen sittlichen Pflichtbegriffen oder zur befehlendenStimme seines eigenen falsch mystisch zwingend gedach-ten Innern macht. Wer den Ursprung aber nicht übersieht,

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sondern ihn in dem Menschen sucht, der wird damit rechnenals mit einem Gliede derselben Ideenwelt, aus der auch erseine sittlichen Intuitionen holt. Glaubt er bessere zu haben,so sucht er sie an die Stelle der bestehenden zu bringen;findet er diese berechtigt, dann handelt er ihnen gemäß, alswenn sie seine eigenen waren.

Es darf nicht die Formel geprägt werden, der Mensch seidazu da, um eine von ihm abgesonderte sittliche Welt-ordnung zu verwirklichen. Wer dies behauptete, stündein bezug auf Menschheitswissenschaft noch auf demselbenStandpunkt, auf dem jene Naturwissenschaft stand, dieda glaubte: der Stier habe Hörner, damit er stoßen könne.Die Naturforscher haben glücklich einen solchen Zweck-begriff zu den Toten geworfen. Die Ethik kann sich schwe-rer davon frei machen. Aber so wie die Hörner nicht wegendes Stoßens da sind, sondern das Stoßen durch die Hörner,so ist der Mensch nicht wegen der Sittlichkeit da, sonderndie Sittlichkeit durch den Menschen. Der freie Mensch han-delt sittlich, weil er eine sittliche Idee hat; aber er handeltnicht, damit Sittlichkeit entstehe. Die menschlichen Indi-viduen mit ihren zu ihrem Wesen gehörigen sittlichen Ideensind die Voraussetzung der sittlichen Weltordnung.

Das menschliche Individuum ist Quell aller Sittlichkeitund Mittelpunkt des Erdenlebens. Der Staat, die Gesell-schaft sind nur da, weil sie sich als notwendige Folge desIndividuallebens ergeben. Daß dann der Staat und dieGesellschaft wieder zurückwirken auf das Individualleben,ist ebenso begreiflich, wie der Umstand, daß das Stoßen,das durch die Hörner da ist, wieder zurückwirkt auf dieweitere Entwicklung der Hörner des Stieres, die bei länge-rem Nichtgebrauch verkümmern würden. Ebenso müßte das

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Individuum verkümmern, wenn es außerhalb der mensch-lichen Gemeinschaft ein abgesondertes Dasein führte. Dar-um bildet sich ja gerade die gesellschaftliche Ordnung, umim günstigen Sinne wieder zurück auf das Individuum zuwirken.

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X

FREIHEITSPHILOSOPHIE UND MONISMUS

Der naive Mensch, der nur als wirklich gelten läßt, was ermit Augen sehen und mit Händen greifen kann, fordertauch für sein sittliches Leben Beweggründe, die mit denSinnen wahrnehmbar sind. Er fordert ein Wesen, das ihmdiese Beweggründe auf eine seinen Sinnen verständlicheWeise mitteilt. Er wird von einem Menschen, den er fürweiser und mächtiger hält als sich selbst, oder den er auseinem andern Grunde als eine über ihm stehende Machtanerkennt, diese Beweggründe als Gebote sich diktierenlassen. Es ergeben sich auf diese Weise als sittliche Prin-zipien die schon früher genannten der Familien-, staatlichen,gesellschaftlichen, kirchlichen und göttlichen Autorität. Derbefangenste Mensch glaubt noch einem einzelnen andernMenschen; der etwas fortgeschrittenere läßt sich sein sitt-liches Verhalten von einer Mehrheit (Staat, Gesellschaft)diktieren. Immer sind es wahrnehmbare Mächte, auf die erbaut. Wem endlich die Überzeugung aufdämmert, daß diesdoch im Grunde ebenso schwache Menschen sind wie er, dersucht bei einer höheren Macht Auskunft, bei einem gött-lichen Wesen, das er sich aber mit sinnlich wahrnehmbarenEigenschaften ausstattet. Er laßt sich von diesem Wesen denbegrifflichen Inhalt seines sittlichen Lebens wieder auf wahr-nehmbare Weise vermitteln, sei es, daß der Gott im bren-nenden Dornbusche erscheint, sei es, daß er in leibhaftig-menschlicher Gestalt unter den Menschen wandelt und ihrenOhren vernehmbar sagt, was sie tun und nicht tun sollen.

Die höchste Entwickelungsstufe des naiven Realismus aufdem Gebiete der Sittlichkeit ist die, wo das Sittengebot (sitt-

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liehe Idee) von jeder fremden Wesenheit abgetrennt undhypothetisch als absolute Kraft im eigenen Innern gedachtwird. Was der Mensch zuerst als äußere Stimme Gottesvernahm, das vernimmt er jetzt als selbständige Macht inseinem Innern und spricht von dieser innern Stimme so, daßer sie dem Gewissen gleichsetzt.

Damit ist aber die Stufe des naiven Bewußtseins bereitsverlassen, und wir sind eingetreten in die Region, wo dieSittengesetze als Normen verselbständigt werden. Sie habendann keinen Träger mehr, sondern werden zu metaphysi-schen Wesenheiten, die durch sich selbst existieren. Sie sindanalog den unsichtbar-sichtbaren Kräften des metaphysi-schen Realismus, der die Wirklichkeit nicht durch den Anteilsucht, den die menschliche Wesenheit im Denken an dieserWirklichkeit hat, sondern der sie hypothetisch zu dem Er-lebten hinzudenkt. Die außermenschlichen Sittennormentreten auch immer als Begleiterscheinung dieses metaphysi-schen Realismus auf. Dieser metaphysische Realismus mußauch den Ursprung der Sittlichkeit im Felde des außer-menschlichen Wirklichen suchen. Es gibt da verschiedeneMöglichkeiten. Ist das vorausgesetzte Wesen als ein an sichgedankenloses, nach rein mechanischen Gesetzen wirkendesgedacht, wie es das des Materialismus sein soll, dann wirdes auch das menschliche Individuum durch rein mechanischeNotwendigkeit aus sich hervorbringen samt allem, was andiesem ist. Das Bewußtsein der Freiheit kann dann nur eineIllusion sein. Denn während ich mich für den Schöpfermeiner Handlung halte, wirkt in mir die mich zusammen-setzende Materie und ihre Bewegungsvorgänge. Ich glaubemich frei; alle meine Handlungen sind aber tatsächlich nurErgebnisse der meinem leiblichen und geistigen Organismus

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zugrunde liegenden materiellen Vorgänge. Nur weil wirdie uns zwingenden Motive nicht kennen, haben wir dasGefühl der Freiheit, meint diese Ansicht. «Wir müssen hierwieder hervorheben, daß dieses Gefühl der Freiheit auf derAbwesenheit äußerer zwingender Motive . . . beruht.» «Un-ser Handeln ist necessitiert wie unser Denken.» (Ziehen,Leitfaden der physiologischen Psychologie Seite 207 f.)*

Eine andere Möglichkeit ist die, daß jemand in einemgeistigen Wesen das hinter den Erscheinungen steckendeaußermenschliche Absolute sieht. Dann wird er auch den An-trieb zum Handeln in einer solchen geistigen Kraft suchen.Er wird die in seiner Vernunft auffindbaren Sittenprin-zipien für einen Ausfluß dieses Wesens an sich ansehen, dasmit dem Menschen seine besonderen Absichten hat. DieSittengesetze erscheinen dem Dualisten dieser Richtung alsvon dem Absoluten diktiert, und der Mensch hat durch seineVernunft einfach diese Ratschlüsse des absoluten Wesens zuerforschen und auszuführen. Die sittliche Weltordnung er-scheint dem Dualisten als wahrnehmbarer Abglanz einerhinter derselben stehenden höheren Ordnung. Die irdischeSittlichkeit ist die Erscheinung der außermenschlichen Welt-ordnung. Nicht der Mensch ist es, auf den es in dieser sitt-lichen Ordnung ankommt, sondern auf das Wesen an sich,auf das außermenschliche Wesen. Der Mensch soll das, wasdieses Wesen will. Eduard von Hartmann, der das Wesen ansich als Gottheit vorstellt, für die das eigene Dasein Leidenist, glaubt, dieses göttliche Wesen habe die Welt erschaffen,damit es durch dieselbe von seinem unendlich großen Leiden

* Über die Art, wie hier von «Materialismus» gesprodien wird, unddie Bereditigung, von ihm so zu spredien, vgl. «Zusatz» zu diesemKapitel am Sdiluß desselben.

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erlöst werde. Dieser Philosoph sieht daher die sittliche Ent-wicklung der Menschheit als einen Prozeß an, der dazu daist, die Gottheit zu erlösen. «Nur durch den Aufbau einersittlichen Weltordnung von Seiten vernünftiger selbstbewuß-ter Individuen kann der Weltprozeß seinem Ziel entgegen-geführt . . . werden.» «Das reale Dasein ist die Inkarnationder Gottheit, der Weltprozeß die Passionsgeschichte desfleischgewordenen Gottes, und zugleich der Weg zur Er-lösung des im Fleische Gekreuzigten; die Sittlichkeit aber istdie Mitarbeit an der Abkürzung dieses Leidens- und Er-lö'sungsweges.» (Hartmann, Phänomenologie des sittlichenBewußtseins S. 871). Hier handelt der Mensch nicht, weiler will, sondern er soll handeln, weil Gott erlöst sein will.Wie der materialistische Dualist den Menschen zum Auto-maten macht, dessen Handeln nur das Ergebnis rein mecha-nischer Gesetzmäßigkeit ist, so macht ihn der spirituali-stische Dualist (das ist derjenige, der das Absolute, dasWesen an sich, in einem Geistigen sieht, an dem der Menschmit seinem bewußten Erleben keinen Anteil hat) zum Skla-ven des Willens jenes Absoluten. Freiheit ist innerhalb desMaterialismus sowie des einseitigen Spiritualismus, über-haupt innerhalb des auf Außermenschliches als wahre Wirk-lichkeit schließenden, diese nicht erlebenden metaphysischenRealismus, ausgeschlossen.

Der naive wie dieser metaphysische Realismus müssenkonsequenterweise aus einem und demselben Grunde dieFreiheit leugnen, weil sie in dem Menschen nur den Voll-strecker oder Vollzieher von notwendig ihm aufgedrängtenPrinzipien sehen. Der naive Realismus tötet die Freiheitdurch Unterwerfung unter die Autorität eines wahrnehm-baren oder nach Analogie der Wahrnehmungen gedachten

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Wesens oder endlich unter die abstrakte innere Stimme, dieer als «Gewissen» deutet; der bloß das Außermenschlicheerschließende Metaphysiker kann die Freiheit nicht aner-kennen, weil er den Menschen von einem «Wesen an sich»mechanisch oder moralisch bestimmt sein läßt.

Der Monismus wird die teilweise Berechtigung des naivenRealismus anerkennen müssen, weil er die Berechtigung derWahrnehmungswelt anerkennt. Wer unfähig ist, die sitt-lichen Ideen durch Intuition hervorzubringen, der muß sievon andern empfangen. Insoweit der Mensch seine sittlichenPrinzipien von außen empfängt, ist er tatsächlich unfrei.Aber der Monismus schreibt der Idee neben der Wahrneh-mung eine gleiche Bedeutung zu. Die Idee kann aber immenschlichen Individuum zur Erscheinung kommen. Inso-fern der Mensch den Antrieben von dieser Seite folgt, emp-findet er sich als frei. Der Monismus spricht aber der bloßschlußfolgernden Metaphysik alle Berechtigung ab, folglichauch den von sogenannten «Wesen an sich» herrührendenAntrieben des Handelns. Der Mensch kann nach monisti-scher Auffassung unfrei handeln, wenn er einem wahr-nehmbaren äußeren Zwange folgt; er kann frei handeln,wenn er nur sich selbst gehorcht. Einen unbewußten, hinterWahrnehmung und Begriff steckenden Zwang kann derMonismus nicht anerkennen. Wenn jemand von einer Hand-lung seines Mitmenschen behauptet: sie sei unfrei vollbracht,so muß er innerhalb der wahrnehmbaren Welt das Ding,oder den Menschen, oder die Einrichtung nachweisen, diejemand zu seiner Handlung veranlaßt haben; wenn der Be-hauptende sich auf Ursachen des Handelns außerhalb dersinnlich und geistig wirklichen Welt beruft, dann kann sichder Monismus auf eine solche Behauptung nicht einlassen.

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Nach monistischer Auffassung handelt der Mensch teilsunfrei, teils frei. Er findet sich als unfrei in der Welt derWahrnehmungen vor und verwirklicht in sich den freienGeist.

Die sittlichen Gebote, die der bloß schlußfolgernde Meta-physiker als Ausflüsse einer höheren Macht ansehen muß,sind dem Bekenner des Monismus Gedanken der Menschen;die sittliche Weltordnung ist ihm weder der Abklatsch einerrein mechanischen Naturordnung, noch einer außermensch-lichen Weltordnung, sondern durchaus freies Menschen-werk. Der Mensch hat nicht den Willen eines außer ihmliegenden Wesens in der Welt, sondern seinen eigenen durch-zusetzen; er verwirklicht nicht die Ratschlüsse und Inten-tionen eines andern Wesens, sondern seine eigenen. Hinterden handelnden Menschen sieht der Monismus nicht dieZwecke einer ihm fremden Weltenlenkung, die die Men-schen nach ihrem Willen bestimmt, sondern die Menschenverfolgen, insofern sie intuitive Ideen verwirklichen, nurihre eigenen, menschlichen Zwecke. Und zwar verfolgt jedesIndividuum seine besonderen Zwecke. Denn die Ideenweltlebt sich nicht in einer Gemeinschaft von Menschen, sondernnur in menschlichen Individuen aus. Was als gemeinsamesZiel einer menschlichen Gesamtheit sich ergibt, das ist nurdie Folge der einzelnen Willenstaten der Individuen, undzwar meist einiger weniger Auserlesener, denen die anderen,als ihren Autoritäten, folgen. Jeder von uns ist berufen zumfreien Geistey wie jeder Rosenkeim berufen ist, Rose zuwerden.

Der Monismus ist also im Gebiete des wahrhaft sittlichenHandelns Freiheitsphilosophie, Weil er Wirklichkeitsphilo-sophie ist, so weist er ebenso gut die metaphysischen, un-

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wirklichen Einschränkungen des freien Geistes zurück, wieer die physischen und historischen (naiv-wirklichen) desnaiven Menschen anerkennt. Weil er den Menschen nicht alsabgeschlossenes Produkt, das in jedem Augenblicke seinesLebens sein volles Wesen entfaltet, betrachtet, so scheint ihmder Streit, ob der Mensch als solcher frei ist oder nicht, nich-tig. Er sieht in dem Menschen ein sich entwickelndes Wesenund fragt, ob auf dieser Entwickelungsbahn auch die Stufedes freien Geistes erreicht werden kann.

Der Monismus weiß, daß die Natur den Menschen nichtals freien Geist fix und fertig aus ihren Armen entläßt, son-dern daß sie ihn bis zu einer gewissen Stufe führt, von deraus er noch immer als unfreies Wesen sich weiter entwickelt,bis er an den Punkt kommt, wo er sich selbst findet.

Der Monismus ist sich klar darüber, daß ein Wesen, dasunter einem physischen oder moralischen Zwange handelt,nicht wahrhaftig sittlich sein kann. Er betrachtet den Durch-gang durch das automatische Handeln (nach natürlichenTrieben und Instinkten) und denjenigen durch das gehor-same Handeln (nach sittlichen Normen) als notwendigeVorstufen der Sittlichkeit, aber er sieht die Möglichkeit ein,beide Durchgangsstadien durch den freien Geist zu über-winden. Der Monismus befreit die wahrhaft sittliche Welt-anschauung im allgemeinen von den innerweltlichen Fesselnder naiven Sittlichkeitsmaximen und von den außerwelt-lichen Sittlichkeitsmaximen der spekulierenden Metaphysi-ker. Jene kann er nicht aus der Welt schaffen, wie er dieWahrnehmung nicht aus der Welt schaffen kann, diese lehnter ab, weil er alle Erklärungsprinzipien zur Aufhellungder Welterscheinungen innerhalb der Welt sucht und keineaußerhalb derselben. Ebenso wie der Monismus es ablehnt,

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an andere Erkenntnisprinzipien als solche für Menschenauch nur zu denken (vergleiche S. 126 f.), so weist er auchden Gedanken an andere Sittlichkeitsmaximen als solche fürMenschen entschieden zurück. Die menschliche Sittlichkeitist wie die menschliche Erkenntnis bedingt durch die mensch-liche Natur. Und so wie andere Wesen unter Erkenntnisetwas ganz anderes verstehen werden als wir, so werdenandere Wesen auch eine andere Sittlichkeit haben. Sittlich-keit ist dem Anhänger des Monismus eine spezifisch mensch-liche Eigenschaft, und Freiheit die menschliche Form, sittlichzu sein.

1. Zusatz zur Neuauflage (1918). Eine Schwierigkeit inder Beurteilung des in beiden vorangehenden AbschnittenDargestellten kann dadurch entstehen, daß man sich einemWiderspruch gegenübergestellt glaubt. Auf der einen Seitewird von dem Erleben des Denkens gesprochen, das vonallgemeiner, für jedes menschliche Bewußtsein gleich gelten-der Bedeutung empfunden wird; auf der andern Seite wirdhier darauf hingewiesen, daß die Ideen, welche im sittlichenLeben verwirklicht werden und die mit den im Denkenerarbeiteten Ideen von gleicher Art sind, auf individuelleArt sich in jedem menschlichen Bewußtsein ausleben. Wersich gedrängt fühlt, bei dieser Gegenüberstellung als beieinem «Widerspruch» stehen zu bleiben, und wer nicht er-kennt, daß eben in der lebendigen Anschauung dieses tat-sächlich vorhandenen Gegensatzes ein Stück vom Wesen desMenschen sich enthüllt, dem wird weder die Idee der Er-kenntnis, noch die der Freiheit im rechten Lichte erscheinenkönnen. Für diejenige Ansicht, welche ihre Begriffe bloß alsvon der Sinneswelt abgezogen (abstrahiert) denkt und welchedie Intuition nicht zu ihrem Rechte kommen läßt, bleibt der

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hier für eine Wirklichkeit in Anspruch genommene Gedankeals ein «bloßer Widerspruch» bestehen. Für eine Einsicht,die durchschaut, wie Ideen intuitiv erlebt werden als ein aufsich selbst beruhendes Wesenhaftes, wird klar, daß derMensch im Umkreis der Ideenwelt beim Erkennen sich inein für alle Menschen Einheitliches hineinlebt, daß er aber,wenn er aus dieser Ideenwelt die Intuitionen für seine Wil-lensakte entlehnt, ein Glied dieser Ideenwelt durch dieselbeTätigkeit individualisiert, die er im geistig-ideellen Vorgangbeim Erkennen als eine allgemein-menschliche entfaltet.Was als logischer Widerspruch erscheint, die allgemeineArtung der Erkenntnis-Ideen und die individuelle der Sit-ten-Ideen: das wird, indem es in seiner Wirklichkeit ange-schaut wird, gerade zum lebendigen Begriff. Darin liegt einKennzeichen der menschlichen Wesenheit, daß das intuitivzu Erfassende im Menschen wie im lebendigen Pendelschlagsich hin- und herbewegt zwischen der allgemein geltendenErkenntnis und dem individuellen Erleben dieses Allgemei-nen. Wer den einen Pendelausschlag in seiner Wirklichkeitnicht schauen kann, für den bleibt das Denken nur eine sub-jektive menschliche Betätigung; wer den andern nicht er-fassen kann, für den scheint mit der Betätigung des Men-schen im Denken alles individuelle Leben verloren. Füreinen Denker der erstem Art ist das Erkennen, für den an-dern das sittliche Leben eine undurchschaubare Tatsache.Beide werden für die Erklärung des einen oder des andernallerlei Vorstellungen beibringen, die alle unzutreffend sind,weil von beiden eigentlich die Erlebbarkeit des Denkensentweder gar nicht erfaßt, oder als bloß abstrahierende Be-tätigung verkannt wird.

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2. Zusatz zur Neuauflage (1918). Auf S. 175 f. wird vonMaterialismus gesprochen. Es ist mir wohl bewußt, daß esDenker gibt - wie der eben angeführte Th. Ziehen -, diesich selbst durchaus nicht als Materialisten bezeichnen, dieaber doch von dem in diesem Buche geltend gemachten Ge-sichtspunkte mit diesem Begriffe bezeichnet werden müssen.Es kommt nicht darauf an, ob jemand sagt, für ihn sei dieWelt nicht im bloß materiellen Sein beschlossen; er sei des-halb kein Materialist. Sondern es kommt darauf an, ob erBegriffe entwickelt, die nur auf ein materielles Sein an-wendbar sind. Wer ausspricht: «Unser Handeln ist necessi-tiert wie unser Denken», der hat einen Begriff hingestellt,der bloß auf materielle Vorgänge, aber weder auf das Han-deln, noch auf das Sein anwendbar ist; und er müßte, wenner seinen Begriff zu Ende dächte, eben materialistisch den-ken. Daß er es nicht tut, ergibt sich nur aus derjenigen In-konsequenz, die so oft die Folge des nicht zu Ende geführtenDenkens ist. - Man hört jetzt oft, der Materialismus des19. Jahrhunderts sei wissenschaftlich abgetan. In Wahrheitist er es aber durchaus nicht. Man bemerkt in der Gegenwartoft nur nicht, daß man keine anderen Ideen als solche hat,mit denen man nur an Materielles heran kann. Dadurchverhüllt sich jetzt der Materialismus, während er in derzweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich offen zur Schaugestellt hat. Gegen eine geistig die Welt erfassende An-schauung ist der verhüllte Materialismus der Gegenwartnicht weniger intolerant als der eingestandene des vorigenJahrhunderts. Er täuscht nur viele, die da glauben, eine aufGeistiges gehende Weltauffassung ablehnen zu dürfen, weilja die naturwissenschaftliche den «Materialismus längstverlassen hat». -

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XIWELTZWECK UND LEBENSZWECK

(BESTIMMUNG DES MENSCHEN)

Unter den mannigfaltigen Strömungen in dem geistigenLeben der Menschheit ist eine zu verfolgen, die man nennenkann die Überwindung des Zweckbegriffes auf Gebieten, indie er nicht gehört. Die Zweckmäßigkeit ist eine bestimmteArt in der Abfolge von Erscheinungen. Wahrhaft wirklichist die Zweckmäßigkeit nur dann, wenn im Gegensatz zudem Verhältnis von Ursache und Wirkung, wo das vorher-gehende Ereignis ein späteres bestimmt, umgekehrt das fol-gende Ereignis bestimmend auf das frühere einwirkt. Diesliegt zunächst nur bei menschlichen Handlungen vor. DerMensch vollbringt eine Handlung, die er sich vorher vor-stellt, und läßt sich von dieser Vorstellung zur Handlungbestimmen. Das Spätere, die Handlung, wirkt mit Hilfe derVorstellung auf das Frühere, den handelnden Menschen.Dieser Umweg durch das Vorstellen ist aber zum zweck-mäßigen Zusammenhange durchaus notwendig.

In dem Prozesse, der in Ursache und Wirkung zerfällt,ist zu unterscheiden die Wahrnehmung von dem Begriff. DieWahrnehmung der Ursache geht der Wahrnehmung derWirkung vorher; Ursache und Wirkung blieben in unseremBewußtsein einfach nebeneinander bestehen, wenn wir sienicht durch ihre entsprechenden Begriffe miteinander ver-binden könnten. Die Wahrnehmung der Wirkung kann stetsnur auf die Wahrnehmung der Ursache folgen. Wenn dieWirkung einen realen Einfluß auf die Ursache haben soll, sokann dies nur durch den begrifflichen Faktor sein. Denn derWahrnehmungsfaktor der Wirkung ist vor dem der Ursache

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einfach gar nicht vorhanden. Wer behauptet, die Blüte seider Zweck der Wurzel, das heißt, die erstere habe auf dieletztere einen Einfluß, der kann das nur von dem Faktor ander Blüte behaupten, den er durch sein Denken an derselbenkonstatiert. Der Wahrnehmungsfaktor der Blüte hat zurZeit der Entstehungszeit der Wurzel noch kein Dasein. Zumzweckmäßigen Zusammenhange ist aber nicht bloß derideelle, gesetzmäßige Zusammenhang des Späteren mit demFrüheren notwendig, sondern der Begriff (das Gesetz) derWirkung muß real, durch einen wahrnehmbaren Prozeß dieUrsache beeinflussen. Einen wahrnehmbaren Einfluß voneinem Begriff auf etwas anderes können wir aber nur beiden menschlichen Handlungen beobachten. Hier ist also derZweckbegriff allein anwendbar. Das naive Bewußtsein, dasnur das Wahrnehmbare gelten läßt, sucht - wie wir wieder-holt bemerkt - auch dorthin Wahrnehmbares zu versetzen,wo nur Ideelles zu erkennen ist. In dem wahrnehmbarenGeschehen sucht es wahrnehmbare Zusammenhänge oder,wenn es solche nicht findet, träumt es sie hinein. Der im sub-jektiven Handeln geltende ZweckbegrifF ist ein geeignetesElement für solche erträumte Zusammenhänge. Der naiveMensch weiß, wie er ein Geschehen zustandebringt und fol-gert daraus, daß es die Natur ebenso machen wird. In denrein ideellen Naturzusammenhängen sieht er nicht nur un-sichtbare Kräfte, sondern auch unwahrnehmbare realeZwecke. Der Mensch macht seine Werkzeuge zweckmäßig;nach demselben Rezept läßt der naive Realist den Schöpferdie Organismen bauen. Nur ganz allmählich verschwindetdieser falsche Zweckbegriff aus den Wissenschaften. In derPhilosophie treibt er auch heute noch ziemlich arg sein Un-wesen. Da wird gefragt nach dem außerweltlichen Zweck

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der Welt, nach der außermenschlichen Bestimmung (folglichauch dem Zweck) des Menschen und so weiter.

Der Monismus weist den Zweckbegriff auf allen Gebietenmit alleiniger Ausnahme des menschlichen Handelns zurück.Er sucht nach Naturgesetzen, aber nicht nach Naturzwecken.Naturzwecke sind willkürliche Annahmen wie die unwahr-nehmbaren Kräfte (S. 120 f.). Aber auch Lebenszwecke, dieder Mensch sich nicht selbst setzt, sind vom Standpunkte desMonismus unberechtigte Annahmen. Zweckvoll ist nur das-jenige, was der Mensch erst dazu gemacht hat, denn nurdurch Verwirklichung einer Idee entsteht Zweckmäßiges.Wirksam im realistischen Sinne wird die Idee aber nur imMenschen. Deshalb hat das Menschenleben nur den Zweckund die Bestimmung, die der Mensch ihm gibt. Auf dieFrage: was hat der Mensch für eine Aufgabe im Leben?kann der Monismus nur antworten: die, die er sichselbst setzt. Meine Sendung in der Welt ist keine vorher-bestimmte, sondern sie ist jeweilig die, die ich mir erwähle.Ich trete nicht mit gebundener Marschroute meinen Lebens-weg an.

Ideen werden zweckmäßig nur durch Menschen verwirk-licht. Es ist also unstatthaft, von der Verkörperung vonIdeen durch die Geschichte zu sprechen. Alle solche Wen-dungen wie: «die Geschichte ist die Entwicklung der Men-schen zur Freiheit», oder die Verwirklichung der sittlichenWeltordnung und so weiter sind von monistischen Gesichts-punkten aus unhaltbar.

Die Anhänger des Zweckbegriffes glauben mit demselbenzugleich alle Ordnung und Einheitlichkeit der Welt preis-geben zu müssen. Man höre zum Beispiel Robert Hamerling(Atomistik des Willens, II. Band,S. 201): «So lange esTriebe

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in der Natur gibt, ist es Torheit, Zwecke in derselben zuleugnen.

-"Wie die Gestaltung eines Gliedes des menschlichen Kör-pers nicht bestimmt und bedingt ist durch eine in der Luftschwebende Idee dieses Gliedes, sondern durch den Zusam-menhang mit dem größeren Ganzen, dem Körper, welchemdas Glied angehört, so ist die Gestaltung jedes Naturwesens,sei es Pflanze, Tier, Mensch, nicht bestimmt und bedingtdurch eine in der Luft schwebende Idee desselben, sonderndurch das Formprinzip des größeren, sich zweckmäßig aus-lebenden und ausgestaltenden Ganzen der Natur.» UndSeite 191 desselben Bandes: «Die Zwecktheorie behauptetnur, daß trotz der tausend Unbequemlichkeiten und Qualendieses kreatürlichen Lebens eine hohe Zweck- und Plan-mäßigkeit unverkennbar in den Gebilden und in den Ent-wicklungen der Natur vorhanden ist - eine Plan- undZweckmäßigkeit jedoch, welche sich nur innerhalb der Na-turgesetze verwirklicht, und welche nicht auf eine Schla-raffenwelt abzielen kann, in welcher dem Leben kein Tod,dem Werden kein Vergehen mit allen mehr oder wenigerunerfreulichen, aber schlechterdings unvermeidlichen Mit-telstufen gegenüberstünde.

Wenn die Gegner des Zweckbegriffs ein mühsam zusam-mengebrachtes Kehrichthäufchen von halben oder ganzen,vermeintlichen oder wirklichen Unzweckmäßigkeiten einerWelt von Wundern der Zweckmäßigkeit, wie sie die Naturin allen Bereichen aufweist, entgegenstellen, so finde ich dasebenso drollig.» -

Was wird hier Zweckmäßigkeit genannt? Ein Zusammen-stimmen von Wahrnehmungen zu einem Ganzen. Da aberallen Wahrnehmungen Gesetze (Ideen) zugrunde liegen, die

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wir durch unser Denken finden, so ist das planmäßige Zu-sammenstimmen der Glieder eines Wahrnehmungsganzeneben das ideelle Zusammenstimmen der in diesem Wahr-nehmungsganzen enthaltenen Glieder eines Ideenganzen.Wenn gesagt wird, das Tier oder der Mensch sei nicht be-stimmt durch eine in der Luft schwebende Idee, so ist dasschief ausgedrückt, und die verurteilte Ansicht verliert beider Richtigstellung des Ausdruckes von selbst den absurdenCharakter. Das Tier ist allerdings nicht durch eine in derLuft schwebende Idee, wohl aber durch eine ihm eingeboreneund seine gesetzmäßige Wesenheit ausmachende Idee be-stimmt. Gerade weil die Idee nicht außer dem Dinge ist,sondern in demselben als dessen Wesen wirkt, kann nichtvon Zweckmäßigkeit gesprochen werden. Gerade derjenige,der leugnet, daß das Naturwesen von außen bestimmt ist(ob durch eine in der Luft schwebende Idee oder eine außer-halb des Geschöpfes im Geiste eines Weltschöpfers existie-rende ist in dieser Beziehung ganz gleichgültig), muß zu-geben, daß dieses Wesen nicht zweckmäßig und planvollvon außen, sondern ursächlich und gesetzmäßig von innenbestimmt wird. Eine Maschine gestalte ich dann zweck-mäßig, wenn ich die Teile in einen Zusammenhang bringe,den sie von Natur aus nicht haben. Das Zweckmäßige derEinrichtung besteht dann darin, daß ich die Wirkungsweiseder Maschine als deren Idee ihr zugrunde gelegt habe. DieMaschine ist dadurch ein Wahrnehmungsobjekt mit ent-sprechender Idee geworden. Solche Wesen sind auch die Na-turwesen. Wer ein Ding deshalb zweckmäßig nennt, weil esgesetzmäßig gebildet ist, der mag die Naturwesen eben auchmit dieser Bezeichnung belegen. Nur darf diese Gesetz-mäßigkeit nicht mit jener des subjektiven menschlichen

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Handelns verwechselt werden. Zum Zweck ist eben durch-aus notwendig, daß die wirkende Ursache ein Begriff ist,und zwar der der Wirkung. In der Natur sind aber nirgendsBegriffe als Ursachen nachzuweisen; der Begriff erweist sichstets nur als der ideelle Zusammenhang von Ursache undWirkung. Ursachen sind in der Natur nur in Form vonWahrnehmungen vorhanden.

Der Dualismus kann von Welt- und Naturzwecken reden.Wo für unsere Wahrnehmung eine gesetzmäßige Verknüp-fung von Ursache und Wirkung sich äußert, da kann derDualist annehmen, daß wir nur den Abklatsch eines Zu-sammenhanges sehen, in dem das absolute Weltwesen seineZwecke verwirklichte. Für den Monismus entfällt mit demabsoluten nicht erlebbaren, sondern nur hypothetisch er-schlossenen Weltwesen auch der Grund zur Annahme vonWelt- und Naturzwecken.

Zusatz zur Neuausgabe 1918. Man wird bei vorurteils-losem Durchdenken des hier Ausgeführten nicht zu derAnsicht kommen können, daß der Verfasser dieser Darstel-lung mit seiner Ablehnung des Zweckbegriffs für außer-menschliche Tatsachen auf dem Boden derjenigen Denkerstand, die durch das Verwerfen dieses Begriffes sich dieMöglichkeit schaffen, alles außerhalb des Menschenhandelnsliegende - und dann dieses selbst - als nur natürliches Ge-schehen aufzufassen. Davor sollte schon der Umstand schüt-zen, daß in diesem Buche der Denkvorgang als ein rein gei-stiger dargestellt wird. Wenn hier auch für die geistige,außerhalb des menschlichen Handelns liegende Welt derZweckgedanke abgelehnt wird, so geschieht es, weil in die-ser Welt ein höheres als der Zweck, der sich im Menschen-tum verwirklicht, zur Offenbarung kommt. Und wenn von

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einer nach dem Muster der menschlichen Zweckmäßigkeitgedachten zweckmäßigen Bestimmung des Menschenge-schlechtes als von einem irrigen Gedanken gesprochen ist, soist gemeint, daß der Einzelmensch sich Zwecke setzt, ausdiesen setzt sich das Ergebnis der Gesamtwirksamkeit derMenschheit zusammen. Dieses Ergebnis ist dann ein höheresals seine Glieder, die Menschenzwecke.

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XII

DIE MORALISCHE PHANTASIE

(DARWINISMUS UND SITTLICHKEIT)

Der freie Geist handelt nach seinen Impulsen, das sind In-tuitionen, die aus dem Ganzen seiner Ideenwelt durch dasDenken ausgewählt sind. Für den unfreien Geist liegt derGrund, warum er aus seiner Ideenwelt eine bestimmte In-tuition aussondert, um sie einer Handlung zugrunde zulegen, in der ihm gegebenen Wahrnehmungswelt, das heißtin seinen bisherigen Erlebnissen. Er erinnert sich, bevor erzu einem Entschluß kommt, daran, was jemand in einemdem seinigen analogen Falle getan oder zu tun für gut ge-heißen hat, oder was Gott für diesen Fall befohlen hat undso weiter, und danach handelt er. Dem freien Geist sinddiese Vorbedingungen nicht einzige Antriebe des Handelns.Er faßt einen schlechthin ersten Entschluß. Es kümmert ihndabei ebensowenig, was andere in diesem Falle getan, nochwas sie dafür befohlen haben. Er hat rein ideelle Gründe,die ihn bewegen, aus der Summe seiner Begriffe gerade einenbestimmten herauszuheben und ihn in Handlung umzuset-zen. Seine Handlung wird aber der wahrnehmbaren Wirk-lichkeit angehören. Was er vollbringt, wird also mit einemganz bestimmten Wahrnehmungsinhalte identisch sein. DerBegriff wird sich in einem konkreten Einzelgeschehnis zuverwirklichen haben. Er wird als Begriff diesen Einzelfallnicht enthalten können. Er wird sich darauf nur in der Artbeziehen können, wie überhaupt ein Begriff sich auf eineWahrnehmung bezieht, zum Beispiel wie der Begriff desLöwen auf einen einzelnen Löwen. Das Mittelglied zwi-

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sehen Begriff und Wahrnehmung ist die Vorstellung (vgl.S. 106 ff.)» Dem unfreien Geist ist dieses Mittelglied vonvornherein gegeben. Die Motive sind von vornherein alsVorstellungen in seinem Bewußtsein vorhanden. Wenn eretwas ausführen will, so macht er das so, wie er es gesehenhat, oder wie es ihm für den einzelnen Fall befohlen wird.Die Autorität wirkt daher am besten durch Beispiele, dasheißt durch Überlieferung ganz bestimmter Einzelhand-lungen an das Bewußtsein des unfreien Geistes. Der Christhandelt weniger nach den Lehren als nach dem Vorbilde desErlösers. Regeln haben für das positive Handeln wenigerWert als für das Unterlassen bestimmter Handlungen. Ge-setze treten nur dann in die allgemeine Begriffsform, wennsie Handlungen verbieten, nicht aber wenn sie sie zu tungebieten. Gesetze über das, was er tun soll, müssen dem un-freien Geiste in ganz konkreter Form gegeben werden: Rei-nige die Straße vor deinem Haustore! Zahle deine Steuernin dieser bestimmten Hohe bei dem Steueramte X! und soweiter. Begriffsform haben die Gesetze zur Verhinderungvon Handlungen: Du sollst nicht stehlen! Du sollst nichtehebrechen! Diese Gesetze wirken auf den unfreien Geistaber auch nur durch den Hinweis auf eine konkrete Vor-stellung, zum Beispiel die der entsprechenden zeitlichenStrafen, oder der Gewissensqual, oder der ewigen Ver-dammnis, und so weiter.

Sobald der Antrieb zu einer Handlung in der allgemein-begrifflichen Form vorhanden ist (zum Beispiel: du sollstdeinen Mitmenschen Gutes tun! du sollst so leben, daß dudein Wohlsein am besten beförderst!), dann muß in jedemeinzelnen Fall die konkrete Vorstellung des Handelns (dieBeziehung des Begriffes auf einen Wahrnehmungsinhalt)

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erst gefunden werden. Bei dem freien Geiste, den keinVorbild und keine Furcht vor Strafe usw. treibt, istdiese Umsetzung des Begriffes in die Vorstellung immernotwendig.

Konkrete Vorstellungen aus der Summe seiner Ideenheraus produziert der Mensch zunächst durch die Phantasie.Was der freie Geist nötig hat, um seine Ideen zu verwirk-lichen, um sich durchzusetzen, ist also die moralische Phan-tasie. Sie ist die Quelle für das Handeln des freien Geistes.Deshalb sind auch nur Menschen mit moralischer Phantasieeigentlich sittlich produktiv. Die bloßen Moralprediger, dasist: die Leute, die sittliche Regeln ausspinnen, ohne sie zukonkreten Vorstellungen verdichten zu können, sind mora-lisch unproduktiv. Sie gleichen den Kritikern, die verständigauseinanderzusetzen wissen, wie ein Kunstwerk beschaffensein soll, selbst aber auch nicht das geringste zustande brin-gen können.

Die moralische Phantasie muß, um ihre Vorstellung zuverwirklichen, in ein bestimmtes Gebiet von Wahrnehmun-gen eingreifen. Die Handlung des Menschen schafft keineWahrnehmungen, sondern prägt die Wahrnehmungen, diebereits vorhanden sind, um, erteilt ihnen eine neue Gestalt.Um ein bestimmtes Wahrnehmungsobjekt oder eine Summevon solchen, einer moralischen Vorstellung gemäß, umbil-den zu können, muß man den gesetzmäßigen Inhalt (diebisherige Wirkungsweise, die man neu gestalten oder derman eine neue Richtung geben will) dieses Wahrnehmungs-bildes begriffen haben. Man muß ferner den Modus finden,nach dem sich diese Gesetzmäßigkeit in eine neue verwan-deln läßt. Dieser Teil der moralischen Wirksamkeit beruhtauf Kenntnis der Erscheinungswelt, mit der man es zu tun

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hat. Er ist also zu suchen in einem Zweige der wissenschaft-lichen Erkenntnis überhaupt. Das moralische Handeln setztalso voraus neben dem moralischen Ideen vermögen"" und dermoralischen Phantasie die Fähigkeit, die Welt der Wahr-nehmungen umzuformen, ohne ihren naturgesetzlichen Zu-sammenhang zu durchbrechen. Diese Fähigkeit ist moralischeTechnik. Sie ist in dem Sinne lernbar, wie Wissenschaft über-haupt lernbar ist. Im allgemeinen sind Menschen nämlichgeeigneter, die Begriffe für die schon fertige Welt zu finden,als produktiv aus der Phantasie die noch nicht vorhandenenzukünftigen Handlungen zu bestimmen. Deshalb ist es sehrwohl möglich, daß Menschen ohne moralische Phantasie diemoralischen Vorstellungen von andern empfangen und diesegeschickt der Wirklichkeit einprägen. Auch der umgekehrteFall kann vorkommen, daß Menschen mit moralischerPhantasie ohne die technische Geschicklichkeit sind und sichdann anderer Menschen zur Verwirklichung ihrer Vorstel-lungen bedienen müssen.

Insofern zum moralischen Handeln die Kenntnis der Ob-jekte unseres Handelnsgebietes notwendig ist, beruht unserHandeln auf dieser Kenntnis. Was hier in Betracht kommt,sind Naturgesetze. Wir haben es mit Naturwissenschaft zutun, nicht mit Ethik.

Die moralische Phantasie und das moralische Ideenver-mögen können erst Gegenstand des Wissens werden, nach-dem sie vom Individuum produziert sind. Dann aber regeln

* Nur Oberflädilidikeit könnte im Gebrauch des Wortes Vermögenan dieser und andern Stellen dieser Schrift einen Rückfall in die Lehreder alten Psychologie von den Seelenvermögen erblicken. Der Zu-sammenhang mit dem S. 95 f. Gesagten ergibt genau die Bedeutung desWortes.

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sie nicht mehr das Leben, sondern haben es bereits geregelt.Sie sind als wirkende Ursachen wie alle andern aufzufassen(Zwecke sind sie bloß für das Subjekt). Wir beschäftigenuns mit ihnen als mit einer 'Naturlehre der moralischen Vor-stellungen.

Eine Ethik als Normwissenschaft kann es daneben nichtgeben.

Man hat den normativen Charakter der moralischen Ge-setze wenigstens insofern halten wollen, daß man die Ethikim Sinne der Diätetik auffaßte, welche aus den Lebens-bedingungen des Organismus allgemeine Regeln ableitet,um auf Grund derselben dann den Körper im besonderenzu beeinflussen (Paulsen, System der Ethik). Dieser Ver-gleich ist falsch, weil unser moralisches Leben sich nicht mitdem Leben des Organismus vergleichen läßt. Die Wirksam-keit des Organismus ist ohne unser Zutun da; wir findendessen Gesetze in der Welt fertig vor, können sie also suchen,und dann die gefundenen anwenden. Die moralischen Ge-setze werden aber von uns erst geschaffen.Wvc können sienicht anwenden, bevor sie geschaffen sind. Der Irrtum ent-steht dadurch, daß die moralischen Gesetze nicht in jedemMomente inhaltlich neu geschaffen werden, sondern sichforterben. Die von den Vorfahren übernommenen erschei-nen dann gegeben wie die Naturgesetze des Organismus. Siewerden aber durchaus nicht mit demselben Rechte von einerspäteren Generation wie diätetische Regeln angewendet.Denn sie gehen auf das Individuum und nicht wie dasNaturgesetz auf das Exemplar einer Gattung. Als Organis-mus bin ich ein solches Gattungsexemplar, und ich werdenaturgemäß leben, wenn ich die Naturgesetze der Gat-tung in meinem besonderen Falle anwende; als sittliches

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Wesen bin ich Individuum und habe meine ganz eigenenGesetze"*.

Die hier vertretene Ansicht scheint in Widerspruch zustehen mit jener Grundlehre der modernen Naturwissen-schaft, die man als Entwicklungstheorie bezeichnet. Abersie scheint es nur. Unter Entwicklung wird verstanden dasreale Hervorgehen des Späteren aus dem Früheren aufnaturgesetzlichem Wege. Unter Entwicklung in der orga-nischen Welt versteht man den Umstand, daß die späteren(vollkommeneren) organischen Formen reale Abkömmlingeder früheren (unvollkommenen) sind und auf naturgesetz-liche Weise aus ihnen hervorgegangen sind. Die Bekennerder organischen Entwicklungstheorie müßten sich eigentlichvorstellen, daß es auf der Erde einmal eine Zeitepoche ge-geben hat, wo ein Wesen das allmähliche Hervorgehen derReptilien aus den Uramnioten mit Augen hätte verfolgenkönnen, wenn es damals als Beobachter hätte dabei seinkönnen und mit entsprechend langer Lebensdauer ausgestat-tet gewesen wäre. Ebenso müßten sich die Entwicklungs-theoretiker vorstellen, daß ein Wesen das Hervorgehen desSonnensystems aus dem Kant-Laplaceschen Urnebel hättebeobachten können, wenn es während der unendlich langenZeit frei im Gebiet des Weltäthers sich an einem entspre-chenden Orte hätte aufhalten können. Daß bei solcher Vor-

* Wenn Paulsen (S. 15 des angeführten Buches) sagt: «VerschiedeneNaturanlagen und Lebensbedingungen erfordern wie eine verschiedeneleibliche so auch eine verschiedene geistig-moralische Diät», so ist erder richtigen Erkenntnis ganz nahe, trifft aber den entscheidendenPunkt doch nicht. Insofern ich Individuum bin, brauche ich keine Diät.Diätetik heißt die Kunst, das besondere Exemplar mit den allgemeinenGesetzen der Gattung in Einklang zu bringen. Als Individuum bin ichaber kein Exemplar der Gattung.

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Stellung sowohl die Wesenheit der Uramnioten wie auch diedes Kant-Laplaceschen Weltnebels anders gedacht werdenmüßte als die materialistischen Denker dies tun, kommt hiernicht in Betracht. Keinem Entwicklungstheoretiker sollte esaber einfallen, zu behaupten, daß er aus seinem Begriffe desUramniontieres den des Reptils mit allen seinen Eigen-schaften herausholen kann, auch wenn er nie ein Reptil ge-sehen hat. Ebensowenig sollte aus dem Begriff des Kant-Laplaceschen Urnebels das Sonnensystem abgeleitet werden,wenn dieser Begriff des Urnebels direkt nur an der Wahr-nehmung des Urnebels bestimmt gedacht ist. Das heißt mitanderen Worten: der Entwicklungstheoretiker muß, wenner konsequent denkt, behaupten, daß aus früheren Entwick-lungsphasen spätere sich real ergeben, daß wir, wenn wirden Begriff des Unvollkommenen und den des Vollkomme-nen gegeben haben, den Zusammenhang einsehen können;keineswegs aber sollte er zugeben, daß der an dem Früherenerlangte Begriff hinreicht, um das Spätere daraus zu ent-wickeln. Daraus folgt für den Ethiker, daß er zwar denZusammenhang späterer moralischer Begriffe mit frühereneinsehen kann; aber nicht, daß auch nur eine einzige neuemoralische Idee aus früheren geholt werden kann. Als mora-lisches Wesen produziert das Individuum seinen Inhalt.Dieser produzierte Inhalt ist für den Ethiker gerade so einGegebenes, wie für den Naturforscher die Reptilien ein Ge-gebenes sind. Die Reptilien sind aus den Uramnioten her-vorgegangen; aber der Naturforscher kann aus dem Begriffder Uramnioten den der Reptilien nicht herausholen. Späteremoralische Ideen entwickeln sich aus früheren; der Ethikerkann aber aus den sittlichen Begriffen einer früheren Kultur-periode die der späteren nicht herausholen. Die Verwirrung

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wird dadurch hervorgerufen, daß wir als Naturforscher dieTatsachen bereits vor uns haben und hinterher sie erst er-kennend betrachten; während wir beim sittlichen Handelnselbst erst die Tatsachen schaffen, die wir hinterher erken-nen. Beim Entwicklungsprozeß der sittlichen Weltordnungverrichten wir das, was die Natur auf niedrigerer Stufe ver-richtet: wir verändern ein Wahrnehmbares. Die ethischeNorm kann also zunächst nicht wie ein Naturgesetz er-kannt, sondern sie muß geschaffen werden. Erst wenn sie daist, kann sie Gegenstand des Erkennens werden.

Aber können wir denn nicht das Neue an dem Altenmessen? Wird nicht jeder Mensch gezwungen sein, das durchseine moralische Phantasie Produzierte an den hergebrach-ten sittlichen Lehren zu bemessen? Für dasjenige, was alssittlich Produktives sich offenbaren soll, ist das ein eben-solches Unding, wie es das andere wäre, wenn man eineneue Naturform an der alten bemessen wollte und sagte:weil die Reptilien mit den Uramnioten nicht übereinstim-men, sind sie eine unberechtigte (krankhafte) Form.

Der ethische Individualismus steht also nicht irn Gegen-satz zu einer recht verstandenen Entwickelungstheorie, son-dern folg? direkt aus ihr. Der Haeckelsche Stammbaum vonden Urtieren bis hinauf zum Menschen als organischem We-sen müßte sich ohne Unterbrechung der natürlichen Gesetz-lichkeit und ohne eine Durchbrechung der einheitlichen Ent-wicklung heraufverfolgen lassen bis zu dem Individuumals einem im bestimmten Sinne sittlichen Wesen. Nirgendsaber würde aus dem Wesen einer Vorfahrenart das Weseneiner nachfolgenden Art sich ableiten lassen. So wahr esaber ist, daß die sittlichen Ideen des Individuums wahr-nehmbar aus denen seiner Vorfahren hervorgegangen sind,

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so wahr ist es auch, daß dasselbe sittlich unfruchtbar ist,wenn es nicht selbst moralische Ideen hat.

Derselbe ethische Individualismus, den ich auf Grundder vorangehenden Anschauungen entwickelt habe, würdesich auch aus der Entwicklungstheorie ableiten lassen. Dieschließliche Überzeugung wäre dieselbe; nur der Weg einanderer, auf dem sie erlangt ist.

Das Hervortreten völlig neuer sittlicher Ideen aus dermoralischen Phantasie ist für die Entwickelungstheorie ge-rade so wenig wunderbar, wie das Hervorgehen einer neuenTierart aus einer andern. Nur muß diese Theorie als moni-stische Weltanschauung im sittlichen Leben ebenso wie imnatürlichen jeden bloß erschlossenen, nicht ideell erlebbarenjenseitigen (metaphysischen) Einfluß abweisen. Sie folgtdabei demselben Prinzip, das sie antreibt, wenn sie die Ur-sachen neuer organischer Formen sucht und dabei nicht aufdas Eingreifen eines außer weltlichen Wesens sich beruft, dasjede neue Art nach einem neuen Schöpfungsgedanken durchübernatürlichen Einfluß hervorruft. So wie der Monismuszur Erklärung des Lebewesens keinen übernatürlichenSchöpfungsgedanken brauchen kann, so ist es ihm auch un-möglich, die sittliche Weltordnung von Ursachen abzuleiten,die nicht innerhalb der erlebbaren Welt liegen. Er kann dasWesen eines Wollens als eines sittlichen nicht damit erschöpftfinden, daß er es auf einen fortdauernden übernatürlichenEinfluß auf das sittliche Leben (göttliche Weltregierung vonaußen) zurückführt, oder auf eine zeitliche besondere Offen-barung (Erteilung der zehn Gebote) oder auf die Erschei-nung Gottes auf der Erde (Christi). Was durch alles diesesgeschieht an und in dem Menschen, wird erst zum Sittlichen,wenn es im menschlichen Erlebnis zu einem individuellen

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Eigenen wird. Die sittlichen Prozesse sind dem MonismusWeltprodukte wie alles andere Bestehende, und ihre Ur-sachen müssen in der Welt, das heißt, weil der Mensch derTräger der Sittlichkeit ist, im Menschen gesucht werden.

Der ethische Individualismus ist somit die Krönung desGebäudes, das Darwin und Haeckel für die Naturwissen-schaft erstrebt haben. Er ist vergeistigte Entwicklungslehreauf das sittliche Leben übertragen.

Wer dem Begriff des Natürlichen von vornherein in eng-herziger Weise ein willkürlich begrenztes Gebiet anweist,der kann dann leicht dazu kommen, für die freie individu-elle Handlung keinen Raum darin zu finden. Der konse-quent verfahrende Entwicklungstheoretiker kann in solcheEngherzigkeit nicht verfallen. Er kann die natürliche Ent-wickelungsweise beim Affen nicht abschließen und demMenschen einen «übernatürlichen» Ursprung zugestehen; ermuß, auch indem er die natürlichen Vorfahren des Menschensucht, in der Natur schon den Geist suchen; er kann auch beiden organischen Verrichtungen des Menschen nicht stehenbleiben und nur diese natürlich finden, sondern er muß auchdas sittlich-freie Leben als geistige Fortsetzung des organi-schen ansehen.

Der Entwicklungstheoretiker kann, seiner Grundauf-fassung gemäß, nur behaupten, daß das gegenwärtige sitt-liche Handeln aus anderen Arten des Weltgeschehenshervorgeht; die Charakteristik des Handelns, das ist seineBestimmung als eines freien, muß er der unmittelbaren Be-obachtung des Handelns überlassen. Er behauptet ja auchnur, daß Menschen aus noch nicht menschlichen Vorfahrensich entwickelt haben. Wie die Menschen beschaffen sind,das muß durch Beobachtung dieser selbst festgestellt wer-

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den. Die Ergebnisse dieser Beobachtung können nicht inWiderspruch geraten mit einer richtig angesehenen Ent-wicklungsgeschichte. Nur die Behauptung, daß die Ergeb-nisse solche sind, die eine natürliche Weltordnung aus-schließen, könnte nicht in Übereinstimmung mit der neuerenRichtung der Naturwissenschaft gebracht werden*.

Von einer sich selbst verstehenden Naturwissenschaft hatder ethische Individualismus nichts zu fürchten: die Be-obachtung ergibt als Charakteristikum der vollkommenenForm des menschlichen Handelns die Freiheit. Diese Frei-heit muß dem menschlichen Wollen zugesprochen werden,insoferne dieses rein ideelle Intuitionen verwirklicht. Denndiese sind nicht Ergebnisse einer von außen auf sie wirken-den Notwendigkeit, sondern ein auf sich selbst Stehendes.Findet der Mensch, daß eine Handlung das Abbild einer sol-chen ideellen Intuition ist, so empfindet er sie als eine freie.In diesem Kennzeichen einer Handlung liegt die Freiheit.

Wie steht es nun, von diesem Standpunkte aus, mit derbereits oben (S. 21 f.) erwähnten Unterscheidung zwischenden beiden Sätzen: «Frei sein heißt tun können, was manwill» und dem andern: «nach Belieben begehren könnenund nicht begehren können sei der eigentliche Sinn des Dog-mas vom freien Willen»? Hamerling begründet geradeseine Ansicht vom freien Willen auf diese Unterscheidung,indem er das erste für richtig, das zweite für eine absurde

* Daß wir Gedanken (ethische Ideen) als Objekte der Beobachtungbezeidinen, gesdiieht mit Redit. Denn wenn auch die Gebilde desDenkens während der gedanklichen Tätigkeit nicht mit ins Beobach-tungsfeld eintreten, so können sie doch nachher Gegenstand derBeobachtung werden. Und auf diesem Wege haben wir unsere Charak-teristik des Handelns gewonnen.

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Tautologie erklärt. Er sagt: «Ich kann tuny was ich will.Aber zu sagen: ich kann wollen, was ich will, ist eine leereTautologie.» Ob ich tun, das heißt, in Wirklichkeit umset-zen kann, was ich will, was ich mir also als Idee meines Tunsvorgesetzt habe, das hängt von äußeren Umständen undvon meiner technischen Geschicklichkeit (vgl. S. 193 f.) ab.Frei sein heißt die dem Handeln zugrunde liegenden Vor-stellungen (Beweggründe) durch die moralische Phantasievon sich aus bestimmen können. Freiheit ist unmöglich,wenn etwas außer mir (mechanischer Prozeß oder nur er-schlossener außerweltlicher Gott) meine moralischen Vor-stellungen bestimmt. Ich bin also nur dann frei, wenn khselbst diese Vorstellungen produziere, nicht, wenn ich dieBeweggründe, die ein anderes Wesen in mich gesetzt hat,ausführen kann. Ein freies Wesen ist dasjenige, welcheswollen kann, was es selbst für richtig hält. Wer etwas an-deres tut, als er will, der muß zu diesem anderen durch Mo-tive getrieben werden, die nicht in ihm liegen. Ein solcherhandelt unfrei. Nach Belieben wollen können, was man fürrichtig oder nicht richtig hält, heißt also: nach Belieben freioder unfrei sein können. Das ist natürlich ebenso absurd,wie die Freiheit in dem Vermögen zu sehen, tun zu können,was man wollen muß. Das letztere aber behauptet Hamer-Iing, wenn er sagt: Es ist vollkommen wahr, daß der Willeimmer durch Beweggründe bestimmt wird, aber es ist ab-surd zu sagen, daß er deshalb unfrei sei; denn eine größereFreiheit läßt sich für ihn weder wünschen noch denken, alsdie, sich nach Maßgabe seiner eigenen Stärke und Entschie-denheit zu verwirklichen. - Jawohl: es läßt sich eine größereFreiheit wünschen, und das ist erst die wahre. Nämlichdie: sich die Gründe seines Wollens selbst zu bestimmen.

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Von der Ausführung dessen abzusehen, was er will, dazuläßt sich der Mensch unter Umständen bewegen. Sich vor-schreiben zu lassen, was er tun soll, das ist, zu wollen, wasein andrer und nicht er für richtig hält, dazu ist er nur zuhaben, insofern er sich nicht frei fühlt.

Die äußeren Gewalten können mich hindern, zu tun, wasich will. Dann verdammen sie mich einfach zum Nichtstunoder zur Unfreiheit. Erst wenn sie meinen Geist knechtenund mir meine Beweggründe aus dem Kopfe jagen und anderen Stelle die ihrigen setzen wollen, dann beabsichtigensie meine Unfreiheit. Die Kirche wendet sich daher nichtbloß gegen das Tun, sondern namentlich gegen die unreinenGedanken, das ist: die Beweggründe meines Handelns. Un-frei macht sie mich, wenn ihr alle Beweggründe, die sie nichtangibt, als unrein erscheinen. Eine Kirche oder eine andereGemeinschaft erzeugt dann Unfreiheit, wenn ihre Priesteroder Lehrer sich zu Gewissensgebietern machen, das ist,wenn die Gläubigen sich von ihnen (aus dem Beichtstuhle)die Beweggründe ihres Handelns holen müssen.

Zusat2 zur Neuausgabe (1918). In diesen Ausführungenüber das menschliche Wollen ist dargestellt, was der Menschan seinen Handlungen erleben kann, um durch dieses Erleb-nis zu dem Bewußtsein zu kommen: mein Wollen ist frei.Von besonderer Bedeutung ist, daß die Berechtigung, einWollen als frei zu bezeichnen, durch das Erlebnis erreichtwird: in dem Wollen verwirklicht sich eine ideelle Intuition.Dies kann nur Beobachtungsresultat sein, ist es aber in demSinne, in dem das menschliche Wollen sich in einer Ent-wickelungsströmung beobachtet, deren Ziel darin liegt,solche von rein ideeller Intuition getragene Möglichkeit desWollens zu erreichen. Sie kann erreicht werden, weil in der

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ideellen Intuition nichts als deren eigene auf sich gebauteWesenheit wirkt. Ist eine solche Intuition im menschlichenBewußtsein anwesend, dann ist sie nicht aus den Vorgängendes Organismus heraus entwickelt (s. S. 145 ff.), sondern dieorganische Tätigkeit hat sich zurückgezogen, um der ideellenPlatz zu machen. Beobachte ich ein Wollen, das Abbild derIntuition ist, dann ist auch aus diesem Wollen die organischnotwendige Tätigkeit zurückgezogen. Das Wollen ist frei.Diese Freiheit des Wollens wird der nicht beobachten kön-nen, der nicht zu schauen vermag, wie das freie Wollendarin besteht, daß erst durch das intuitive Element das not-wendige Wirken des menschlichen Organismus abgelähmt,zurückgedrängt, und an seine Stelle die geistige Tätigkeitdes idee-erfüllten Willens gesetzt wird. Nur wer diese Be-obachtung der Zweigliedrigkeit eines freien Wollens nichtmachen kann, glaubt an die Unfreiheit jedes Wollens. Wersie machen kann, ringt sich zu der Einsicht durch, daß derMensch, insofern er den Zurückdämmungsvorgang der or-ganischen Tätigkeit nicht zu Ende führen kann, unfrei ist;daß aber diese Unfreiheit der Freiheit zustrebt, und dieseFreiheit keineswegs ein abstraktes Ideal ist, sondern eine inder menschlichen Wesenheit liegende Richtkraft. Frei ist derMensch in dem Maße, als er in seinem Wollen dieselbe See-lenstimmung verwirklichen kann, die in ihm lebt, wenn ersich der Ausgestaltung rein ideeller (geistiger) Intuitionenbewußt ist.

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XIIIDER WERT DES LEBENS

(PESSIMISMUS UND OPTIMISMUS)

Ein Gegenstück zu der Frage nach dem Zwecke oder derBestimmung des Lebens (vgl. S. 184 ff.) ist die nach dessenWert. Zwei entgegengesetzten Ansichten begegnen wir indieser Beziehung, und dazwischen allen denkbaren Vermitt-lungsversuchen. Eine Ansicht sagt: Die Welt ist die denkbarbeste, die es geben kann, und das Leben und Handeln inderselben ein Gut von unschätzbarem Werte. Alles bietetsich als harmonisches und zweckmäßiges Zusammenwirkendar und ist der Bewunderung wert. Auch das scheinbar Böseund Üble ist von einem höheren Standpunkte als gut er-kennbar; denn es stellt einen wohltuenden Gegensatz zumGuten dar; wir können dies um so besser schätzen, wenn essich von jenem abhebt. Auch ist das Übel kein wahrhaftwirkliches; wir empfinden nur einen geringeren Grad desWohles als Übel. Das Übel ist Abwesenheit des Guten;nichts was an sich Bedeutung hat.

Die andere Ansicht ist die, welche behauptet: das Lebenist voll Qual und Elend, die Unlust überwiegt überall dieLust, der Schmerz die Freude. Das Dasein ist eine Last, unddas Nichtsein wäre dem Sein unter allen Umständen vor-zuziehen.

Als die Hauptvertreter der ersteren Ansicht, des Optimis-mus, haben wir Shaßesbury und Leibniz, als die der zwei-ten, des Pessimismus, Schopenhauer und Eduard von Hart-mann aufzufassen.

Leibniz meint, die Welt ist die beste, die es geben kann.Eine bessere ist unmöglich. Denn Gott ist gut und weise. Ein

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guter Gott will die beste der Welten schaffen; ein weiserkennt sie; er kann sie von allen anderen möglichen schlech-teren unterscheiden. Nur ein böser oder unweiser Gottkönnte eine schlechtere als die bestmögliche Welt schaffen.

Wer von diesem Gesichtspunkte ausgeht, wird leicht demmenschlichen Handeln die Richtung vorzeichnen können,die es einschlagen muß, um zum Besten der Welt das Seinigebeizutragen. Der Mensch wird nur die Ratschlüsse Gotteszu erforschen und sich danach zu benehmen haben. Wenn erweiß, was Gott mit der Welt und dem Menschengeschlechtfür Absichten hat, dann wird er auch das Richtige tun. Under wird sich glücklich fühlen, zu dem andern Guten auch dasSeinige hinzuzufügen. Vom optimistischen Standpunkt ausist also das Leben des Lebens wert. Es muß uns zur mitwir-kenden Anteilnahme anregen.

Anders stellt sich Schopenhauer die Sache vor. Er denktsich den Weltengrund nicht als allweises und allgütigesWesen, sondern als blinden Drang oder Willen. EwigesStreben, unaufhörliches Schmachten nach Befriedigung, diedoch nie erreicht werden kann, ist der Grundzug alles Wol-lens. Denn ist ein erstrebtes Ziel erreicht, so entsteht einneues Bedürfnis und so weiter. Die Befriedigung kann im1

mer nur von verschwindend kleiner Dauer sein. Der ganzeübrige Inhalt unseres Lebens ist unbefriedigtes Drängen,das ist Unzufriedenheit, Leiden. Stumpft sich der blindeDrang endlich ab, so fehlt uns jeglicher Inhalt; eine unend-liche Langeweile erfüllt unser Dasein. Daher ist das relativBeste, Wünsche und Bedürfnisse in sich zu ersticken, dasWollen zu ertöten. Der Schopenhauersche Pessimismus führtzur Tatenlosigkeit, sein sittliches Ziel ist Universalfaulheit.

In wesentlich anderer Art sucht Hartmann den Pessimis-

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mus zu begründen und für die Ethik auszunutzen. Hart-mann sucht, einem Lieblingsstreben unserer Zeit folgend,seine Weltanschauung auf Erfahrung zu begründen. Aus derBeobachtung des Lebens will er Aufschluß darüber gewin-nen, ob die Lust oder die Unlust in der Welt überwiege. Erläßt, was den Menschen als Gut und Glück erscheint, vor derVernunft Revue passieren, um zu zeigen, daß alle vermeint-liche Befriedigung bei genauerem Zusehen sich als Illusionerweist. Illusion ist es, wenn wir glauben, in Gesundheit,Jugend, Freiheit, auskömmlicher Existenz, Liebe (Ge-schlechtsgenuß), Mitleid, Freundschaft und Familienleben,Ehrgefühl, Ehre, Ruhm, Herrschaft, religiöser Erbauung,Wissenschafts- und Kunstbetrieb, Hoffnung auf jenseitigesLeben, Beteiligung am Kulturfortschritt-Quellen des Glük-kes und der Befriedigung zu haben. Vor einer nüchternenBetrachtung bringt jeder Genuß viel mehr Übel und Elendals Lust in die Welt. Die Unbehaglichkeit des Katzenjam-mers ist stets größer als die Behaglichkeit des Rausches. DieUnlust überwiegt bei weitem in der Welt. Kein Mensch,auch der relativ glücklichste, würde, gefragt, das elende Le-ben ein zweites Mal durchmachen wollen. Da nun aberHartmann die Anwesenheit des Ideellen (der Weisheit) inder Welt nicht leugnet, ihm vielmehr eine gleiche Berechti-gung neben dem blinden Drange (Willen) zugesteht, so kanner seinem Urwesen die Schöpfung der Welt nur zumuten,wenn er den Schmerz der Welt in einen weisen Weltzweckauslaufen läßt. Der Schmerz der Weltwesen sei aber keinanderer als der Gottesschmerz selbst, denn das Leben derWelt als Ganzes ist identisch mit dem Leben Gottes. Einallweises Wesen kann aber sein Ziel nur in der Befreiungvom Leid sehen, und da alles Dasein Leid ist, in der Be-

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freiung vom Dasein. Das Sein in das weit bessere Nichtseinüberzuführen, ist der Zweck der Weltschöpfung. Der Welt-prozeß ist ein fortwährendes Ankämpfen gegen den Gottes-schmerz, das zuletzt mit der Vernichtung alles Daseinsendet. Das sittliche Leben der Menschen wird also sein: Teil-nahme an der Vernichtung des Daseins. Gott hat die Welterschaffen, damit er sich durch dieselbe von seinem unend-lichen Schmerze befreie. Diese ist «gewissermaßen wie einjuckender Ausschlag am Absoluten zu betrachten», durchden dessen unbewußte Heilkraft sich von einer innernKrankheit befreit, «oder auch als ein schmerzhaftes Zug-pflaster, welches das all-eine Wesen sich selbst appliziert, umeinen innern Schmerz zunächst nach außen abzulenken undfür die Folge zu beseitigen». Die Menschen sind Glieder derWelt. In ihnen leidet Gott. Er hat sie geschaffen, um seinenunendlichen Schmerz zu zersplittern. Der Schmerz, denjeder einzelne von uns leidet, ist nur ein Tropfen in demunendlichen Meere des Gottesschmerzes (Hartmann, Phä-nomenologie des sittlichen Bewußtseins, S. 866 ff.).

Der Mensch hat sich mit der Erkenntnis zu durchdringen,daß das Jagen nach individueller Befriedigung (der Egois-mus) eine Torheit ist, und hat sich einzig von der Aufgabeleiten zu lassen, durch selbstlose Hingabe an den Weltpro-zeß der Erlösung Gottes sich zu widmen. Im Gegensatz zudem Schopenhauers führt uns Hartmanns Pessimismus zueiner hingebenden Tätigkeit für eine erhabene Aufgabe.

Wie steht es aber mit der Begründung auf Erfahrung?Streben nach Befriedigung ist Hinausgreifen der Lebens-

tätigkeit über den Lebensinhalt. Ein Wesen ist hungrig, dasheißt, es strebt nach Sättigung, wenn seine organischenFunktionen zu ihrem weiteren Verlauf Zuführung neuen

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Lebensinhaltes in Form von Nahrungsmitteln verlangen.Das Streben nach Ehre besteht darin, daß der Mensch seinpersönliches Tun und Lassen erst dann für wertvoll ansieht,wenn zu seiner Betätigung die Anerkennung von außenkommt. Das Streben nach Erkenntnis entsteht, wenn demMenschen zu der Welt, die er sehen, hören usw. kann,solange etwas fehlt, als er sie nicht begriffen hat. Die Er-füllung des Strebens erzeugt in dem strebenden IndividuumLust, die Nichtbef riedigung Unlust. Es ist dabei wichtig zubeobachten, daß Lust oder Unlust erst von der Erfüllungoder Nichterfüllung meines Strebens abhängt. Das Strebenselbst kann keineswegs als Unlust gelten. Wenn es sich alsoherausstellt, daß in dem Momente des Erfüllens einer Be-strebung sich sogleich wieder eine neue einstellt, so darf ichnicht sagen, die Lust hat für mich Unlust geboren, weil unterallen Umständen der Genuß das Begehren nach seiner Wie-derholung oder nach einer neuen Lust erzeugt. Erst wenndieses Begehren auf die Unmöglichkeit seiner Erfüllungstößt, kann ich von Unlust sprechen. Selbst dann, wenn einerlebter Genuß in mir das Verlangen nach einem größerenoder raffinierteren Lusterlebnis erzeugt, kann ich von einerdurch die erste Lust erzeugten Unlust erst in dem Augen-blicke sprechen, wenn mir die Mittel versagt sind, die grö-ßere oder raffiniertere Lust zu erleben. Nur dann, wenn alsnaturgesetzliche Folge des Genusses Unlust eintritt, wieetwa beim Geschlechtsgenuß des Weibes durch die Leidendes Wochenbettes und die Mühen der Kinderpflege, kannich in dem Genuß den Schöpfer des Schmerzes finden. WennStreben als solches Unlust hervorriefe, so müßte jede Be-seitigung des Strebens von Lust begleitet sein. Es ist aber dasGegenteil der Fall. Der Mangel an Streben in unserem Le-

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bensinhalte erzeugt Langeweile, und diese ist mit Unlustverbunden. Da aber das Streben naturgemäß lange Zeitdauern kann, bevor ihm die Erfüllung zuteil wird und sichdann vorläufig mit der Hoffnung auf dieselbe zufrieden-gibt, so muß anerkannt werden, daß die Unlust mit demStreben als solchem gar nichts zu tun hat, sondern lediglichan der Nichterfüllung desselben hängt. Schopenhauer hatalso unter allen Umständen unrecht, wenn er das Begehrenoder Streben (den Willen) an sich für den Quell des Schmer-zes hält.

In Wahrheit ist sogar das Gegenteil richtig. Streben (Be-gehren) an sich macht Freude. Wer kennt nicht den Genuß,den die Hoffnung auf ein entferntes, aber stark begehrtesZiel bereitet? Diese Freude ist die Begleiterin der Arbeit,deren Früchte uns in Zukunft erst zuteil werden sollen.Diese Lust ist ganz unabhängig von der Erreichung desZieles. Wenn dann das Ziel erreicht ist, dann kommt zu derLust des Strebens die der Erfüllung als etwas Neues hinzu.Wer aber sagen wollte: zur Unlust durch ein nichtbefriedig-tes Ziel kommt auch noch die über die getäuschte Hoffnungund mache zuletzt die Unlust an der Nichterfüllung dochgrößer, als die etwaige Lust an der Erfüllung, dem ist zuerwidern: es kann auch das Gegenteil der Fall sein; derRückblick auf den Genuß in der Zeit des unerfüllten Be-gehrens wird ebenso oft lindernd auf die Unlust durchNichterfüllung wirken. Wer im Anblicke gescheiterter Hoff-nungen ausruft: Ich habe das Meinige getan! der ist ein Be-weisobjekt für diese Behauptung. Das beseligende Gefühl,nach Kräften das Beste gewollt zu haben, übersehen diejeni-gen, welche an jedes nichterfüllte Begehren die Behauptungknüpfen, daß nicht nur allein die Freude an der Erfüllung

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ausgeblieben, sondern auch der Genuß des Begehrens selbstzerstört ist.

Erfüllung eines Begehrens ruft Lust und Nichterfüllungeines solchen Unlust hervor. Daraus darf nicht geschlossenwerden: Lust ist Befriedigung eines Begehrens, UnlustNiditbef riedigung. Sowohl Lust wie Unlust können sich ineinem Wesen einstellen, auch ohne daß sie Folgen eines Be-gehrens sind. Krankheit ist Unlust, der kein Begehren vor-ausgeht. Wer behaupten wollte: Krankheit sei unbefrie-digtes Begehren nach Gesundheit, der beginge den Fehler,daß er den selbstverständlichen und nicht zum Bewußtseingebrachten Wunsch, nicht krank zu werden, für ein positivesBegehren hielte. Wenn jemand von einem reichen Verwand-ten, von dessen Existenz er nicht die geringste Ahnung hatte,eine Erbschaft macht, so erfüllt ihn diese Tatsache ohne vor-angegangenes Begehren mit Lust.

Wer also untersuchen will, ob auf Seite der Lust oder derUnlust ein Überschuß zu finden ist, der muß in Rechnungbringen: die Lust am Begehren, die an der Erfüllung desBegehrens, und diejenige, die uns unerstrebt zuteil wird.Auf die andere Seite des Kontobuches wird zu stehen kom-men: Unlust aus Langeweile, solche aus nicht erfülltemStreben, und endlich solche, die ohne unser Begehren anuns herantritt. Zu der letzteren Gattung gehört auch dieUnlust, die uns aufgedrängte, nicht selbst gewählte Arbeitverursacht.

Nun entsteht die Frage: welches ist das rechte Mittel, umaus diesem Soll und Haben die Bilanz zu erhalten? Eduardvon Hartmann ist der Meinung, daß es die abwägende Ver-nunft ist. Er sagt zwar (Philosophie des Unbewußten,7. Auflage II. Band, S. 290): «Schmerz und Lust sind nur,

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insofern sie empfunden werden.» Hieraus folgt, daß es fürdie Lust keinen andern Maßstab gibt als den subjektivendes Gefühles. Ich muß empfinden, ob die Summe meinerUnlustgefühle zusammengestellt mit meinen Lustgefühlenin mir einen Überschuß von Freude oder Schmerz ergibt.Dessen ungeachtet behauptet Hartmann: «Wenn . . . der Le-benswert jedes Wesens nur nach seinem eigenen subjektivenMaßstabe in Anschlag gebracht werden kann . . . , so ist dochdamit keineswegs gesagt, daß jedes Wesen aus den sämt-lichen AfFektionen seines Lebens die richtige algebraischeSumme ziehe, oder mit anderen Worten, daß sein Gesamt-urteil über sein eigenes Leben ein in bezug auf seine subjek-tiven Erlebnisse richtiges sei.» Damit wird doch wieder dievernunftgemäße Beurteilung des Gefühles zum Wertschät-zer gemacht*.

Wer sich der Vorstellungsrichtung solcher Denker wieEduard von Hartmann mehr oder weniger genau anschließt,der kann glauben, er müsse, um zu einer richtigen Bewertungdes Lebens zu kommen, die Faktoren aus dem Wege räu-men, die unser Urteil über die Lust- und Unlustbilanz ver-fälschen. Er kann das auf zwei Wegen zu erreichen suchen.Erstens indem er nachweist, daß unser Begehren (Trieb,Wille) sich störend in unsere nüchterne Beurteilung des Ge-fühlswertes einmischt. Während wir uns zum Beispiel sagenmüßten, daß der Geschlechtsgenuß eine Quelle des Übels ist,verführt uns der Umstand, daß der Geschlechtstrieb in uns

* Wer ausrechnen will, ob die Gesamtsumme der Lust oder die derUnlust überwiegt, der beachtet eben nicht, daß er eine Rechnung anstelltüber etwas, das nirgends erlebt wird. Das Gefühl rechnet nicht, undfür die wirkliche Bewertung des Lebens kommt das wirkliche Er-lebnis, nicht das Ergebnis einer erträumten Rechnung in Betracht.

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mächtig ist, dazu, uns eine Lust vorzugaukeln, die in demMaße gar nicht da ist. Wir wollen genießen; deshalb gestehenwir uns nicht, daß wir unter dem Genüsse leiden. Zweitensindem er die Gefühle einer Kritik unterwirft und nach-zuweisen sucht, daß die Gegenstände, an die sich die Ge-fühle knüpfen, vor der Vernunfterkenntnis sich als Illusio-nen erweisen, und daß sie in dem Augenblicke zerstörtwerden, wenn unsere stets wachsende Intelligenz die Illusio-nen durchschaut.

Er kann sich die Sache folgendermaßen denken. Wenn einEhrgeiziger sich darüber klar werden will, ob bis zu demAugenblicke, in dem er seine Betrachtung anstellt, die Lustoder die Unlust den überwiegenden Anteil an seinem Lebengehabt hat, dann muß er sich von zwei Fehlerquellen beiseiner Beurteilung frei machen. Da er ehrgeizig ist, wirddieser Grundzug seines Charakters ihm die Freuden überAnerkennung seiner Leistungen durch ein Vergrößerungs-glas, die Kränkungen durch Zurücksetzungen aber durchein Verkleinerungsglas zeigen. Damals, als er die Zurück-setzungen erfuhr, fühlte er die Kränkungen, gerade weil erehrgeizig ist; in der Erinnerung erscheinen sie in milderemLichte, während sich die Freuden über Anerkennungen, fürdie er so zugänglich ist, um so tiefer einprägen. Nun ist eszwar für den Ehrgeizigen eine wahre Wohltat, daß es so ist.Die Täuschung vermindert sein Unlustgefühl in dem Augen-blicke der Selbstbeobachtung. Dennoch ist seine Beurteilungeine falsche. Die Leiden, über die sich ihm ein Schleier brei-tet, hat er wirklich durchmachen müssen in ihrer ganzenStärke, und er setzt sie somit in das Kontobuch seines Lebenstatsächlich falsch ein. Um zu einem richtigen Urteile zukommen, müßte der Ehrgeizige für den Moment seiner Be-

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trachtung sich seines Ehrgeizes entledigen. Er müßte ohneGläser vor seinem geistigen Auge sein bisher abgelaufenesLeben betrachten. Er gleicht sonst dem Kaufmanne, derbeim Abschluß seiner Bücher seinen Geschäftseifer mit aufdie Einnahmeseite setzt.

Er kann aber noch weiter gehen. Er kann sagen: Der Ehr-geizige wird sich auch klarmachen, daß die Anerkennungen,nach denen er jagt, wertlose Dinge sind. Er wird selbst zurEinsicht kommen, oder von andern dazu gebracht werden,daß einem vernünftigen Menschen an der Anerkennung vonSeiten der Menschen nichts liegen könne, da man ja «in allensolchen Sachen, die nicht Lebensfragen der Entwicklung,oder gar von der Wissenschaft schon endgültig gelöst sind»,immer darauf schwören kann, «daß die Majoritäten unrechtund die Minoritäten recht haben». «Einem solchen Urteilegibt derjenige sein Lebensglück in die Hände, welcher denEhrgeiz zu seinem Leitstern macht.» (Philosophie des Un-bewußten, II. Band, S. 332.) Wenn sich der Ehrgeizige dasalles sagt, dann muß er als eine Illusion bezeichnen, was ihmsein Ehrgeiz als Wirklichkeit vorgestellt hat, folglich auchdie Gefühle, die sich an die entsprechenden Illusionen seinesEhrgeizes knüpfen. Aus diesem Grunde konnte dann gesagtwerden: es muß auch noch das aus dem Konto der Lebens-werte gestrichen werden, was sich an Lustgefühlen aus Illu-sionen ergibt; was dann übrig bleibt, stelle die illusionsfreieLustsumme des Lebens dar, und diese sei gegen die Unlust-summe so klein, daß das Leben kein Genuß, und Nichtseindem Sein vorzuziehen sei.

Aber während es unmittelbar einleuchtend ist, daß diedurch Einmischung des ehrgeizigen Triebes bewirkte Täu-schung bei Aufstellung der Lustbilanz ein falsches Resultat

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bewirkt, muß das von der Erkenntnis des illusorischen Cha-rakters der Gegenstände der Lust Gesagte jedoch bestrittenwerden. Ein Ausscheiden aller an wirkliche oder vermeint-liche Illusionen sich knüpfenden Lustgefühle von der Lust-bilanz des Lebens würde die letztere geradezu verfälschen.Denn der Ehrgeizige hat über die Anerkennung der Mengewirklich seine Freude gehabt, ganz gleichgültig, ob er selbstspäter, oder ein anderer diese Anerkennung als Illusion er-kennt. Damit wird die genossene freudige Empfindung nichtum das geringste kleiner gemacht. Die Ausscheidung allersolchen «illusorischen» Gefühle aus der Lebensbilanz stelltnicht etwa unser Urteil über die Gefühle richtig, sondernlöscht wirklich vorhandene Gefühle aus dem Leben aus.

Und warum sollen diese Gefühle ausgeschieden werden?Wer sie hat, bei dem sind sie eben lustbereitend; wer sieüberwunden hat, bei dem tritt durch das Erlebnis der Über-windung (nicht durch die selbstgefällige Empfindung: Wasbin ich doch für ein Mensch! - sondern durch die objektivenLustquellen, die in der Überwindung liegen) eine allerdingsvergeistigte, aber darum nicht minder bedeutsame Lust ein.Wenn Gefühle aus der Lustbilanz gestrichen werden, weil siesich an Gegenstände heften, die sich als Illusionen entpuppen,so wird der Wert des Lebens nicht von der Menge der Lust,sondern von der Qualität der Lust und diese von dem Werteder die Lust verursachenden Dinge abhängig gemacht. Wennich den Wert des Lebens aber erst aus der Menge der Lustoder Unlust bestimmen will, das es mir bringt, dann darfich nicht etwas anderes voraussetzen, wodurch ich erst wie-der den Wert oder Unwert der Lust bestimme. Wenn ichsage: ich will die Lustmenge mit der Unlustmenge verglei-chen und sehen, welche größer ist, dann muß ich auch alle

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Lust und Unlust in ihren wirklichen Großen in Rechnungbringen, ganz abgesehen davon, ob ihnen eine Illusion zu-grunde liegt oder nicht. Wer einer auf Illusion beruhendenLust einen geringeren Wert für das Leben zuschreibt, alseiner solchen, die sich vor der Vernunft rechtfertigen läßt,der macht eben den Wert des Lebens noch von anderen Fak-toren abhängig als von der Lust.

Wer die Lust deshalb geringer veranschlagt, weil sie sichan einen eitlen Gegenstand knüpft, der gleicht einem Kauf-manne, der das bedeutende Erträgnis einer Spielwarenfabrikdeshalb mit dem Viertel des Betrages in sein Konto einsetzt,weil in derselben Gegenstände zur Tändelei für Kinder pro-duziert werden.

Wenn es sich bloß darum handelt, die Lust- und Unlust-menge gegeneinander abzuwägen, dann ist also der illuso-rische Charakter der Gegenstände gewisser Lustempfindun-gen völlig aus dem Spiele zu lassen.

Der von Hartmann empfohlene Weg vernünftiger Be-trachtung der vom Leben erzeugten Lust- und Unlustmengehat uns also bisher so weit geführt, daß wir wissen, wie wirdie Rechnung aufzustellen haben, was wir auf die eine, wasauf die andere Seite unseres Kontobuches zu setzen haben.Wie soll aber nun die Rechnung gemacht werden? Ist dieVernunft auch geeignet, die Bilanz zu bestimmen?

Der Kaufmann hat in seiner Rechnung einen Fehler ge-macht, wenn der berechnete Gewinn sich mit den durch dasGeschäft nachweislich genossenen oder noch zu genießen-den Gütern nicht deckt. Auch der Philosoph wird unbedingteinen Fehler in seiner Beurteilung gemacht haben, wenn erden etwa ausgeklügelten Überschuß an Lust beziehungs-weise Unlust in der Empfindung nicht nachweisen kann.

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Ich will vorläufig die Rechnung der auf vernunftgemäßeWeltbetrachtung sich stützenden Pessimisten nicht kontrol-lieren; wer aber sich entscheiden soll, ob er das Lebens-geschäft weiterführen soll oder nicht, der wird erst denNachweis verlangen, wo der berechnete Überschuß an Un-lust steckt.

Hiermit haben wir den Punkt berührt, wo die Vernunftnicht in der Lage ist, den Überschuß an Lust oder Unlust al-lein von sich aus zu bestimmen, sondern wo sie diesen Über-schuß im Leben als Wahrnehmung zeigen muß. Nicht indem Begriff allein, sondern in dem durch das Denken ver-mittelten Ineinandergreifen von Begriff und Wahrnehmung(und Gefühl ist Wahrnehmung) ist dem Menschen dasWirkliche erreichbar (vgl.S. 88 ff.). Der Kaufmann wird jaauch sein Geschäft erst dann aufgeben, wenn der von seinemBuchhalter berechnete Verlust an Gütern sich durch die Tat-sachen bestätigt. Wenn das nicht der Fall ist, dann läßt erden Buchhalter die Rechnung nochmals machen. Genau inderselben Weise wird es der im Leben stehende Menschmachen. Wenn der Philosoph ihm beweisen will, daß dieUnlust weit größer ist als die Lust, er jedoch das nicht emp-findet, dann wird er sagen: du hast dich in deinem Grübelngeirrt, denke die Sache nochmals durch. Sind aber in einemGeschäfte zu einem bestimmten Zeitpunkte wirklich solcheVerluste vorhanden, daß kein Kredit mehr ausreicht, umdie Gläubiger zu befriedigen, so tritt auch dann der Ban-kerott ein, wenn der Kaufmann es vermeidet, durch Füh-rung der Bücher Klarheit über seine Angelegenheiten zuhaben. Ebenso müßte es, wenn das Unlustquantum beieinem Menschen in einem bestimmten Zeitpunkte so großwürde, daß keine Hoffnung (Kredit) auf künftige Lust

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ihn über den Schmerz hinwegsetzen könnte, zum Bankerottdes Lebensgeschäftes führen.

Nun ist aber die Zahl der Selbstmörder doch eine relativgeringe im Verhältnis zu der Menge derjenigen, die mutigweiterleben. Die wenigsten Menschen stellen dag Lebens-geschäft der vorhandenen Unlust willen ein. Was folgtdaraus? Entweder, daß es nicht richtig ist, zu sagen, dieUnlustmenge sei größer als die Lustmenge, oder daß wirunser Weiterleben gar nicht von der empfundenen Lust-oder Unlustmenge abhängig machen.

Auf eine ganz eigenartige Weise kommt der PessimismusEduard von Hartmanns dazu, das Leben wertlos zu er-klären, weil darinnen der Schmerz überwiegt, und dochdie Notwendigkeit zu behaupten, es durchzumachen. DieseNotwendigkeit liegt darin, daß der oben (S. 207 f.) ange-gebene Weltzweck nur durch rastlose, hingebungsvolle Ar-beit der Menschen erreicht werden kann. Solange aber dieMenschen noch ihren egoistischen Gelüsten nachgehen, sindsie zu solcher selbstlosen Arbeit untauglich. Erst wenn siesich durch Erfahrung und Vernunft überzeugt haben, daßdie vom Egoismus erstrebten Lebensgenüsse nicht erlangtwerden können, widmen sie sich ihrer eigentlichen Aufgabe.Auf diese Weise soll die pessimistische Überzeugung derQuell der Selbstlosigkeit sein. Eine Erziehung auf Grunddes Pessimismus soll den Egoismus dadurch ausrotten, daßsie ihm seine Aussichtslosigkeit vor Augen stellt.

Nach dieser Ansicht liegt also das Streben nach Lustursprünglich in der Menschennatur begründet. Nur aus Ein-sicht in die Unmöglichkeit der Erfüllung dankt dieses Stre-ben zugunsten höherer Menschheitsaufgaben ab.

Von der sittlichen Weltanschauung, die von der Anerken-

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nung des Pessimismus die Hingabe an unegoistische Lebens-ziele erhofft, kann nicht gesagt werden, daß sie den Egois-mus im wahren Sinne des Wortes überwinde. Die sittlichenIdeale sollen erst dann stark genug sein, sich des Willens zubemächtigen, wenn der Mensch eingesehen hat, daß dasselbstsüchtige Streben nach Lust zu keiner Befriedigungführen kann. Der Mensch, dessen Selbstsucht nach den Trau-ben der Lust begehrt, findet sie sauer, weil er sie nicht er-reichen kann: er geht von ihnen und widmet sich einemselbstlosen Lebenswandel. Die sittlichen Ideale sind, nachder Meinung der Pessimisten, nicht stark genug, den Egois-mus zu überwinden; aber sie errichten ihre Herrschaft aufdem Boden, den ihnen vorher die Erkenntnis von der Aus-sichtslosigkeit der Selbstsucht frei gemacht hat.

Wenn die Menschen ihrer Naturanlage nach die Lust er-strebten, sie aber unmöglich erreichen können, dann wäreVernichtung des Daseins und Erlösung durch das Nichtseindas einzig vernünftige Ziel. Und wenn man der Ansicht ist,daß der eigentliche Träger des Weltschmerzes Gott sei, somüßten die Menschen es sich zur Aufgabe machen, die Er-lösung Gottes herbeizuführen. Durch den Selbstmord deseinzelnen wird die Erreichung dieses Zieles nicht gefördert,sondern beeinträchtigt. Gott kann vernünftigerweise dieMenschen nur geschaffen haben, damit sie durch ihr Han-deln seine Erlösung herbeiführen. Sonst wäre die Schöpfungzwecklos. Und an außermenschliche Zwecke denkt einesolche Weltansicht. Jeder muß in dem allgemeinen Er-losungswerke seine bestimmte Arbeit verrichten. Entziehter sich derselben durch den Selbstmord, so muß die ihm zu-gedachte Arbeit von einem andern verrichtet werden. Diesermuß statt ihm die Daseinsqual ertragen. Und da in jedem

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Wesen Gott steckt als der eigentliche Schmerzträger, so hatder Selbstmörder die Menge des Gottesschmerzes nicht imgeringsten vermindert, vielmehr Gott die neue Schwierig-keit auferlegt, für ihn einen Ersatzmann zu schaffen.

Dies alles setzt voraus, daß die Lust ein Wertmaßstab fürdas Leben sei. Das Leben äußert sich durch eine Summe vonTrieben (Bedürfnissen). Wenn der Wert des Lebens davonabhinge, ob es mehr Lust oder Unlust bringt, dann ist derTrieb als wertlos zu bezeichnen, der seinem Träger einenÜberschuß der letzteren einträgt. Wir wollen einmal Triebund Lust daraufhin ansehen, ob der erste durch die zweitegemessen werden kann. Um nicht den Verdacht zu erwecken,das Leben erst mit der Sphäre der «Geistesaristokratie»anfangen zu lassen,beginnen wir mit einem «rein tierischen»Bedürfnis, dem Hunger.

Der Hunger entsteht, wenn unsere Organe ohne neueStoffzufuhr nicht weiter ihrem Wesen gemäß funktionierenkönnen. Was der Hungrige zunächst erstrebt, ist die Sät-tigung. Sobald die Nahrungszufuhr in dem Maße erfolgtist, daß der Hunger aufhört, ist alles erreicht, was der Er-nährungstrieb erstrebt. Der Genuß, der sich an die Sättigungknüpft, besteht fürs erste in der Beseitigung des Schmerzes,den der Hunger bereitet. Zu dem bloßen Ernährungstriebetritt ein anderes Bedürfnis. Der Mensch will durch dieNahrungsaufnahme nicht bloß seine gestörten Organfunk-tionen wieder in Ordnung bringen, beziehungsweise denSchmerz des Hungers überwinden: er sucht dies auch unterBegleitung angenehmer Geschmacksempfindungen zu be-werkstelligen. Er kann sogar, wenn er Hunger hat undeine halbe Stunde vor einer genußreichen Mahlzeit steht, esvermeiden, durch minderwertige Kost, die ihn früher be-

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friedigen könnte, sich die Lust für das Bessere zu verderben.Er braucht den Hunger, um von seiner Mahlzeit den vollenGenuß zu haben. Dadurch wird ihm der Hunger zugleichzum Veranlasser der Lust. Wenn nun aller in der Welt vor-handene Hunger gestillt werden könnte, dann ergäbe sichdie volle Genußmenge, die dem Vorhandensein des Nah-rungsbedürfnisses zu verdanken ist. Hinzuzurechnen wärenoch der besondere Genuß, den Leckermäuler durch eineüber das Gewöhnliche hinausgehende Kultur ihrer Ge-schmacksnerven erzielen.

Den denkbar größten Wert hätte diese Genußmenge,wenn kein auf die in Betracht kommende Genußart hin-zielendes Bedürfnis unbefriedigt bliebe, und wenn mit demGenuß nicht zugleich eine gewisse Menge Unlust in denKauf genommen werden müßte.

Die moderne Naturwissenschaft ist der Ansicht, daß dieNatur mehr Leben erzeugt, als sie erhalten kann, das heißt,auch mehr Hunger hervorbringt, als sie zu befriedigen inder Lage ist. Der Überschuß an Leben, der erzeugt wird,muß unter Schmerzen im Kampf ums Dasein zugrundegehen. Zugegeben: die Lebensbedürfnisse seien in jedemAugenblicke des Weltgeschehens größer, als den vorhande-nen Befriedigungsmitteln entspricht, und der Lebensgenußwerde dadurch beeinträchtigt. Der wirklich vorhandene ein-zelne Lebensgenuß wird aber nicht um das geringste kleinergemacht. Wo Befriedigung des Begehrens eintritt, da ist dieentsprechende Genußmenge vorhanden, auch wenn es indem begehrenden Wesen selbst oder in andern daneben einereiche Zahl unbefriedigter Triebe gibt. Was aber dadurchvermindert wird, ist der Wert des Lebensgenusses. Wennnur ein Teil der Bedürfnisse eines Lebewesens Befriedigung

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findet, so hat dieses einen dementsprechenden Genuß. Dieserhat einen um so geringeren Wert, je kleiner er ist im Ver-hältnis zur Gesamtforderung des Lebens im Gebiete der inFrage kommenden Begierden. Man kann sich diesen Wertdurch einen Bruch dargestellt denken, dessen Zähler derwirklich vorhandene Genuß und dessen Nenner die Be-dürfnissumme ist. Der Bruch hat den Wert 1, wenn Zählerund Nenner gleich sind, das heißt, wenn alle Bedürfnisseauch befriedigt werden. Er wird größer als 1, wenn in einemLebewesen mehr Lust vorhanden ist, als seine Begierdenfordern; und er ist kleiner als 1, wenn die Genußmenge hin-ter der Summe der Begierden zurückbleibt. Der Bruch kannaber nie Null werden, solange der Zähler auch nur den ge-ringsten Wert hat. Wenn ein Mensch vor seinem Tode denRechnungsabschluß machte, und die auf einen bestimmtenTrieb (zum Beispiel den Hunger) kommende Menge desGenusses sich über das ganze Leben mit allen Forderungendieses Triebes verteilt dächte, so hätte die erlebte Lust viel-leicht nur einen geringen Wert; wertlos aber kann sie niewerden. Bei gleichbleibender Genußmenge nimmt mit derVermehrung der Bedürfnisse eines Lebewesens der Wert derLebenslust ab. Ein gleiches gilt für die Summe alles Lebensin der Natur. Je größer die Zahl der Lebewesen ist im Ver-hältnis zu der Zahl derer, die volleBef riedigung ihrer Triebefinden können, desto geringer ist der durchschnittliche Lust-wert des Lebens. Die Wechsel auf den Lebensgenuß, die unsin unseren Trieben ausgestellt sind, werden eben billiger,wenn man nicht hoffen kann, sie für den vollen Betrag ein-zulösen. Wenn ich drei Tage lang genug zu essen habe unddafür dann weitere drei Tage hungern muß, so wird derGenuß an den drei Eßtagen dadurch nicht geringer. Aber

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ich muß mir ihn dann auf sechs Tage verteilt denken, wo-durch sein Wert für meinen Ernährungstrieb auf die Hälfteherabgemindert wird. Ebenso verhält es sich mit der Größeder Lust im Verhältnis zum Grade meines Bedürfnisses.Wenn ich Hunger für zwei Butterbrote habe, und nur einesbekommen kann, so hat der aus dem einen gezogene Genußnur die Hälfte des "Wertes, den er haben würde, wenn ichnach der Aufzehrung satt wäre. Dies ist die Art, wie imLeben der Wert einer Lust bestimmt wird. Sie wird bemes-sen an den Bedürfnissen des Lebens. Unsere Begierden sindder Maßstab; die Lust ist das Gemessene. Der Sättigungs-genuß erhält nur dadurch einen Wert, daß Hunger vorhan-den ist; und er erhält einen Wert von bestimmter Größedurch das Verhältnis, in dem er zu der Größe des vorhan-denen Hungers steht.

Unerfüllte Forderungen unseres Lebens werfen ihre Schat-ten auch auf die befriedigten Begierden und beeinträchtigenden Wert genußreicher Stunden. Man kann aber auch vondem gegenwärtigen Wert eines Lustgefühles sprechen. Die-ser Wert ist um so geringer, je kleiner die Lust im Verhältniszur Dauer und Stärke unserer Begierde ist.

Vollen Wert hat für uns eine Lustmenge, die an Dauerund Grad genau mit unserer Begierde übereinstimmt. Einegegenüber unserem Begehren kleinere Lustmenge vermin-dert den Lustwert; eine größere erzeugt einen nicht ver-langten Überschuß, der nur so lange als Lust empfundenwird, als wir während des Genießens unsere Begierde zusteigern vermögen. Sind wir nicht imstande, in der Steige-rung unseres Verlangens mit der zunehmenden Lust gleichenSchritt zu halten, so verwandelt sich die Lust in Unlust. DerGegenstand, der uns sonst befriedigen würde, stürmt auf

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uns ein, ohne daß wir es wollen, und wir leiden darunter.Dies ist ein Beweis dafür, daß die Lust nur so lange für unseinen Wert hat, als wir sie an unserer Begierde messen kön-nen. Ein Übermaß von angenehmem Gefühl schlägt inSchmerz um. Wir können das besonders bei Menschen beob-achten, deren Verlangen nach irgendeiner Art von Lust sehrgering ist. Leuten, deren Nahrungstrieb abgestumpft ist,wird das Essen leicht zum Ekel. Auch daraus geht hervor,daß die Begierde der Wertmesser der Lust ist.

Nun kann der Pessimismus sagen: der unbefriedigte Nah-rungstrieb bringe nicht nur die Unlust über den entbehrtenGenuß, sondern positive Schmerzen, Qual und Elend in dieWelt, Er kann sich hierbei berufen auf das namenlose Elendder von Nahrungssorgen heimgesuchten Menschen; auf dieSumme von Unlust, die solchen Menschen mittelbar aus demNahrungsmangel erwächst. Und wenn er seine Behauptungauch auf die außermenschliche Natur anwenden will, kanner hinweisen auf die Qualen der Tiere, die in gewissenJahreszeiten aus Nahrungsmangel verhungern. Von diesenÜbeln behauptet der Pessimist, daß sie die durch den Nah-rungstrieb in die Welt gesetzte Genußmenge reichlich über-wiegen.

Es ist ja zweifellos, daß man Lust und Unlust miteinandervergleichen und den Überschuß der einen oder der andernbestimmen kann, wie das bei Gewinn und Verlust geschieht.Wenn aber der Pessimismus glaubt, daß auf Seite derUnlust sich ein Überschuß ergibt, und er daraus auf dieWertlosigkeit des Lebens schließen zu können meint, so ister schon insofern im Irrtum, als er eine Rechnung macht,die im wirklichen Leben nicht ausgeführt wird.

Unsere Begierde richtet sich im einzelnen Falle auf einen

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bestimmten Gegenstand. Der Lustwert der Befriedigungwird, wie wir gesehen haben, um so größer sein, je großerdie Lustmenge im Verhältnis zur Größe unseres Begehrensist*. Von der Größe unseres Begehrens hängt es aber auchab, wie groß die Menge der Unlust ist, die wir mit in Kaufnehmen wollen, um die Lust zu erreichen. Wir vergleichendie Menge der Unlust nicht mit der der Lust, sondern mitder Größe unserer Begierde. Wer große Freude am Essenhat, der wird wegen des Genusses in besseren Zeiten sichleichter über eine Periode des Hungers hinweghelfen, als einanderer, dem diese Freude an der Befriedigung des Nah-rungstriebes fehlt. Das Weib, das ein Kind haben will, ver-gleicht nicht die Lust, die ihm aus dessen Besitz erwächst,mit den Unlustmengen, die aus Schwangerschaft, Kindbett,Kinderpflege und so weiter sich ergeben, sondern mit seinerBegierde nach dem Besitz des Kindes.

Wir erstreben niemals eine abstrakte Lust von bestimmterGröße, sondern die konkrete Befriedigung in einer ganzbestimmten Weise. Wenn wir nach einer Lust streben, diedurch einen bestimmten Gegenstand oder eine bestimmteEmpfindung befriedigt werden muß, so können wir nichtdadurch befriedigt werden, daß uns ein anderer Gegenstandoder eine andere Empfindung zuteil wird, die uns eine Lustvon gleicher Größe bereitet. Wer nach Sättigung strebt, demkann man die Lust an derselben nicht durch eine gleichgroße, aber durch einen Spaziergang erzeugte ersetzen. Nurwenn unsere Begierde ganz allgemein nach einem bestimm-ten Lustquantum strebte, dann müßte sie sofort verstum-

* Von dem Falle, wo durch übermäßige Steigerung der Lust diesein Unlust umsdilägt, sehen wir hier ab.

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men, wenn diese Lust nicht ohne ein sie an Größe überragen-des Unlustquantum zu erreichen wäre. Da aber die Befrie-digung auf eine bestimmte Art erstrebt wird, so tritt dieLust mit der Erfüllung auch dann ein, wenn mit ihr eine sieüberwiegende Unlust in Kauf genommen werden muß. Da-durch, daß sich die Triebe der Lebewesen in einer bestimm-ten Richtung bewegen und auf ein konkretes Ziel losgehen,hört die Möglichkeit auf, die auf dem Wege zu diesem Zielesich entgegenstellende Unlustmenge als gleichgeltenden Fak-tor mit in Rechnung zu bringen. Wenn die Begierde nurstark genug ist, um nach Überwindung der Unlust - und seisie absolut genommen noch so groß - noch in irgendeinemGrade vorhanden zu sein, so kann die Lust an der Befriedi-gung doch noch in voller Größe durchgekostet werden. DieBegierde bringt also die Unlust nicht direkt in Beziehung zuder erreichten Lust, sondern indirekt, indem sie ihre eigeneGroße (im Verhältnis) zu der der Unlust in eine Beziehungbringt. Nicht darum handelt es sich, ob die zu erreichendeLust oder Unlust großer ist, sondern darum, ob die Begierdenach dem erstrebten Ziele oder der Widerstand der ent-gegentretenden Unlust größer ist. Ist dieser Widerstandgrößer als die Begierde, dann ergibt sich die letztere in dasUnvermeidliche, erlahmt und strebt nicht weiter. Dadurch,daß Befriedigung in einer bestimmten Art verlangt wird,gewinnt die mit ihr zusammenhängende Lust eine Bedeu-tung, die es ermöglicht, nach eingetretener Befriedigung dasnotwendige Unlustquantum nur insofern in die Rechnungeinzustellen, als es das Maß unserer Begierde verringert hat.Wenn ich ein leidenschaftlicher Freund von Fernsichten bin,so berechne ich niemals: wieviel Lust macht mir der Blickvon dem Berggipfel aus, direkt verglichen mit der Unlust

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des mühseligen Auf- und Abstiegs. Ich überlege aber: obnach Überwindung der Schwierigkeiten meine Begierde nachder Fernsicht noch lebhaft genug sein wird. Nur mittelbardurch die Größe der Begierde können Lust und Unlust zu-sammen ein Ergebnis liefern. Es fragt sich also gar nicht, obLust oder Unlust im Übermaße vorhanden ist, sondern obdas Wollen der Lust stark genug ist, die Unlust zu über-winden.

Ein Beweis für die Richtigkeit dieser Behauptung ist derUmstand, daß der Wert der Lust höher angeschlagen wird,wenn sie durch große Unlust erkauft werden muß, als dann,wenn sie uns gleichsam wie ein Geschenk des Himmels inden Schoß fällt. Wenn Leiden und Qualen unsere Begierdeherabgestimmt haben, und dann das Ziel doch noch erreichtwird, dann ist eben die Lust im Verhältnis zu dem nochübriggebliebenen Quantum der Begierde um so größer. Die-ses Verhältnis stellt aber, wie ich gezeigt habe, den Wert derLust dar (vgl. S. 221 f.). Ein weiterer Beweis ist dadurch ge-geben, daß die Lebewesen (einschließlich des Menschen) ihreTriebe so lange zur Entfaltung bringen, als sie imstandesind, die entgegenstehenden Schmerzen und Qualen zu er-tragen. Und der Kampf ums Dasein ist nur die Folge dieserTatsache. Das vorhandene Leben strebt nach Entfaltung,und nur derjenige Teil gibt den Kampf auf, dessen Begier-den durch die Gewalt der sich auftürmenden Schwierigkeitenerstickt werden. Jedes Lebewesen sucht so lange nach Nah-rung, bis der Nahrungsmangel sein Leben zerstört. Undauch der Mensch legt erst Hand an sich selber, wenn er(mit Recht oder Unrecht) glaubt, die ihm erstrebenswertenLebensziele nicht erreichen zu können. Solange er aber nochan die Möglichkeit glaubt, das nach seiner Ansicht Erstre-

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benswerte zu erreichen, kämpft er gegen alle Qualen undSchmerzen an. Die Philosophie müßte dem Menschen erstdie Meinung beibringen, daß Wollen nur dann einen Sinnhat, wenn die Lust größer als die Unlust ist; seiner Naturnach will er die Gegenstände seines Begehrens erreichen,wenn er die dabei notwendig werdende Unlust ertragenkann, sei sie dann auch noch so groß. Eine solche Philosophiewäre aber irrtümlich, weil sie das menschliche Wollen voneinem Umstände abhängig macht (Überschuß der Lust überdie Unlust), der dem Menschen ursprünglich fremd ist. Derursprüngliche Maßstab des Wollens ist die Begierde, unddiese setzt sich durch, solange sie kann. Man kann die Rech-nung, welche das Leben, nicht eine verstandesmäßige Philo-sophie, anstellt, wenn Lust und Unlust bei Befriedigungeines Begehrens in Frage kommen, mit dem folgenden ver-gleichen. Wenn ich gezwungen bin, beim Einkaufe eines be-stimmten Quantums Äpfel doppelt so viele schlechte alsgute mitzunehmen - weil der Verkäufer seinen Platz freibekommen will - so werde ich mich keinen Moment besin-nen, die schlechten Äpfel mitzunehmen, wenn ich den Wertder geringeren Menge guter für mich so hoch veranschlagendarf, daß ich zu dem Kaufpreis auch noch die Auslagen fürHinwegschaffung der schlechten Ware auf mich nehmenwill. Dies Beispiel veranschaulicht die Beziehung zwischenden durch einen Trieb bereiteten Lust- und Unlustmengen.Ich bestimme den Wert der guten Äpfel nicht dadurch, daßich ihre Summe von der der schlechten subtrahiere, sonderndanach, ob die ersteren trotz des Vorhandenseins der letz-teren noch einen Wert behalten.

Ebenso wie ich bei dem Genuß der guten Äpfel die schlech-ten unberücksichtigt lasse, so gebe ich mich der Befriedigung

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einer Begierde hin, nachdem ich die notwendigen Qualenabgeschüttelt habe.

Wenn der Pessimismus auch recht hätte mit seiner Be-hauptung, daß in der Welt mehr Unlust als Lust vorhandenist: auf das Wollen wäre das ohne Einfluß, denn die Lebe-wesen streben nach der übrigbleibenden Lust doch. Derempirische Nachweis, daß der Schmerz die Freude über-wiegt, wäre, wenn er gelänge, zwar geeignet, die Aussichts-losigkeit jener philosophischen Richtung zu zeigen, die denWert des Lebens in dem Überschuß der Lust sieht (Eudä-monismus), nicht aber das Wollen überhaupt als unvernünf-tig hinzustellen; denn dieses geht nicht auf einen Überschußvon Lust, sondern auf die nach Abzug der Unlust noch übrig-bleibende Lustmenge. Diese erscheint noch immer als einerstrebenswertes Ziel.

Man hat den Pessimismus dadurch zu widerlegen ver-sucht, daß man behauptete, es sei unmöglich, den Überschußvon Lust oder Unlust in der Welt auszurechnen. Die Mög-lichkeit einer jeden Berechnung beruht darauf, daß die inRechnung zu stellenden Dinge ihrer Größe nach miteinan-der verglichen werden können. Nun hat jede Unlust undjede Lust eine bestimmte Größe (Stärke und Dauer). AuchLustempfindungen verschiedener Art können wir ihrerGröße nach wenigstens schätzungsweise vergleichen. Wirwissen, ob uns eine g ite Zigarre oder ein guter Witz mehrVergnügen macht. Gegen die Vergleichbarkeit verschiedenerLust- und Unlustsorten, ihrer Größe nach, läßt sich somitnichts einwenden. Und der Forscher, der es sich zur Aufgabemacht, den Lust- oder Unlustüberschuß in der Welt zubestimmen, geht von durchaus berechtigten Voraussetzun-gen aus. Man kann die Irrtümlichkeit der pessimistischen

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Resultate behaupten, aber man darf die Möglichkeit einerwissenschaftlichen Abschätzung der Lust- und Unlustmengenund damit die Bestimmung der Lustbilanz nicht anzweifeln.Unrichtig aber ist es, wenn behauptet wird> daß aus demErgebnisse dieser Rechnung für das menschliche Wollenetwas folge. Die Fälle, wo wir den Wert unserer Betätigungwirklich davon abhängig machen, ob die Lust oder die Un-lust einen Überschuß zeigt, sind die, in denen uns die Gegen-stände, auf die unser Tun sich richtet, gleichgültig sind.Wenn es sich mir darum handelt, nach meiner Arbeit mirein Vergnügen durch ein Spiel oder eine leichte Unterhaltungzu bereiten, und es mir völlig gleichgültig ist, was ich zudiesem Zwecke tue, so frage ich mich: was bringt mir dengrößten Überschuß an Lust? Und ich unterlasse eine Betäti-gung unbedingt, wenn sich die Waage nach der Unlustseitehin neigt. Bei einem Kinde, dem wir ein Spielzeug kaufenwollen, denken wir bei der Wahl nach, was ihm die meisteFreude bereitet. In allen anderen Fällen bestimmen wir unsnicht ausschließlich nach der Lustbilanz.

Wenn also die pessimistischen Ethiker der Ansicht sind,durch den Nachweis, daß die Unlust in größerer Mengevorhanden ist als die Lust, den Boden für die selbstloseHingabe an die Kulturarbeit zu bereiten, so bedenken sienicht, daß sich das menschliche Wollen seiner Natur nachvon dieser Erkenntnis nicht beeinflussen läßt. Das Strebender Menschen richtet sich nach dem Maße der nach Über-Windung aller Schwierigkeiten möglichen Befriedigung. DieHoffnung auf diese Befriedigung ist der Grund der mensch-lichen Betätigung. Die Arbeit jedes einzelnen und die ganzeKulturarbeit entspringt aus dieser Hoffnung. Die pessi-mistische Ethik glaubt dem Menschen die Jagd nach dem

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Glücke als eine unmögliche hinstellen zu müssen, damit ersich seinen eigentlichen sittlichen Aufgaben widme. Aberdiese sittlichen Aufgaben sind nichts anderes als die kon-kreten natürlichen und geistigen Triebe; und die Befriedi-gung derselben wird angestrebt trotz der Unlust, die dabeiabfällt. Die Jagd nach dem Glücke, die der Pessimismusausrotten will, ist also gar nicht vorhanden. Die Aufgabenaber, die der Mensch zu vollbringen hat, vollbringt er, weiler sie kraft seines Wesens, wenn er ihr Wesen wirklich er-kannt hat, vollbringen will. Die pessimistische Ethik be-hauptet, der Mensch könne erst dann sich dem hingeben,was er als seine Lebensaufgabe erkennt, wenn er das Strebennach Lust aufgegeben hat. Keine Ethik aber kann je andereLebensaufgaben ersinnen als die Verwirklichung der vonden menschlichen Begierden geforderten Befriedigungen unddie Erfüllung seiner sittlichen Ideale. Keine Ethik kann ihmdie Lust nehmen, die er an dieser Erfüllung des von ihmBegehrten hat. Wenn der Pessimist sagt: strebe nicht nachLust, denn du kannst sie nie erreichen; strebe nach dem, wasdu als deine Aufgabe erkennst, so ist darauf zu erwidern:das ist Menschenart, und es ist die Erfindung einer auf Irr-wegen wandelnden Philosophie, wenn behauptet wird, derMensch strebe bloß nach dem Glücke. Er strebt nach Be-friedigung dessen, was sein Wesen begehrt und hat die kon-kreten Gegenstände dieses Strebens im Auge, nicht ein ab-straktes «Glück»; und die Erfüllung ist ihm eine Lust. Wasdie pessimistische Ethik verlangt: nicht Streben nach Lust,sondern nach Erreichung dessen, was du als deine Lebensauf-gabe erkennst, so trifft sie damit dasjenige, was der Menschseinem Wesen nach will. Der Mensch braucht durch die Phi-losophie nicht erst umgekrempelt zu werden, er braucht

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seine Natur nicht erst abzuwerfen, um sittlich zu sein. Sitt-lichkeit liegt in dem Streben nach einem als berechtigt er-kannten Ziel; ihm zu folgen, liegt im Menschenwesen, so-lange eine damit verknüpfte Unlust die Begierde danachnicht lähmt. Und dieses ist das Wesen alles wirklichen Wol-lens. Die Ethik beruht nicht auf der Ausrottung alles Strebensnach Lust, damit bleichsüchtige abstrakte Ideen ihre Herr-schaft da aufschlagen können, wo ihnen keine starke Sehn-sucht nach Lebensgenuß entgegensteht, sondern auf demstarken, von ideeller Intuition getragenen Wollen, das seinZiel erreicht, auch wenn der Weg dazu ein dornenvoller ist.

Die sittlichen Ideale entspringen aus der moralischenPhantasie des Menschen. Ihre Verwirklichung hängt davonab, daß sie von dem Menschen stark genug begehrt werden,um Schmerzen und Qualen zu überwinden. Sie sind seineIntuitionen, die Triebfedern, die sein Geist spannt; er willsie, weil ihre Verwirklichung seine höchste Lust ist. Er hates nicht nötig, sich von der Ethik erst verbieten zu lassen,daß er nach Lust strebe, um sich dann gebieten zu lassen,wonach er streben soll. Er wird nach sittlichen Idealen stre-ben, wenn seine moralische Phantasie tätig genug ist, umihm Intuitionen einzugeben, die seinem Wollen die Stärkeverleihen, sich gegen die in seiner Organisation liegendenWiderstände, wozu auch notwendige Unlust gehört, durch-zusetzen.

Wer nach Idealen von hehrer Größe strebt, der tut es,weil sie der Inhalt seines Wesens sind, und die Verwirk-lichung wird ihm ein Genuß sein, gegen den die Lust, welchedie Armseligkeit aus der Befriedigung der alltäglichen Triebezieht, eine Kleinigkeit ist. Idealisten schwelgen geistig beider Umsetzung ihrer Ideale in Wirklichkeit.

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Wer die Lust an der Befriedigung des menschlichen Be-gehrens ausrotten will, muß den Menschen erst zum Sklavenmachen, der nicht handelt, weil er will, sondern nur, weiler soll. Denn die Erreichung des Gewollten macht Lust.Was man das Gute nennt, ist nicht das, was der Menschsolly sondern das, was er will, wenn er die volle wahreMenschennatur zur Entfaltung bringt. Wer dies nicht an-erkennt, der muß dem Menschen erst das austreiben, waser will, und ihm dann von außen das vorschreiben lassen,was er seinem Wollen zum Inhalt zu geben hat.

Der Mensch verleiht der Erfüllung einer Begierde einenWert, weil sie aus seinem Wesen entspringt. Das Erreichtehat seinen Wert, weil es gewollt ist. Spricht man dem Zieldes menschlichen Wollens als solchem seinen Wert ab, dannmuß man die wertvollen Ziele von etwas nehmen, das derMensch nicht will.

Die auf den Pessimismus sich aufbauende Ethik ent-springt aus der Mißachtung der moralischen Phantasie. Werden individuellen Menschengeist nicht für fähig hält, sichselbst den Inhalt seines Strebens zu geben, nur der kann dieSumme des Wollens in der Sehnsucht nach Lust suchen. Derphantasielose Mensch schafft keine sittlichen Ideen. Sie müs-sen ihm gegeben werden. Daß er nach Befriedigung seinerniederen Begierden strebt: dafür aber sorgt die physischeNatur. Zur Entfaltung des ganzen Menschen gehören aberauch die aus dem Geiste stammenden Begierden. Nur wennman der Meinung ist, daß diese der Mensch überhaupt nichthat, kann man behaupten, daß er sie von außen empfangensoll. Dann ist man auch berechtigt, zu sagen, daß er ver-pflichtet ist, etwas zu tun, was er nicht will. Jede Ethik, dievon dem Menschen fordert, daß er sein Wollen zurück-

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dränge, um Aufgaben zu erfüllen, die er nicht will, rechnetnicht mit dem ganzen Menschen, sondern mit einem solchen,dem das geistige Begehrungsvermögen fehlt. Für den har-monisch entwickelten Menschen sind die sogenannten Ideendes Guten nicht außerhalb, sondern innerhalb des Kreisesseines Wesens. Nicht in der Austilgung eines einseitigenEigenwillens liegt das sittliche Handeln, sondern in der vol-len Entwickelung der Menschennatur. Wer die sittlichenIdeale nur für erreichbar hält, wenn der Mensch seinenEigenwillen ertötet, der weiß nicht, daß diese Ideale ebensovon dem Menschen gewollt sind, wie die Befriedigung dersogenannten tierischen Triebe.

Es ist nicht zu leugnen, daß die hiermit charakterisiertenAnschauungen leicht mißverstanden werden können. Un-reife Mensdien ohne moralische Phantasie sehen gerne dieInstinkte ihrer Halbnatur für den vollen Menschheitsgehaltan, und lehnen alle nicht von ihnen erzeugten sittlichenIdeen ab, damit sie ungestört «sich ausleben» können. Daßfür die halbentwickelte Menschennatur nicht gilt, was fürden Vollmenschen richtig ist, ist selbstverständlich. Werdurch Erziehung erst noch dahin gebracht werden soll, daßseine sittliche Natur die Eischalen der niederen Leiden-schaften durchbricht: von dem darf nicht in Anspruch ge-nommen werden, was für den reifen Menschen gilt. Hiersollte aber nicht verzeichnet werden, was dem unentwickel-ten Menschen einzuprägen ist, sondern das, was in demWesen des ausgereiften Menschen liegt. Denn es sollte dieMöglichkeit der Freiheit nachgewiesen werden; diese er-scheint aber nicht an Handlungen aus sinnlicher oder seeli-scher Nötigung, sondern an solchen, die von geistigen Intui-tionen getragen sind.

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Dieser ausgereifte Mensch gibt seinen Wert sich selbst.Nicht die Lust erstrebt er, die ihm als Gnadengeschenk vonder Natur oder von dem Schöpfer gereicht wird; und auchnicht die abstrakte Pflicht erfüllt er, die er als solche erkennt,nachdem er das Streben nach Lust abgestreift hat. Er han-delt, wie er will, das ist nach Maßgabe seiner ethischen In-tuitionen; und er empfindet die Erreichung dessen, was erwill, als seinen wahren Lebensgenuß. Den Wert des Lebensbestimmt er an dem Verhältnis des Erreichten zu dem Er-strebten. Die Ethik, welche an die Stelle des Wollens dasbloße Sollen, an die Stelle der Neigung die bloße Pflichtsetzt, bestimmt folgerichtig den Wert des Menschen an demVerhältnis dessen, was die Pflicht fordert, zu dem, was ererfüllt. Sie mißt den Menschen an einem außerhalb seinesWesens gelegenen Maßstab. - Die hier entwickelte Ansichtweist den Menschen auf sich selbst zurück. Sie erkennt nurdas als den wahren Wert des Lebens an, was der einzelnenach Maßgabe seines Wollens als solchen ansieht. Sie weißebensowenig von einem nicht vom Individuum anerkanntenWert des Lebens wie von einem nicht aus diesem entsprun-genen Zweck des Lebens. Sie sieht in dem allseitig durch-schauten wesenhaften Individuum seinen eigenen Herrn undseinen eigenen Schätzer.

Zusatz zur Neuausgabe 1918. Verkennen kann man dasin diesem Abschnitt Dargestellte, wenn man sich festbeißtin den scheinbaren Einwand: das Wollen des Menschen alssolches ist eben das Unvernünftige; man müsse ihm dieseUnvernünftigkeit nachweisen, dann wird er einsehen, daßin der endlichen Befreiung von dem Wollen das Ziel desethischen Strebens liegen müsse. Mir wurde von berufenerSeite allerdings ein solcher Schein-Einwand entgegengehal-

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ten, indem mir gesagt wurde, es sei eben die Sache des Philo-sophen, nachzuholen, was die Gedankenlosigkeit der Tiereund der meisten Menschen versäumt, eine wirkliche Lebens-bilanz zu ziehen. Doch wer diesen Einwand macht, siehteben die Hauptsache nicht: soll Freiheit sich verwirklichen,so muß in der Menschennatur das Wollen von dem intui-tiven Denken getragen sein; zugleich aber ergibt sich, daßein Wollen auch von anderem als von der Intuition be-stimmt werden kann, und nur in der aus der Menschen-wesenheit erfließenden freien Verwirklichung der Intuitionergibt sich das Sittliche und sein Wert. Der ethische In-dividualismus ist geeignet, die Sittlichkeit in ihrer vollenWürde darzustellen, denn er ist nicht der Ansicht, daß wahr-haft sittlich ist, was in äußerer Art Zusammenstimmungeines Wollens mit einer Norm herbeiführt, sondern was ausdem Menschen dann ersteht, wenn er das sittliche Wollenals ein Glied seines vollen Wesens in sich entfaltet, so daßdas Unsittliche zu tun ihm als Verstümmelung, Verkrüppe-lung seines Wesens erscheint.

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XIV

INDIVIDUALITÄT UND GATTUNG

Der Ansidit, daß der Mensdi zu einer vollständigen in sichgeschlossenen, freien Individualität veranlagt ist, stehensdieinbar die Tatsadien entgegen, daß er als Glied innerhalbeines natürlidien Ganzen auftritt (Rasse, Stamm, Volk,Familie, männliches und weiblidies Gesdiledit), und daß erinnerhalb eines Ganzen wirkt (Staat, Kirdie und so weiter).Er trägt die allgemeinen Charaktereigentümlidikeiten derGemeinsdiaft, der er angehört, und gibt seinem Handelneinen Inhalt, der durdi den Platz, den er innerhalb einerMehrheit einnimmt, bestimmt ist.

Ist dabei überhaupt nodi Individualität möglidi? Kannman den Mensdien selbst als ein Ganzes für sidi ansehen,wenn er aus einem Ganzen herauswächst, und in ein Gan-zes sich eingliedert?

Das Glied eines Ganzen wird seinen Eigenschaften undFunktionen nach durch das Ganze bestimmt. Ein Volks-stamm ist ein Ganzes, und alle zu ihm gehörigen Menschentragen die Eigentümlichkeiten an sich, die im Wesen desStammes bedingt sind. Wie der einzelne beschaffen ist undwie er sich betätigt, ist durch den Stammescharakter bedingt.Dadurch erhält die Physiognomie und das Tun des einzel-nen etwas Gattungsmäßiges. Wenn wir nach dem Grundefragen, warum dies und jenes an dem Menschen so oder soist, so werden wir aus dem Einzelwesen hinaus auf die Gat-tung verwiesen. Diese erklärt es uns, warum etwas an ihmin der von uns beobachteten Form auftritt.

Von diesem Gattungsmäßigen macht sich aber der Menschfrei. Denn das menschlich Gattungsmäßige ist, vom Men-

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sehen richtig erlebt, nichts seine Freiheit Einschränkendes,und soll es auch nicht durch künstliche Veranstaltungen sein.Der Mensch entwickelt Eigenschaften und Funktionen ansich, deren Bestimmungsgrund wir nur in ihm selbst suchenkönnen. Das Gattungsmäßige dient ihm dabei nur als Mit-tel, um seine besondere Wesenheit in ihm auszudrücken. Ergebraucht die ihm von der Natur mitgegebenen Eigentüm-lichkeiten als Grundlage und gibt ihm die seinem eigenenWesen gemäße Form. Wir suchen nun vergebens den Grundfür eine Äußerung dieses Wesens in den Gesetzen der Gat-tung. Wir haben es mit einem Individuum zu tun, das nurdurch sich selbst erklärt werden kann. Ist ein Mensch bis zudieser Loslösung von dem Gattungsmäßigen durchgedrun-gen, und wir wollen alles, was an ihm ist, auch dann nochaus dem Charakter der Gattung erklären, so haben wir fürdas Individuelle kein Organ.

Es ist unmöglich, einen Menschen ganz zu verstehen, wennman seiner Beurteilung einen Gattungsbegriff zugrundelegt. Am hartnäckigsten im Beurteilen nach der Gattung istman da, wo es sich um das Geschlecht des Menschen handelt.Der Mann sieht im Weibe, das Weib in dem Manne fastimmer zuviel von dem allgemeinen Charakter des anderenGeschlechtes und zu wenig von dem Individuellen. Im prak-tischen Leben schadet das den Männern weniger als denFrauen. Die soziale Stellung der Frau ist zumeist deshalbeine so unwürdige, weil sie in vielen Punkten, wo sie es seinsollte, nicht bedingt ist durch die individuellen Eigentüm-lichkeiten der einzelnen Frau, sondern durch die allge-meinen Vorstellungen, die man sich von der natürlichenAufgabe und den Bedürfnissen des Weibes macht. Die Be-tätigung des Mannes im Leben richtet sich nach dessen

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individuellen Fähigkeiten und Neigungen, die des Weibessoll ausschließlich durch den Umstand bedingt sein, daß eseben Weib ist. Das Weib soll der Sklave des Gattungsmäßi-gen, des Allgemein-Weiblichen sein. Solange von Männerndarüber debattiert wird, ob die Frau «ihrer Naturanlagenach» zu diesem oder jenem Beruf tauge, solange kann diesogenannte Frauenfrage aus ihrem elementarsten Stadiumnicht herauskommen. Was die Frau ihrer Natur nach wollenkann, das überlasse man der Frau zu beurteilen. Wenn eswahr ist, daß die Frauen nur zu dem Berufe taugen, derihnen jetzt zukommt, dann werden sie aus sich selbst herauskaum einen anderen erreichen. Sie müssen es aber selbstentscheiden können, was ihrer Natur gemäß ist. Wer eineErschütterung unserer sozialen Zustände davon befürchtet,daß die Frauen nicht als Gattungsmenschen, sondern alsIndividuen genommen werden, dem muß entgegnet wer-den, daß soziale Zustände, innerhalb welcher die Hälfte derMenschheit ein menschenunwürdiges Dasein hat, eben derVerbesserung gar sehr bedürftig sind *.

Wer die Menschen nach Gattungscharakteren beurteilt,der kommt eben gerade bis zu der Grenze, über welcher sie

* Man hat mir auf die obigen Ausführungen gleich beim Ersdieinen(1894) dieses Buches eingewendet, innerhalb des Gattungsmäßigenkönne sidi die Frau schon jetzt so individuell ausleben, wie sie nurwill, weit freier als der Mann, der schon durdi die Schule und danndurch Krieg und Beruf entindividualisiert werde. Ich weiß, daß mandiesen Einwand vielleicht heute noch stärker erheben wird. Ich mußdie Sätze doch hier stehen lassen und möchte hoffen, daß es auchLeser gibt, die verstehen, wie stark ein solcher Einwand gegen denFreiheitsbegriff, der in dieser Schrift entwickelt wird, verstößt, unddie meine obigen Sätze an anderem beurteilen als an der Entindivi-dualisierung des Mannes durch die Schule und den Beruf.

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anfangen, Wesen zu sein, deren Betätigung auf freier Selbst-bestimmung beruht. Was unterhalb dieser Grenze liegt, daskann natürlich Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtungsein. Die Rassen-, Stammes-, Volks- und Geschlechtseigen-tümlichkeiten sind der Inhalt besonderer Wissenschaften.Nur Menschen, die allein als Exemplare der Gattung lebenwollten, könnten sich mit einem allgemeinen Bilde decken,das durch solche wissenschaftliche Betrachtung zustandekommt. Aber alle diese Wissenschaften können nicht vor-dringen bis zu dem besonderen Inhalt des einzelnen Indi-viduums. Da, wo das Gebiet der Freiheit (des Denkens undHandelns) beginnt, hört das Bestimmen des Individuumsnach Gesetzen der Gattung auf. Den begrifflichen Inhalt,den der Mensch durch das Denken mit der Wahrnehmungin Verbindung bringen muß, um der vollen Wirklichkeitsich zu bemächtigen (vgl. S. 88 ff.), kann niemand ein fürallemal festsetzen und der Menschheit fertig hinterlassen.Das Individuum muß seine Begriffe durch eigene Intuitiongewinnen. Wie der einzelne zu denken hat, läßt sich nichtaus irgendeinem Gattungsbegriffe ableiten. Dafür ist einzigund allein das Individuum maßgebend. Ebensowenig istaus allgemeinen Menschencharakteren zu bestimmen, welchekonkrete Ziele das Individuum seinem Wollen vorsetzenwill. Wer das einzelne Individuum verstehen will, muß bisin dessen besondere Wesenheit dringen, und nicht bei typi-schen Eigentümlichkeiten stehen bleiben. In diesem Sinneist jeder einzelne Mensch ein Problem. Und alle Wissen-schaft, die sich mit abstrakten Gedanken und Gattungs-begriffen befaßt, ist nur eine Vorbereitung zu jener Er-kenntnis, die uns zuteil wird, wenn uns eine menschlicheIndividualität ihre Art, die Welt anzuschauen, mitteilt, und

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zu der anderen, die wir aus dem Inhalt ihres Wollens ge-winnen. Wo wir die Empfindung haben: hier haben wir esmit demjenigen an einem Menschen zu tun, das frei ist vontypischer Denkungsart und gattungsmäßigem Wollen, damüssen wir aufhören, irgendwelche Begriffe aus unseremGeiste zu Hilfe zu nehmen, wenn wir sein Wesen verstehenwollen. Das Erkennen besteht in der Verbindung des Be-griffes mit der Wahrnehmung durch das Denken. Bei allenanderen Objekten muß der Beobachter die Begriffe durchseine Intuition gewinnen; beim Verstehen einer freien Indi-vidualität handelt es sich nur darum, deren Begriffe, nachdenen sie sich ja selbst bestimmt, rein (ohne Vermischungmit eigenem Begriffsinhalt) herüberzunehmen in unserenGeist. Menschen, die in jede Beurteilung eines anderensofort ihre eigenen Begriffe einmischen, können nie zu demVerständnisse einer Individualität gelangen. So wie diefreie Individualität sich frei macht von den Eigentümlich-keiten der Gattung, so muß das Erkennen sich frei machenvon der Art, wie das Gattungsmäßige verstanden wird.

Nur in dem Grade, in dem der Mensch sich in der gekenn-zeichneten Weise frei gemacht hat vom Gattungsmäßigen,kommt er als freier Geist innerhalb eines menschlichen Ge-meinwesens in Betracht. Kein Mensch ist vollständig Gat-tung, keiner ganz Individualität. Aber eine größere odergeringere Sphäre seines Wesens löst jeder Mensch allmählichab, ebenso von dem Gattungsmäßigen des animalischen Le-bens, wie von den ihn beherrschenden Geboten menschlicherAutoritäten.

Für den Teil, für den sich der Mensch aber eine solcheFreiheit nicht erobern kann, bildet er ein Glied innerhalbdes Natur- und Geistesorganismus. Er lebt in dieser Hin-

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sieht, wie er es andern abguckt, oder wie sie es ihm be-fehlen. Einen im wahren Sinne ethischen Wert hat nur derTeil seines Handelns, der aus seinen Intuitionen entspringt.Und was er an moralischen Instinkten durch Vererbungsozialer Instinkte an sich hat, wird ein Ethisches dadurch,daß er es in seine Intuitionen aufnimmt. Aus individuellenethischen Intuitionen und deren Aufnahme in Menschen-gemeinschaften entspringt alle sittliche Betätigung derMenschheit. Man kann auch sagen: das sittliche Leben derMenschheit ist die Gesamtsumme der moralischen Phan-tasieerzeugnisse der freien menschlichen Individuen. Dies istdas Ergebnis des Monismus.

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DIE LETZTEN FRAGEN

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DIE KONSEQUENZEN DES MONISMUS

Die einheitliche Welterklärung oder der hier gemeinte Mo-nismus entnimmt der menschlichen Erfahrung die Prin-zipien, die er zur Erklärung der Welt braucht. Die Quellendes Handelns sucht er ebenfalls innerhalb der Beobachtungs-welt, nämlich in der unserer Selbsterkenntnis zugänglichenmenschlichen Natur, und zwar in der moralischen Phantasie.Er lehnt es ab, durch abstrakte Schlußfolgerungen dieletzten Gründe für die dem Wahrnehmen und Denkenvorliegende Welt außerhalb derselben zu suchen. Für denMonismus ist die Einheit, welche die erlebbare denkendeBeobachtung zu der mannigfaltigen Vielheit der Wahrneh-mungen hinzubringt, zugleich diejenige, die das menschlicheErkenntnisbedürfnis verlangt und durch die es den Eingangin die physischen und geistigen Weltbereiche sucht. Wer hin-ter dieser so zu suchenden Einheit noch eine andere sucht,der beweist damit nur, daß er die Übereinstimmung desdurch das Denken Gefundenen mit dem vom Erkenntnis-trieb Geforderten nicht erkennt. Das einzelne menschlicheIndividuum ist von der Welt nicht tatsächlich abgesondert.Es ist ein Teil der Welt, und es besteht ein Zusammenhangmit dem Ganzen des Kosmos der Wirklichkeit nach, der nurfür unsere Wahrnehmung unterbrochen ist. Wir sehen fürserste diesen Teil als für sich existierendes Wesen, weil wirdie Riemen und Seile nicht sehen, durch welche die Bewe-gung unseres Lebensrades von den Grundkräften des Kos-mos bewirkt wird. Wer auf diesem Standpunkt stehenbleibt, der sieht den Teil eines Ganzen für ein wirklich selb-ständig existierendes Wesen, für die Monade an, welches dieKunde von der übrigen Welt auf irgendeine Weise von

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außen erhält. Der hier gemeinte Monismus zeigt, daß dieSelbständigkeit nur so lange geglaubt werden kann, als dasWahrgenommene nicht durch das Denken in das Netz derBegriffswelt eingespannt wird. Geschieht dies, so entpupptsich die Teilexistenz als ein bloßer Schein des Wahrnehmens.Seine in sich geschlossene Totalexistenz im Universum kannder Mensch nur finden durch intuitives Denkerlebnis. DasDenken zerstört den Schein des Wahrnehmens und gliedertunsere individuelle Existenz in das Leben des Kosmos ein.Die Einheit der Begriffswelt, welche die objektiven Wahr-nehmungen enthält, nimmt auch den Inhalt unserer subjek-tiven Persönlichkeit in sich auf. Das Denken gibt uns vonder Wirklichkeit die wahre Gestalt, als einer in sich ge-schlossenen Einheit, während die Mannigfaltigkeit derWahrnehmungen nur ein durch unsere Organisation beding-ter Schein ist (vgl. S. 174 ff.). Die Erkenntnis des Wirklichengegenüber dem Schein des Wahrnehmens bildete zu allenZeiten das Ziel des menschlichen Denkens. Die Wissenschaftbemühte sich, die Wahrnehmungen durch Aufdeckung dergesetzmäßigen Zusammenhänge innerhalb derselben alsWirklichkeit zu erkennen. Wo man aber der Ansicht war,daß der von dem menschlichen Denken ermittelte Zusam-menhang nur eine subjektive Bedeutung habe, suchte manden wahren Grund der Einheit in einem jenseits unserer Er-fahrungswelt gelegenen Objekte (erschlossener Gott, Wille,absoluter Geist usw.).-Und, auf diese Meinung gestützt, be-strebte man sich zu dem Wissen über die innerhalb derErfahrung erkennbaren Zusammenhänge noch ein zweiteszu gewinnen, das über die Erfahrung hinausgeht, und denZusammenhang derselben mit den nicht mehr erfahrbarenWesenheiten aufdeckt (nicht durch Erleben, sondern durch

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Schlußfolgerung gewonnene Metaphysik). Den Grund,warum wir durch geregeltes Denken den Weltzusammen-hang begreifen, sah man von diesem Standpunkte aus darin,daß ein Urwesen nach logischen Gesetzen die Welt aufgebauthat, und den Grund für unser Handeln sah man in dem Wol-len des Urwesens. Doch erkannte man nicht, daß das DenkenSubjektives und Objektives zugleich umspannt, und daß indem Zusammenschluß der Wahrnehmung mit dem Begriffdie totale Wirklichkeit vermittelt wird. Nur solange wir diedie Wahrnehmung durchdringende und bestimmende Ge-setzmäßigkeit in der abstrakten Form des Begriffes betrach-ten, solange haben wir es in der Tat mit etwas rein Subjek-tivem zu tun. Subjektiv ist aber nicht der Inhalt des Be-griffes, der mit Hilfe des Denkens zu der Wahrnehmunghinzugewonnen wird. Dieser Inhalt ist nicht aus dem Sub-jekte, sondern aus der Wirklichkeit genommen. Er ist derTeil der Wirklichkeit, den das Wahrnehmen nicht erreichenkann. Er ist Erfahrung, aber nicht durch das Wahrnehmenvermittelte Erfahrung. Wer sich nicht vorstellen kann, daßder Begriff ein Wirkliches ist, der denkt nur an die abstrakteForm, wie er denselben in seinem Geiste festhält. Aber insolcher Absonderung ist er ebenso nur durch unsere Organi-sation vorhanden, wie die Wahrnehmung es ist. Auch derBaum, den man wahrnimmt, hat abgesondert für sich keineExistenz. Er ist nur innerhalb des großen Räderwerkes derNatur ein Glied, und nur in realem Zusammenhang mit ihrmöglich. Ein abstrakter Begriff hat für sich keine Wirklich-keit, ebensowenig wie eine Wahrnehmung für sich. DieWahrnehmung ist der Teil der Wirklichkeit, der objektiv,der Begriff derjenige, der subjektiv (durch Intuition, vgl.Seite 95 ff.) gegeben wird. Unsere geistige Organisation

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reißt die Wirklichkeit in diese beiden Faktoren auseinander.Der eine Faktor erscheint dem Wahrnehmen, der andere derIntuition. Erst der Zusammenhang der beiden, die gesetz-mäßig sich in das Universum eingliedernde Wahrnehmung,ist volle Wirklichkeit. Betrachten wir die bloße Wahrneh-mung für sich, so haben wir keine Wirklichkeit, sondern einzusammenhangloses Chaos; betrachten wir die Gesetzmä-ßigkeit der Wahrnehmungen für sich, dann haben wir esbloß mit abstrakten Begriffen zu tun. Nicht der abstrakteBegriff enthält die Wirklichkeit; wohl aber die denkendeBeobachtung, die weder einseitig den Begriff, noch dieWahrnehmung für sich betrachtet, sondern den Zusammen-hang beider.

Daß wir in der Wirklichkeit leben (mit unserer realenExistenz in derselben wurzeln), wird selbst der orthodoxestesubjektive Idealist nicht leugnen. Er wird nur bestreiten,daß wir ideell mit unserem Erkennen auch das erreichen,was wir real durchleben. Demgegenüber zeigt der Monis-mus, daß das Denken weder subjektiv, noch objektiv, son-dern ein beide Seiten der Wirklichkeit umspannendes Prin-zip ist. Wenn wir denkend beobachten, vollziehen wir einenProzeß, der selbst in die Reihe des wirklichen Geschehensgehört. Wir überwinden durch das Denken innerhalb derErfahrung selbst die Einseitigkeit des bloßen Wahrnehmens.Wir können durch abstrakte, begriffliche Hypothesen (durchrein begriffliches Nachdenken) das Wesen des Wirklichennicht erklügeln, aber wir leben, indem wir zu den Wahrneh-mungen die Ideen finden, in dem Wirklichen. Der Monismussucht zu der Erfahrung kein Unerfahrbares (Jenseitiges),sondern sieht in Begriff und Wahrnehmung das Wirkliche.Er spinnt aus bloßen abstrakten Begriffen keine Metaphy-

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sik, weil er in dem Begriffe an sich nur die eine Seite derWirklichkeit sieht, die dem Wahrnehmen verborgen bleibtund nur im Zusammenhang mit der Wahrnehmung einenSinn hat. Er ruft aber in dem Menschen die Überzeugunghervor, daß er in der Welt der Wirklichkeit lebt und nichtaußerhalb seiner Welt eine unerlebbare höhere Wirklichkeitzu suchen hat. Er hält davon ab, das Absolut-Wirkliche an-derswo als in der Erfahrung zu suchen, weil er den Inhaltder Erfahrung selbst als das Wirkliche erkennt. Und er istbefriedigt durch diese Wirklichkeit, weil er weiß, daß dasDenken die Kraft hat, sie zu verbürgen. Was der Dualismuserst hinter der Beobachtungswelt sucht, das findet der Mo-nismus in dieser selbst. Der Monismus zeigt, daß wir mitunserem Erkennen die Wirklichkeit in ihrer wahren Gestaltergreifen, nicht in einem subjektiven Bilde, das sich zwischenden Menschen und die Wirklichkeit einschöbe. Für den Mo-nismus ist der Begriffsinhalt der Welt für alle menschlichenIndividuen derselbe (vgl. S. 89 ff.). Nach monistischenPrinzipien betrachtet ein menschliches Individuum ein an-deres als seinesgleichen, weil es derselbe Weltinhalt ist, dersich in ihm auslebt. Es gibt in der einigen Begriffswelt nichtetwa so viele Begriffe des Löwen, wie es Individuen gibt,die einen Löwen denken, sondern nur einen. Und der Be-griff, den A zu der Wahrnehmung des Löwen hinzufügt, istderselbe, wie der des B, nur durch ein anderes Wahrneh-mungssubjekt aufgefaßt (vgl. S. 90 f.). Das Denken führt alleWahrnehmungssubjekte auf die gemeinsame ideelle Einheitaller Mannigfaltigkeit. Die einige Ideenwelt lebt sich inihnen als in einer Vielheit von Individuen aus. Solange sichder Mensch bloß durch Selbstwahrnehmung erfaßt, siehter sich als diesen besonderen Menschen an; sobald er auf die

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in ihm aufleuchtende, alles Besondere umspannende Ideen-welt blickt, sieht er in sich das absolut Wirkliche lebendigaufleuchten. Der Dualismus bestimmt das göttliche Urwesenals dasjenige, was alle Menschen durchdringt und in ihnenallen lebt. Der Monismus findet dieses gemeinsame göttlicheLeben in der Wirklichkeit selbst. Der ideelle Inhalt einesandern Menschen ist auch der meinige, und ich sehe ihn nurso lange als einen andern an, als ich wahrnehme, nicht mehraber, sobald ich denke. Jeder Mensch umspannt mit seinemDenken nur einen Teil der gesamten Ideenwelt, und inso-fern unterscheiden sich die Individuen auch durch den tat-sächlichen Inhalt ihres Denkens. Aber diese Inhalte sind ineinem in sich geschlossenen Ganzen, das die Denkinhaltealler Menschen umfaßt. Das gemeinsame Urwesen, das alleMenschen durchdringt, ergreift somit der Mensch in seinemDenken. Das mit dem Gedankeninhalt erfüllte Leben in derWirklichkeit ist zugleich das Leben in Gott. Das bloß er-schlossene, nicht zu erlebende Jenseits beruht auf einemMißverständnis derer, die glauben, daß das Diesseits denGrund seines Bestandes nicht in sich hat. Sie sehen nicht ein,daß sie durch das Denken das finden, was sie zur Erklärungder Wahrnehmung verlangen. Deshalb hat aber auch nochkeine Spekulation einen Inhalt zutage gefördert, der nichtaus der uns gegebenen Wirklichkeit entlehnt wäre. Der durchabstrakte Schlußfolgerung angenommene Gott ist nur derin ein Jenseits versetzte Mensch; der Wille Schopenhauersdie verabsolutierte menschliche Willenskraft; das aus Ideeund Wille zusammengesetzte unbewußte Urwesen Hart-manns eine Zusammensetzung zweier Abstraktionen aus derErfahrung. Genau dasselbe ist von allen anderen auf nichterlebtem Denken ruhenden jenseitigen Prinzipien zu sagen.

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Der menschliche Geist kommt in Wahrheit nie über dieWirklichkeit hinaus, in der wir leben, und er hat es auchnicht nötig, da alles in dieser Welt liegt, was er zu ihrerErklärung braucht. Wenn sich die Philosophen zuletzt be-friedigt erklären mit der Herleitung der Welt aus Prin-zipien, die sie der Erfahrung entlehnen und in ein hypothe-tisches Jenseits versetzen, so muß eine solche Befriedigungauch möglich sein, wenn der gleiche Inhalt im Diesseits be-lassen wird, wohin er für das erlebbare Denken gehört.Alles Hinausgehen über die Welt ist nur ein scheinbares,und die aus der Welt hinausversetzten Prinzipien erklärendie Welt nicht besser, als die in derselben liegenden. Das sichselbst verstehende Denken fordert aber auch gar nicht zueinem solchen Hinausgehen auf, da ein Gedankeninhalt nurinnerhalb der Welt, nicht außerhalb derselben einen Wahr-nehmungsinhalt suchen muß, mit dem zusammen er einWirkliches bildet. Auch die Objekte der Phantasie sind nurInhalte, die ihre Berechtigung erst haben, wenn sie zu Vor-stellungen werden, die auf einen Wahrnehmungsinhalt hin-weisen. Durch diesen Wahrnehmungsinhalt gliedern sie sichder Wirklichkeit ein. Ein Begriff, der mit einem Inhalt er-füllt werden sollte, der außerhalb der uns gegebenen Weltliegen soll, ist eine Abstraktion, der keine Wirklichkeit ent-spricht. Ersinnen können wir nur die Begriffe der Wirklich-keit; um diese selbst zu finden, bedarf es auch noch desWahrnehmens. Ein Urwesen der Welt, für das ein Inhalterdacht wird, ist für ein sich selbst verstehendes Denken eineunmögliche Annahme. Der Monismus leugnet nicht dasIdeelle, er sieht sogar einen Wahrnehmungsinhalt, zu demdas ideelle Gegenstück fehlt, nicht für volle Wirklichkeitan; aber er findet im ganzen Gebiet des Denkens nichts, das

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nötigen könnte, aus dem Erlebnisbereidi des Denkens durchVerleugnung der objektiv geistigen Wirklichkeit des Den-kens herauszutreten. Der Monismus sieht in einer Wissen-schaft, die sich darauf beschränkt, die Wahrnehmungen zubeschreiben, ohne zu den ideellen Ergänzungen derselbenvorzudringen, eine Halbheit. Aber er betrachtet ebenso alsHalbheiten alle abstrakten Begriffe, die ihre Ergänzungnicht in der Wahrnehmung finden und sich nirgends in dasdie beobachtbare Welt umspannende Begriffsnetz einfügen.Er kennt daher keine Ideen, die auf ein jenseits unserer Er-fahrung liegendes Objektives hindeuten, und die den Inhalteiner bloß hypothetischen Metaphysik bilden sollen. Alles,was die Menschheit an solchen Ideen erzeugt hat, sind ihmAbstraktionen aus der Erfahrung, deren Entlehnung ausderselben von ihren Urhebern nur übersehen wird.

Ebensowenig können nach monistischen Grundsätzen dieZiele unseres Handelns aus einem außermenschlichen Jen-seits entnommen werden. Sie müssen, insofern sie gedachtsind, aus der menschlichen Intuition stammen. Der Menschmacht nicht die Zwecke eines objektiven (jenseitigen) Ur-wesens zu seinen individuellen Zwecken, sondern er verfolgtseine eigenen, ihm von seiner moralischen Phantasie gegebe-nen. Die in einer Handlung sich verwirklichende Idee löstder Mensch aus der einigen Ideenwelt los und legt sie seinemWollen zugrunde. In seinem Handeln leben sich also nichtdie aus dem Jenseits dem Diesseits eingeimpften Gebote aus,sondern die der diesseitigen Welt angehörigen menschlichenIntuitionen. Der Monismus kennt keinen solchen Welten-lenker, der außerhalb unserer selbst unseren HandlungenZiel und Richtung setzte. Der Mensch findet keinen solchenjenseitigen Urgrund des Daseins, dessen Ratschlüsse er erf or-

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sehen könnte, um von ihm die Ziele zu erfahren, nach denener mit seinen Handlungen hinzusteuern hat. Er ist auf sichselbst zurückgewiesen. Er selbst muß seinem Handeln einenInhalt geben. Wenn er außerhalb der Welt, in der er lebt,nach Bestimmungsgründen seines Wollens sucht, so forschter vergebens. Er muß sie, wenn er über die Befriedigungseiner natürlichen Triebe, für die Mutter Natur vorgesorgthat, hinausgeht, in seiner eigenen moralischen Phantasiesuchen, wenn es nicht seine Bequemlichkeit vorzieht, vonder moralischen Phantasie anderer sich bestimmen zu lassen,das heißt: er muß alles Handeln unterlassen oder nach Be-stimmungsgründen handeln, die er sich selbst aus der Weltseiner Ideen heraus gibt, oder die ihm andere aus derselbenheraus geben. Er wird, wenn er über sein sinnliches Trieb-leben und über die Ausführung der Befehle anderer Men-schen hinauskommt, durch nichts, als durch sich selbst be-stimmt. Er muß aus einem von ihm selbst gesetzten, durchnichts anderes bestimmten Antrieb handeln. Ideell ist dieserAntrieb allerdings in der einigen Ideenwelt bestimmt; aberfaktisch kann er nur durch den Menschen aus dieser abge-leitet und in Wirklichkeit umgesetzt werden. Für die aktuelleUmsetzung einer Idee in Wirklichkeit durch den Menschenkann der Monismus nur in dem Menschen selbst den Grundrinden.Daß eine Idee zur Handlung werde, muß der Menscherst wollen, bevor es geschehen kann. Ein solches Wollen hatseinen Grund also nur in dem Menschen selbst. Der Menschist dann das letzte Bestimmende seiner Handlung. Er istfrei.

1. Zusatz zur Neuausgabe (1918). Im zweiten Teile diesesBuches wurde versucht, eine Begründung dafür zu geben,daß die Freiheit in der Wirklichkeit des menschlichen Han-

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delns zu finden ist. Dazu war notwendig, aus dem Ge-samtgebiete des menschlichen Handelns diejenigen Teileauszusondern, denen gegenüber bei unbefangener Selbst-beobachtung von Freiheit gesprochen werden kann. Es sinddiejenigen Handlungen, die sich als Verwirklichungen ideel-ler Intuitionen darstellen. Andere Handlungen wird keinunbefangenes Betrachten als freie ansprechen. Aber derMensch wird eben bei unbefangener Selbstbeobachtung sichfür veranlagt halten müssen zum Fortschreiten auf der Bahnnach ethischen Intuitionen und deren Verwirklichung. Dieseunbefangene Beobachtung des ethischen Wesens des Men-schen kann aber für sich keine letzte Entscheidung über dieFreiheit bringen. Denn wäre das intuitive Denken selbst ausirgendeiner andern Wesenheit entspringend, wäre seineWesenheit nicht eine auf sich selbst ruhende, so erwiese sichdas aus dem Ethischen fließende Freiheitsbewußtsein als einScheingebilde. Aber der zweite Teil dieses Buches findetseine naturgemäße Stütze in dem ersten. Dieser stellt dasintuitive Denken als erlebte innere Geistbetätigung des Men-schen hin. Diese Wesenheit des Denkens erlebend verstehen,kommt aber der Erkenntnis von der Freiheit des intuitivenDenkens gleich. Und weiß man, daß dieses Denken frei ist,dann sieht man auch den Umkreis des Wollens, dem dieFreiheit zuzusprechen ist» Den handelnden Menschen wirdfür frei halten derjenige, welcher dem intuitiven Denk-erleben eine in sich ruhende Wesenheit auf Grund der inne-ren Erfahrung zuschreiben darf. Wer solches nicht vermag,der wird wohl keinen irgendwie unanfechtbaren Weg zurAnnahme der Freiheit finden können. Die hier geltend ge-machte Erfahrung findet im Bewußtsein das intuitive Den-ken, das nicht bloß im Bewußtsein Wirklichkeit hat. Und

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sie findet damit die Freiheit als Kennzeichen der aus denIntuitionen des Bewußtseins fließenden Handlungen.

2. Zusatz zur Neuausgabe (1918). Die Darstellung diesesBuches ist aufgebaut auf dem rein geistig erlebbaren intuiti-ven Denken, durch das eine jegliche Wahrnehmung in dieWirklichkeit erkennend hineingestellt wird. Es sollte in demBuche mehr nicht dargestellt werden, als sich von dem Er-lebnis des intuitiven Denkens aus überschauen läßt. Aberes sollte auch geltend gemacht werden, welche Gedanken-gestaltung dieses erlebte Denken erfordert. Und es fordert,daß es im Erkenntnisvorgang als in sich ruhendes Erlebnisnicht verleugnet werde. Daß ihm die Fähigkeit nicht abge-sprochen werde, zusammen mit der Wahrnehmung dieWirklichkeit zu erleben, statt diese erst zu suchen in eineraußerhalb dieses Erlebens liegenden, zu erschließenden Welt,der gegenüber die menschliche Denkbetätigung nur ein Sub-jektives sei. -

Damit ist in dem Denken das Element gekennzeichnet,durch das der Mensch in die Wirklichkeit sich geistig hinein-lebt. (Und niemand sollte eigentlich diese auf das erlebteDenken gebaute Weltanschauung mit einem bloßen Ratio-nalismus verwechseln.) Aber andrerseits geht doch wohlaus dem ganzen Geiste dieser Darlegungen hervor, daß dasWahrnehmungselement für die menschliche Erkenntnis eineWirklichkeitsbestimmung erst erhalt, wenn es im Denkenergriffen wird. Außer dem Denken kann die Kennzeichnungals Wirklichkeit nicht liegen. Also darf nicht etwa vor-gestellt werden, daß die sinnliche Art des Wahrnehmens die

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einzige Wirklichkeit verbürge. Was als Wahrnehmung auf-tritt, das muß der Mensch auf seinem Lebenswege schlechter-dings erwarten. Es könnte sich nur fragen: darf aus demGesichtspunkte, der sich bloß aus dem intuitiv erlebten Den-ken ergibt, berechtigt erwartet werden, daß der Menschaußer dem Sinnlichen auch Geistiges wahrnehmen könne?Dies darf erwartet werden. Denn, wenn auch einerseits dasintuitiv erlebte Denken ein im Menschengeiste sich voll-ziehender tätiger Vorgang ist, so ist es andererseits zugleicheine geistige, ohne sinnliches Organ erfaßte Wahrnehmung.Es ist eine Wahrnehmung, in der der Wahrnehmende selbsttätig ist, und es ist eine Selbstbetätigung, die zugleich wahr-genommen wird. Im intuitiv erlebten Denken ist der Menschin eine geistige Welt auch als Wahrnehmender versetzt. Wasihm innerhalb dieser Welt als Wahrnehmung so entgegen-tritt wie die geistige Welt seines eigenen Denkens, das er-kennt der Mensch als geistige Wahrnehmungswelt. Zu demDenken hätte diese Wahrnehmungswelt dasselbe Verhältniswie nach der Sinnenseite hin die sinnliche Wahrnehmungs-welt. Die geistige Wahrnehmungswelt kann dem Menschen,sobald er sie erlebt, nichts Fremdes sein, weil er im intuitivenDenken schon ein Erlebnis hat, das rein geistigen Charakterträgt. Von einer solchen geistigen Wahrnehmungswelt spre-chen eine Anzahl der von mir nach diesem Buche veröffent-lichten Schriften. Diese «Philosophie der Freiheit» ist diephilosophische Grundlegung für diese späteren Schriften.Denn in diesem Buche wird versucht, zu zeigen, daß richtigverstandenes Denk-Erleben schon Geist-Erleben ist. Des-halb scheint es dem Verfasser, daß derjenige nicht vor demBetreten der geistigen Wahrnehmungsweit haltmachen wird,der in vollem Ernste den Gesichtspunkt des Verfassers dieser

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«Philosophie der Freiheit» einnehmen kann. Logisch ab-leiten - durch Schlußfolgerungen - läßt sich aus dem Inhaltedieses Buches allerdings nicht, was in des Verfassers späterenBüchern dargestellt ist. Vom lebendigen Ergreifen des indiesem Buche gemeinten intuitiven Denkens wird sich abernaturgemäß der weitere lebendige Eintritt in die geistigeWahrnehmungswelt ergeben.

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ERSTER ANHANG

(Zusatz zur Neuausgabe 1918)

Einwendungen, die mir gleich nach dem Erscheinen diesesBuches von philosophischer Seite her gemacht worden sind,veranlassen mich, die folgende kurze Ausführung dieserNeuausgabe hinzuzufügen. Ich kann mir gut denken, daßes Leser gibt, die für den übrigen Inhalt dieses Buches Inter-esse haben, die aber das Folgende als ein ihnen überflüssigesund fernliegendes abstraktes Begriffsgespinst ansehen. Siekönnen diese kurze Darstellung ungelesen lassen. Alleininnerhalb der philosophischen Weltbetr achtung tauchen Pro-bleme auf, die mehr in gewissen Vorurteilen der Denker alsim naturgemäßen Gang jedes menschlichen Denkens selbstihren Ursprung haben. Was sonst in diesem Buche behandeltist, das scheint mir eine Aufgabe zu sein, die jeden Menschenangeht, der nach Klarheit ringt in bezug auf das Wesen desMenschen und dessen Verhältnis zur Welt. Das Folgendeaber ist mehr ein Problem, von dem gewisse Philosophenfordern, daß es behandelt werde, wenn von den in diesemBuche dargestellten Dingen die Rede ist, weil diese Philo-sophen sich durch ihre Vorstellungsart gewisse nicht allge-mein vorhandene Schwierigkeiten geschaffen haben. Gehtman ganz an solchen Problemen vorbei, so sind dann ge-wisse Persönlichkeiten schnell mit dem Vorwurf des Dilet-tantismus und dergleichen bei der Hand. Und es entstehtdie Meinung, als ob der Verfasser einer Darstellung wie derin diesem Buche gegebenen mit Ansichten sich nicht ausein-andergesetzt hätte, die er in dem Buche selbst nicht be-sprochen hat.

Das Problem, das ich hier meine, ist dieses: Es gibt Den-

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ker, welche der Meinung sind, daß sich eine besondereSchwierigkeit ergäbe, wenn man begreifen will, wie einanderes menschliches Seelenleben auf das eigene (des Be-trachters) wirken könne. Sie sagen: meine bewußte Welt istin mir abgeschlossen; eine andere bewußte Welt ebenso insich. Ich kann in die Bewußtseinswelt eines andern nichthineinsehen. Wie komme ich dazu, mich mit ihm in einergemeinsamen Welt zu wissen? Diejenige Weltansicht, welchees für möglich hält, von der bewußten Welt aus auf eineunbewußte zu schließen, die nie bewußt werden kann, ver-sucht diese Schwierigkeit in der folgenden Art zu lösen. Siesagt: die Welt, die ich in meinem Bewußtsein habe, ist die inmir repräsentierte Welt einer von mir bewußt nicht zu er-reichenden Wirklichkeitswelt. In dieser liegen die mir unbe-kannten Veranlasser meiner Bewußtseinswelt. In dieser liegtauch meine wirkliche Wesenheit, von der ich ebenfalls nureinen Repräsentanten in meinem Bewußtsein habe. In dieserliegt aber auch die Wesenheit des andern Menschen, der mirgegenübertritt. Was nun im Bewußtsein dieses andern Men-schen erlebt wird, das hat seine von diesem Bewußtsein un-abhängige entsprechende Wirklichkeit in seiner Wesenheit.Diese wirkt in dem Gebiet, das nicht bewußt werden kann,auf meine prinzipielle unbewußte Wesenheit, und dadurchwird in meinem Bewußtsein eine Repräsentanz geschaffenfür das, was in einem von meinem bewußten Erleben ganzunabhängigen Bewußtsein gegenwärtig ist. Man sieht: eswird hier zu der von meinem Bewußtsein erreichbaren Welteine für dieses im Erleben unerreichbare hypothetisch hin-zugedacht, weil man sonst sich zu der Behauptung gedrängtglaubt, alle Außenwelt, die ich meine vor mir zu haben, seinur meine Bewußtseins weit, und das ergäbe die - solipsisti-

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sehe - Absurdität, auch die andern Personen lebten nurinnerhalb meines Bewußtseins.

Klarheit über diese durch manche erkenntnistheoretischeStrömungen der neueren Zeit geschaffene Frage kann mangewinnen, wenn man vom Gesichtspunkte der geistgemäßenBeobachtung, der in der Darstellung dieses Buches einge-nommen ist, die Sache zu überschauen trachtet. Was habe ichdenn zunächst vor mir, wenn ich einer andern Persönlichkeitgegenüberstehe? Ich sehe auf das nächste. Es ist die mir alsWahrnehmung gegebene sinnliche Leibeserscheinung der an-dern Person; dann noch etwa die Gehörwahrnehmung des-sen, was sie sagt, und so weiter. Alles dies starre ich nichtbloß an, sondern es setzt meine denkende Tätigkeit in Be-wegung. Indem ich denkend vor der andern Persönlichkeitstehe, kennzeichnet sich mir die Wahrnehmung gewisser-maßen als seelisch durchsichtig. Ich bin genötigt, im denken-den Ergreifen der Wahrnehmung mir zu sagen, daß sie das-jenige gar nicht ist, als was sie den äußeren Sinnen erscheint.Die Sinneserscheinung offenbart in dem, was sie unmittelbarist, ein anderes, was sie mittelbar ist. Ihr Sich-vor-mich-Hinstellen ist zugleich ihr Auslöschen als bloße Sinnes-erscheinung. Aber was sie in diesem Auslöschen zur Erschei-nung bringt, das zwingt mich als denkendes Wesen, meinDenken für die Zeit ihres Wirkens auszulöschen und an dessenStelle ihr Denken zu setzen. Dieses ihr Denken aber ergreifeich in meinem Denken als Erlebnis wie mein eigenes. Ichhabe dasDenken des andern wirklich wahrgenommen. Denndie als Sinneserscheinung sich auslöschende unmittelbareWahrnehmung wird von meinem Denken ergriffen, und esist ein vollkommen in meinem Bewußtsein liegender Vor-gang, der darin besteht, daß sich an die Stelle meines Den-

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kens das andere Denken setzt. Durch das Sich-Auslöschender Sinneserscheinung wird die Trennung zwischen den bei-den Bewußtseinssphären tatsächlich aufgehoben. Das reprä-sentiert sich in meinem Bewußtsein dadurch, daß ich imErleben des andern Bewußtseinsinhaltes mein eigenes Be-wußtsein ebensowenig erlebe, wie ich es im traumlosenSchlafe erlebe. Wie in diesem mein Tagesbewußtsein aus-geschaltet ist, so im Wahrnehmen des fremden Bewußtseins-inhaltes der eigene. Die Täuschung, als ob dies nicht so sei,rührt nur davon her, daß im Wahrnehmen der andern Per-son erstens an die Stelle der Auslöschung des eigenen Be-wußtseinsinhaltes nicht Bewußtlosigkeit tritt wie im Schlafe,sondern der andere Bewußtseinsinhalt, und zweitens, daßdie Wechselzustände zwischen Auslöschen und Wieder-Auf-leuchten des Bewußtseins von mir selbst zu schnell aufeinan-der folgen, um für gewöhnlich bemerkt zu werden. - Dasganze hier vorliegende Problem löst man nicht durch künst-liche Begriffskonstruktionen, die von Bewußtem auf solchesschließen, das nie bewußt werden kann, sondern durch wah-res Erleben dessen, was sich in der Verbindung von Denkenund Wahrnehmung ergibt. Es ist dies bei sehr vielen Fragender Fall, die in der philosophischen Literatur auftreten. DieDenker sollten den Weg suchen zu unbefangener geist-gemäßer Beobachtung; statt dessen schieben sie vor die Wirk-lichkeit eine künstliche Begriffskonstruktion hin.

In einer Abhandlung Eduard von Hartmanns «Die letz-ten Fragen der Erkenntnistheorie und Metaphysik» (inder Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik,108, Bd. S. 55 ff.) wird meine «Philosophie der Freiheit» indie philosophische Gedankenrichtung eingereiht, die sichauf einen «erkenntnistheoretischen Monismus» stützen wüL

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Ein solcher Standpunkt wird von Eduard von Hartmannals ein unmöglicher abgelehnt. Dem liegt folgendes zugrunde.Gemäß der Vorstellungsart, welche sich in dem genanntenAufsatze zum Ausdruck bringt, gibt es nur drei möglicheerkenntnistheoretische Standpunkte. Entweder man bleibtauf dem naiven Standpunkt stehen, welcher die wahrgenom-menen Erscheinungen als wirkliche Dinge außer dem mensch-lichen Bewußtsein nimmt. Dann fehlte es einem an kritischerErkenntnis. Man sehe nicht ein, daß man mit seinem Be-wußtseinsinhalt doch nur in dem eigenen Bewußtsein sei.Man durchschaue nicht, daß man es nicht mit einem «Tischean sich» zu tun habe, sondern nur mit dem eigenen Bewußt-seinsobjekte. Wer auf diesem Standpunkte bleibe oder durchirgendwelche Erwägungen zu ihm wieder zurückkehre, dersei naiver Realist. Allein dieser Standpunkt sei eben unmög-lich, denn er verkenne, daß das Bewußtsein nur seine eigenenBewußtseinsobjekte habe. Oder man durchschaue diesenSachverhalt und gestehe sich ihn voll ein. Dann werde manzunächst transzendentaler Idealist. Man müsse dann aberablehnen, daß von einem «Dinge an sich» jemals etwas immenschlichen Bewußtsein auftreten könne. Dadurch entgeheman aber nicht dem absoluten Illusionismus, wenn man nurkonsequent genug dazu sei. Denn es verwandelt sich einemdie Welt, der man gegenübersteht, in eine bloße Summe vonBewußtseinsobjekten, und zwar nur von Objekten des eige-nen Bewußtseins. Auch die anderer Menschen sei man dann- absurderweise - gezwungen, nur als im eigenen Bewußt-seinsinhalt allein anwesend zu denken. Ein möglicher Stand-punkt sei nur der dritte, der transzendentale Realismus.Dieser nimmt an, es gibt «Dinge an sich», aber das Bewußt-sein kann in keiner Weise im unmittelbaren Erleben mit

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ihnen zu tun haben. Sie bewirken jenseits des menschlichenBewußtseins auf eine Art, die nicht ins Bewußtsein fällt,daß in diesem die Bewußtseinsobjekte auftreten. Man kannauf diese «Dinge an sich» nur durch Schlußfolgerung aus demallein erlebten, aber eben bloß vorgestellten Bewußtseins-inhalt kommen. Eduard von Hartmann behauptet nun indem genannten Aufsatze, ein «erkenntnistheoretischer Mo-nismus», als den er meinen Standpunkt auffaßt, müsse sichin Wirklichkeit zu einem der drei Standpunkte bekennen; ertue es nur nicht, weil er die tatsächlichen Konsequenzen seinerVoraussetzungen nicht ziehe. Und dann wird in dem Auf-satz gesagt: «Wenn man herausbekommen will, welchem er-kenntnistheoretischen Standpunkt ein angeblicher erkennt-nistheoretischer Monist angehört, so braucht man ihm nureinige Fragen vorzulegen und ihn zur Beantwortung dersel-ben zu zwingen. Denn von selbst läßt sich kein solcher zurÄußerung über diese Punkte herbei, und auch der Beantwor-tung direkter Fragen wird er auf alle Weise auszuweichensuchen, weil jede Antwort den Anspruch auf erkenntnis-theoretischen Monismus als einen von den drei anderen ver-schiedenen Standpunkt aufhebt. Diese Fragen sind folgende:1. Sind die Dinge in ihrem Bestände kontinuierlich oder in-termittierend? Wenn die Antwort lautet: sie sind kontinuier-lich, so hat man es mit irgendeiner Form des naiven Realis-mus zu tun. Wenn sie lautet: sie sind intermittierend, so liegttranszendentaler Idealismus vor. Wenn sie aber lautet: siesind einerseits (als Inhalte des absoluten Bewußtseins, oderals unbewußte Vorstellungen oder als Wahrnehmungsmög-lichkeiten) kontinuierlich, andererseits (als Inhalte des be-schränkten Bewußtseins) intermittierend, so ist transzen-dentaler Realismus konstatiert. - 2. Wenn drei Personen an

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einem Tisch sitzen, wieviele Exemplare des Tisches sind vor-handen? Wer antwortet: eines, ist naiver Realist; wer ant-wortet: drei, ist transzendentaler Idealist; wer aber ant-wortet: vier, der ist transzendentaler Realist. Es ist dabeiallerdings vorausgesetzt, daß man so ungleichartiges wieden einen Tisch als Ding an sich und die drei Tische als Wahr-nehmungsobjekte in den drei Bewußtseinen unter die ge-meinsame Bezeichnung «Exemplare des Tisches» zusammen-fassen dürfe. Wem dies als eine zu große Freiheit erscheint,der wird die Antwort «einer und drei» geben müssen, an-statt «vier». - 3. Wenn zwei Personen allein in einem Zim-mer zusammen sind, wieviel Exemplare dieser Personen sindvorhanden? Wer antwortet: zwei, ist naiver Realist; werantwortet: vier (nämlich in jedem der beiden Bewußtseineein Ich und ein anderer), der ist transzendentaler Idealist;wer aber antwortet: sechs (nämlich zwei Personen als Dingean sich und vier Vorstellungsobjekte von Personen in denzwei Bewußtseinen), der ist transzendentaler Realist. Werden erkenntnistheoretischen Monismus als einen von diesendrei Standpunkten verschiedenen erweisen wollte, der müßteauf jede dieser drei Fragen eine andere Antwort geben; ichwüßte aber nicht wie diese lauten könnte.» Die Antwortender «Philosophie der Freiheit» müßten so lauten: 1. Wervon den Dingen nur die Wahrnehmungsinhalte erfaßt unddiese für Wirklichkeit nimmt, ist naiver Realist, und ermacht sich nicht klar, daß er eigentlich diese Wahrnehmungs-inhalte nur so lange für bestehend ansehen dürfte, als er aufdie Dinge hinsieht, daß er also, was er vor sich hat, als inter-mittierend denken müßte. Sobald er sich aber klar darüberwird, daß Wirklichkeit nur im gedankendurchsetzten Wahr-nehmbaren vorhanden ist, gelangt er zu der Einsicht, daß

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der als intermittierend auftretende Wahrnehmungsinhaltdurchsetzt von dem im Denken Erarbeiteten sich als kon-tinuierlich offenbart. Als kontinuierlich muß also gelten:der von dem erlebten Denken erfaßte Wahrnehmungsgehalt,von dem das, was nur wahrgenommen wird, als intermit-tierend zu denken wäre, wenn es - was nicht der Fall ist —wirklich wäre, - 2. Wenn drei Personen an einem Tischsitzen, wieviel Exemplare des Tisches sind vorhanden? Esist nur ein Tisch vorhanden; aber so lange die drei Personenbei ihren Wahrnehmungsbildern stehen bleiben wollten,müßten sie sagen: diese Wahrnehmungsbilder sind über-haupt keine Wirklichkeit. Sobald sie zu dem in ihrem Den-ken erfaßten Tisch übergehen, offenbart sich ihnen die eineWirklichkeit des Tisches; sie sind mit ihren drei Bewußt-seinsinhalten in dieser Wirklichkeit vereinigt. - 3. Wennzwei Personen allein in einem Zimmer zusammen sind, wie-viel Exemplare dieser Personen sind vorhanden? Es sindganz gewiß nicht sechs - auch nicht im Sinne des transzen-dentalen Realisten - Exemplare vorhanden, sondern nurzwei. Nur hat jede der Personen zunächst sowohl von sichwie von der anderen Person nur das unwirkliche Wahr-nehmungsbild. Von diesen Bildern sind vier vorhanden, beideren Anwesenheit in den Denktätigkeiten der zwei Per-sonen sich die Ergreifung der Wirklichkeit abspielt. In die-ser Denktätigkeit übergreift eine jede der Personen ihre Be-wußtseinssphäre; die der anderen und der eigenen Personlebt in ihr auf. In den Augenblicken dieses Auflebens sinddie Personen ebensowenig in ihrem Bewußtsein beschlossenwie im Schlafe. Nur tritt in den anderen Augenblicken dasBewußtsein von diesem Aufgehen in dem andern wiederauf, so daß das Bewußtsein einer jeden der Personen im

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denkenden Erleben sich und den andern ergreift. Ich weiß,daß der transzendentale Realist dieses als einen Rückfallin den naiven Realismus bezeichnet. Doch habe ich bereitsin dieser Schrift darauf hingewiesen, daß der naive Realis-mus für das erlebte Denken seine Berechtigung behält. Dertranszendentale Realist laßt sich auf den wahren Sach-verhalt im Erkenntnisvorgang gar nicht ein; er schließt sichvon diesem durch ein Gedankengespinst ab und verstricktsich in diesem. Es sollte der in der «Philosophie der Freiheit»auftretende Monismus auch nicht «erkenntnistheoretischer»genannt werden, sondern, wenn man einen Beinamen will,Gedanken-Monismus. Das alles wurde durch Eduard vonHartmann verkannt. Er ging auf das Spezifische der Dar-stellung in der «Philosophie der Freiheit» nicht ein, sondernbehauptete: ich hätte den Versuch gemacht, den Hegelsdienuniversalistischen Panlogismus mit Humes individualisti-schem Phänomenalismus zu verbinden (S. 71 der Zeitschriftfür Philosophie, 108. Bd., Anmerkung), während in der Tatdie «Philosophie der Freiheit» als solche gar nichts mit die-sen zwei Standpunkten, die sie angeblich zu vereinigen be-strebt ist, zu tun hat. (Hier liegt auch der Grund, warum esmir nicht naheliegen konnte, mich zum Beispiel mit dem «er-kenntnistheoretischen Monismus» Johannes Rehmkes aus-einanderzusetzen. Es ist eben der Gesichtspunkt der «Philo-sophie der Freiheit» ein ganz anderer, als was Eduard vonHartmann und andere erkenntnistheoretischen Monismusnennen.)

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ZWEITER ANHANG

In dem Folgenden wird in allem Wesentlichen wieder-gegeben, was als eine Art «Vorrede» in der ersten Auflagedieses Buches stand. Da es mehr die Gedankenstimmunggibt, aus der ich vor fünfundzwanzig Jahren das Buch nieder-schrieb, als daß es mit dem Inhalte desselben unmittelbaretwas zu tun hätte, setze ich es hier als «Anhang» her. Ganzweglassen möchte ich es aus dem Grunde nicht, weil immerwieder die Ansicht auftaucht, ich habe wegen meiner späte-ren geisteswissenschaftlichen Schriften etwas von meinenfrüheren Schriften zu unterdrücken.

Unser Zeitalter kann die Wahrheit nur aus der Tiefe desmenschlichen Wesens schöpfen wollen"'. Von Schillers be-kannten zwei Wegen:

«Wahrheit suchen wir beide, du außen im Leben, ichinnen

In dem Herzen, und so rindet sie jeder gewiß.Ist das Auge gesund, so begegnet es außen dem Schöpfer;Ist es das Herz, dann gewiß spiegelt es innen die Welt»

wird der Gegenwart vorzüglich der zweite frommen. EineWahrheit, die uns von außen kommt, trägt immer den Stem-pel der Unsicherheit an sich. Nur was einem jeden von unsin seinem eigenen Innern als Wahrheit erscheint, daranmögen wir glauben.

* Ganz weggelassen sind hier nur die allerersten Eingangssätze (derersten Auflage) dieser Ausführungen, die mir heute ganz unwesentlicherscheinen. Was aber des weiteren darin gesagt ist, scheint mir auchgegenwärtig trotz der naturwissenschaftlichen Denkart unserer Zeit-genossen, ja gerade wegen derselben, zu sagen notwendig.

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Nur die Wahrheit kann uns Sicherheit bringen im Ent-wickeln unserer individuellen Kräfte. Wer von Zweifelngequält ist, dessen Kräfte sind gelähmt. In einer Welt, dieihm rätselhaft ist, kann er kein Ziel seines Schaffens finden.

Wir wollen nicht mehr bloß glauben; wir wollen wissen.Der Glaube fordert Anerkennung von Wahrheiten, die wirnicht ganz durchschauen. Was wir aber nicht ganz durch-schauen, widerstrebt dem Individuellen, das alles mit sei-nem tiefsten Innern durchleben will. Nur das Wissen be-friedigt uns, das keiner äußeren Norm sich unterwirft, son-dern aus dem Innenleben der Persönlichkeit entspringt.

Wir wollen auch kein solches Wissen, das in eingefrore-nen Schulregeln sich ein für allemal ausgestaltet hat, und infür alle Zeiten gültigen Kompendien aufbewahrt ist. Wirhalten uns jeder berechtigt, von seinen nächsten Erfahrun-gen, seinen unmittelbaren Erlebnissen auszugehen, und vonda aus zur Erkenntnis des ganzen Universums aufzusteigen.Wir erstreben ein sicheres Wissen, aber jeder auf seine eigeneArt.

Unsere wissenschaftlichen Lehren sollen auch nicht mehreine solche Gestalt annehmen, als wenn ihre AnerkennungSache eines unbedingten Zwanges wäre. Keiner von unsmöchte einer wissenschaftlichen Schrift einen Titel geben,wie einst Fichte: «Sonnenklarer Bericht an das größerePublikum über das eigentliche Wesen der neuesten Philo-sophie. Ein Versuch, die Leser zum Verstehen zu zwingen.»Heute soll niemand zum Verstehen gezwungen werden.Wen nicht ein besonderes, individuelles Bedürfnis zu einerAnschauung treibt, von dem fordern wir keine Anerken-nung, noch Zustimmung. Auch dem noch unreifen Menschen,dem Kinde, wollen wir gegenwärtig keine Erkenntnisse ein-

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trichtern, sondern wir suchen seine Fähigkeiten zu ent-wickeln, damit es nicht mehr zum Verstehen gezwungen zuwerden braucht, sondern verstehen will.

Ich gebe mich keiner Illusion hin in bezug auf dieseCharakteristik meines Zeitalters. Ich weiß, wie viel indi-vidualitätloses Schablonentum lebt und sich breit macht.Aber ich weiß ebenso gut, daß viele meiner Zeitgenossenim Sinne der angedeuteten Richtung ihr Leben einzurichtensuchen. Ihnen möchte ich diese Schrift widmen. Sie soll nicht«den einzig möglichen» Weg zur Wahrheit führen, aber siesoll von demjenigen erzählen, den einer eingeschlagen hat,dem es um Wahrheit zu tun ist.

Die Schrift führt zuerst in abstraktere Gebiete, wo derGedanke scharfe Konturen ziehen muß, um zu sichernPunkten zu kommen. Aber der Leser wird aus den dürrenBegriffen heraus auch in das konkrete Leben geführt. Ichbin eben durchaus der Ansicht, daß man auch in das Äther-reich der Begriffe sich erheben muß, wenn man das Daseinnach allen Richtungen durchleben will. Wer nur mit denSinnen zu genießen versteht, der kennt die Leckerbissen desLebens nicht. Die orientalischen Gelehrten lassen die Ler-nenden erst Jahre eines entsagenden und aszetischen Lebensverbringen, bevor sie ihnen mitteilen, was sie selbst wissen.Das Abendland fordert zur Wissenschaft keine frommenÜbungen und keine Aszese mehr, aber es verlangt dafürden guten Willen, kurze Zeit sich den unmittelbaren Ein-drücken des Lebens zu entziehen, und in das Gebiet derreinen Gedankenwelt sich zu begeben.

Der Gebiete des Lebens sind viele. Für jedes einzelneentwickeln sich besondere Wissenschaften. Das Leben selbstaber ist eine Einheit, und je mehr die Wissenschaften be-

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strebt sind, sich in die einzelnen Gebiete zu vertiefen, destomehr entfernen sie sich von der Anschauung des lebendigenWeltganzen. Es muß ein Wissen geben, das in den einzelnenWissenschaften die Elemente sucht, um den Menschen zumvollen Leben wieder zurückzuführen. Der wissenschaftlicheSpezialforscher will sich durch seine Erkenntnisse ein Be-wußtsein von der Welt und ihren Wirkungen erwerben; indieser Schrift ist das Ziel ein philosophisches: die Wissen-schaft soll selbst organisch-lebendig werden. Die Einzel-wissenschaften sind Vorstufen der hier angestrebten Wissen-schaft. Ein ähnliches Verhältnis herrscht in den Künsten.Der Komponist arbeitet auf Grund der Kompositionslehre.Die letztere ist eine Summe von Kenntnissen, deren Besitzeine notwendige Vorbedingung des Komponierens ist. ImKomponieren dienen die Gesetze der Kompositionslehredem Leben, der realen Wirklichkeit. Genau in demselbenSinne ist die Philosophie eine Kunst. Alle wirklichen Philo-sophen waren Begriffskünstler. Für sie wurden die mensch-lichen Ideen zum Kunstmateriale und die wissenschaftlicheMethode zur künstlerischen Technik. Das abstrakte Denkengewinnt dadurch konkretes, individuelles Leben. Die Ideenwerden Lebensmächte. Wir haben dann nicht bloß ein Wis-sen von den Dingen, sondern wir haben das Wissen zumrealen, sich selbst beherrschenden Organismus gemacht;unser wirkliches, tätiges Bewußtsein hat sich über ein bloßpassives Aufnehmen von Wahrheiten gestellt.

Wie sich die Philosophie als Kunst zur Freiheit des Men-schen verhält, was die letztere ist, und ob wir ihrer teilhaftigsind oder es werden können: das ist die Hauptfrage meinerSchrift. Alle anderen wissenschaftlichen Ausführungen ste-hen hier nur, weil sie zuletzt Aufklärung geben über jene,

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meiner Meinung nach, den Menschen am nächsten liegendenFragen. Eine «Philosophie der Freiheit» soll in diesen Blät-tern gegeben werden.

Alle Wissenschaft wäre nur Befriedigung müßiger Neu-gierde, wenn sie nicht auf die Erhöhung des Daseinswertesder menschlichen Persönlichkeit hinstrebte. Den wahrenWert erhalten die Wissenschaften erst durch eine Darstel-lung der menschlichen Bedeutung ihrer Resultate. Nicht dieVeredlung eines einzelnen Seelenvermögens kann Endzweckdes Individuums sein, sondern die Entwicklung aller in unsschlummernden Fähigkeiten. Das Wissen hat nur dadurchWert, daß es einen Beitrag liefert zur allseitigen Entfaltungder ganzen Menschennatur.

Diese Schrift faßt deshalb die Beziehung zwischen Wis-senschaft und Leben nicht so auf, daß der Mensch sich derIdee zu beugen hat und seine Kräfte ihrem Dienst weihensoll, sondern in dem Sinne, daß er sich der Ideenwelt be-mächtigt, um sie zu seinen menschlichen Zielen, die über diebloß wissenschaftlichen hinausgehen, zu gebrauchen.

Man muß sich der Idee erlebend gegenüberstellen kön-nen; sonst gerät man unter ihre Knechtschaft.

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H I N W E I S E D ER H E R A U S G E B E R

Die Textgrundlage für die Ausgabe innerhalb der Gesamtausgabe bildet dievon Rudolf Steiner wesentlich bearbeitete und erweiterte 2. Auflage (1918)mit den dazugehörenden Manuskripten und Korrekturbogen. Diese 2. Aufla-ge (1918) muß als die eigentliche «Ausgabe letzter Hand» angesehen werden,da die 3. Auflage (1921) nur ein vom Philosophisch-Anthroposophischen Ver-lag besorgter unveränderter Neudruck der 2. Auflage ist.

Für die 13. Auflage (1973) wurde der Text mit dem gesamten Material (Manu-skript und Korrekturbogen) zur Neuausgabe von 1918 genau verglichen.Daraus ergaben sich verschiedene Berichtigungen des seit der Ausgabe von1918 immer wieder gedruckten Textes:

Seite

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17282814

18

it Rudolf Steiner

jetziger Wortlaut:

vor allen andern Dingenwenn ich etwas wollenmußWlolekularbewegungendeswegen vermag uns auchsein Buch über «...setzen jene eben schonvorausnicht anwendbar ist,und sie für sichist dennochim Verhältnis derDiese ist aberkann als eine solcheWesenseitenes den Gegenständenin dem Wahrnehmenso sucht manAber Intuitivesstammt nicht ausIntuitivemmich selbst von andernfrei ist nur der Menschist uns durchebenso wenigsondern ihn in demWeg zur Erlösung

Nachlass-Verwaltunq Buch: 4

früherer Wortlaut:

vor allen Dingenwenn ich etwa etwas wollenmußMolekularschwingungendeshalb vermag uns auchsein Buch «...setzen jene eben voraus

nicht anwendbar,um sie für sichist demnachim Verhältnis vonDieses ist aberkann also als eine solcheWesenheitensie den Gegenständenin dem Wahrnehmbarenso meint manAber Intuitionkommt nicht aus Intuition

mich von andernfrei ist der Menschist durchebenso seltensondern in ihm denWeg der Erlösung

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183 8 im bloß materiellen bloß im materiellen189 28 als der Zweck als ein Zweck196 12/13 die Bekenner ... müßten der Bekenner ... müßte196 Fußnote Naturanlagen Naturanlage196 Fußnote Gesetzen der Gattung in Gesetzen in Einklang

Einklang211 9 Krankheit sei unbefrie- Krankheit sei ein unbefrie-

digtes digtes213 4/5 nachzuweisen sucht nachzuweisen versucht218 18 Gelüsten Gefühlen230 10 wenn es sich mir wenn es sich nur231 26 Was die pessimistische Wenn die pessimistische231 28 sondern nach Erreichung sondern Erreichung238 8 und gibt ihm und gibt ihnen252 31 solchen jenseitigen Ur- solchen Urgrund

grund254 27 der wird wohl keinen der wird noch keinen260 8 denn zunächst dann zunächst268 16 und von da aus um von da aus

Für die 14. Auflage (1978) wurden neben der Berichtigung einiger Druckfeh-ler drei sinngemäße Korrekturen - die zwar nicht auf Rudolf Steiner zurück-gehen, aber in der 4. Auflage (1929) bis zur 12. Auflage (1968) enthalten waren- wieder eingefügt:

20128255

259

14

Unterschiedmeintstatt

Umstandsuchtsondern

Für die 15. Auflage (1987) wurde der Text neu durchgesehen, wobei sich Kor-rekturen in Interpunktion und Orthographie und Berichtigungen bei Zitatenergaben. Alle vorkommenden Verweise auf andere Stellen im Text wurdenmit den zu Rudolf Steiners Lebzeiten erschienenen Ausgaben (1894, 1918,1921) verglichen und gegebenenfalls präzisiert. Erstmals konnten auch alle Zi-tate und ausdrücklichen Bezüge auf Texte (u. a. auf Eduard von HartmannsKritiken) genau nachgewiesen werden. Das Namenregister wurde vervoll-ständigt.

Folgendes Fürwort wurde aus grammatikalischen Gründen korrigiert, weilRudolf Steiner bei der Änderung des Hauptwortes «Wesen» statt «Mensch» inder 2. Auflage (1918) die Angleichung des Fürwortes entgangen war:

es er

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Zur Entstehung der Philosophie der Freiheit

Rudolf Steiners philosophische Beschäftigung mit der Freiheitsfragebegann schon in der Jugendzeit und fand einen markanten ÖffentlichenAusdruck in dem Sendschreiben «Die Natur und unsere Ideale» (1886),das Steiner später als die «Urzelle» der «Philosophie der Freiheit»bezeichnet hat. Im Frühjahr 1892 erschien Rudolf Steiners erweiterteDissertation «Wahrheit und Wissenschaft» mit dem Untertitel «Vorspieleiner Thilosophie der Freiheit'». Im November 1893 folgte dann dieangekündigte «Philosophie der Freiheit» selbst (mit eingedrucktemVerlagsjahr 1894).

Unter den vielen Reaktionen ragen Eduard von Hartmanns Randbe-merkungen zur «Philosophie der Freiheit» hervor. Rudolf Steiner hattedem verehrten Philosophen Eduard von Hartmann sein Werk persönlichüberreicht und dieser hat es sogleich mit lebhaftem Interesse studiert. Ertrug zahlreiche kritische Randbemerkungen und Kommentare sowieUnterstreichungen und Anstreichungen in sein Exemplar ein und sandtedieses schon am 21. November 1893 an Rudolf Steiner zurück.

Schon gleich beim Erscheinen der «Philosophie der Freiheit» hatteRudolf Steiner an Ergänzungen und Änderungen für eine eventuellezweite Auflage gedacht. Nachdem das Werk schon viele Jahre vergriffenwar, nahm Rudolf Steiner 1917 eine Neuausgabe in Angriff, die imFrühjahr 1918 erschien. Der Text wurde dazu u. a. aufgrund der Hart-mannschen Kommentare und anderer Kritiken und Rezensionen sowieim Hinblick auf eine bessere Verständlichkeit neu redigiert. Als Druck-vorlage verwendete Rudolf Steiner ein aufgeschnittenes Exemplar derErstausgabe, in das er seine Ergänzungen und Korrekturen handschrift-lich eintrug. Diese Unterlagen sind weitgehend erhalten und, zusammenmit sämtlichen anderen erhaltenen Manuskriptblättern und Dokumen-ten, faksimiliert wiedergegeben in einem Dokumente-Band zur «Philo-sophie der Freiheit». Dieser Dokumente-Band enthält auch sämtlicheRandbemerkungen Eduard von Hartmanns sowie alle bekannten Rezen-sionen, eine Chronik zur «Philosophie der Freiheit» und ein Verzeichnisder Äußerungen Rudolf Steiners über seine «Philosophie der Freiheit».

Rudolf Steiner, «Dokumente zur Thilosophie der Freiheit*». Fak-simile der Erstausgabe 1894 mit den handschriftlichen Eintragungen fürdie Neuausgabe 1918 sowie Manuskriptblätter, Rezensionen, Eduard vonHartmanns Randbemerkungen und weitere Materialien, Gesamtausgabe4a, Dornach 1994, 543 S.

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Zu Seite

9 in späteren Schriften von mir: Siehe dazu die Übersicht über die RudolfSteiner Gesamtausgabe am Schluß dieses Bandes. Auf seine anderenSchriften verweist Rudolf Steiner auch auf den Seiten 11,148,256f., 267.

11 «Rätsel der Philosophie»: «Die Rätsel der Philosophie in ihrer Geschichteals Umriß dargestellt», 2 Bde., Berlin o.J. (1914); 9. Auflage, in einemBand, Dornach 1985, GA Bibl.-Nr. 18.

15 f. David Friedrich Strauß, «Der alte und der neue Glaube», Leipzig 1872;Gesammelte Schriften, 6. Bd., Bonn 1877, S. 167 (§ 76).

16 Herbert Spencer, «Die Prinzipien der Psychologie», Autorisierte deutscheAusgabe nach der dritten englischen Auflage übersetzt von Dr. B. Vetter,1. Bd., Stuttgart 1882, S. 522 (§ 219). Der im Zitat in Klammern gesetzteHinweis «(der Psychologie)» wurde von Rudolf Steiner hinzugefügt.

17f. Spinoza: Siehe «Die Briefe mehrerer Gelehrten an Benedict von Spinozaund dessen Antworten soweit beide zum besseren Verständniß seinerSchriften dienen», übersetzt und erläutert von J. H. v. Kirchmann, Hei-delberg 1882, S. 204 f. (Zweiundsechzigster Brief, Oktober oder Novem-ber 1674). (Die Ausgabe «Spinoza, Briefwechsel» übertragen und mitEinleitung, Anmerkung und Register versehen von Carl Gebhardt,Leipzig 1914, S. 235 (58. Brief) gibt den Arzt und Alchymisten GeorgHermann Schuller als Adressaten dieses Briefes an.)

18 «Nehmen Sie nun ...»: Die Hervorhebung dieser Stelle erfolgte durchRudolf Steiner.

20 Eduard von Hartmann, «Phänomenologie des sittlichen Bewußtseins,Prolegomena zu jeder künftigen Ethik», 2. Auflage, Berlin 1879, S. 451 f.(2. Abteilung, A, III, 5).

22 Roben Hamerling, «Die Atomistik des Willens, Beiträge zur Kritik dermodernen Erkenntniß», 2 Bde., Hamburg 1891, 2. Bd., S. 213 f.

23f. Paul Ree. «Die Illusion der Willensfreiheit», Berlin 1885, S. 5 und 6.

25 Hegel, «Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundris-se» (1817), Vorrede zur zweiten Ausgabe, Heidelberg 1827, S. XX;Georg Wilhelm Friedrich Hegel's Werke, vollständige Ausgabe durcheinen Verein von Freunden des Verewigten, 6. Bd., Berlin 1840, S. XXII.

27 «Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust»: Goethe, «Faust» I, Vor demTor, Verse 1112-1117.

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32f. Friedrieb Albert Lange, «Geschichte des Materialismus und Kritik seinerBedeutung in der Gegenwart», 2 Bde., Iserlohn 1866 und 1875. Das an-geführte Zitat: Bd. II, S. 431 (Zweites Buch, Dritter Abschnitt, IV). Dieim Zitat durch drei Punkte gekennzeichnete Auslassung lautet: «wieHelmholtz sagt».

33 Goethe, «Naturwissenschaftliche Schriften», herausgegeben und kom-mentiert von Rudolf Steiner in Kürschners «Deutsche National-Littera-tur», 5 Bde., 1884-97, Nachdruck Dornach 1975, GA Bibl-Nr. la-e,Bd. 2 (1887), GA Bibl.-Nr. lb, S. 5 und 7.

36 Billardkugel: Vgl. dazu David Hume, «Eine Untersuchung in Betreff desmenschlichen Verstandes», übersetzt, erläutert und mit einer Lebensbe-schreibung Hume's versehen von J.H.v. Kirchmann, vierte Auflage,Heidelberg 1888, S. 31-33 (Abteilung IV, Skeptische Zweifel in Betreffder Thätigkeiten des Verstandes, Abschnitt I).

37 Theodor Ziehen, «Leitfaden der physiologischen Psychologie, in 15 Vor-lesungen», Zweite vermehrte und verbesserte Auflage, Jena 1893, S. 171.

43 f. das erste Buch Mose: 1. Mose 1, 31.

45 Pierre Jean Georges Gabanis, «Rapports du physique et du moral deThomme», 2 Bde., Paris An X - 1802, Bd. 1, S. 151 (second memoire,§ 7). Deutsche Übersetzung: 2 Bde., Halle 1804.

46 Cartesius ... ich denke, also bin ich: Rene Descartes, «Discours de la me-thode» (1673), I, 7 und 10; und (nicht wörtlich) «Meditationes de primaphilosophia» (1641), 2. Meditation.

48 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, «Erster Entwurf eines Systems derNaturphilosophie», Jena und Leipzig 1799, S. 6, wörtlich: «Über dieNatur phüosophiren heißt die Natur schaffen»; «Sämtliche Werke»,Erste Abteilung, Dritter Band, Stuttgart und Augsburg 1858, S. 13.

49 Einwand ... den Pascal dem Cartesius machte ...: ich gehe spazieren, alsobin ich: Konnte bei Pascal nicht nachgewiesen werden. Descartes selbstaber prägt diesen Satz, um Peter Gassendis Einwände zusammenzufas-sen. Schon vor der Veröffentlichung seiner «Meditationes de prima phi-losophia» machte Descartes sein Werk einer Reihe von Philosophenund Theologen zugänglich, deren Einwände er zusammen mit seinen ei-genen Antworten im Anhang an den eigentlichen Traktat also schon inder ersten Ausgabe von 1641 abdrucken konnte. Der fünfte der sechsEinwände ist von Gassendi, den Satz «ego ambulo, ergo sum» führt Des-cartes im Abschnitt I seiner Antwort auf den Einwand gegen die zweiteMeditation an («Oeuvres de Descartes», publie par Charles Adam etPaul Tannery, vol. VII, Paris 1904, p. 352).

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55 Persönlichkeit, welche der Verfasser ... sehr hochschätzt: Gemeint ist derPhilosoph Eduard von Hartmann (1842-1906). Schon Rudolf Steinerserweiterte Dissertation «Wahrheit und Wissenschaft, Vorspiel einer< Philosophie der Freiheit >» (Weimar 1892) trug die gedruckte Wid-mung: «Dr. Eduard von Hartmann in warmer Verehrung zugeeignet.»Auch seine «Philosophie der Freiheit» hatte Rudolf Steiner an Hart-mann gesandt, und dieser hat sie innerhalb von zwei Wochen gründlichstudiert und, versehen mit zahlreichen Kommentaren, Randbemerkun-gen und Anstreichungen, an Rudolf Steiner geschickt. Diese Kommen-tare und Randbemerkungen Eduard von Hartmanns sind jetzt veröf-fentlicht in «Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe», Nr. 85/86,Dornach Michaeli 1984. Die Einwendungen Hartmanns, die RudolfSteiner hier erwähnt, beziehen sich auf S. 46 der vorliegenden Ausgabeund lauten: zu Zeile 6f und 8: «nein!», «nein!», zu Zeile 7:

«Er beobachtet auch hier nur die Ergebnisse seiner hervorbringendenTätigkeit, nicht diese selbst; letzteres ist Täuschung, wie wenn wir beirasch aufeinanderfolgender Beleuchtung durch elektrische Funken eineBewegung zu sehen glauben.»

58 Herbert Spencer, «Grundlagen der Philosophie», Autorisierte deutscheAusgabe, nach der vierten englischen Auflage übersetzt von B. Vetter,Stuttgart 1875, S. 69f. (IV. Kapitel «Die Relativität aller Erkenntniß»,§23).

63 Als Dr. Franz einen Blindgeborenen operierte: Im Jahre 1840. Siehe denAbdruck des klinischen Berichtes «Die Wahrnehmungswelt eines Blind-geborenen vor und nach der Operation, Bericht über den Fall einesblindgeborenen jungen Mannes, welcher in seinem 18. Jahr erfolgreichoperiert wurde, mit physiologischen Beobachtungen und Experimentendurch J.C.August Franz, Leipzig» in: «Nachrichten der Rudolf Steiner-Nachlaß Verwaltung» (d. i. früherer Titel der «Beiträge zur Rudolf Stei-ner Gesamtausgabe»), Nr. 19, Dornach Michaeli 1967, S. 9-13.

Von Dr. Franz' Patienten und einem anderen Blindgeborenen berich-tet das von Rudolf Steiner mehrfach angeführte Buch von Theodor Zie-hen «Leitfaden der physiologischen Psychologie», Zweite vermehrteund verbesserte Auflage, Jena 1893, S. 59.

65 f. George Berkeley, «Abhandlung über die Principien der menschlichenErkenntniß», Abschnitt VI. Welche Übersetzung aus dem EnglischenRudolf Steiner verwendet hat, konnte nicht festgestellt werden.

69 Otto Liebmann, «Zur Analysis der Wirklichkeit, Eine Erörterung derGrundprobleme der Philosophie», Zweite, beträchtlich vermehrte Auf-lage, Straßburg 1880, S. 28.

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70 Johannes Volkelt, «Immanuel Kant's Erkenntnißtheorie nach ihrenGrundprincipien analysirt, Ein Beitrag zur Grundlegung der Erkennt-nißtheorie», Leipzig 1879, S. 1,

70 f. Eduard von Hartmann, «Grundprobleme der Erkenntnistheorie, Einephänomenologische Durchwanderung der möglichen erkenntnistheore-tischen Standpunkte», Leipzig 1889, S. 16-40.

72 Johannes Müller: Siehe «Zur vergleichenden Physiologie des Gesichts-sinnes der Menschen und der Tiere», Leipzig 1826; «Über die phantasti-schen Gesichtserscheinungen», Koblenz 1826; «Handbuch der Physiolo-gie des Menschen», 2 Bde., Koblenz 1833-40.

73 Hartmann: «Grundprobleme der Erkenntnistheorie» (siehe Hinweis zuS. 70 f.), S. 37.

78 Arthur Schopenhauer, «Die Welt als Wille und Vorstellung», I, § 1.«Arthur Schopenhauers sämtliche Werke in zwölf Bänden», mit Einlei-tung von Dr. Rudolf Steiner, 2. Bd., Stuttgart o.J. (1894), S. 29.

80 Eduard von Hartmann: Siehe Hinweis zu S. 70f.

82 f. «Alle Realität verwandelt sich ...»: Johann Gottlieb Fichte, «Die Bestim-mung des Menschen», 2. Buch; Sämtliche Werke, herausgegeben vonI.H.Fichte, Erste Abteilung, Zweiter Band, Berlin 1845, S. 245.

83 nennt... Eduard von Hartmann transzendentalen Realismus: Siehe des-sen Werk «Kritische Grundlegung des transzendentalen Realismus, EineSichtung und Fortbildung der erkenntnistheoretischen PrinzipienKant's», Zweite, erweiterte Auflage von «Das Ding an sich und seineBeschaffenheit», Berlin 1875.

84 Wilhelm Weygandt, «Entstehung der Träume, Eine psychologischeUntersuchung», Leipzig 1893, S. 37, wörtlich: «Der in der Luftröhrelokalisierte Hustreiz brachte mir einmal die Traumvorstellung, ich trän-ke aus ganz kleinen Gläsern sehr alten Wein, den ich mit größter Vor-sicht hinunterschlürfte, wobei er mir ein Brennen am Kehlkopf verur-sachte.» Siehe auch die von Rudolf Steiner in demselben Band angestri-chene Stelle auf S. 41: «Als ich einst mit sehr großem Durst zu Bett ge-gangen war, kam die Vorstellung, daß ich aus einem Fläschchen starkenalten Cognac trank, der heftig brannte; der intensiveren Empfindungentsprach also ganz korrekt die Vorstellung eines schärfer reizendenGetränkes.»

92 ff. Schopenhauer, «Die Welt als Wille und Vorstellung» II, § 18; «ArthurSchopenhauers sämtliche Werke in zwölf Bänden», mit Einleitung vonDr. Rudolf Steiner, Stuttgart o.J. (1894), 2. Bd., S. 140 und 141.

Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch:4 Seite:278

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98 «Keine Farbe ohne farbempfindendes Auge»: In dieser Form nicht nachge-wiesen. Vgl. aber Arthur Schopenhauer in der Einleitung zu seiner Ab-handlung «Über das Sehn und die Farben»: «die wirkliche Überzeugung[...], daß die Farben, mit welchen ihm [dem Leser] die Gegenstände be-kleidet erscheinen, durchaus nur in seinem Auge sind.» in «ArthurSchopenhauers sämtliche Werke in zwölf Bänden», mit Einleitung vonDr. Rudolf Steiner, Stuttgart o.J. (1894), 12. Bd., S. 15.

Vgl. auch Rudolf Hermann Lotzes Formulierung: «Worin das Glän-zen eines Lichtes, das durchaus niemand sähe, oder das Klingen einesTones bestände, den niemand hörte, ist ebenso unmöglich zu sagen, alswas ein Zahnschmerz wäre, den niemand hätte. Es liegt also in der Na-tur von Farben, Tönen, Gerüchen etc., daß sie überhaupt bloß einenOrt und eine Art haben, wo und wie sie existieren können, nämlich dasBewußtsein einer Seele, und zwar in dem Augenblicke, wo sie vondieser empfunden werden.» in: «Grundzüge der Psychologie» (1882),Fünfte Auflage, Leipzig 1894, S. 20 (§ 13).

103 Von durch den Verfasser dieses Buches sehr geschätzter Seite: Gemeint istEduard von Hartmann (siehe Hinweis zu S. 55). Seine Einwendung be-zieht sich auf die Stelle Seite 86, Zeilen 16-18 und lautet:

«Es fragt sich nur welche Welt?Meine Gedankenwelt bringt mein Den-ken hervor, ebensogut wie meine Vorstellungswelt durch mein Vorstellenhervorgebracht wird. Die ohne mein Denken bestehende Welt aber isteben nicht meine Gedankenwelt, sondern beide sind zwei numerisch ver-schiedene Welten, wenn sie auch inhaltlich der Übereinstimmung immernaher gebracht werden sollen durch fortgesetzten Denkausbau der Ge-dankenwelt. Beide für Eine halten, ist ein naiver Realismus des Denkens,wie es ein solcher des Vorstellens ist, die wirkliche Welt und die Vorstel-lungsweltfür Eine zu halten.»

114 Emil Du Bois-Reymond, «Über die Grenzen des Naturer kennens», Vortragin der 2. öffentlichen Sitzung der 45. Versammlung deutscher Natur-forscher und Ärzte zu Leipzig am 14. August 1872, Leipzig 1872, S. 26.

128 Metaphysik Eduard von Hartmanns: «Die Philosophie des Unbewußten,Versuch einer Weltanschauung, Speculative Resultate nach inductiv-naturwissenschaftlicher Methode», Berlin 1869 (zahlreiche bearbeiteteund erweiterte Neuauflagen).

133 Demgegenüber wurde mir eingewendet: Von Eduard von Hartmann (sie-he Hinweis zu S. 55). Sein Einwand bezieht sich auf die Stelle S. 107,Zeilen 1-11 und lautet:

«Das ist ein ungewöhnlicher Wortgebrauch. Vorstellung ist zunächstabgeblaßte Erinnerung einer sinnlichen Wahrnehmung, erst von derErinnerung geht das Teilen, Verbinden, Beziehen und die Begriffsbil-dung aus.»

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148 in Schriften, die auf dieses Buch gefolgt sind: Siehe u. a. «Vom Menschen-rätsel» (1916), GA BibL-Nr. 20, Kap. «Ausblicke»; und «Von Seelen-rätseln», (1917), GA BibL-Nr. 21.

149 man kann in hezug darauf Eduard von Hartmann folgen: Siehe das Hart-mann-Zitat auf S. 20 in vorliegendem Band und den Hinweis dazu.

152 [Fußnote]Hartmann: Siehe Hinweis zu S. 20.

153 f. Johannes Kreyenhuhl, «Die ethische Freiheit bei Kant, Eine kritisch-spekulative Studie über den wahren Grund der Kant'sehen Philoso-phie», Philosophische Monatshefte, 18. Bd., 3. Heft, Heidelberg 1882,S. 129-161.

159 Handle so ...: Immanuel Kant, «Kritik der praktischen Vernunft», 1.Teil, 1. Buch, 1. Hauptstück, § 7, wörtlich: «Handle so, daß dieMaxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemei-nen Gesetzgebung gelten könnte.»

170 Kant, «Kritik der praktischen Vernunft», 1788, S. 154 (1. Teil, 1. Buch,3. Hauptstück).

176 Theodor Ziehen: Siehe Hinweis zu S. 37.

177 Hartmann, «Phanomenologie des sittlichen Bewußtseins» (siehe Hin-weis zu S. 20), S. 871 (2. Abt., C, IV).

186 «die Geschichte ist die Entwicklung des Menschen zur Freiheit»: Frei nachHegels «Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte», Georg Wil-helm Friedrich Hegel's Werke, vollständige Ausgabe durch einen Ver-ein von Freunden des Verewigten, 9. Band, 3. Auflage, herausgegebenvon Dr. Eduard Gans, Berlin 1848, S. 24 (Einleitung) und 546 f. (Schluß).In demselben Zusammenhang kritisiert Rudolf Steiner in «Grundlinieneiner Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung» (1886), GABibl.-Nr. 2., S. 128 (Kap. 19) auch Herders Geschichtsauffassung: «Unse-re Erkenntniswissenschaft schließt es völlig aus, daß man der Geschichteeinen Zweck unterschiebe, wie etwa, daß die Menschen von einer niede-ren Stufe der Vollkommenheit zu einer höheren erzogen werden u. dgl.Ebenso erscheint es unserer Ansicht gegenüber als irrtümlich, wennman, wie dies Herder in den < Ideen zur Philosophie der Geschichte derMenschheit» tut, die historischen Ereignisse wie die Naturtatsachennach der Abfolge von Ursache und Wirkung abfassen will.»

186 f. Robert Hamerling, «Die Atomistik des Willens, Beiträge zur Kritik dermodernen Erkenntniß», 2 Bde., Hamburg 1891, 2. Bd., S. 201 und 191.

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195 Friedrich Paulsen, «System der Ethik, mit einem Umriß der Staats- undGesellschaftslehre», Erste Hälfte, Berlin 1889.

196 [Fußnote]Paulsen: a.a.O., S. 15 (Einleitung, 5.).

201 f. Robert Hamerling, «Die Atomistik des Willens, Beiträge zur Kritik dermodernen Erkenntniß», 2 Bde., Hamburg 1891,2. Bd., S. 214 f. Den Satz«Frei sein heißt tun können, was man will» zitiert Hamerling nach JohnLocke, den Satz «Nach Belieben begehren und nicht begehren können,sei der eigentliche Sinn des Dogmas vom freien Willen» nach HerbertSpencer. (Vgl. das Spencer-Zitat auf S. 16 des vorliegenden Bandes.)

205 Hauptvertreter des Optimismus... Shaftesbury und Leibniz: Siehe AntonyAshley Cooper Earl of Shaftesbury, «Charakteristicks of Men, Manners,Opinions, Times» (Charakteristika der Menschen, Sitten, Meinungen,Zeiten), 3 Bde., London 1711; und Gottfried Wilhelm Leibniz, «Essaisde theodicee sur la bonte de dieu, de la liberte de l'homme et de Poriginedu mal» (Abhandlung zur Rechtfertigung Gottes, über die Güte Gottes,die Freiheit und den Ursprung des Übels), Amsterdam 1710.

208 Hartmann, «Phänomenologie des sittlichen Bewußtseins» (siehe Hin-weis zu S. 20), S. 866 (2. Abt., C, IV).

Uli.Eduard von Hartmann, «Philosophie des Unbewußten», Siebente, er-weiterte Auflage, 2. Bd. Metaphysik des Unbewußten, Berlin 1876, S.290 (Kap. XIII).

235 Mir wurde von berufener Seite ... entgegengehalten: Von Eduard vonHartmann (siehe Hinweis zu S. 55). Sein Einwand bezieht sich auf dieStelle S. 224, Zeilen 23-30 und lautet:

«Steiner bestreitet also nicht die Richtigkeit eines negativen Saldo, son-dern nur, daß die Tiere und Menschen wirklich ihre axiologische Bilanzziehen. Diese Frage ist aber ganz nebensächlich. Der Pessimismus behaup-tet gar nicht, daß jeder Mensch sich bewußt und allgemein mit solcherAufstellung beschäftigt, wenn er es auch unwillkürlich zeitweilig fürgewisse Lebensabschnitte und Episoden in rohem Überschlag nach unge-fähren stimmungsmäßigen Gedächtniseindrücken tut. A her er behauptet,daß es Sache des Philosophen sei, nachzuholen, was die Gedankenlosigkeitder Tiere und der meisten Menschen versäumt.»

239 [Fußnote] Man hat mir ... eingewendet: Der Einwand stammt vonEduard von Hartmann (siehe Hinweis zu S. 55). Er bezieht sich auf dieStelle S. 238, Zeilen 25-30 und lautet:

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«innerhalb des Gattungsmäßigen kann die Frau schon jetzt sich so indivi-duell ausleben, wie sie nur will, weit freier als der Mann, der schon durchdie Schule und dann durch Krieg und Beruf entindividualisiert wird.»

258 Einwendungen, die mir ... von philosophischer Seite her gemacht wordensind: Von Eduard von Hartmann (siehe Hinweis zu S. 55).

261 Eduard von Hartmann, «Die letzten Fragen der Erkenntnistheorie undMetaphysik», Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik,108. Bd., Leipzig 1896, S. 54-73 und 211-237. Über «erkenntnistheore-tischen Monismus»: S. 66-73; namentliche Erwähnung Rudolf Steiners:S. 71. Schon in seinen Randbemerkungen zur «Philosophie der Frei-heit» (siehe Hinweis zu S, 55) kritisierte Hartmann deren Titel: «DerTitel sollte lauten: <Erkenntnistheoretischer Monismus und ethischerIndividualismus> [...]».

266 Eduard von Hartmann: a. a. O., S. 71. Dieselbe Kritik führte Hartmannschon in seinem Schlußkommentar seiner Randbemerkungen zur «Phi-losophie der Freiheit» an (siehe Hinweis zu S. 55):

«In diesem Buche ist weder Humes in sich absoluter Phänomenalismus mitdem auf Gott gestützten Phänomenalismus Berkeleys versöhnt, nochüberhaupt dieser immanente oder subjektive Phänomenalismus mit demtranszendenten Panlogismus Hegels, noch auch der Hegeische Panlogis-mus mit dem Goetheschen Individualismus. Zwischen je zweien dieserBestandteile gähnt eine unüberbrückbare Kluft. Vor allem aber ist über-sehen, daß der Phänomenalismus mit unausweichlicher Konsequenz zumSolipsismus, absoluten Illusionismus und Agnostizismus führt, und nichtsgetan, um diesem Rutsch in den Abgrund der Unphilosophie vorzu-beugen, weil die Gefahr gar nicht erkannt ist.»

dem «erkenntnistheoretischen Monismus» Johannes Rehmkes: Siehe dessenWerke «Die Welt als Wahrnehmung und Begriff», Berlin 1880; «UnsereGewißheit von der Außenwelt», 1894 u.a.

269 aszetischen ... Aszese: So geschrieben in der 2. Auflage (1918); in der1. Auflage (1894): asketischen und Askese. Da die entsprechenden Seitenim Druckmanuskript für die 2. Auflage (1918) nicht erhalten sind, kannüber den Grund bzw. die Herkunft dieser Änderung keine genaueAngabe gemacht werden.

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N A M E N R E G I S T E R

(Seitenzahlen in Klammern: nicht namentlich erwähnt)

Archimedes (um 287-212 v. Chr.)51

Berkeley, George (1648-1753) 65,69

Cabanis, Pierre Jean Georges(1757-1808) 45

Cartesius, Renatus (Descartes, Rene)(1596-1650) 46,49

Darwin, Charles (1809-1882) 200Du Bois-Reymond, Emil

(1815-1896) 114

Fichte johann Gottlieb (1762-1814)32, 83, 268

Franz, Dr. J. C. August 63

Goethe, Johann Wolfgang(1749-1832) 27,33

Haeckel, Ernst (1834-1909) 198,200

Hamerling, Robert (1830-1889) 22,186, 201 f.

Hartmann, Eduard von (1842-1906)20, (55), 70, 73, 80, 83, (103), 128,(133), 149, 152, 176 f., 205-208,211f, 216, (235), (239), 250, (258),261-263, 266

Hegel, Georg Friedrich Wilhelm(1770-1831) 25, 58, (186), 266

Hume, David (1711-1776) 266

Kant, Immanuel (1724-1804) 69f.,112, 159, 170, 196 f.

Kopernikus, Nikolaus (1473-1543)63

Kreyenbühl, Johannes 153 f.

Lange, Friedrich Albert (1828-1875)32

Laplace, Pierre Simon (1749-1827)196, 197

Leibniz, Gottfried Wilhelm(1646-1716) 205

Liebmann, Otto (1840-1912) 69

Moses (Buch) 43Müller Johannes (1801-1858) 72

Münchhausen, Karl Friedrich Frei-herr von (1720-1781) 33

Pascal, Blaise (1623-1662) 49Paulsen, Friedrich (1846-1908)

195 f.

Ree, Paul (1849-1901) 23f.Rehmke,Johannes (1848 -1930) 266

Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph(1775-1854) 48

Schiller, Friedrich (1759 -1805) 267Schopenhauer, Arthur (1788-1860)

78, 92, 94, 205, 206, 208, 210, 250Shaftesbury, Anthony Ashley

Cooper (1671-1713) 205Spencer, Herbert (1820-1903) 16,

58Spinoza, Baruch(1632-1677) 17,19Steiner, Rudolf (1861 -1925) 11

Werke:«Die Rätsel der Philosophie» (GA

Bibl-Nr. 18) 11

(«Schriften, die auf dieses Buch ge-folgt sind») 148

(«spätere Schriften») 9, 256 f.(«spätere geisteswissenschaftliche

Schriften») 267(«frühere Schriften») 267

Strauß, David Friedrich (1808-1874)15

Vetter, Dr. B. 16Volkelt, Johannes (1848-1930) 70

Weygandt, Wilhelm (1870-1939)84

Ziehen, Theodor (1862-1950) 37,176, 183

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BIBLIOGRAPHISCHER NACHWEIS

(1. Auflage) Berlin 1894(2. Auflage) wesentlich ergänzt und erweitert, 2.-6. und 7.-9. Tsd., Berlin 1918(3. Auflage) 10.-19. Tsd., Berlin 1921(4. Auflage) 20.-25. Tsd., Dornach 1929(5. Auflage) 26.-28. Tsd., Dornach 1936(6. Auflage) 29.-30. Tsd., Dresden 1936(7. Auflage) 31.-33. Tsd., Dresden 1940(8. Auflage) 34.-38. Tsd., Stuttgart 1947(9. Auflage) 39.-43. Tsd., Stuttgart 1949 (bezeichnet als 1.-5. Tsd. der deut-

schen Ausgabe)(10. Auflage) 44.-48. Tsd., Dornach 1949 (bezeichnet als 29.-33. Tsd.)11. Auflage 49.-53. Tsd., Stuttgart 1955 (bezeichnet als 44.-48. Tsd.)

Gesamtausgabe Dornach12. Auflage, 54.-59. Tsd., 1962 (bezeichnet als 49.-54. Tsd.)13. Auflage, 60.-65. Tsd., 197314. Auflage, 66.-70. Tsd., 197815. Auflage, 71.-74. Tsd., 198716. Auflage, 75.-78. Tsd., 1995

Taschenbuchaus gäbeStuttgart 1.- 25. Tsd., 1967, 1973Dornach 26.- 45. Tsd., 1977

46.- 65. Tsd., 198166.- 75. Tsd., 198476.- 85. Tsd., 198586.-105. Tsd., 1987106.-125. Tsd., 1992

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RUDOLF STEINER GESAMTAUSGABE

Gliederung nach: Rudolf Steiner — Das literarischeund künstlerische Werk. Eine bibliographische Übersicht

(Bibliographie-Nrn. kursiv in Klammern)

A. SCHRIFTEN/. WerkeGoethes Naturwissenschaftliche Schriften, eingeleitet und kommentiert von

R. Steiner, 5 Bände, 1884-97, Nachdruck 1975, (la-e); separate Ausgabe derEinleitungen, 1925 (1)

Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung, 1886 (2)Wahrheit und Wissenschaft. Vorspiel einer <Philosophie der Freiheit", 1892 (3)Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung,

1894 (4)Dokumente zur «Philosophie der Freiheit» (4a)Friedrich Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit, 1895 (5)Goethes Weltanschauung, 1897 (6)Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur

modernen Weltanschauung, 1901 (7)Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums, 1902 (8)Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschen-

bestimmung, 1904 (9)Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? 1904/05 (10)Aus der Akasha-Chronik, 1904-08 (11)Die Stufen der höheren Erkenntnis, 1905-08 (12)Die Geheimwissenschaft im Umriß, 1910 (13)Vier Mysteriendramen, 1910-13 (14)Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit, 1911 (15)Anthroposophischer Seelenkalender, 1912 (in 40)Ein Weg zur Selbsterkenntnis des Menschen, 1912 (16)Die Schwelle der geistigen Welt, 1913 (17)Die Rätsel der Philosophie iniinrer Geschichte als Umriß dargestellt, 1914 (18)Vom Menschenrätsel, 1916 (20)Von Seelenrätseln, 1917 (21)Goethes Geistesart in ihrer Offenbarung durch seinen Faust und durch das

Märchen von der Schlange und der Lilie, 1918 (22)Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der

Gegenwart und Zukunft, 1919 (23)Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus und zur Zeitlage,

1915-21 (24)Kosmologie, Religion und Philosophie, 1922 (25)Anthroposophische Leitsätze, 1924/25 (26)Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaft-

lichen Erkenntnissen, 1925. Von Dr. R. Steiner und Dr. I. Wegman (27)Mein Lebensgang, 1923-25 (28)

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//. Gesammelte AufsätzeAufsätze zur Dramaturgie, 1889-1901 (29) - Methodische Grundlagen derAnthroposophie, 1884-1901 (30) - Aufsätze zur Kultur- und Zeitgeschichte,1887-1901 (31) - Aufsätze zur Literatur, 1886-1902 (32) - Biographien undbiographische Skizzen, 1894-1905 (33)- Aufsätze aus «Lucifer-Gnosis», 1903-1908 (34) - Philosophie und Anthroposophie, 1904-1918 (35) - Aufsätze aus«Das Goetheanum», 1921-1925 (36)

III. Veröffentlichungen aus dem NachlaßBriefe - Wahrspruchworte - Bühnenbearbeitungen - Entwürfe zu den VierMysteriendramen, 1910-1913 - Anthroposophie. Ein Fragment - GesammelteSkizzen und Fragmente - Aus Notizbüchern und -blättern - (38-47)

B. DAS VORTRAGSWERK/. Öffentliche VorträgeDie Berliner öffentlichen Vortragsreihen, 1903/04 bis 1917/18 (51-67) -Öffentliche Vorträge, Vortragsreihen und Hochschulkurse an anderen OrtenEuropas, 1906-1924 (68-84)

II. Vorträge vor Mitgliedern der Anthroposophischen GesellschaftVorträge und Vortragszyklen allgemein-anthroposophischen Inhalts - Chri-stologieund Evangelien-Betrachtungen- Geisteswissenschaftliche Menschen-kunde - Kosmische und menschliche Geschichte - Die geistigen Hintergründeder sozialen Frage - Der Mensch in seinem Zusammenhang mit dem Kosmos -Karma-Betrachtungen - (91-244)Vorträge und Schriften zur Geschichte der anthroposophischen Bewegung undder Anthroposophischen Gesellschaft - Veröffentlichungen zur Geschichteund aus den Inhalten der Esoterischen Schule (251-270)

III. Vorträge und Kurse zu einzelnen LebensgebietenVorträge über Kunst: Allgemein-Künstlerisches - Eurythmie - Sprachgestal-tung und Dramatische Kunst - Musik - Bildende Künste - Kunstgeschichte -(271-292) - Vorträge über Erziehung (293-311) - Vorträge über Medizin(312-319) - Vorträge über Naturwissenschaft (320-327) - Vorträge über dassoziale Leben und die Dreigliederung des sozialen Organismus (328-341) -Vorträge für die Arbeiter am Goetheanumbau (347-354)

C. DAS KÜNSTLERISCHE WERK

Originalgetreue Wiedergaben von malerischen und graphischen Entwürfenund Skizzen Rudolf Steiners in Kunstmappen oder als Einzelblätter. Entwürfefür die Malerei des Ersten Goetheanum - Schulungsskizzen für Maler -Programmbilder für Eurythmie-Aufführungen - Eurythmieformen - Entwür-fe zu den Eurythmiefiguren - Wandtafelzeichnungen zum Vortragswerk, u.a.

Die Bände der Rudolf Steiner Gesamtausgabesind innerhalb einzelner Gruppen einheitlich ausgestattet.

Jeder Band ist einzeln erhältlich.

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