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RUDOLF STEINER GESAMTAUSGABE VORTRÄGE ÖFFENTLICHE VORTRÄGE Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 5 9 Seite: 1

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RUDOLF STEINER GESAMTAUSGABE

VORTRÄGE

ÖFFENTLICHE VORTRÄGE

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RUDOLF STEINER

Metamorphosen des Seelenlebens

Pfade der Seelenerlebnisse

Achtzehn öffentliche VorträgeBerlin 1909/1910

ZWEITER TEIL

Neun Vorträge, gehalten zwischen dem20. Januar und 12. Mai 1910im Architektenhaus zu Berlin

1984

RUDOLF STEINER VERLAGDORNACH/SCHWEIZ

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Nach vom Vortragenden nicht durchgesehenen Nachschriftenherausgegeben von der Rudolf Steiner-Nachlaß Verwaltung

Die Herausgabe dieser Auflage besorgte Caroline Wispler

1. Auflage in dieser ZusammenstellungGesamtausgabe Dornach 1984

Ein Nachweis der früheren Auflagen und Herausgeberfindet sich auf Seiten 304/305

Bibliographie-Nr. 59

Alle Rechte bei der Rudolf Steiner-Nachlaßverwaltung, Dornach/Schweiz© 1984 by Rudolf Steiner-Nachlaßverwaltung, Dornach/Schweiz

Printed in Germany by Konkordia GmbH, Bühl/Baden

ISBN 3-7274-0595-3

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7M den Veröffentlichungenaus dem Vortrags werk von Rudolf Steiner

Die Grundlage der anthroposophisch orientierten Geistes-wissenschaft bilden die von Rudolf Steiner (1861—1925) ge-schriebenen und veröffentlichten Werke. Daneben hielt erin den Jahren 1900 bis 1924 zahlreiche Vorträge und Kurse,sowohl öffentlich wie auch für die Mitglieder der Theoso-phischen, später Anthroposophischen Gesellschaft. Er selbstwollte ursprünglich, daß seine durchwegs frei gehaltenenVorträge nicht schriftlich festgehalten würden, da sie als«mündliche, nicht zum Druck bestimmte Mitteilungen» ge-dacht waren. Nachdem aber zunehmend unvollständigeund fehlerhafte Hörernachschriften angefertigt und verbrei-tet wurden, sah er sich veranlaßt, das Nachschreiben zuregeln. Mit dieser Aufgabe betraute er Marie Steiner-vonSivers. Ihr oblag die Bestimmung der Stenographierenden,die Verwaltung der Nachschriften und die für die Heraus-gabe notwendige Durchsicht der Texte. Da Rudolf Steineraus Zeitmangel nur in ganz wenigen Fällen die Nachschrif-ten selbst korrigieren konnte, muß gegenüber allen Vor-tragsveröffentlichungen sein Vorbehalt berücksichtigt wer-den: «Es wird eben nur hingenommen werden müssen, daßin den von mir nicht nachgesehenen Vorlagen sich Fehler-haftes findet.»

Nach dem Tode von Marie Steiner (1867-1948) wurdegernäß ihren Richtlinien mit der Herausgabe einer RudolfSteiner Gesamtausgabe begonnen. Der vorliegende Bandbildet einen Bestandteil dieser Gesamtausgabe. Soweit erfor-derlich, finden sich nähere Angaben zu den Textunterlagenam Beginn der Hinweise.

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INHALT

Zu dieser Ausgabe 8

X. Die Geisteswissenschaft und die SpracheBerlin, 20. Januar 1910 9

XL Lachen und WeinenBerlin, 3. Februar 1910 42

XII. Was ist Mystik?Berlin, 10. Februar 1910 71

XIII. Das Wesen des GebetesBerlin, 17. Februar 1910 103

XIV. Krankheit und HeilungBerlin, 3. März 1910 135

XV. Der positive und der negative MenschBerlin, 10. März 1910 171

XVI. Irrtum und IrreseinBerlin, 28. April 1910 203

XVII. Das menschliche GewissenBerlin, 5. Mai 1910 236

XVIII. Die Mission der Kunst(Homer, Äschylos, Dante, Shakespeare, Goethe)Berlin, 12. Mai 1910 269

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Nachweis früherer Veröffentlichungen und Herausgeber . 304

Hinweise 306

Personenregister 312

Ausführliche Inhaltsangaben 314

Inhalt Erster Teil, Vorträge I. bis IX 318

Übersicht über die Rudolf Steiner Gesamtausgabe . . 319

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ZU DIESER AUSGABE

Die Vorträge dieses Bandes gehören dem Teil von Rudolf SteinersVortrags werk an, mit dem er sich an die Öffentlichkeit wandte.«Berlin war der Ausgangspunkt für diese öffentliche Vortragstätig-keit gewesen. Was in anderen Städten mehr in einzelnen Vorträgenbehandelt wurde, konnte hier in einer zusammenhängenden Vor-tragsreihe zum Ausdruck gebracht werden, deren Themen ineinan-der übergriffen. Sie erhielten dadurch den Charakter einer sorgfältigfundierten methodischen Einführung in die Geisteswissenschaftund konnten auf ein regelmäßig wiederkehrendes Publikum rech-nen, dem es darauf ankam, immer tiefer in die neu sich erschließen-den Wissensgebiete einzudringen, während den neu Hinzukom-menden die Grundlagen für das Verständnis des Gebotenen immerwieder gegeben wurden.» (Marie Steiner)

Seit 1903 hatten in. jedem Winterhalbjahr solche öffentlichenVortragsreihen im Architektenhaus stattgefunden. Die vorliegen-den Vorträge bilden den zweiten Teil der siebenten dieser Reihenvon 1909/1910.

In diesen Vorträgen führt Rudolf Steiner den Hörer und Leser indie verschiedensten Bereiche des Seelenlebens und Geistesstrebens.Er zeigt die Sprache als Wesensausdruck des Menschen und Er-scheinungen wie Lachen und Weinen als Ausdruck des menschli-chen Ich. Er schildert die Mystik als geistigen Weg und das Gebetals die Verbindung der Seele mit dem Göttlichen, endlich innereFestigkeit und Empfänglichkeit als Elemente der menschlichen Ent-wicklung. Die Krankheit erscheint als Grenzüberschreitung undseelische Erkrankung als Störung der menschlichen Wesensglieder.Das Gewissen wird dargestellt als göttliche Stimme in der menschli-chen Seele und das künstlerische Schaffen als Offenbarung dermenschlichen Schöpferkraft, die das Gleichnis des Vergänglichenmit der Botschaft vom Unvergänglichen verbindet.

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DIE GEISTESWISSENSCHAFT UND DIE SPRACHE

Berlin, 20. Januar 1910

Es ist reizvoll, die verschiedenen Äußerungen dermenschlichen Wesenheit vom geisteswissenschaftlichenStandpunkt, so wie hier Geisteswissenschaft gemeint ist,zu betrachten. Denn indem wir gleichsam um dasmenschliche Leben herumgehen, wie es im Verlaufedieser Vorträge geschehen ist, und es von seinen ver-schiedenen Seiten betrachten, können wir uns einenGesamteindruck von demselben verschaffen. Heute sollvon jener universellen Äußerung des menschlichen Gei-stes die Rede sein, die sich in der Sprache zu erkennengibt, und das nächste Mal soll dann unter dem Titel«Lachen und Weinen» gleichsam eine Abart der mensch-lichen Ausdrucksfähigkeit betrachtet werden, die zwarmit der Sprache verbunden, aber doch wieder grundver-schieden von ihr ist.

Wenn von der menschlichen Sprache die Rede ist,dann fühlen wir wohl hinlänglich, wie sehr die ganzeBedeutung und Würde und das ganze Wesen des Men-schen mit dem zusammenhängt, was eben als Sprachebezeichnet wird. Unser innerstes Leben, alle unsere Ge-danken, Gefühle und Willensimpulse fließen gleichsamnach außen zu unseren Mitmenschen hin und verbindenuns mit denselben durch die Sprache. So fühlen wir eineunendliche Erweiterungsfähigkeit unseres Wesens, eineMöglichkeit des Ausstrahlens dieses Wesens in die Um-gebung durch die Sprache. Auf der anderen Seite aller-dings wird gerade derjenige, der das menschliche Innen-

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leben einer bedeutungsvollen Individualität zu durch-dringen vermag, empfinden können, wie die menschlicheSprache doch wiederum eine Art Tyrann ist, eine Macht,die auf unser Innenleben ausgeübt wird. Fühlen wir esdoch, wenn wir nur wollen, daß dasjenige, was wir unsselber zu sagen haben über unsere Gefühle und Gedan-ken, über das, was durch die Seele zieht mit all seinerIntimität und Besonderheit, nur spärlich und schwach indem Wort, in der Sprache zum Ausdruck kommen kann.Und fühlen wir doch auch, wie die Sprache, in die wirhineingestellt sind, uns sogar ein bestimmtes Denkenaufzwingt. Wer sollte es denn nicht wissen, wie derMensch in bezug auf sein Denken abhängig ist von derSprache! Worte sind es vielfach, an die sich unsereBegriffe heften, und in einem unvollkommenen Entwik-kelungszustand wird der Mensch sogar leicht das Wortoder das, was ihm das Wort einimpft, mit dem Begriffeverwechseln können. Daher die Unmöglichkeit mancherMenschen, sich eine Begriffswelt aufzubauen, welchehinausreicht über das, was ihnen die Worte geben, die inihrer Umgebung üblich sind. Und wissen wir doch auch,wie der Charakter eines ganzen Volkes, das eine gemein-same Sprache spricht, in gewisser Weise von dieserSprache abhängig ist. Wenigstens muß derjenige, derintimer die Volkscharaktere, die Sprachencharaktere inihren Zusammenhängen betrachtet, einsehen, wie die Artund Weise, in welcher der Mensch das, was in seinerSeele liegt, in Laute umzuprägen vermag, wiederumzurückwirkt auf die Stärke und Schwäche seines Charak-ters, auf den Ausdruck seines Temperamentes, ja aufseine ganze Lebensauffassung. Und der Kenner wirdimstande sein, aus der Konfiguration der Sprache einesVolkes mancherlei entnehmen zu können in bezug auf

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den Charakter eines Volkes. Da aber die Sprache einemVolke gemeinschaftlich ist, so ist der einzelne von einerGemeinsamkeit abhängig, gleichsam von einem Durch-schnittsmaß, wie es in dem Volke herrscht. Er stehtdadurch gewissermaßen unter der Tyrannei, unter derMacht der Gemeinsamkeit. Wenn man aber fühlt, daßauf der einen Seite unser individuelles Geistesleben, aufder anderen Seite das Geistesleben von Gemeinsamkei-ten sozusagen in der Sprache niedergelegt ist, so er-scheint einem dasjenige, was man das Geheimnis derSprache nennen könnte, als etwas ganz besonders Bedeu-tungsvolles. Man kann sagen, daß man gewiß einigesüber das Seelenleben des Menschen erfahren kann, wennman die Äußerungen betrachtet, wie dieses menschlicheWesen gerade in der Sprache sich gibt.

Das Geheimnis der Sprache, ihre Entstehung, ihreFortentwickelung in den verschiedenen Zeiten, war vonjeher eine Rätselfrage für gewisse fachwissenschaftlicheGebiete. Aber man kann nicht sagen, daß diese fachwis-senschaftlichen Gebiete in unserem Zeitalter besondersglücklich darin waren, hinter das Geheimnis der Sprachezu kommen. Deshalb soll heute sozusagen aphoristisch,skizzenhaft von dem Gesichtspunkt der Geisteswissen-schaft, wie wir ihn gewohnt sind auf den Menschen undseine Entwickelung anzuwenden, einiges Licht auf dieSprache, ihre Entwickelung und ihren Zusammenhangmit dem Menschen geworfen werden.

Das ist es ja, was zunächst so geheimnisvoll erscheint,wenn wir irgendein Ding, eine Sache, einen Vorgang miteinem Worte bezeichnen. Wie hängt da jene eigentüm-liche Lautzusammensetzung, die das Wort oder den Satzbildet, mit dem zusammen, was aus uns kommt und alsWort das Ding bedeutet? Da hat man vom Standpunkte

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der äußeren Wissenschaft die mannigfaltigsten Erfah-rungen zu den verschiedensten Kombinationen zusam-menzufügen versucht. Man hat aber auch das Unbefrie-digende einer solchen Betrachtungsweise empfunden.Die Frage ist ja so einfach und dennoch so schwierig zubeantworten: Wie kam der Mensch dazu, wenn ihmirgend etwas in der Außenwelt entgegentrat, gerade aussich heraus, wie ein Echo dieses oder jenes Gegenstandesoder Vorganges, nun diesen oder jenen besonderen Lauthervorzubringen ?

Von einem gewissen Gesichtspunkte aus stellte mansich die Sache recht einfach vor. Man dachte zum Bei-spiel daran, daß die Sprachbildung davon ausgegangensei, dasjenige, was man äußerlich schon als Laut hört wieden Laut gewisser Tiere, oder wenn etwas an ein anderesanschlägt, durch die innere Fähigkeit unserer Sprach-organe nachzuahmen, etwa so wie das Kind, wenn esden Hund «wau-wau!» bellen hört und diesen Lautnachahmt, den Hund den «Wauwau» nennt. Eine solcheWortbildung könnte man eine onomatopoetische nen-nen, eine Nachahmung des Tones. Eine derartige Nach-ahmung sollte der ursprünglichen Laut- und Wortbil-dung - so ist es von gewissen Gesichtspunkten ausbehauptet worden - zugrunde liegen. Natürlich bleibtdie Frage ganz unbeantwortet: Wie kommt der Menschdann dazu, jene stummen Wesenheiten, die keinen Tonvon sich geben, zu benennen? Wie steigt er auf von demLautausdruck eines Tieres oder eines Vorganges, denman hören kann, zu einem solchen, den man nicht hörenkann? - Der große Sprachforscher Max Müller hat dieseTheorie, weil er das Unbefriedigende einer solchen Spe-kulation einsah, verspottet und sie die «Wauwau-Theo-rie» genannt. Dafür hat er eine andere Theorie aufge-

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stellt, welche die Gegner nun ihrerseits - und hier ist dasWort in dem Sinne gebraucht, wie es nicht gebrauchtwerden sollte - «mystisch» genannt haben. Max Müllermeint nämlich, daß einem jeden Ding in sich selbersozusagen etwas zukomme, was wie Klang sei. Alleshabe in gewisser Weise einen Klang, nicht nur ein Glas,das man fallen läßt, nicht nur die Glocke, die ange-schlagen wird, sondern jedes Ding. Und die Fähigkeitdes Menschen, eine Beziehung herzustellen zwischenseiner Seele und diesem, gleichsam als inneres Wesen andem Dinge befindlichen Klange, ruft in der Seele dieMöglichkeit hervor, dieses innere Klangwesen des Din-ges auszudrücken, wie man etwa das Innere der Glockeausdrücken kann, wenn man ihren Ton in «Bim-bam»nachfühlt. Und die Gegner Max Müllers haben ihmseinen Spott zurückgegeben, indem sie nun seine Theo-rie die «Bimbam-Theorie» nannten. Wenn wir fortfahrenwollten, von den mit großem Fleiß gemachten Zusam-menstellungen weiteres aufzuzählen, so würden wir se-hen, daß immer etwas Unbefriedigendes bleiben müßte,wenn man dasjenige, was der Mensch gleichsam wie einEcho seiner Seele dem Wesen der Dinge entgegentönenläßt, in dieser Weise äußerlich charakterisieren wollte.Da muß man schon tiefer hineindringen in das Inneredes Menschen.

Für die Geisteswissenschaft ist der Mensch im Grundegenommen ein sehr kompliziertes Wesen. So wie er voruns steht, hat er zunächst seinen physischen Leib, der insich dieselben Gesetze und Substantialitäten hat, die wirauch in der mineralischen Welt finden. Dann hat derMensch für die Geisteswissenschaft als ein zweites, höhe-res Glied seiner Wesenheit den Ätherleib oder Lebens-leib. Sodann dasjenige Glied, das wir den Träger von

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Lust und Leid, Freude und Schmerz, von Trieb, Begier-de und Leidenschaft nennen, den astralischen Leib, derfür die Geisteswissenschaft ein ebenso reales, ja realeresGlied der Menschennatur ist als das, was man mit Augensehen und mit Händen greifen kann. Und das vierteGlied der menschlichen Wesenheit haben wir den Trägerdes Ich genannt. Wir haben ferner gesehen, daß dieEntwickelung des Menschen auf der gegenwärtigen Stufedarinnen besteht, daß er von seinem Ich aus an derUmgestaltung der drei anderen Glieder seiner Wesenheitarbeitet. Wir haben auch darauf hingedeutet, daß in einerfernen Zukunft das menschliche Ich diese drei Glieder soumgestaltet haben wird, daß nichts mehr von dem zu-rückgeblieben sein wird, was die Natur oder die in derNatur liegenden geistigen Mächte aus diesen dreimenschlichen Gliedern gemacht haben.

Der astralische Leib, der Träger von Lust und Leid,von Freude und Schmerz, von allen auf und ab wogen-den Vorstellungen, Empfindungen und Wahrnehmun-gen, ist zunächst ohne unser Zutun, das heißt, ohne dieArbeit unseres Ich zustande gekommen. Nun aber arbei-tet das Ich an ihm, und es arbeitet so, daß es läutert undreinigt und unter seine Herrschaft alles bringt, wasEigenschaften und Tätigkeiten des astralischen Leibessind. Wenn das Ich nur wenig an dem astralischen Leibegearbeitet hat, ist der Mensch ein Sklave seiner Triebeund Begierden; wenn es aber Triebe und Begierdenläutert zu Tugenden, wenn es das, was irrlichteherendesDenken ist, an dem Faden der Logik geordnet hat, dannist ein Teil des astralischen Leibes umgewandelt, er istaus einem Produkte, an dem das Ich noch nichts gearbei-tet hat, zu einem Produkte des Ich geworden. Wenn dasIch diese Arbeit bewußt vollbringt, wozu heute in der

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menschlichen Entwickelung erst der Anfang gemacht ist,nennen wir diesen vom Ich aus bewußt umgearbeitetenTeil des astralischen Leibes Geistselbst oder mit einemAusdruck der orientalischen Philosophie Manas. Wenndas Ich in einer anderen, intensiveren Weise nicht nur inden astralischen Leib, sondern auch in den Ätherleibhineinarbeitet, nennen wir den vom Ich aus umgearbei-teten Teil des Ätherleibes den Lebensgeist oder miteinem Ausdruck der orientalischen Philosophie dieBuddhi. Und wenn das Ich endlich so stark gewordenist, was aber erst einer fernen Zukunft angehört, daß esden physischen Leib umwandelt und seine Gesetze regu-liert, so daß das Ich überall dabei ist und der Herrscherdessen ist, was im physischen Leibe lebt, dann nennenwir diesen so unter die Herrschaft des Ich gelangten Teildes physischen Leibes den Geistesmenschen oder auch,weil jene Arbeit mit einem Regulieren des Atmungs-prozesses beginnt, mit einem Worte der orientalischenPhilosophie Atman, was mit dem Atmen zusammen-hängt.

So haben wir zunächst den Menschen als eine vierglie-drige Wesenheit: bestehend aus physischem Leib, Äther-leib, astralischem Leib und Ich. Und so wie wir drei ausder Vergangenheit herrührende Glieder unserer Wesen-heit haben, so können wir - durch die Arbeit des Ich -auch sprechen von drei in die Zukunft hinein sichentwickelnden Gliedern des Menschen. Und wir spre-chen so von einer siebengliedrigen Natur der mensch-lichen Wesenheit, indem wir zu physischem Leib, Äther-leib, astralischem Leib und Ich noch hinzuzählen Geist-selbst, Lebensgeist und Geistesmenschen. Wenn wir aberauf diese drei letzteren Glieder als auf etwas Fernes,Zukünftiges der menschlichen Entwickelung hinschauen,

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so müssen wir sagen, daß doch in einer gewissen Weiseder Mensch heute für diese Entwickelung schon vorbe-reitet ist. Bewußt wird der Mensch erst in einer fernenZukunft von seinem Ich aus diese drei Glieder - physi-schen Leib, Ätherleib und astralischen Leib - bearbeiten.Unterbewußt aber, das heißt ohne sein volles Bewußt-sein, hat das Ich aus einer dumpfen Tätigkeit herausdiese drei Glieder seiner Wesenheit schon umgestaltet.Das ist schon als Resultat vorhanden. Was wir in denvergangenen Vorträgen als innere Wesensglieder desMenschen erwähnten, konnte nur dadurch entstehen,daß das Ich an den drei Gliedern gearbeitet hat. An dem,was wir den astralischen Leib nennen, hat es die Empfin-dungsseele herausgearbeitet, gleichsam als inneres Spie-gelbild des Empfindungsleibes. Während uns der Emp-findungsleib dasjenige vermittelt, was wir Genuß nennen- Empfindungsleib und astralischer Leib ist für denMenschen dasselbe, ohne Empfindungsleib würden wirkeine Genüsse haben können -, spiegelt sich der Genußim Inneren, Seelenhaften als die Begierde, und Begierdenschreiben wir dann der Seele zu. So gehören die beidenDinge, der Astralleib und der umgewandelte Astralleiboder die Empfindungsseele, zusammen, wie Genuß undBegierde zusammengehören. Ebenso hat das Ich in derVergangenheit bereits am Ätherleibe gearbeitet. Was esda gearbeitet hat, führt im Inneren, Seelenhaften desMenschen dazu, daß er in sich die Verstandesseele oderGemütsseele trägt, so daß die Verstandesseele, die zu-gleich auch der Träger des Gedächtnisses ist, mit einerunterbewußten Umarbeitung des Atherleibes vom Ichaus zusammenhängt. Und endlich hat das Ich in Zeitender Vergangenheit, um den Menschen in der gegenwär-tigen Gestalt möglich zu machen, auch schon an der

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Umgestaltung des physischen Leibes gearbeitet, und wasdadurch entstanden ist, nennen wir die Bewußtseinssee-le, durch die der Mensch zu einem Wissen über dieDinge der Außenwelt kommt. So können wir also auchin dieser Weise von einem siebengliedrigen Menschensprechen, indem wir sagen: Durch eine vorbereitende,unterbewußte Tätigkeit des Ich sind die drei Seelen-glieder, Empfindungsseele, Verstandesseele und Bewußt-seinsseele entstanden. Aber alles dies ist eine unbewußteoder unterbewußte Arbeit des Ich an seinen Umhül-lungen.

Nun fragen wir uns: Sind denn nicht die drei Glieder- der physische Leib, der Ätherleib und der Astralleib -komplizierte Wesenheiten? - Oh, welcher Wunderbauist dieser physische Menschenleib! Und wenn wir ihnnäher prüfen, würden wir finden, daß dieser physischeLeib viel komplizierter ist als nur jener Teil, den sich dasIch zur Bewußtseinsseele herausgearbeitet hat und denwir den physischen Träger der Bewußtseinsseele nennenkönnen. Ebenso ist der Ätherleib viel komplizierter alsdasjenige, was man den Träger der Verstandes- oderGemütsseele nennen könnte. Und auch der astralischeLeib ist komplizierter als dasjenige, was wir den Trägerder Empfindungsseele nennen können. Geradezu armsind diese Teile gegenüber dem, was schon da war, bevorder Mensch ein Ich hatte. Daher sprechen wir in derGeisteswissenschaft davon, daß der Mensch sich so ent-wickelt hat, daß in einer urfernen Vergangenheit dieerste Anlage des physischen Leibes, und zwar aus geisti-gen Wesenheiten heraus, entstanden ist. Dann ist hinzu-gekommen der Ätherleib, noch später der astralischeLeib und zuletzt erst das Ich. Daher hat der physischeLeib des Menschen vier Stufen der Entwickelung hinter

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sich. Erst war der physische Leib in unmittelbarer Korre-spondenz mit der geistigen Welt, dann wurde er heraus-gearbeitet und durchwoben und durchwirkt mit demÄtherleib; dadurch wurde er komplizierter. Dann wurdeer durchsetzt mit dem astralischen Leib, wodurch erwieder komplizierter wurde. Dann kam das Ich hinzu.Und erst, was dieses an dem physischen Leibe getan hat,formte einen Teil des physischen Leibes heraus undmachte ihn zum Träger dessen, was man menschlichesBewußtsein nennt, die Fähigkeit, daß wir uns ein Wissenvon der Außenwelt verschaffen. Aber dieser physischeLeib hat weit mehr zu tun, als uns durch unsere Sinneund unser Gehirn ein Wissen von der Außenwelt zuverschaffen, er hat eine Anzahl von Tätigkeiten zu ver-richten, welche die Grundlage des Bewußtseins sind, dieaber völlig außerhalb des Bereiches des Gehirns ablau-fen. So ist es auch mit dem Ätherleib und dem Astral-leib.

Wenn wir uns nun klar darüber sind, daß alles, waswir in der Außenwelt um uns herum haben, Geist ist,daß Geist, wie wir so oft betont haben, allem Materiel-len, allem Ätherischen und Astralischen zugrunde liegt,dann müssen wir uns sagen: Gerade so, wie das Ichselber als ein Geistiges von innen heraus arbeitet, indemder Mensch sich entwickelt in seinen drei Wesensglie-dern, so müssen - nennen wir es nun geistige Wesen-heiten oder geistige Tätigkeiten, darauf kommt es nichtan - gearbeitet haben an unserem physischen Leib,Ätherleib und Astralleib, bevor das Ich sich geltendmachte und in dem schon Bearbeiteten ein Stück weiter-arbeitete. Wir schauen damit zurück in Zeiten, in denensozusagen eine ebensolche Tätigkeit auf unseren Astral-leib, Ätherleib und physischen Leib stattgefunden hat,

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wie heute eine Tätigkeit stattfindet vom Ich nach außenin diese drei Glieder hinein. Das heißt, wir müssendavon sprechen, daß geistiges Schaffen, geistige Tätigkeitan dem gearbeitet hat, worinnen wir eingehüllt sind, undForm, Bewegung, Gestalt und alles gegeben haben, be-vor das Ich in die Lage kam, sich darinnen festzusetzen.Wir müssen davon sprechen, daß es geistige Betätigun-gen im Menschen gibt, die vor der Tätigkeit des Ichliegen, und daß wir geistige Tätigkeiten in uns tragen,welche die Voraussetzung für die Ich-Tätigkeit sind, unddie vorhanden waren, bevor das Ich eingreifen konnte.Scheiden wir daher für einen Augenblick alles aus, wasunser Ich herausgearbeitet hat aus den drei Gliedernunserer Wesenheit als Empfindungsseele, Verstandes-oder Gemütsseele und Bewußtseinsseele, und betrachtenwir den Bau, die innere Bewegung und Tätigkeit dieserdrei Hüllen der menschlichen Wesenheit, so müssen wirsagen, daß vor der Tätigkeit des Ich eine geistige Tätig-keit auf uns ausgeübt worden ist.

Daher sprechen wir in der Geisteswissenschaft davon,daß wir es beim Menschen, so wie er heute ist, mit einerindividuellen Seele zu tun haben, mit einer von einemIch durchwobenen Seele, wodurch jeder Mensch eine insich selbst geschlossene Individualität ist. Und wir spre-chen davon, daß, bevor der Mensch eine solche in sichgeschlossene Ich-Wesenheit geworden ist, er das Ergeb-nis war einer Gruppenseele, einer Seelenhaftigkeit, sowie wir heute in der Tierwelt von Gruppenseelen nochsprechen. Da sagen wir: Was wir beim Menschen injeder einzelnen Wesenheit als individuelle Seele suchen,das finden wir beim Tier in demjenigen, was einerganzen Art oder Gattung im Tierreich zugrunde liegt.Eine ganze Tiergattung hat eine gemeinsame tierische

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Gruppenseele. Was beim Menschen die individuelle See-le ist, das ist beim Tier die Gattungsseele.

So arbeitete beim Menschen in seinen drei Wesensglie-dern, bevor er eine individuelle Seele wurde, eine andereSeele - von der wir heute nur noch durch die Geisteswis-senschaft Kunde erhalten -, welche die Vorgängerinunseres eigenen Ich war. Und diese Vorgängerin unseresIch, diese Gruppen- oder Gattungsseele des Menschen,welche dann dem Ich die von ihr bearbeiteten dreiWesensglieder übergab, den physischen Leib, Ätherleibund Astralleib, um sie vom Ich weiter bearbeiten zulassen, hat in ganz ähnlicher Art von ihrem Inneren,Seelenhaften heraus den physischen Leib, Ätherleib undastralischen Leib umgestaltet, bearbeitet, nach sich gere-gelt. Und die letzte Tätigkeit, die dem menschlichenWesen zugrunde liegt, bevor es mit einem Ich begabtworden ist, die letzten Einflüsse, die vor der Geburt desIch liegen, sie sind heute in dem niedergelegt, was wirdie menschliche Sprache nennen. Wenn wir daher vonunserem Bewußtseinsleben, von unserem Verstandes-und Gemütsleben, von unserem Empfindungsleben aus-gehen und auf das schauen, was seine Voraussetzungensind, so kommen wir zu einer Seelenarbeit, die nochnicht von unserem Ich durchwirkt war, und deren Er-gebnis wir in dem niedergelegt finden, was heute in derSprache zum Ausdruck kommt.

Worin beruht denn äußerlich das, was wir als die vierGlieder der menschlichen Wesenheit bezeichnen? Wiedrückt es sich im physischen Leibe rein äußerlich aus?Der physische Leib einer Pflanze sieht anders aus als derphysische Leib eines Menschen. Warum? Weil in derPflanze nur der physische Leib und der Ätherleib vor-handen sind, während im menschlichen physischen Lei-

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be noch der astralische Leib und das Ich wirken. Was dainnerlich wirkt, das formt und gestaltet auch den physi-schen Leib entsprechend um. Was hat denn in unserenphysischen Leib hineingewirkt, indem er von einemAtherleib oder Lebensleib durchsetzt worden ist?

Was wir in uns das Gefäß- oder Drüsensystem nen-nen, ist beim Menschen und auch beim Tier der äußerephysische Ausdruck des Äther- oder Lebensleibes, dasheißt, der Atherleib ist der Architekt oder Bildner vondem, was wir das Drüsen- oder Gefäßsystem nennen.Der astralische Leib ist wiederum der Bildner von dem,was wir das Nervensystem nennen. Daher haben wir nurdort ein Recht von einem Nervensystem zu sprechen,wo ein astralischer Leib in einem Wesen vorhanden ist.Was ist nun beim Menschen der Ausdruck seines Ich?Das ist das Blutsystem, und zwar beim Menschen spe-ziell das, was wir Blut unter dem Einfluß der innerenLebenswärme nennen können. Alles, was das Ich amMenschen arbeitet, geht, wenn es in den physischen Leibhineingestaltet werden soll, auf dem Umwege durch dasBlut. Deshalb ist das Blut ein so ganz «besonderer Saft».Wenn das Ich die Empfindungsseele, die Verstandesseeleund die Bewußtseinsseele ausarbeitet, so dringt das, wasdas Ich vermag auszugestalten, zu konfigurieren, nurdadurch in den physischen Leib, daß das Ich die Fähig-keit hat, auf dem Umwege durch das Blut in den physi-schen Leib arbeitend einzugreifen. Unser Blut ist derVermittler für astralischen Leib und Ich und alle ihreTätigkeiten.

Wer wird nun daran zweifeln, wenn er das mensch-liche Leben auch nur oberflächlich betrachtet, daß derMensch, so wie er von seinem Ich aus in der Bewußt-seinsseele, Verstandesseele und Empfindungsseele arbei-

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tet, auch seinen physischen Leib umformt und umge-staltet? Wer würde nicht in dem physiognomischen Aus-druck eine Ausgestaltung dessen sehen, was im Innerenwirkt und lebt? Und wer würde nicht zugeben, daßselbst das, was innere Gedankenarbeit ist, wenn es dieganze Seele ergreift, auch noch im Verlaufe eines Men-schenlebens umgestaltend auf unser Gehirn wirkt? Un-ser Gehirn paßt sich unserem Denken an; es ist einWerkzeug, das sich nach den Bedürfnissen unseres Den-kens formt. Aber wenn wir uns das anschauen, was derMensch heute schon von seinem Ich aus an seiner eige-nen äußeren Wesenheit auszuarbeiten, gleichsam künstle-risch zu gestalten vermag, so ist es sehr wenig. Es istwenig, was wir von unserem Blut aus dadurch zu tunvermögen, daß wir das Blut von dem aus, was wir unsereinnerliche Wärme nennen, in Bewegung setzen.

Mehr haben diejenigen geistigen Wesenheiten ver-mocht, welche der Arbeit unseres Ich vorangegangensind. Denn sie haben sich sozusagen eines wirksamerenMittels bedienen können, und so bildete sich unterihrem Einfluß die menschliche Form so aus, daß sie imganzen ein Ausdruck dessen ist, was diese vor demmenschlichen Ich arbeitenden geistigen Wesenheiten ausdem Menschen gemacht haben. In welchem Mittel arbei-teten denn diese Wesenheiten? Sie arbeiteten in keinemanderen Mittel als in der Luft. Wie wir in der innerlichenWärme arbeiten und unser Blut pulsieren machen unddadurch das Blut in unserer eigenen Form zur Wirkungbringen, so brachten die vor unserem Ich an uns arbei-tenden Wesenheiten die Luft zur Wirkung. Und von derArbeit dieser Wesenheiten durch die Luft an uns selberging etwas aus, was uns als Menschen eigentlich unsereGestalt gegeben hat.

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Es kann sonderbar erscheinen, wenn hier davon ge-sprochen wird, daß geistige Tätigkeiten durch die Luftam Menschen in urferner Vergangenheit gearbeitet ha-ben. Ich habe schon einmal gesagt: Was in unseremInneren auflebt als unser eigenes geistig-seelisches Le-ben, das würden wir verkennen, wenn wir es als bloßeVorstellungen aufnähmen und nicht wüßten, daß es ausder ganzen Außenwelt genommen ist. Wer da behauptenwollte, daß in uns Begriffe und Ideen entständen, wennes auch draußen keine Ideen gäbe, der sollte auch nurgleich behaupten, daß er Wasser aus einem Glase schöp-fen kann, in welchem kein Wasser ist. Unsere Begriffewären Schaumgebilde, wenn sie etwas anderes wären alsdas, was auch in den Dingen draußen lebt, und was anden Dingen als ihre Gesetze vorhanden ist. Wir holendas, was wir in unserer Seele aufleben lassen, aus unsererUmgebung heraus. Deshalb können wir sagen: Alles,was uns materiell umgibt, ist durchwirkt und durchwo-ben von geistigen Wesenheiten.

So sonderbar es klingen mag: Was uns als Luft um-gibt, ist nicht nur der Stoff, den uns die Chemie zeigt,sondern darinnen wirken geistige Wesenheiten und gei-stige Tätigkeiten. - Und so wie wir durch die Blutwär-me, die von unserem Ich ausgeht - denn das ist dasWesentliche dabei -, unseren physischen Leib ein kleinwenig formen können, so formten in mächtiger Weisediese Wesenheiten, die dem Ich vorangingen, an deräußeren Gestalt unseres physischen Menschen durch dieLuft. Das ist für uns das Wesentliche. Wir sind_Mm-

jschen durch unsere Kehlkopfeinrichtung und durch al-les, was damit zusammenhängt. Was uns von außen alsdieses wunderbare künstlerische Organ des Kehlkopfesim Zusammenhange mit den übrigen Stimm- und

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Sprachwerkzeugen eingeformt ist, ist aus dem herausge-arbeitet, was die Luft geistig ist. Goethe hat so schon inbezug auf das Auge gesagt: Das Auge ist am Lichte fürdas Licht gebildet! - Wenn man im SchopenhauerischenSinne nur betont: Ohne ein lichtempfindendes Augewäre für uns der Lichteindruck nicht da -, so sagt mandamit nur eine halbe Wahrheit. Die andere Hälfte ist die,daß wir kein Auge haben würden, wenn nicht ausunbestimmten Organen in urferner Vergangenheit dasLicht gleichsam plastisch aus uns das Auge herausge-bildet hätte. Wir haben daher im Lichte nicht bloß jeneabstrakte Wesenheit zu sehen, die man heute physika-lisch als Licht beschreibt, sondern im Lichte haben wirjene verborgene Wesenheit zu suchen, die imstande ist,sich ein Auge zu schaffen.

Das ist auf einem anderen Gebiete dasselbe, als wennwir davon sprechen, daß die Luft von einer Wesenheitdurchwirkt und durchlebt ist, die imstande war, in einergewissen Zeit dem Menschen das kunstvolle Organ desKehlkopfes und alles, was damit zusammenhängt, einzu-prägen. Und alle übrige menschliche Gestalt - bis insKleinste hinein - ist so geformt und plastisch gestaltetworden, daß der Mensch auf der gegenwärtigen Stufegleichsam eine weitere Ausführung seiner Sprachwerk-zeuge ist. Die Sprachwerkzeuge sind etwas, was zu-nächst für die Form des Menschen das eigentlich maßge-bende ist. Daher hebt gerade die Sprache den Menschen

_über_.die Tierheit hinaus, weil jenes geistige Wesen, daswir den Geist der Luft nennen, zwar auch in der Tierheitgeformt und gearbeitet hat, aber nicht so, daß dieseWirksamkeit bis dahin gelangt wäre, wo sich ein Sprach-organismus entwickeln konnte, wie ihn der Mensch hat.Alles, mit Ausnahme dessen, was das Ich unbewußt,

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zum Beispiel als Gehirn herausgearbeitet hat, was es anden Sinnen vervollkommnet hat, alles, mit Ausnahmedessen, was Ich-Tätigkeit ist, ist eine vor dieser Ich-Ta-tigkeit des Menschen liegende Tätigkeit, die darauf be-dacht war, den Menschenleib so auszubilden, daß er einweiterer Ausdruck dieses Sprachorganes ist. Es ist jetztkeine Zeit dazu, auszuführen, warum zum Beispiel dieVögel trotz ihres vollkommenen Gesanges auf einerStufe stehengeblieben sind, auf der sie in ihrer Formnicht ein Ausdruck desjenigen Organes sein können, daswir im weitesten Umfange das Stimmorgan nennen.

So sehen wir, wie der Mensch innerlich schon inseinen Sprachorganen organisiert gewesen ist, bevor erzu seinem jetzigen Denken, zu seinem Gemüt und sei-nem Willen gekommen ist, das heißt zu allem, was mitdem Ich zusammenhängt. Nun werden wir es begreiflichfinden, daß diese geistigen Tätigkeiten nur so am physi-schen Leib formen konnten, daß der Mensch zuletztgleichsam ein Anhangorgan seiner Sprachwerkzeugewurde, indem sie den astralischen Leib, den Ätherleib,den physischen Leib durch die Einflüsse, durch dieKonfiguration der Luft ausbauten. Nachdem derMensch so fähig geworden war, in sich ein Organ zuhaben, das dem entspricht, was wir die geistige Wesen-heit der Luft nennen, geradeso wie das Auge der geisti-gen Wesenheit des Lichtes entspricht, konnte er dahineinkonfigurieren, was sein Ich als Verstand, als Be-wußtsein, Empfindung, Gemüt sich selber einprägte. Somüssen wir eine dreifache Tätigkeit im Unterbewußtensuchen, eine gleichsam vor dem Ich liegende Tätigkeitfür den physischen Leib, den Ätherleib und den astrali-schen Leib. Wir finden Anhaltspunkte dazu, indem wirwissen, daß dies die Gruppenseele gewesen ist, und daß

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die Gruppenseele in einer unvollkommenen Tätigkeit amTier gearbeitet hat.

Das müssen wir betrachten, wenn wir die Arbeitdieser vor dem Ich liegenden geistigen Tätigkeit imastralischen Leib ins Auge fassen. Da müssen wir allesIch ausgeschaltet denken, aber dabei das ins Auge fassen,was das Gruppen-Ich wie aus einem dunklen Unter-grunde heraus gearbeitet hat. Da stehen sich im astrali-schen Leib auf einer unvollkommenen Stufe gegenüberBegierde und Genuß. Und die Begierde konnte dadurchgleichsam verseelt werden, in eine innere Fähigkeit um-gearbeitet werden, daß sie schon einen Vorläufer in demastralischen Leib des Menschen hatte.

Wie Begierde und Genuß im astralischen Leib, sostehen sich gegenüber im Ätherleibe Bildhaftigkeit, Sym-bolik und äußerer Reiz. Das ist das Wesentliche, daß wirdiese vor dem Ich liegende Tätigkeit unseres Ätherleibesso auffassen, daß sie sich von der Ich-Tätigkeit imÄtherleib unterscheidet. Wenn unser Ich tätig ist alsVerstandesseele oder Gemütsseele, so sucht es auf derheutigen Entwickelungsstufe des Menschen sozusageneine Wahrheit, die möglichst ein getreues Abbild deräußeren Dinge ist. Was nicht genau den äußeren Dingenentspricht, nennt man nicht wahr. Diejenigen geistigenTätigkeiten, die vor der Wirksamkeit unseres Ich liegen,arbeiteten nicht so; sie arbeiteten mehr symbolisch,mehr bildhaft, wie etwa der Traum arbeitet. Der Traumarbeitet zum Beispiel so, daß jemand träumt, es werdeein Schuß abgefeuert, und wenn er aufwacht, sieht er,daß der Stuhl neben seinem Bett umgefallen ist. Wasäußerliches Geschehnis und äußerer Eindruck ist - derumgefallene Stuhl -, wird im Traum in ein Sinnbildumgewandelt, in den abgefeuerten Schuß. So arbeiteten

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die vor dem Ich liegenden geistigen Wesenheiten symbo-lisch, wie wir wiederum arbeiten, wenn wir uns zu einerhöheren geistigen Tätigkeit durch die Initiation oderEinweihung hinaufarbeiten, wo wir wiederum versuchen- jetzt aber mit vollem Bewußtsein -, von der bloßenabstrakten Außenwelt uns in die Symbolik, in die Bild-haftigkeit hineinzuarbeiten.

Dann arbeiteten diese geistigen Wesenheiten an demmenschlichen physischen Leib, indem sie den Menschenzu dem machten, was man nennen kann Entsprechungvon äußeren Geschehnissen, äußeren Tatsachen undNachahmung. Nachahmung ist etwas, was wir zumBeispiel beim Kind finden, wenn noch die anderen See-lenglieder wenig entwickelt sind. Nachahmung ist etwas,was zum unterbewußten Wesen der Menschennatur ge-hört. Daher sollen wir die erste Erziehung auf Nach-ahmung begründen, weil im Menschen, bevor das Ichbeginnt, in seinen inneren Tätigkeiten Ordnung zuschaffen, der Nachahmungstrieb wie ein natürlicherTrieb vorhanden ist.

Was jetzt auseinandergesetzt worden ist; der Nachah-mungstrieb im physischen Leibe gegenüber den äußerenTätigkeiten, das Symbolisieren im Ätherleibe gegenüberdem äußeren Reiz, und das, was wir nennen können dasEntsprechen von Begierde und Genuß im astralischenLeib, das alles denken wir uns ausgearbeitet mit Hilfedes Werkzeuges der Luft und hineingearbeitet in uns so,daß gleichsam ein plastischer, ein künstlerischer Ein-druck davon entstanden ist in unserem Kehlkopf und inunserem ganzen Stimmapparat. Dann werden wir unssagen können: Diese vor dem Ich liegenden Wesenheitenarbeiteten am Menschen so, daß sie durch die Luft andem Menschen in der Weise formten und gliederten, daß

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nach dieser dreifachen Richtung hin die Luft im Men-schen zum Ausdruck kommen konnte.

Wenn wir nämlich im wahren Sinne des Wortes dasSprachvermögen betrachten, so müssen wir fragen: Ist esder Ton, was wir hervorbringen? - Nein, der Ton ist esnicht. Was wir tun, das ist, daß wir von unserem Ich ausdasjenige in Bewegung setzen und formen, was durchdie Luft in uns hineingeformt und hineingegliedert ist.Gerade so, wie wir das Auge in Bewegung setzen, umdas aufzunehmen, was äußerlich als Licht wirkt, wäh-rend das Auge selbst zu dieser Aufnahme von Licht daist, so sehen wir, wie in uns selber vom Ich aus jeneOrgane in Bewegung gesetzt werden, die aus dem Geisti-gen der Luft heraus gebildet worden sind. Wir setzen dieOrgane in Bewegung durch das Ich; wir greifen in dieOrgane ein, die dem Geist der Luft entsprechen, und wirmüssen abwarten, bis der Geist der Luft, von dem dieOrgane gebildet sind, uns selber - als Echo unsererLufttätigkeit - den Ton entgegentönt. Den Ton erzeugenwir nicht, wie auch nicht die einzelnen Teile einer Pfeifeden Ton erzeugen. Wir erzeugen von uns aus dasjenige,was unser Ich als Tätigkeit entfalten kann durch dieBenutzung jener Organe, die aus dem Geiste der Luftheraus gebildet sind. Dann müssen wir es dem Geist derLuft überlassen, daß die Luft wieder in Bewegungkommt durch jene Tätigkeit, durch welche die Organeerzeugt worden sind, so daß das Wort erklingt.

So sehen wir in der Tat, wie die menschliche Spracheauf diesem dreifachen Entsprechen, das wir angeführthaben, beruhen muß. Aber, was soll sich entsprechen?Worauf soll gerade die Nachahmung im physischenLeibe beruhen? Die Nachahmung im physischen Leibemuß darauf beruhen, daß wir dasjenige, was wir als

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äußerliche Tätigkeiten, als äußere Dinge wahrnehmen,was einen Eindruck auf uns macht, in den Bewegungenunserer Stimmorgane nachahmen, daß wir alles, was wirzunächst als Ton widerklingend hören, hervorbringen,indem wir durch das Prinzip des physischen LeibesNachahmende dessen sind, was einen äußeren Eindruckauf uns macht, geradeso wie der Maler eine Szene nach-ahmt, die in ganz anderen Elementen als Farbe undLeinwand, Hell und Dunkel besteht. Wie der Maler mitHell und Dunkel nachahmt, so ahmen wir nach, wasäußerlich an uns herantritt, indem wir unsere Organenachahmend in Bewegung setzen, jene Organe, die ausdem Element der Luft gebildet worden sind. Deshalb istdas, was wir im Laut hervorbringen, eine wirklicheNachahmung des Wesens der Dinge, und unsere Konso-nanten und Vokale sind nichts anderes als Abbilder undNachahmungen dessen, was von außen einen Eindruckauf uns macht.

Was wir dann im Ätherleib haben, ist eine bildhafteArbeit. Da wird in den Ätherleib hineingearbeitet, waswir Symbolik nennen können. Daher müssen wir esbegreiflich finden, daß allerdings zuerst durch Nachah-mung dasjenige entstanden ist, was die ersten Elementeunserer Sprache sind, daß dies dann aber fortgebildetwurde, indem es sich gleichsam losriß von den äußerenEindrücken und dann weiterverarbeitet wurde. Da verar-beitet der Ätherleib in der Symbolik, wie beim Traum,dasjenige, was den äußeren Eindrücken nicht mehr ähn-lich ist, und darinnen besteht das Fortwirkende desLautes. Zunächst verarbeitet der Ätherleib dasjenige,was eine bloße Nachahmung ist, dann arbeitet sich das,was bloße Nachahmung ist, im Ätherleib selbständigum, so daß es dadurch ein Selbständiges wird. So ist das,

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was wir innerlich verarbeitet haben, nur noch symbo-lisch, sinnbildlich den äußeren Eindrücken entspre-chend. Da sind wir nicht mehr bloße Nachahmende.

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Und endlich kommt ein Drittes. Begierde, Affekt,alles, was innerlich lebt, drückt sich im astralischen Leibaus, und das wirkt wieder so, daß es den Ton weiterumformt. Das heißt, die innerlichen Erlebnisse strahlengleichsam von innen heraus in den Ton ein. Schmerzund Freude, Lust und Leid, Begierde, Wunsch, das allesstrahlt in den Ton ein, und dadurch kommt das subjekti-ve Element in den Ton hinein. Was bloße Nachahmungist, was weitergebildet ist als Sprachsymbolum in demselbständig gewordenen Tonbild oder Wortbild, daswird jetzt weiter umgebildet, indem es durchstrahlt wirdvon dem, was der Mensch innerlich erlebt als Schmerzund Freude, Lust und Leid, Entsetzen und Furcht undso weiter. Immer muß es ein äußerliches Entsprechensein, was sich im Ton von der Seele losringt. Aber wenndie Seele innerlich das, was sie erlebt, ausdrückt, esgleichsam im Ton ausklingen läßt, dann muß sie dasäußere Erlebnis erst dazu suchen. Daher müssen wirsagen: Das dritte Element, wo sich innerlich, seelenhaft,Lust und Leid, Schmerz und Freude, Entsetzen und soweiter im Ton ausdrückt, das muß erst suchen, was ihmentspricht. Bei der Nachahmung ist der äußere Eindrucknachgeahmt, das innere Tonbild oder dasjenige, was alsSymbol entstanden ist, ist eine Weiterbildung. Aberdasjenige, was der Mensch nur aus innerer Freude,Schmerz und so weiter ertönen ließe, das würde ja nureine Ausstrahlung sein, dem nichts entsprechen könnte.Was hier die Entsprechung zwischen äußerem Wesenund innerem Erleben ist, das heißt, was hier geschieht,das können wir fortwährend bei unseren Kindern beob-

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achten, wenn sie sprechen lernen. Da können wir sehen,wie das Kind beginnt, irgend etwas, was es fühlt, in denTon umzusetzen. Wenn das Kind zuerst Ma und Paschreit, so ist das nichts anderes als ein innerlichesUmgießen des Affektes in den Laut. Es ist nur dieÄußerung eines Inneren. Wenn aber dieses Kind sich soäußert, dann kommt zum Beispiel die Mutter herbei,und das Kind merkt dann, daß demjenigen, was sichinnerlich als Freude äußert, indem es sich umgießt in denLaut Ma, ein äußeres Ereignis entspricht. Das Kind fragtnatürlich nicht, wie das geschieht, daß es in diesem Falledem Herbeieilen der Mutter entspricht. Da gesellt sichzusammen inneres Erlebnis von Freude oder Schmerzund äußerer Eindruck, und es verbindet sich das, wasvon innen hervorstrahlt mit dem äußeren Eindruck. Dasist eine dritte Art, wie die Sprache wirkt. Daher könnenwir sagen: Die Sprache ist ebensosehr von außen nachinnen durch Nachahmung entstanden, wie sie entstandenist durch das, was man nennen kann das Hinzugesellender äußeren Wirklichkeit zu dem, was unser Inneresäußert. Denn das, was dazu geführt hat aus einer innerenÄußerung - Ma, Pa - die Worte Mama und Papa zubilden, weil diese Äußerung sich im Herbeieilen vonMutter oder Vater befriedigt fühlte, das geschieht inunzähligen Fällen. Überall, wo der Mensch sieht, daßirgend etwas auf eine innere Äußerung folgt, da verbin-det sich für ihn das, was der Ausdruck der innerenWesenheit ist, mit einem Äußeren.

Das alles geschieht ohne Zutun des Ich. Erst späterübernimmt das Ich diese Tätigkeit. Auf diese Art sehenwir das, was vor dem Ich liegt, an jener Konfigurationarbeiten, welche der menschlichen Sprachausdrucksfä-higkeit zugrunde liegt. Und dadurch, daß das Ich da

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hineintritt, nachdem die Grundlage zur Sprache bereitsgeschaffen ist, gliedert sich entsprechend dem Wesen desIch wiederum die Sprache. Dadurch werden die Äuße-rungen, welche dem Empfindungsleib entsprechen, vonder Empfindungsseele durchdrungen; die Bilder undSymbole, welche dem Ätherleib entsprechen, werdenvon der Verstandesseele durchdrungen. Der Menschgießt hinein in den Laut, was er in der Verstandesseeleerlebt, und er gießt ebenso hinein, was er in der Bewußt-seinsseele erlebt, was zunächst bloße Nachahmung war.Auf diese Weise sind dann nach und nach jene Gebieteunserer Sprache entstanden, welche Wiedergaben dessensind, was innere Erlebnisse der Seele darstellen.

So müssen wir uns klar sein, um das Wesen derSprache zu verstehen, daß sozusagen in uns etwas lebt,was vor dem Ich und vor aller Tätigkeit des Ich wirkte,und daß darin erst das Ich hineingegossen hat, was esausbilden kann. Dann müssen wir aber auch keinenAnspruch darauf machen, daß die Sprache genau dementspreche, was aus dem Ich stammt, und daß unseremGeistigen, allem Intimeren unserer individuellen Wesen-heit genau die Sprache entspricht, sondern wir müssenuns klar sein, daß wir in der Sprache niemals denunmittelbaren Ausdruck des Ich sehen können. Symbo-lisch zum Beispiel arbeitet der Sprachgeist in dem Äther-leib, nachahmend in dem physischen Leib, das alleszusammen mit dem, was der Sprachgeist aus der Emp-findungsseele herausarbeitet, indem er die innerlichenErlebnisse aus ihr herauspreßt, so daß wir in dem Lauteine Ausstrahlung des Innenlebens haben. Das alles zu-sammengenommen soll uns rechtfertigen, wenn wir sa-gen : Nicht nach der Art des im heutigen Sinne bewußtenIch ist die Sprache ausgearbeitet, sondern, wenn wir die

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Ausarbeitung der Sprache mit irgend etwas vergleichenwollen, können wir sie nur mit dem künstlerischenArbeiten vergleichen. Ebensowenig wie wir von derNachahmung, die der Künstler gibt, verlangen können,daß sie der Wirklichkeit entspricht, ebensowenig könnenwir verlangen, daß die Sprache dasjenige nachbildet, wassie darstellen soll. - Wir haben in der Sprache etwas, wasnur so wiedergibt, was draußen ist, wie das Bild, wie derKünstler überhaupt wiedergibt, was draußen ist. Undwir dürfen sagen: Ehe der Mensch ein selbstbewußterGeist im heutigen Sinne war, war in ihm ein Künstlertätig, der als Sprachgeist gewirkt hat. - Wir haben unserIch hineingelegt in eine Stätte, wo vorher ein Künstlerseine Tätigkeit ausgeübt hat. Das ist zwar selbst wiederetwas bildhaft gesprochen, aber es gibt die Wahrheit aufdiesem Gebiete wieder. Wir sehen in eine unterbewußteTätigkeit und fühlen, daß wir da etwas haben, was ausuns selber den sprechenden Menschen als künstlerischesWerk gemacht hat. Und die Sprache müssen wir dahernach Analogie eines Kunstwerkes auffassen. Dazu müs-sen wir nicht vergessen, daß wir jedes Kunstwerk nur soauffassen können, wie es die Mittel der betreffendenKunst gestatten. Daher wird uns auch die Sprache gewis-se Beschränkungen auferlegen müssen. Wenn man dasberücksichtigte, würde es von vornherein ausgeschlossensein, daß ein aus einem pedantischen Wurf hervorgegan-genes Werk zustande kommen könnte wie die «Kritikder Sprache» von Fritz Mauthner. Da geht die Sprach-kritik von ganz falschen Voraussetzungen aus, nämlichdavon, daß, wenn man die Sprachen der Menschenübersieht, sie einem in keiner Weise die objektive Wirk-lichkeit richtig geben. Sollen sie diese denn geben? Istdenn eine Möglichkeit, daß sie diese geben? Geradeso-

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wenig ist eine Möglichkeit dafür vorhanden, daß dieSprache die Wirklichkeit wiedergibt, als das Bild, wennes auf der Leinwand mit Farben und Hell und Dunkeldie äußere Wirklichkeit darstellen soll. Mit künstleri-schem Sinn muß aufgefaßt werden, was als der Sprach-geist dem Menschenwirken zugrunde liegt.

Das alles konnte nur skizzenhaft dargestellt werden.Wenn man aber weiß, daß ein Künstler in der Mensch-heit wirkt, der die Sprache formt, dann wird man verste-hen - so verschieden auch die einzelnen Sprachen sichausnehmen mögen -, daß selbst in den einzelnen Spra-chen der Menschheit der künstlerische Sinn in der ver-schiedensten Weise gearbeitet hat. Da werden wir verste-hen, wie dieser Sprachgeist - nennen wir jetzt diesedurch die Luft wirkende Wesenheit den Sprachgeist -,wenn er sich auf einer verhältnismäßig niederen Stufe imMenschen manifestierte, so arbeitete wie der atomisti-sche Geist, der alles aus den einzelnen Teilen zusammen-setzen möchte. Da haben wir denn die Möglichkeit, daßeine Sprache so gefügt ist, daß aus einzelnen Lautbildernder ganze Satz sich zusammensetzt.

Wenn wir zum Beispiel im Chinesischen den Laut schiund king haben, so haben wir darin zwei Atome derSprachbildung. Die eine Silbe schi = Lied, Gesang; dieandere würde bedeuten: Buch. Wenn wir die beidenLautbilder zusammensetzten: schi-king, dann würdeman es so gemacht haben, wie wenn wir im Deutschenzusammensetzen Lied-Buch, dann würde sich durch die-se Atomisierung etwas ergeben, was nun - als Ganzeserfaßt - Lieder-Buch wird. Das würde ein kleines Bei-spiel dafür geben, wie die chinesische Sprache ihre Be-griffe und Vorstellungen bildet.

Wenn wir das, was wir heute betrachtet haben, in

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unserer Seele verarbeiten, können wir nun auch begrei-fen, wie eine so wunderbar gebildete Sprache wie diesemitische zum Beispiel in ihrem Geiste zu betrachtenist. In der semitischen Sprache haben wir als Grundlagegewisse Tonbilder, welche eigentlich nur aus Konso-nanten bestehen. Und nun setzt der Mensch in dieseTonbilder Vokale hinein. Wenn wir also, um das nurdurch ein Beispiel zu erklären, die Konsonanten nehmenq, t, l, und da hineinsetzen ein a und wiederum ein <z,dann wäre, während das nur aus den Konsonanten gebil-dete Wort die bloße Nachahmung eines äußeren Laut-eindruckes ist, durch das Hineinfügen der Vokale ent-standen: qatal = toten.

So haben wir hier ein merkwürdiges Durchdringen,indem töten als Tonbild dadurch entstanden ist, daß deräußere Vorgang einfach durch die Sprachorgane nach-geahmt worden ist; das ist zunächst das ursprünglicheTonbild. Dann wird das, was die Seele weiter zu bildenhat und was nur innerlich erlebt werden kann, weiterge-bildet, indem aus dem Inneren noch etwas hinzugefügtwird. Es wird das Tonbild weitergebildet, damit dasTöten auf ein Subjekt zurückgeht. In dieser Weise ist imGrunde genommen die ganze semitische Sprache zu-sammengesetzt, und es drückt sich in ihr aus, was wir alsdas Zusammenwirken der verschiedenen Elemente derSprachbildung in dem ganzen Bau der Sprache aufge-zählt haben. In der Symbolik, die vorzugsweise in dersemitischen Sprache wirksam ist - also, was wir imÄtherleib als Sprachgeist wirksam gefunden haben -,zeigt sich uns die ganze Eigentümlichkeit der semiti-schen Sprache, die alle die nachgeahmten einzelnen Ton-bilder weiterbildet und durch die Einfügung von Voka-len zu Sinnbildern umbildet.

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Daher sind im Grunde genommen alle Worte dersemitischen Sprache so gebildet, daß sie sich wie Sinnbil-der auf das beziehen, was uns in der Außenwelt umgibt.Dagegen ist alles, was in den indogermanischen Sprachenauftritt, mehr angeregt von dem, was wir innere Äuße-rung des astralischen Leibes genannt haben, der innerenWesenheit. Der Astralleib ist schon etwas, was mit demBewußtsein zusammenhängt. Wenn man sich der Au-ßenwelt entgegenstellt, unterscheidet man sich von derAußenwelt. Wenn man sich nur vom Gesichtspunkte desÄtherleibes der Außenwelt gegenüberstellt, verschmilztman mit ihr, ist mit ihr eins. Erst wenn sich die Dingeim Bewußtsein spiegeln, unterscheidet man sich von denDingen. Dieses Arbeiten des astralischen Leibes mitseinen ganzen inneren Erlebnissen ist in den indogerma-nischen Sprachen im Unterschiede zu den semitischenSprachen dadurch wunderbar ausgedrückt, daß sie dasVerbum sein haben, das Konstatieren dessen, was ohneunser Zutun vorhanden ist. Das ist dadurch möglich,daß man sich mit seinem Bewußtsein unterscheidet vondem, was einen äußeren Eindruck macht. Wenn daherim Semitischen zum Beispiel ausgedrückt werden sollte:Gott ist gut -, so würde man das nicht unmittelbarkönnen, denn man kann das Wort ist, welches das Seinausdrückt, nicht wiedergeben, weil es schon von derEntgegensetzung des astralischen Leibes und der Au-ßenwelt herkommt. Der Ätherleib stellt die Dinge ein-fach hin. Daher würde man in der semitischen Sprachezu sagen haben: Gott, der Gute. - Es wird nicht dieGegenüberstellung des Subjektes und des Objektes cha-rakterisiert. Diese sich von der Außenwelt unterschei-denden Sprachen, welche als ein Wesentliches enthalten,daß ein Teppich von Wahrnehmungen über die Außen-

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weit ausgegossen wird, sind vorzugsweise die indoger-manischen Sprachen. Diese wirken nun auch wieder soauf den Menschen zurück, daß sie die Innerlichkeit, dasheißt alles, was man die Anlage nennen kann, um einestarke Individualität, ein starkes Ich auszubilden, unter-stützen. Das liegt hier schon in der Sprache ausgedrückt.

Das alles, was ich Ihnen geben konnte, wird vonmanchen vielleicht nur wie unbefriedigende Andeu-tungen hingenommen werden, aus dem einfachen Grun-de, weil man ja vierzehn Tage reden müßte, wenn manauf diesem Gebiet alles ausführlicher darstellen wollte.Allein, wer öfter hier diese Vorträge gehört hat und inden Geist der Sache eingedrungen ist, wird sehen, daßeine solche Anregung, wie sie heute gegeben worden ist,nicht unberechtigt ist. Sie soll nur zeigen, wie einegeisteswissenschaftliche Sprachbetrachtung angeregtwerden kann, welche im Grunde genommen zu demResultat führt, daß die Sprache gar nicht anders verstan-den werden kann, als daß man sie mit einem künstleri-schen Sinn zu begreifen versucht, den man sich zu eigengemacht haben muß. Daher wird alle Gelehrsamkeitscheitern, wenn sie nicht nachschaffen will, was derSprachkünstler im Menschen getan hat, bevor das Ich inuns wirken konnte. Künstlerischer Sinn allein kann dieGeheimnisse der Sprache erfassen, wie auch künstleri-scher Sinn überhaupt nur nachschaffen kann. Nicht ge-lehrte Abstraktionen können jemals ein Kunstwerk be-greiflich machen. Erst jene Ideen leuchten hinein in dieKunstwerke, welche als Ideen in fruchtbarer Art dasjeni-ge nachzuschaffen imstande sind, was der Künstler mitanderen Mitteln, mit Farbe, Ton und so weiter zumAusdruck gebracht hat. Künstlerischer Sinn begreift al-lein den Künstler, und Sprachkünstler allein begreifen

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das Schöpferisch-Geistige im Entstehen der Sprache. Dasist das eine, was die Geisteswissenschaft in bezug auf dieSprache zu leisten hat.

Das andere ist etwas, was im Praktischen seine Bedeu-tung hat. Wenn wir verstehen, wie die Sprache aus eineminneren, vormenschlichen Künstler entstanden ist, wer-den wir uns auch dazu aufschwingen können, daß wirda, wo wir etwas sprechen wollen oder etwas durch dieSprache darstellen wollen, was Anspruch darauf macht,Geltung zu erhalten, auch diesen künstlerischen Sinnmüssen wirken lassen. Dafür ist aber in unserer heutigenZeit, wo man in bezug auf das lebendige Fühlen derSprache nicht besonders weit ist, nur wenig Sinn vorhan-den. Heute glaubt ein jeder, wenn er nur überhauptreden kann, alles ausdrücken zu dürfen. Aber wir müs-sen uns darüber klar sein, daß wir wieder in unsererSeele einen unmittelbaren Zusammenhang schaffen müs-sen zwischen dem, was wir durch die Sprache ausdrük-ken wollen, und dem, wie wir es ausdrücken. Wirmüssen den Sprachkünstler in uns auf allen Gebietenwiedererwecken. Heute sind die Menschen zufrieden,wenn in einer noch so beliebigen Form dasjenige ausge-drückt wird, was sie sagen wollen. Und wie viele Men-schen haben einen Begriff davon, was auf geisteswissen-schaftlichem Gebiet unbedingt notwendig ist, daßsprachkünstlerischer Sinn für eine jegliche Darstellungnötig wäre! Versuchen Sie einmal, wirkliche Darstel-lungen der geisteswissenschaftlichen Materie zu prüfen.Da werden Sie finden, daß derjenige, der als wahrer,echter Geisteswissenschafter solche Dinge geschriebenhat, auch wirklich daran gearbeitet hat, um künstlerischeinen jeden Satz auszugestalten, und daß da nicht inbeliebiger Weise ein Zeitwort am Ende oder am Anfang

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steht. Da werden Sie finden, daß ein jeder solcher Satzeine Geburt ist, weil er innerlich, seelisch, nicht bloß alsGedanke, sondern als unmittelbare Form erlebt werdensoll. Und wenn Sie den Zusammenhang des Dargestell-ten verfolgen, dann werden Sie sehen, daß bei dreiaufeinanderfolgenden Sätzen der mittlere nicht bloß anden ersten angehängt ist und der dritte wiederum an denvorhergehenden, sondern Sie werden finden, daß derjeni-ge, der Geisteswissenschaftliches darstellt, nicht bloßden ersten Satz, sondern auch den dritten Satz bereitsfertig in seiner Anlage hat, bevor er den mittleren gestal-tet, weil die Wirkung des mittleren Satzes von demabhängen soll, was als Wirkung des ersten Satzes zurück-bleibt und wiederum auf den nächstfolgenden Satz über-gehen kann.

In der Geisteswissenschaft ist nicht ohne künstlerischwirkenden Sprachsinn zu schaffen. Alles andere ist vomÜbel. Da handelt es sich darum, daß wir loskommenvon dem sklavischen Gekettetsein an die Worte. Daskönnen wir aber nicht, wenn wir denken, daß irgendeinWort den Gedanken ausdrücken könnte, den wir haben,denn dann sind wir schon im Irrtum mit unserer Sprach-bildung. Aus den Worten, die ganz auf die Sinneswelthin geprägt sind, können wir nimmermehr gewinnen,was Ausdruck für übersinnliche Tatsachen sein soll. Werfragen kann: Wie soll man den Ätherleib oder denastralischen Leib in Wirklichkeit ganz konkret durch einWort ausdrücken? - hat noch nichts davon verstanden.Erst der hat etwas verstanden, der so zu Werke geht, daßer sich sagt: Ich werde erfahren, was der Ätherleib ist,wenn ich mir zuerst einmal von der einen Seite darüberetwas erzählen lasse, und mir bewußt bin, daß es sichdabei um künstlerisch gebildete Reflexbilder handelt;

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und dann lasse ich mir dasselbe von drei anderen Seitendarstellen. - Da haben wir dieselbe Sache von vierverschiedenen Seiten her dargestellt, so daß wir in denDarstellungen, die wir durch die Sprache geben, indemwir gleichsam um die Sache herumgehen, künstlerischeReflexbilder der Sache darstellen. Wenn man sich dessennicht bewußt ist, wird man nichts anderes herausbe-kommen als Abstraktionen und eine verknöcherte Wie-dergabe dessen, was man schon weiß. Daher wird Ent-wickelung in der Geisteswissenschaft immer verbundensein mit dem, was wir Fortbildung des inneren Sinnesund der inneren Gestaltungskraft unserer Sprache nen-nen können.

In diesem Sinne wird Geisteswissenschaft befruchtendauf den heutigen Sprachstil wirken, wird umgestaltendauf unseren heutigen entsetzlichen Sprachstil wirken, dergar keine Ahnung davon hat, was sprachkünstlerischesVermögen ist. Denn sonst würden nicht so viele Leute,die kaum sprechen und schreiben können, anfangenschriftstellerisch tätig zu sein. Das ist heute längst abge-kommen, daß man sich dessen bewußt ist, daß zumBeispiel Prosa schreiben etwas viel Höheres ist als Verseschreiben; nur ist die Prosa, die heute geschrieben wird,selbstverständlich eine viel niedrigere Prosa. Aber dieGeisteswissenschaft ist dazu da, auf jenen Gebieten dieAnregungen zu geben, die mit den tiefsten Gebieten derMenschheit zusammenhängen. Denn Geisteswissen-schaft wird auf diesen Gebieten so wirken, daß sieerfüllt, was die größten Persönlichkeiten werden ge-träumt haben. Geisteswissenschaft wird durch den Ge-danken die übersinnlichen Welten erobern können, wirdvermögend werden, den Gedanken so in das Lautbildumzugießen, daß auch unsere Sprache wieder ein Mittei-

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lungsmittel dessen werden kann, was die Seele im Über-sinnlichen erschaut. Dann wird Geisteswissenschaft dassein, was bewirken wird, daß in einem großen Umkreisezur Wahrheit werden wird, was für ein wichtigstesGebiet des menschlichen Inneren der Spruch sagt:

Unermeßlich tief ist der Gedanke,Und sein geflügelt Werkzeug ist das Wort!

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LACHEN UND WEINEN

Berlin, 3. Februar 1910

In einem Zyklus von Vorträgen über geisteswissenschaft-liche Tatsachen könnte es manchem erscheinen, als obder Gegenstand, der heute besprochen werden soll, un-bedeutend wäre. Das aber ist gerade oftmals als einFehler solcher Betrachtungen zu bezeichnen, die ihrenWeg hinauf nehmen in die höheren Gebiete des Daseins,daß die Einzelheiten des Lebens, die unmittelbaren Wirk-lichkeiten des Tages von den Betrachtenden vernachläs-sigt werden. Im allgemeinen haben es die Menschen jagern, wenn in Vorträgen dieser Art von der Unendlich-keit oder Endlichkeit des Lebens gesprochen wird, vonden höchsten Eigenschaften der Seele, von den großenFragen der Welt- und Menschheitsentwickelung - undvielleicht von noch höheren Dingen; und gern läßt mansich nicht auf sogenannte Alltäglichkeiten ein, wie dieje-nigen sind, wenigstens scheinbar, die uns heute beschäf-tigen sollen. Wer aber auf dem Wege, der in diesenVorträgen geschildert wird, einzudringen versucht in dieGebiete des geistigen Lebens, der wird sich immer mehrdavon überzeugen, daß gerade das ruhige VordringenSchritt für Schritt - von dem Allerbekanntesten in dieunbekannteren Gebiete - sehr vom Heile ist. Im übrigenkönnen Sie es schon aus der Erinnerung an so mancheErscheinung entnehmen, daß die bedeutendsten Geisterder Menschheit, daß das Bewußtsein der Menschheitüberhaupt in dem, was man gewöhnlich als Lachen undWeinen bezeichnet, keineswegs etwas nur Alltägliches

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sieht. Hat doch jenes Bewußtsein, welches in den Legen-den und in den großen Überlieferungen der Menschheitarbeitet - und so oft viel weiser als das einzelne indivi-duelle menschliche Bewußtsein arbeitet -, die großePersönlichkeit, die für die morgenländische Kultur vonso großer Bedeutung geworden ist, den Zarathustra,ausgestattet mit dem berühmten «Zarathustra-Lächeln»;und das Legenden-Bewußtsein sieht etwas Besonderesdarin, daß dieser große Geist lächelnd in die Welt getre-ten ist. Und aus einem welthistorischen Tiefsinn herausknüpft es an diese Tatsache des Zarathustra-Lächelns dieandere Bemerkung, daß durch dieses Lächeln aufge-jauchzt hätten alle Geschöpfe des Erdenrundes, und daßgeflohen waren vor dem Zarathustra-Lächeln alle diebösen Geister und Widersacher des Erdenrundes. -Wenn wir nun von einem solchen, in Legenden-Überlie-ferung wirkenden Bewußtsein zu den Schöpfungen eineseinzelnen großen Geistes übergehen, dürfen wir unsauch erinnern an jene Gestalt, in welche Goethe ammeisten von seinem eigenen Fühlen und Vorstellen hin-eingelegt hat, an die «Faust»-Gestalt. Nachdem Faust indie tiefste Verzweiflung an allem Dasein gefallen ist undnahe war der Vernichtung des eigenen Daseins, da läßtGoethe diese Gestalt beim Anhören der Osterglockenausrufen: «Die Träne quillt, die Erde hat mich wieder!»Als das Symbolum der Seelenverfassung, die es Faustmöglich macht, nach den Gedanken schlimmster, ärgsterVerzweiflung sozusagen wieder zurückzukehren in dieWelt: als das Symbolum des Sich-Wiederfindens einesMenschen in irdische Verhältnisse stellt uns hier Goethe,der Dichter, die Träne hin.

So sehen wir, daß eigentlich, wenn man nur darandenken wollte, bedeutungsvoll angeknüpft werden kann

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an das, was durch Lachen und Weinen bezeichnet wird.Aber es mag schon geglaubt werden, daß es bequemerist, gleich über das Wesen des Geistes zu spekulieren, alsden Geist in solchen Offenbarungen aufzusuchen, indenen wir ihn finden, wenn wir die Welt, wie sieunmittelbar um uns herum ist, betrachten. Und wirkönnen den Geist - und zunächst den Geist des Men-schen - in seiner Wesenheit gerade in jenem Ausdruckeder menschlichen Seele finden, der sich im Lachen undWeinen kundgibt. Verstehen kann man das, was uns indieser eigenartigen Seelenoffenbarung vor das Auge tritt,nur wenn man wirklich diese beiden Äußerungen desMenschen als Ausdruck seines inneren geistigen Lebensbetrachtet. Da muß man aber ein solches geistiges Wesennicht nur anerkennen, sondern verstehen. Dem Ver-ständnis dieses geistigen Wesens des Menschen waren jaalle die Vorträge gewidmet, die gerade in diesem Winter-zyklus hier gehalten worden sind. Nur flüchtig brauchtdaher heute darauf hingedeutet zu werden, wie wirgeisteswissenschaftlich das Wesen des Menschen betrach-ten. Denn auch um Lachen und Weinen zu verstehen,müssen wir diese Wesenheit des Menschen im geisteswis-senschaftlichen Sinne zugrunde legen.

Wir haben gesehen, wie sich der Mensch uns darstellt,wenn wir ihn in seiner vollständigen Wesenheit betrach-ten, bestehend aus seinem physischen Leib, den er ge-meinschaftlich hat mit der ganzen mineralischen Natur;aus seinem Äther- oder Lebensleib, den er gemein-schaftlich hat mit der ganzen pflanzlichen Natur; weiteraus dem astralischen Leib, den er mit der tierischenNatur gemeinsam hat, und der der Träger ist von Lustund Leid, Freude und Schmerz, von Entsetzen undVerwunderung und auch von all den Ideen, welche

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täglich vom Aufwachen bis zum Einschlafen in unseremSeelenleben auf und ab fluten. So besteht für uns dieWesenheit des Menschen zunächst aus diesen drei äuße-ren Umhüllungen; und in dieser Umhüllung lebt erstdasjenige, wodurch der Mensch die Krone der Erden-schöpfung wird, das menschliche Ich. Dieses Ich arbeitetnun wieder in dem Seelenleben, das aus den drei Seelen-gliedern aufgebaut ist, aus der Empfindungsseele als demuntersten Glied, aus dem nächsten Glied, der Verstandes-oder Gemütsseele, und aus dem dritten Glied, der Be-wußtseinsseele; und wir haben auch gesehen, wie das Ichan diesen Seelengliedern arbeitet, um den Menschen zuimmer höherer Vollkommenheit zu bringen.

Was liegt denn diesem ganzen Arbeiten des Ich inner-halb der Seele des Menschen zugrunde?

Betrachten wir einmal dieses Ich in verschiedenenseiner Äußerungen. Es tritt vor dieses Ich des Menschen,vor das tiefste Zentrum seines geistigen Lebens irgendei-ne Erscheinung, irgendein Gegenstand oder Wesen derAußenwelt. Das Ich bleibt diesem Wesen oder Gegen-stand gegenüber nicht gleichgültig, sondern es äußertsich in einer gewissen Weise; es erlebt innerlich, in derSeele, dieses oder jenes. Ein Gegenstand gefällt odermißfällt dem Ich. Das Ich kann aufjauchzen bei irgendei-nem Ereignis, oder es kann in tiefste Betrübnis verfallen;es kann in Entsetzen und Furcht zurückbeben, oder eskann das Ereignis oder das Wesen liebevoll anschauenoder umfassen. Es kann innerlich das Erlebnis haben:Ich verstehe einen Vorgang, der mir gegenübertritt,oder: Ich verstehe ihn nicht.

Wenn wir das Ich in seiner Tätigkeit belauschen vomAufwachen bis zum Einschlafen, dann sehen wir, wie essich in Einklang zu bringen versucht mit der Außenwelt.

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Wenn ihm irgendein Gegenstand gefällt, wenn jenesGefühl in uns aufsteigt: Das ist ein uns erwärmendesWesen - dann ist ein Band geflochten zwischen uns unddem Gegenstand; dann schlingt sich etwas hinüber vonuns zu dem Gegenstand. Das tun wir im Grunde ge-nommen mit der ganzen um uns herum liegenden Welt.Unser ganzes Tagesleben erscheint uns in bezug auf dieinneren Seelenvorgänge als die Schöpfung eines Einklan-ges zwischen unserem Ich und der übrigen Welt. Waswir erleben an den Gegenständen und Wesenheiten derAußenwelt, und was sich in den Vorgängen unseresSeelenlebens spiegelt, das wirkt nicht bloß auf unseredrei Seelenglieder, weil in ihnen gerade das Ich wohnt,sondern das wirkt auch auf den astralischen Leib, aufden Atherleib und den physischen Leib. Wir habenschon öfter beispielsweise angeführt, wie jenes Verhält-nis, das das Ich herstellt zwischen sich und irgendeinerWesenheit oder einem Gegenstand, nicht nur die Emo-tionen des astralischen Leibes aufrüttelt, nicht nur dieStrömungen und Bewegungen des Ätherleibes in einenUmschwung bringt, sondern auch bis in den physischenLeib hineinwirkt. Oder sollte nicht der Mensch Gelegen-heit haben, zu beobachten, wie zum Beispiel einemenschliche Persönlichkeit erbleichen kann, wenn ir-gend etwas Furchtbares in ihre Nähe tritt? Was ist daanderes geschehen, als daß das Verhältnis, welches dasIch hergestellt hat zwischen sich und dem Furchtbaren,das Band, das es geschlungen hat zwischen sich und demGegenstand, hineingewirkt hat bis in den physischenLeib und das Blut in andere Bewegung gebracht hat, alses sonst der Fall ist? Es hat sich gleichsam das Blutzurückgezogen von der äußeren Leiblichkeit und hatdadurch das Erbleichen bewirkt. Auch das andere, be-

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sonders charakteristische Beispiel ist schon angeführtworden: die Schamröte. Wenn wir irgendein derartigesVerhältnis glauben herstellen zu müssen zwischen unsund der betreffenden Wesenheit der Umgebung, daß wiram liebsten uns für einen Augenblick selbst auslöschenmöchten, daß man uns nicht sieht, da steigt das Blut insGesicht. Da wird in diesen beiden Fällen eine bestimmteWirkung auf das Blut hervorgebracht durch dasjenige,was sich als das Verhältnis des Ich zur Außenweltdarstellt. - So könnten wir viele Beispiele anführen, wiedasjenige, was das Ich an der Außenwelt erlebt, sichausdrückt im astralischen Leib, im Ätherleib und imphysischen Leib.

Indem nun das Ich den Einklang oder ein bestimmtesVerhältnis sucht zwischen sich und der Umgebung, sindwieder ganz besondere Falle möglich in bezug auf solcheVerhältnisse. So könnten wir von gewissen Verhältnissenzu unserer Umgebung sagen: Wir finden die richtigeStellung des Ich gegenüber diesem oder jenem Gegen-stand oder Wesen. Selbst wenn wir Furcht vor einemWesen haben, vor dem es begründet ist, Furcht zuhaben, können wir sagen: Unser Ich fühlt, wenn es nurhinterher Gelegenheit hat, in der richtigen Weise diesesVerhältnis zu beachten, daß es in einem Einklang gestan-den hat auch im Furchtgefühl mit seiner Umgebung.Insbesondere aber fühlt unser Ich seinen Einklang mitseiner Umgebung, wenn es zum Beispiel danach trachtet,diese oder jene Dinge der Außenwelt zu verstehen, undimstande ist, durch seine Begriffe, Gefühle, Empfin-dungen und so weiter über diejenigen Gegenstände, überdie es Verständnis sucht, wirklich sich aufzuklären. Dafühlt sich das Ich wie vereint mit den Gegenständen,über die es sich aufklärt. Da fühlt es sich wie über sich

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hinausgehend, wie wenn es untergetaucht ist in dieGegenstände, und fühlt, daß das Band ein richtiges ist.Oder aber das Ich lebt mit anderen Menschen zusam-men, zu denen es in ganz bestimmte Verhältnisse tritt,die es lieb hat. Das Ich fühlt sich jedem dieser anderenMenschen gegenüber in dem Verhältnis, das es ange-sponnen hat, befriedigt, beseligt; fühlt, daß ein harmoni-sches Verhältnis zwischen sich und der Außenwelt be-steht. Dieses Verhältnis prägt sich zunächst in dem Ichdarin aus, daß sich das Ich behaglich fühlt und dieseBehaglichkeit auf seine Hüllen, astralischen Leib oderÄtherleib, überträgt.

Es kann aber auch eintreten, daß das Ich einmal nichtimstande ist, diesen Einklang, das heißt, das Verhältnis,das man in einem gewissen Sinne ein normales nennenkönnte, zu schaffen. Kann es dieses normale Verhältnisnicht sogleich finden, dann kann das Ich dadurch in einebesondere Lage kommen. Nehmen wir an, das Ich findetetwas in der Außenwelt, irgendeinen Gegenstand odereine Wesenheit, dem gegenüber es nicht in ein solchesVerhältnis treten kann, daß es zum Beispiel die Sacheversteht, daß es mit seinen Begriffen und Vorstellungendas Dasein dieser Wesenheit oder Tatsache als ein be-rechtigtes anerkennt. Nehmen wir an, das Ich ist auf derSuche, ein Verhältnis zur Außenwelt zu finden; aber eskommt nicht in die Lage, wirklich ein solches Verhält-nis, das ein normales Band bildet zwischen Ich undAußenwelt, zu finden. In einer solchen Lage wird unserIch nötig haben, dennoch in sich selber eine gewisseStellung gegenüber diesem Ding der Außenwelt zu ge-winnen. Nehmen wir einen konkreten Fall an: Wirtreten irgendeinem Wesen der Außenwelt gegenüber,welches wir aus dem Grunde nicht verstehen wollen,

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weil in sein Wesen einzudringen unserem Ich nicht derMühe wert erscheint, weil wir sozusagen fühlen, wirwürden, wenn wir in sein Wesen eindringen wollten, zuviel hingeben von unserer eigenen Erkenntnis- und unse-rer eigenen Verständniskraft. Während wir einem ande-ren Wesen so gegenübertreten, daß wir sagen: Ich willmeine Kraft aufwenden, um dich zu verstehen, will indich untertauchen, was in mir ist, mit dir vereinigen -halten wir es bei dieser Wesenheit so, daß es uns nichtder Mühe wert ist, unterzutauchen. Wir würden dieKräfte unseres Verständnisses verschwenden, wenn wirdarin untertauchen wollten. Dann haben wir nötig, eineganz besondere Stellung zu gewinnen, haben nötig, eineArt Scheidewand aufzurichten. Einem solchen Wesenwie dem geschilderten gegenüber wollen wir jene Hinga-be nicht üben; wir wollen nicht in dasselbe untertau-chen; das heißt, wir wollen uns von diesem vor unsstehenden Wesen befreien, uns frei halten; wir wollenuns in uns selber finden, nicht durch Untertauchen,sondern dadurch, daß wir unsere Kraft von diesem We-sen ablenken und, in unserem eigenen Selbstbewußt-sein uns über das Wesen erhebend, sie gewahr werden.Wenn wir in einem solchen Verhältnis zu einem Wesenstehen, dann ist das Gefühl, das uns beschleichen muß, das-jenige einer Befreiung von einem Wesen. Bei einem We-sen, das wir verstehen, und in das wir untertauchen -entweder durch Erkenntniskraft oder durch Liebe oderMitleid -, da fühlen wir nicht das Zurückziehen desIch; im Gegenteil da fühlen wir uns zu diesem We-sen hingezogen. Bei einem solchen Wesen aber, wie eseben geschildert worden ist, fühlen wir: Unser Ich würdeetwas verlieren, wenn es in das andere Wesen untertauch-te; da müssen wir unsere Kräfte zusammenhalten.

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Bei einem solchen Bewußtsein kann die hellseherischeBeobachtung bemerken, wie das Ich gleichsam den astra-lischen Leib zurückzieht vor den Eindrücken, die aufihn gemacht werden könnten aus der Umgebung odervon diesem anderen Wesen. Dieses Wesen wird natürlicheinen Eindruck auf unseren physischen Leib machen,wenn wir nicht die Augen verschließen oder die Ohrenverstopfen. Aber weil wir unseren physischen Leib weni-ger in der Hand haben als unseren astralischen Leib,ziehen wir unseren astralischen Leib für einen Augen-blick zurück aus dem physischen Leib, ja auch aus demÄtherleib heraus und bewahren ihn dadurch davor, daßer sich berühren läßt von dem anderen Wesen. DiesesZurückziehen des astralischen Leibes, der sonst seineKraft im physischen Leibe verbraucht, um dessen Kräftezusammenzuhalten, stellt sich für das hellseherische Be-wußtsein so dar, daß der astralische Leib sich ausdehnt;er geht gleichsam auseinander bei einer solchen Befrei-ung. Wo wir uns über ein Wesen erheben, lassen wirunseren astralischen Leib wie eine elastische Substanzsich erweitern, schlaff werden, während wir ihn sonstangespannt haben. Indem sich der astralische Leib erwei-tert, befreien wir uns von irgendeinem Bande mit derbetreffenden Wesenheit; wir ziehen uns gleichsam in unsselber zurück, erheben uns über die ganze Situation.Und weil alles, was im astralischen Leibe geschieht, sichim physischen Leibe ausdrückt, so drückt sich auchdieses Zurückziehen des astralischen Leibes im physi-schen Leibe aus; und der Ausdruck der Erweiterung desastralischen Leibes im physischen Leibe ist das Lachenoder das Lächeln; so daß mit jedem Lachen oder Lä-cheln, das aus keiner anderen Stimmung als aus dergeschilderten hervorgehen kann, verbunden ist ein elasti-

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sches Ausdehnen des astralischen Leibes. - Wir dürfenalso sagen: Was durch das Ausdehnen des astralischenLeibes und seinen physiognomischen Ausdruck als La-chen oder Lächeln an der menschlichen Wesenheit auf-tritt, ist ein Sich-Erheben über das, was in der Umge-bung geschieht, weil wir nicht Verständnis aufwendenwollen, und nach der ganzen Art, wie wir zu derbetreffenden Sache stehen, dafür auch nicht Verständnisaufwenden sollen. Im Extrem muß daher alles, was unskein Verständnis abringen soll, eine solche Erweiterungdes astralischen Leibes nach sich ziehen und damit dasLachen hervorrufen. - Witzblätter haben die Gewohn-heit gehabt, daß sie gewisse Personen des öffentlichenLebens abbildeten mit riesigen Köpfen und sehr kleinenKörpern, wodurch grotesk ausgedrückt werden sollte,was der Betreffende für seine Zeit bedeutet. Dies zuverstehen, würde ein Unding sein, denn es gibt keinGesetz, was einen so großen Kopf und einen so kleinenKörper verbinden würde. Wenn wir in diesen Gegen-stand mit unserer Erkenntniskraft untertauchten, sowäre das eine verlorene Kraft, denn wir würden unsereVerständniskraft dabei verschwenden. Die einzige Be-friedigung dabei soll eben die sein, sich zu erheben überdas Objekt, beziehungsweise von dem Eindruck, der aufunseren physischen Leib gemacht wird, frei zu werdenin dem Ich, und den astralischen Leib auszudehnen.Denn was das Ich erlebt, setzt es zunächst fort auf dieintimste Hülle, auf den astralischen Leib; und der physio-gnomische Ausdruck dafür ist das Lachen.

Es kann aber auch der Fall eintreten, daß wir einVerhältnis, das wir zu unserer Umgebung suchen undnach unserer ganzen Seelenverfassung berechtigt sind zusuchen, nicht finden können. Nehmen wir an, wir haben

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eine Zeitlang eine Persönlichkeit geliebt; dieselbe stehtnicht nur zu unseren Handlungen in Beziehung, sondernganz bestimmte Seelenerlebnisse knüpfen sich an dasDasein dieser Persönlichkeit an und an das Verbunden-sein unserer Persönlichkeit mit ihr. Nehmen wir an, diePersönlichkeit wird uns eine Zeitlang entrissen. Mit demEntreißen dieser Persönlichkeit fällt ein Teil unserereigenen Seelenerlebnisse fort; etwas, was ein Band bedeu-tet zwischen uns und einer Wesenheit der Außenwelt,fällt fort. Unsere Seele ist durch jene Seelenverfassung,die sich durch die Beziehung zu dieser Persönlichkeitherangebildet hat, berechtigt, dieses Band zu suchen,weil sie sich erzogen hat, dieses Band zu haben. Jetztkann sie es nicht mehr haben. Es ist etwas herausgerissenaus diesem Ich, und was da herausgerissen ist, bewirkt indem letzteren etwas, was sich wiederum überträgt aufden astralischen Leib. Und weil jetzt dem astralischenLeib etwas entzogen ist, weil er ein Verhältnis zurAußenwelt sucht, das er nicht finden kann, so zieht ersich jetzt in sich selber zusammen; oder besser gesagt,das Ich preßt diesen astralischen Leib zusammen.

Das können wir mit dem hellseherischen Bewußtseinimmer beobachten, wenn im Menschen Trauer oderSchmerz eintritt über einen Verlust, wie das Ich, demetwas entzogen ist, den astralischen Leib zusammen-preßt. Gerade so wie der auseinandergetriebene astrali-sche Leib schlaff wird und sich dadurch den physiogno-mischen Ausdruck im physischen Leibe verschafft, dereben als Lachen oder Lächeln bezeichnet werden muß,so wird ein astralischer Leib, der sich zusammenpreßt,gleichsam tiefer eindringen in alle Kräfte des physischenLeibes. Das ist auch der Fall. Wenn der astralische Leibsich zusammenpreßt, so preßt er den physischen Leib

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mit zusammen. Und der physische Ausdruck des Zu-sammenpressens des Ich in sich selber, damit des astrali-schen Leibes in sich selber, und damit des physischenLeibes in sich selber, das ist das Hervorquellen derTränen. Der astralische Leib, der gleichsam in sich Lük-ken erhalten hat, und diese Lücken durch sein Zusam-menpressen ausfüllen will, indem er die Substanzen ausder Umgebung heranzieht, er preßt dadurch den physi-schen Leib mit zusammen und treibt die Substanzen desphysischen Leibes in der Träne nach außen. Was ist dieTräne dadurch zugleich? - Das Ich hat etwas verloren inder Trauer, in dem Verlust. Es preßt sich zusammen,weil es ärmer geworden ist, weil es seine Selbstheitweniger stark fühlen kann als früher; denn es fühlt seineEigenheit um so stärker, je reicher es ist an Erlebnissenmit der umgebenden Welt. Wir geben nicht nur etwasden Dingen, die wir lieben, sondern wir bereichernunsere Seele selber durch unsere Liebe. Und indem unsdie Erlebnisse unserer Liebe entrissen werden, und derastralische Leib Lücken erhält und sich zusammenpreßt,sucht er durch diesen gleichsam in sich selber ausgeübtenDruck die Kräfte wiederzugewinnen, die er verloren hatdurch den Verlust. Er sucht sich durch ein Zusammen-nehmen in sich selber reicher zu machen, weil er ärmergeworden ist durch das, was er verloren hat. Was in derTräne zum Vorschein kommt, ist nicht nur ein Abflie-ßenlassen der Tranen, nicht nur eine Öffnung nachaußen, sondern etwas, was man einen Ersatz nennenkönnte für das ärmer gewordene Ich. Während sichfrüher das Ich bereichert fühlte an der Außenwelt, fühltes sich jetzt in der Produktion, die es selber hervor-bringt, stärker, fühlt sich als etwas, indem es die Tränenhervorpreßt. Was die Persönlichkeit an Selbstbewußtsein

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geistig verloren hat, sucht sie sich zu ersetzen, indem siesich zu einer innerlichen Schöpfung, zu dem Hervor-bringen der Tränen anspornt. Daher ist die Träne ingewisser Beziehung ein Ausgleich, ein Ersatz für dasÄrmerwerden des Ich. Deshalb können wir sagen: Wenndas Ich, das einen Verlust erlebt hat, vordringen kann biszur Träne, wenn es sein Bewußtsein hebt durch dasGewahrwerden seines Verlustes in der Träne, dann gibtdiese Träne dem Ich ein gewisses unterbewußtes Wohlge-fühl. Man könnte sogar sagen: Die Träne ist in gewisserBeziehung ein Anlaß zu einer Art innerer Wollust. EinAusgleich wird durch die Träne geschaffen. Es wirdIhnen ja bekannt sein, wie der Mensch, wenn er sich sorecht in der Trauer elend fühlt, in der Träne eine Artvon Trost hat, weil die Träne etwas ist, was ihm einengewissen Ersatz bieten kann. Und Sie werden auchwissen, wie es für gewisse Menschen, von denen mansagt, sie können nicht weinen, viel schwieriger ist, dieTrauer und den Schmerz zu ertragen als für diejenigen,welche sich das innere Wohlbehagen durch die Träne beijeder Gelegenheit verschaffen können.

So sehen wir, daß das Ich es ist, das ein gesuchtesVerhältnis zur Außenwelt nicht finden kann, und sichentweder erheben muß zu einer inneren Freiheit, oder insich untertauchen muß, um sich zu stärken über eineninneren Verlust. Wir sehen, wie das Ich es ist, dasMittelpunktswesen des Menschen, das sich ausdrückt inLachen und Weinen. Daher können wir es auch begreif-lich finden, daß das Ich, das den Menschen zum Men-schen macht, in gewisser Weise Voraussetzung ist deswahren Lachens und des wahren Weinens.

Wenn wir das Kind beobachten, wie es geboren wird,so finden wir, daß es in den ersten Tagen weder lachen

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noch weinen kann. Wahres Lachen und wahres Weinentritt erst auf vom sechsunddreißigsten oder vierzigstenLebenstage an. Vorher kann das Kind nicht lachen undnicht weinen; und der Grund dafür ist der: Obwohl esentschieden ist, was für ein Ich aus einer vorhergehendenVerkörperung gerade in diesem Kinde lebt, so wirktdieses Ich doch nicht gleich in den ersten Lebenstagen indem Menschen gestaltend; es wirkt nicht gleich so, daßes Beziehungen zur Außenwelt sucht. Der Mensch ist jain das Leben so hineingestellt, daß dasjenige, was in ihmund an ihm ist, von zwei Seiten herstammt. Die eineSeite ist die, welche alle Eigenschaften und Betätigungendes Menschen enthält, die er von Vater, Mutter, Großva-ter und so weiter erbt, kurz, die Eigenschaften undBetätigungen aus der Vererbungslinie. Aber darinnenarbeitet die Individualität, das Ich des Menschen, dasvon Leben zu Leben geht, von Verkörperung zu Verkör-perung, seine seelischen Eigenschaften hinein. Wenn wireinen Menschen mit der Geburt ins Dasein treten sehen,zeigt sich uns zunächst das Unbestimmte der Physiogno-mie des Menschen, und wie unbestimmt dasjenige ist,was der Mensch einmal als Talente, Anlagen und beson-dere Eigenschaften darleben wird. Aber wir sehen auch,wie das schaffende, wirkende Ich, das sich Entwicke-lungskräfte aus den vorhergehenden Leben hereinge-bracht hat, die unbestimmten Züge immer bestimmterund bestimmter herausarbeitet und dasjenige modifi-ziert, was durch die Vererbung gegeben worden ist. Sosehen wir zusammenfließend die vererbten Eigenschaf-ten mit denen, die von Verkörperung zu Verkörperunggehen. - Ein Genaueres über den Werdegang des Men-schen können Sie jetzt mit einer gewissen Deutlichkeit inmeinem eben erschienenen Buche «Die Geheimwissen-

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schaft im Umriß» finden, wo in den ersten Partien dieseDinge gerade so besprochen sind, wie es dem heutigenVerständnisse der Menschen angemessen ist.

So sehen wir, wie in dem Kind das Ich sich herausar-beitet. Aber es dauert eine Zeit, bis das Ich aus demKinde heraus umgestaltet an dem Körperlichen und andem Seelischen. Daher tritt der Mensch so ins Daseinhinein, daß er in den ersten Tagen einzig und allein dievererbten Merkmale zeigt. Das Ich sitzt in den erstenTagen noch tief verborgen darinnen und wartet, bis es indie unbestimmte Physiognomie dasjenige hineinarbeitenkann, was es aus den früheren Leben herübergetragenhat, was es von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr herausar-beiten kann.

Bevor nun das Kind den individuellen, nur für diesenMenschen geltenden Charakter annimmt, ist es nichtmöglich, daß das Ich irgendeine Beziehung zur Außen-welt ausdrücken kann durch Lachen und Weinen. Dennauf das Ich kommt es an, auf das Individuellste, das einBand sucht, das sich in Harmonie, in Einklang bringenwill mit der Umgebung. Das Ich muß es sein, was imLachen oder Lächeln sich zu befreien sucht von denGegenständen; das Ich muß es sein, das bei einemgesuchten Verhältnis, das es nicht finden kann, in demVerlust zusammenpreßt das Innere der menschlichenWesenheit. Das Ich nur kann sich ausdrücken im Lachenoder Weinen. Wir sehen daraus, daß wir es mit dertiefinnersten Geistigkeit des Menschen zu tun haben,wenn wir die Offenbarungen des Menschen im Lachenoder Weinen vor uns haben.

Diejenigen, die gern alles mit allem zusammenwerfenund deshalb keine wirklichen realen Unterschiede zuge-ben wollen zwischen Mensch und Tier, werden natürlich

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auch noch Analogien für Lachen und Weinen im Tier-reich finden. Wer aber die Dinge richtig versteht, wirddem deutschen Dichter recht geben, der sagt, daß es dasTier nicht bis zum Weinen bringt, sondern höchstens biszum Heulen, und nicht bis zum Lachen, sondern nur biszum Grinsen. Darinnen liegt eine tiefe Wahrheit, diesich, wenn sie in Worte gebracht wird, dadurch aus-drückt, daß das Tier sich nicht erhebt zu jener indivi-duellen Ichheit, die in dem Wesen selber sitzt, sonderndaß das Tier von Gesetzen beherrscht wird, die zwardem Ich-Menschen ähnlich sehen, die aber dem Tier soeingepflanzt sind, daß sie ihm zeitlebens als äußereverbleiben. Das Tier bringt es nicht zur Individualität.Es ist hier schon dieser bedeutsame Unterschied desMenschen von der tierischen Wesenheit erwähnt wor-den. Es ist gesagt worden, was uns am Tier interessiert,laßt sich zusammenfassen in dem Gattungs- oder Artcha-rakter. Versuchen Sie sich klar zu machen, ob das, wasuns am Tier hauptsächlich interessiert, auch so großeUnterschiede aufweist - zum Beispiel zwischen Löwen-söhnchen, Löwenvater, Löwengroßvater und so weiter —,wie wir es beim Menschen finden. Was sich uns beimTier zeigt, das geht im Artcharakter auf. Im Menschen-reiche ist aber jeder Mensch für sich eine eigene Gat-tung, und was uns am Tier in der Art oder Gattungerscheint, das muß uns beim Menschen in jedem einzel-nen Menschen interessieren. Das heißt: Bei den Men-schen hat jeder Mensch seine einzelne Biographie. Dieinteressiert uns so stark wie die Art- oder Gattungsbio-graphie beim Tier. Gewiß, es hat auch manchen Hunde-vater und manche Katzenmutter gegeben, die behaupte-ten, sie könnten auch eine Hunde- oder Katzenbiogra-phie schreiben. Aber ich habe auch einen Schullehrer

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gekannt, der seinen Schülern regelmäßig die Aufgabegegeben hat, die Biographie ihrer Stahlfeder zu schrei-ben. Nicht darauf kommt es an, daß sich ein Gedankeauf alles anwenden läßt, sondern darauf, daß sich unserVerständnis dazu hindurchringt, was an einer Sache oderWesenheit das Wesentliche ist. Bis zum Tier herauf istdas biographisch Individuelle das Unwesentliche; beimMenschen aber wird es das Wesentliche, weil beim Men-schen ja die Hauptsache dasjenige ist, was sich als Indivi-dualität von Leben zu Leben weiter entwickelt, wasbeim Tier nur von Gattung zu Gattung geht. Wenn einesolche Wichtigkeit des biographischen Elementes nichtzugegeben wird, so liegt es nicht daran, daß diese Wich-tigkeit nicht eine ebenso bedeutungsvolle ist wie die,welche wir naturwissenschaftlichen Gesetzen der Au-ßenwelt beilegen, sondern daran, daß derjenige, der sienicht zugibt, nicht das Gewicht von irgendwelchen Er-scheinungen empfinden kann.

In der Geisteswissenschaft nennen wir das, was beimTier von Art zu Art geht, was sich von Gattung zuGattung fortlebt, des Tieres Gruppen-Seele oder Grup-pen-Ich, das wir aber als etwas Reales ansehen. Und wirsprechen davon, daß das Tier sein Ich nicht in sich hat,sondern außer sich. Wir verneinen auf dem Gebiete derGeisteswissenschaft nicht etwa das tierische Ich, sondernwir sprechen von einem Gruppen-Ich, welches das Tiervon außen her dirigiert. Beim Menschen dagegen spre-chen wir von einem individuellen Ich, das in das Innersteder menschlichen Wesenheit hineingeht und von innenheraus jede einzelne menschliche Wesenheit als die ihmzugrunde liegende Individualität so dirigiert, daß derMensch in ein persönliches Verhältnis zu den Wesenseiner Umgebung tritt. Dasjenige allgemeine Verhältnis,

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welches sich die Tierheit herstellen kann nach ihrerLenkung durch das äußere Gruppen-Ich, hat auch einentypischen, allgemeinen Charakter. Was dieses oder jenesTier liebt oder haßt, wovor dieses oder jenes Tier sichfürchtet, hat einen allgemeinen, einen typischen Charak-ter und modifiziert sich nur für gewisse Kleinigkeiten,zum Beispiel bei unsern Haustieren oder bei den Tieren,die mit dem Menschen zusammenleben. Was aber beimMenschen Liebe und Haß in bezug auf seine Umgebung,was Furcht und Schrecken für die Seele bedeuten, wasSympathie und Antipathie ist, das erzieht sich derMensch in seiner Individualität, in der Ichheit, die vonVerkörperung zu Verkörperung geht, auf individuelleArt. Daher ist das besondere Verhältnis, durch das derMensch sich von irgendeinem Wesen der Umgebungbefreit, das dann physiognomisch im Lachen zum Aus-druck kommt, oder das andere Verhältnis, wo wir etwassuchen und nicht mehr finden können, und was sich imWeinen seinen physiognomischen Ausdruck sucht, im-mer etwas, was das menschliche Ich allein entfaltenkann. Daher können wir auch sagen: Je mehr das Kindsich herauswindet aus dem bloß Animalischen, aus dembloß Tierischen, je mehr sich seine Individualität zeigt,desto mehr zeigt sich seine Menschlichkeit im Lachenoder in den aus den Augen quillenden Tränen. Wenn wirdas Leben in seiner Wahrheit betrachten, müssen wirnicht in den groben Tatsachen des Lebens, nicht in derÄhnlichkeit der Knochen und Muskeln zwischenMensch und Tier, oder in der bis zu einem gewissenGrade vorhandenen Ähnlichkeit der anderen Organe dasWichtigste suchen, wenn wir die Entscheidung treffenwollen für die höhere Stellung des Menschen über dieErdenwesen; sondern wir müssen da, wo wir die feine-

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ren Tatsachen erblicken, das Wesentliche zur Charakte-ristik der Menschennatur suchen. Wem solche Tat-sachen wie Lachen und Weinen zu unbedeutend erschei-nen, um sie für die eigentliche Charakteristik der Mensch-heit und der Tierheit anzuwenden, dem muß man sa-gen: Nicht zu helfen ist dem, der nicht vermag sich auf-zuschwingen zu den Tatsachen, auf die es ankommt,wenn wir den Menschen in seiner Geistigkeit verstehenwollen.

Diese Tatsachen, die uns hier geisteswissenschaftlichentgegentreten, können uns nun allerdings auch hinein-leuchten in gewisse naturwissenschaftliche Errungen-schaften, aber nur dann, wenn diese Tatsachen wiederhineingestellt werden in ein großes und geisteswissen-schaftliches Ganzes. Mit Lachen und Weinen ist beimMenschen noch etwas anderes verbunden. Wer Lachenund Weinen beim Menschen beobachtet, der wird fin-den, daß bei diesen Äußerungen der menschlichen We-senheit nicht nur der physiognomische Ausdruck desLachens oder der Trauer vorhanden ist, sondern daßdabei auch eine Änderung, eine Modifikation des At-mungsprozesses auftritt. Wenn der Mensch traurig istbis zum Vergießen von Tränen, und wenn seine Traurig-keit zu einem solchen Zusammenpressen des astralischenLeibes führt, daß der physische Leib mit zusammenge-preßt wird, dann kann man beobachten, daß das Einat-men immer kürzer und kürzer wird, und daß das Ausat-men in langen Atemzügen geschieht. Und beim Lachenist das Umgekehrte der Fall; da bemerken wir ein langesEinatmen und ein kurzes Ausatmen. In dieser Weisewird der Atmungsprozeß modifiziert. Und es ist nichtbloß ein Bild, sondern es entspricht einer tieferen Wirk-lichkeit, wenn wir sagen: Wenn beim lachenden Men-

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sehen der astralische Leib schlaff wird, und wenn derphysische Leib in seiner feineren Gliederung auch er-schlafft, dann tritt so etwas ähnliches ein, wie wenn wireinen leeren Raum erzeugen, indem wir die Luft aus ihmauspumpen und diesen leergemachten Raum dann deräußeren Luft aussetzen: dann pfeift die Luft da hinein.Eine Art Freimachen der äußeren Leiblichkeit tritt alsoim Lachen ein, und dann dringt in einem langen Atem-zuge die Luft nach innen. Beim Weinen ist das umge-kehrt der Fall: Wir pressen den astralischen Leib zusam-men - und auch den physischen Leib, und die Folge ist,daß das lange Ausatmen durch das Zusammenpressenwie in einem Zuge bewirkt wird.

So sehen wir, wie wiederum mit den physischen Le-bensäußerungen und bis in das äußere Physische hineindasjenige zusammenhängt, was seelisch im Menschenerlebt wird durch die Anwesenheit des Ich.

Wenn wir diese physiologischen Tatsachen nehmen,so wird uns in merkwürdiger Weise eine geisteswissen-schaftliche Tatsache beleuchtet, welche bildlich ihrenAusdruck gefunden hat - wie in der Regel geisteswissen-schaftliche Tatsachen bildlich ihren Ausdruck finden - inden religiösen Urkunden der Menschheit. Erinnern wiruns an jene bedeutungsvolle Stelle des Alten Testamen-tes, wo dargestellt wird, daß der Mensch zu seinergegenwärtigen Menschlichkeit heraufgehoben wird, in-dem ihm Jahve oder Jehova einströmen läßt den lebendi-gen Odem und ihn dadurch zu einer in sich lebendigenSeele macht. Das ist der Moment, wo auf das Werdender Ichheit im großen hingedeutet wird. Es wird imAlten Testament die Art und Weise des Atmungspro-zesses hingestellt als der Ausdruck der eigentlichen Ich-heit des Menschen; das Atmen wird in Zusammenhang

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gebracht mit der inneren Seelenhaftigkeit des Menschen.Wenn wir nun sehen, wie das menschliche Ich sich imLachen und Weinen einen besonderen Ausdruck ver-schafft, dann zeigt sich uns schon der intime Zusammen-hang zwischen dem menschlichen Atmungsprozeß undder inneren Beseelung des Menschen, und wir blickendann von einer solchen Erkenntnis aus auf die religiösenUrkunden mit jener Demut, die uns ein solches tieferes,wahres Verständnis gibt.

In der Geisteswissenschaft gehen uns zunächst allediese Urkunden nichts an. Denn selbst wenn auch durcheine große Katastrophe alle diese Urkunden zugrundegehen würden, die Geistesforschung hat die Mittel, daßsie dasjenige, was ihnen zugrunde liegt, durch die Gei-stesforschung selbst finden kann. Nie ist die Geistesfor-schung auf Urkunden angewiesen. Wenn aber die Tatsa-chen gefunden sind, und man nachher in den Urkundenden unzweifelhaften bildlichen Ausdruck dessen wieder-erkennt, was man vorher mit der Geisteswissenschaftunabhängig von den Urkunden gefunden hat, dannwächst unser Verständnis für diese Urkunden. Dann sagtman sich: Es kann dasjenige, was da besprochen ist,nicht anders hineingekommen sein als durch Wesen-heiten, die das gewußt haben, was der Geistesforscher inihnen wiederfinden kann; und es spricht durch die Jahr-tausende Geistesforscher zu Geistesforscher, Geistes-blick zu Geistesblick! Dadurch gewinnt man gerade ausder Erkenntnis heraus die richtige Stellung zu diesenUrkunden. Und wenn erzählt wird, wie der Gott ein-prägte dem Menschen seinen lebendigen Odem, wo-durch der Mensch eine sich innerlich findende Ichheitwurde, so finden wir gerade aus einer solchen Betrach-tung, wie diese über «Lachen und Weinen», wie wahr

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eine solche bildlich dargestellte Tatsache in bezug auf dieMenschennatur ist.

Nur auf einzelnes soll jetzt noch hingewiesen werden,weil es uns sonst zu weit führen würde. Es könnte zumBeispiel jetzt jemand sagen: Du hast die ganze Be-trachtung an einem falschen Ende angefaßt, denn duhättest dort anfangen müssen, wo die äußeren Tatsachensprechen. Das geistige Element mußt du dort suchen, woes nur als eine reine Naturwirkung auftritt, zum Beispielwenn der Mensch gekitzelt wird. Da haben wir dieelementarste Tatsache des Lachens. Wie kommst du dazurecht mit all deinen Phantastereien über das Ausdeh-nen des astralischen Leibes - und so weiter?

Oh, dann vollzieht sich gerade erst recht das Ausdeh-nen des astralischen Leibes. Denn alle die Dinge, die alsCharakteristik angeführt sind, sind dann vorhanden,wenn auch auf untergeordneter Stufe. Wenn der Menschgekitzelt wird an der Fußsohle, so ist das eine Tatsache,auf die er sich nicht einlassen kann mit seinem Verstan-de. Er will es nicht, lehnt es ab. Er wird sie nur dann mitseinem Verständnis umfassen, wenn er sich selber kit-zelt. Aber dann lacht er nicht; denn dann kennt er denUrheber. Wenn ihn aber ein anderer kitzelt, hat es fürihn etwas Unverständliches. Darüber erhebt sich das Ich,sucht davon frei zu werden und sucht den astralischenLeib davon loszubekommen. Und gerade das Loskom-men des astralischen Leibes von einer unpassenden Be-rührung drückt sich aus durch das nicht motivierteLachen. Das ist gerade eine Befreiung, eine Rettung desIch auf elementarer Stufe von jener Attacke, die auf unsausgeübt wird, wenn wir an der Fußsohle gekitzeltwerden, wo wir mit unserem Verständnis der Sache dochnicht beikommen können.

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Jedes Lachen über einen Witz oder über etwas, waskomisch ist, steht auf derselben Stufe. Wir lachen überden Witz, weil wir durch das Lachen in das richtigeVerhältnis zu ihm kommen. Im Witz werden Dingezusammengebracht, die im ernsten Leben nicht zusam-mengebracht werden können; denn wenn sie logisch zubegreifen wären, würden sie nicht witzig sein. Im Witzwerden Verhältnisse zusammengebracht, die, wenn mannicht gerade auf den Kopf gefallen ist, nicht unserVerständnis unbedingt herausfordern, sondern nur vonuns gerade das herausfordern, daß wir mit einem gewis-sen Spiel des geistigen Lebens die Dinge zusammen-bringen, die da zusammengebracht sind. In dem Augen-blick, wo wir uns als im Besitz dieses Spieles fühlen,machen wir uns frei und erheben uns über den Inhalt,der im Witz liegt. Die Tatsache des Sich-Freimachens,des Sich-Erhebens über irgendeine Erscheinung werdenSie überall finden, wo Lachen zutage tritt. Und ebensowerden Sie die Tatsache, daß der Mensch etwas sucht,was er nicht finden kann, und sich daher in sich selberzusammenpreßt, beim Weinen zugrunde liegen sehen.

Es kann aber diese Art des Verhältnisses zur Außen-welt, wie sie jetzt geschildert worden ist, berechtigt oderunberechtigt sein. Wir können uns aus einer gewissenBerechtigung frei machen wollen im Lachen; oder aberdurch unsere Eigentümlichkeit den betreffenden Vor-gang auch nicht verstehen wollen oder nicht verstehenkönnen. Dann liegt das Lachen nicht in der Natur derTatsachen, sondern in unserer Unvollkommenheit. Dastritt überall dort zutage, wo irgendein unentwickelterMensch über einen andern lacht, weil er ihn nicht verste-hen kann. Wenn ein unentwickelter Mensch bei einemandern das Alltägliche und Philiströse, das er für das

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richtige hält, nicht findet, dann denkt er, es sei nichtnötig, da mit dem Verständnis heranzukommen; er suchtsich davon frei zu machen - vielleicht gerade deshalb,weil er es nicht verstehen will. Daher überträgt es sichleicht bei uns in die Gewohnheit, sich durch Lachen vonallem frei zu machen. Das ist auch oft die Natur gewis-ser Menschen: sie lachen und meckern über alles; siewollen gar nichts verstehen; sie plustern sich auf inihrem Astralleib und kommen dadurch immerfort zumLachen. Das ist durchaus dieselbe Grundtatsache. Nurkann es auf der einen Seite berechtigt erscheinen, nichteindringen zu wollen in das Verständnis einer Sache, undauf der andern Seite kann es unberechtigt sein. Es kannauch an den Unvollkommenheiten der Mode liegen, daßetwas dem gewöhnlichen Betragen nicht ganz geeigneterscheint, um dafür Verständnis zu haben. Da hat mandann ein Lächeln, indem man sich erhaben dünkt überdas eine oder andere. Es braucht also das Lachen nichtein berechtigtes Gefühl des Sich-Zurückziehens auszu-drücken, sondern es kann auch ein unberechtigtes Zu-rückziehen ausdrücken. Damit wird aber die Grundtat-sache nicht geändert, wodurch das Lachen charakteri-siert worden ist.

Es kann aber auch vorkommen, daß jemand auf dasje-nige, was menschliche Lebensäußerung ist, rechnet.Nehmen wir an, irgend jemand rechnet als Redner mitdem, was durch seine Rede aufgehen soll, als Zustim-mung oder dergleichen. Da rechnet er selbstverständlichmit dem, was die menschliche Seele erleben kann. Nunwird es in einzelnen Fällen vielleicht berechtigt sein, aufDinge hinzuweisen, die so minderwertig sind oder sounter dem Kreise des Verständnisses von gewissen Zuhö-rern, daß man sie charakterisieren darf, ohne daß ein

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besonders intimes Band von der Seele der Zuhörer zudiesen Gegenständen geschlungen wird; sondern manwird gerade den Zuhörern helfen, sich zu befreien vondem, was unter dem Kreise dessen liegt, worüber derRedner Verständnis ausgießen soll. Da wird der Rednerdamit rechnen dürfen, daß die Zuhörer seine Stellungder Ablehnung der betreffenden Gegenstände teilen. Esgibt aber auch Redner, die immer die Lacher auf ihrerSeite haben wollen. Ich habe schon gehört, daß Rednersagten: Ich werde da, wo ich siegen will, die Lachmus-keln antreiben, so daß ich die Lacher auf meiner Seitehabe - und wer die Lacher auf seiner Seite hat, der hateben gesiegt! Das kann aber auch aus einer innerenUnehrlichkeit kommen. Denn appelliert man an dasLachen, so appelliert man an etwas, wodurch sich derMensch über eine Sache erheben soll. Man rechnet aberauch mit der Eitelkeit der Menschen - wenn sie sichdessen auch nicht bewußt sind -, wenn man die Sache sodarstellt, daß sie nicht angewiesen sind, in ihr unterzu-tauchen und bloß deswegen darüber lachen dürfen, weilsie auf ein Niveau gerückt wird, wo sie zu minderwertigerscheint. Es kann also das Rechnen auf das Lacheneinem Prinzip der Unehrlichkeit entspringen. Und manwird in einer gewissen Weise zuweilen auch dadurch denMenschen gewinnen können, daß man in ihm jenesWohlbehagen und Wohlgefühl erregt, das in dem heuti-gen Vortrage geschildert worden ist als mit der Träneverbunden. Der Mensch fühlt dann, wenn ihm sozusa-gen ein Verlust nur für die Phantasie vorgeführt wird,daß er sich sagen könnte: Du darfst jetzt etwas suchen,was du eigentlich nicht findest! Er fühlt sich durch dasZusammenpressen des Ich in seiner Egoität, in seinerSelbstsucht bestärkt; und manches Rechnen auf die Ruh-

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rung ist oft im großen nichts anderes als ein Rechnen aufdie Selbstsucht des Menschen. Alle diese Dinge könnendaher arg mißbraucht werden, weil Rührung undSchmerz, Trauer, Hohn und Spott, die von Lachen oderWeinen begleitet sind, mit dem zusammenhängen, wasdas Ich stärkt und befreit, also mit der menschlichenIchheit, der Egoität. Es kann daher auch, wenn dieseDinge sich geltend machen, die Selbstsucht angespro-chen werden, an die Selbstsucht appelliert werden; unddann ist es die Selbstsucht, die ebenso zerstören kann,was Mensch an Mensch bindet.

Da sehen wir also, daß das menschliche Ich im Lachenund dem, was dem Lachen zugrunde liegt, frei sichhinaufgehoben fühlt, und daß die Selbstheit sich zusam-mengedrängt fühlt in der Träne und dem, was damitverbunden ist. Wir haben aber in anderen Vorträgenauch gesehen, wie das Ich nicht nur an der Empfindungs-seele, Verstandesseele und Bewußtseinsseele arbeitet,sondern wie es durch diese Arbeit selbst immer voll-kommener und stärker werden soll. Wir werden daherleicht begreifen, daß Lachen und Weinen in gewisserWeise Erziehungsmittel sein können. Indem das Ich sichzum Lachen erhebt, wird es die Kräfte aufrufen seinerSelbstbefreiung, seines Erhabenseins und Insichgeschlos-senseins in der Welt. In der Träne kann es sich dazuerziehen, sich zu verbinden mit dem, wozu es gehört;und indem es den Mangel fühlt gegenüber dem, wozu esgehört, bereichert es sich doch in anderer Weise mitseiner eigenen Ichheit, indem es sich zusammenpreßt.Oh, im Lachen und Weinen liegen damit zu gleicher ZeitErziehungsmittel des Ich und der Kräfte des Ich. DasIch steigt sozusagen herauf in seiner Freiheit und Zu-sammengeschlossenheit mit der Welt, indem es sich äu-

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ßert im Lachen und Weinen. Daher ist es kein Wunder,daß zu den großen Erziehungsmitteln der menschlichenEntwickelung diejenigen Produktionen und menschli-chen Schöpfungen gehören, die gerade auf die Erregungderjenigen Seelenkräfte hinarbeiten, die dem Lachen undWeinen zugrunde liegen.

Wir sehen im Trauerspiel, in der Tragödie etwas hinge-stellt, was tatsächlich den astralischen Leib zusammen-preßt, um in unser Ich Festigkeit, innere Geschlossenheithineinzubringen, während im Lustspiel das hingestelltwird, was den astralischen Leib weitet, indem sich derMensch erhebt über das Törichte, über das in sich selbstZusammenfallende und dadurch das Ich zur Befreiungbringen will. Wir sehen, wie es mit der Entwickelungdes Menschen zusammenhängt, daß durch das Trauer-spiel, das Lustspiel künstliche Schöpfungen vor seineSeele hingestellt werden.

Wer die menschliche Natur und Wesenheit auch inden kleinsten Dingen beobachten kann, der wird sehen,daß ihn die alltäglichen Erlebnisse auch zum Verständnisder großen Tatsachen führen können. Solche Dinge, dieuns zum Beispiel in der Kunst vor Augen treten, zeigenuns, daß wir in der menschlichen Natur etwas haben,was wie ein Pendel hin und her zu schlagen hat zwischendem, was in der Träne und was im Lachen sich äußert.Nur dadurch, daß das Ich in der Bewegung ist, entwik-kelt es sich weiter. In der ruhigen Pendellage würde essich nicht vergrößern und weiter entwickeln, würde deminneren Tode verfallen müssen. Recht ist es für diemenschliche Entwickelung, daß das Ich sich auf dereinen Seite befreien kann durch das Lachen und auf deranderen Seite sich selber sucht noch in seinem Verlust, inder Träne. Allerdings, wenn zwischen zwei Polen der

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Ausgleich gesucht werden soll, so muß er auch gefundenwerden. Daher wird das Ich sich voll finden können nurim Ausgleich, niemals in dem Hinundherpendeln zwi-schen «himmelhoch jauchzend» und «zu Tode betrübt»;es wird sich nur finden können in der Ruhelage, diesowohl zu dem einen wie zu dem andern hingehen kann.

Lenker und Leiter seines Daseins muß der Menschallmählich im Laufe seiner Entwickelung werden. Wennwir Lachen und Weinen verstehen, begreifen wir siegerade als Geist-Offenbarungen und werden sagen: DerMensch wird uns so recht durchsichtig, wenn wir sehen,wie er sich im Lachen einen äußeren Ausdruck für eininneres Befreiungsgefühl sucht, und wie sich in derTräne ein inneres Befestigungsgefühl ausdrückt, wenndas Ich in der Außenwelt etwas verloren hat. - So habenwir im Lachen und Weinen zwei Pole, an denen sich unsdie Geheimnisse der Welt zum Ausdruck bringen.

Und fragen wir uns: Was ist im letzten Grunde dasLachen auf dem Menschenantlitz? - so wissen wir, es istdie geistige Offenbarung dafür, daß der Mensch heran-strebt zur Befreiung, daß er sich nicht umschlingen läßtvon den Dingen, die seiner nicht würdig sind, sondernsich mit Lächeln im Antlitz erhebt über das, dessenSklave er nie werden darf. Und die Träne auf demAntlitz des Menschen ist uns der geistige Ausdruck fürdie geistige Tatsache, daß der Mensch selbst dann, wenner den Faden zerrissen fühlt zwischen sich und irgend-einem Wesen der Außenwelt, diesen Faden noch suchtim Verlust; daß er dann, wenn er sein Ich verfestigenwill in der Träne, gerade darin zum Ausdruck bringenwill: Ich gehöre der Welt, und die Welt gehört zu mir,denn ich kann nicht ertragen das Losgerissensein vonder Welt.

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Nun verstehen wir, wie die Befreiung, die sich überalles Niedere und Böse erhebt, ausgedrückt werden durf-te durch das «Zarathustra-Lächeln», und wie man sagenkonnte: bei diesem Lächeln jauchzten alle Geschöpfe derErde, und es flohen die Geister des Bösen! Denn diesesLächeln ist das weltgeschichtliche Symbolum der geisti-gen Erhebung der freien Ich-Wesenheit über das, worin-nen sie nicht verstrickt werden soll. Und alles, was aufder Erde ist, darf aufjauchzen, wenn das, was seineWesenheit ist, sich mit dem Lächeln der Zarathustra-Wesenheit erheben kann. Dann aber, wenn das Ich einenAugenblick hat, wo es sagt: Das Dasein ist nichts wert;ich will nichts mehr gemein haben mit der Welt! - Undwenn dann in seiner Seele aufzucken soll die Kraft,welche die Worte zum Bewußtsein bringen soll: DieWelt gehört zu mir, ich gehöre der Welt! - dann darf einsolcher Ausdruck gefunden werden in den Worten Goe-thes: «Die Träne quillt! Die Erde hat mich wieder!»Darin wird gefühlt, daß wir nicht ausgeschlossen seindürfen von allem, was die Erde ist, daß wir die Zusam-mengehörigkeit mit der Welt fühlen dürfen, die sich inder Träne einen Ausdruck verschafft, wenn sie unsgenommen wird. Das ist berechtigt in den tiefen Ge-heimnissen der Welt.

Die Zusammengehörigkeit des Menschen mit der Weltkann uns die Träne auf seinem Antlitz verkündigen, unddes Menschen Befreiung von allem Niedrigen, das seinerhabhaft werden will, kann uns das Lachen auf seinemAntlitz verkünden.

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WAS IST MYSTIK?

Berlin, 10. Februar 1910

Über den Begriff, durch welchen die Betrachtung desheutigen Vortrags zusammengefaßt wird, herrscht in denweitesten Kreisen vollständige Verwirrung. Es ist nochnicht lange her, da konnte ich von jemand mit einergewissen gelehrten Bildung hören: «Nun ja, man kannGoethe ja auch zu den Mystikern rechnen, denn Goethehat doch zugegeben, daß es etwas Dunkles und Uner-forschliches gebe.» Und man darf sagen, daß das Urteilweiter Kreise im Grunde genommen mit einem solchenAusdrucke getroffen ist. Was alles wird in der Welt nicht«Mystik», was alles insbesondere nicht «mystisch» ge-nannt! Wenn man von irgendeiner Sache nicht klarBescheid weiß, wenn man so etwas hat von ihr, was daschwebt zwischen Nichtwissen und einer recht unklaren,dunklen Ahnung, sagt man: diese Sache sei mystischoder mysteriös; wenn man versucht ist, aus einer gewis-sen Bequemlichkeit des Denkens und der seelischenForschung heraus festzustellen, daß man über irgendeineSache nichts Rechtes weiß, und dann, wie es für vieleMenschen selbstverständlich ist, auch aller Welt verbie-tet, darüber etwas zu wissen, dann sagt man: das ist ebeneine mystische Sache. Kurz, eigentlich wird dasjenige,worüber man höchstens erlaubt, eine Gefühlsahnung zuhaben, sehr häufig als der Gegenstand der Mystik be-zeichnet.

Allerdings wird man, wenn der Ausdruck «Mystik»auch nur in bezug auf seine historische Herkunft in

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Betracht gezogen wird, eine ganz andere Anschauunggewinnen müssen über dasjenige, was bedeutsame Gei-ster der Menschheit unter Mystik verstanden haben, undwas sie vor allen Dingen an der Mystik glauben besessenzu haben. Man wird dann insbesondere auch bemerkenkönnen, daß es schon menschliche Persönlichkeiten gibt,welche den Gegenstand der Mystik nicht etwas Uner-forschliches und Unklares nennen, sondern welche alsGegenstand der Mystik gerade dasjenige bezeichnen,was durch eine gewisse höhere Klarheit, durch ein gewis-ses helleres Licht unserer Seele zu erringen ist, und daßda gerade jene Klarheit aufhört, welche die anderenWissenschaften geben können, wo die Klarheit der My-stik beginnt. Das ist die Überzeugung derjenigen, welchevermeinen, wirklich Mystik besessen zu haben. Nuntreffen wir Mystik in uralten Zeiten der Menschheitsent-wickelung. Jedoch dasjenige, was zum Beispiel innerhalbder hier auch schon öfter erwähnten Mysterien, sagenwir Mysterien der Ägypter, Mysterien der asiatischenVölker und der Griechen, was da Mystik genannt wur-de, liegt dem heutigen Vorstellungsvermögen und derganzen heutigen Vorstellungsart so fern, daß es etwasschwierig ist, von vornherein einen Begriff der Mystikzu geben, wenn man auf diese alten Formen des mysti-schen Erlebens der Menschen hinweist. Am nächstenwird man dem gegenwärtigen Vorstellen noch kommen,wenn man zunächst hinweist auf die der Gegenwartsozusagen noch nahe liegenden Formen der Mystik, wiesie bei den deutschen Mystikern auftritt, bei MeisterEckhart angefangen - etwa im 13., 14. Jahrhundert -,und dann einen gewissen Höhepunkt erreicht in demunvergleichlichen Mystiker Angelus Silesius. Wenn wirdie Mystik da aufsuchen, werden wir finden, daß diese

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Mystik ein wirkliches Erkennen der tiefsten Welten-gründe sucht; und zwar ist das Suchen dieser Mystiker,die heute noch am besten verstanden werden können,auf eine besondere Art zu denken. Es ist ein Suchennach den Gründen des Daseins durch ein rein inneresSeelenerleben, eine Erkenntnis, welche gesucht wird vorallen Dingen dadurch, daß sich die Seele frei macht vonallen Eindrücken der Außenwelt und äußeren Wahrneh-mungen, daß sie sich sozusagen zurückzieht von demLeben der Außenwelt und versucht, hinunterzusteigenin die tiefen Untergründe des Seelenlebens. Wenn gleich-sam ein solcher Mystiker alles dasjenige vergessen kannauf lange oder kurze Zeit, was ihm seine Sinne überlie-fern, was ihm der Verstand sagen kann über dasjenige,was ihm die Sinne überliefern, wenn er sozusagen ganzablenkt die Aufmerksamkeit von aller Außenwelt undganz und gar in der eigenen Seele lebt und dann dasjeni-ge sucht, was da noch erhalten bleibt und sich nocherleben läßt, wenn die Seele mit sich ganz allein ist: dannfühlt sich ein solcher Mystiker auf dem Wege zu der vonihm gesuchten Erkenntnis, und er vermeint, durch einsolches Innenleben dessen, was die Seele in sich selbererschafft und in sich selber in Tätigkeit zu setzen ver-mag, nicht nur auf das zu blicken, was man im gewöhnli-chen Leben denken, fühlen und wollen kann, sondern erglaubt hinter all dem, was das gewöhnliche Denken,Fühlen und Wollen ist, den Grund zu erschauen, ausdem die Seele heraus entsprossen ist: nämlich den gött-lich-geistigen Urgrund der Dinge. Und weil ein solcherMystiker in der Seele die wertvollste Form des Daseinssieht, weil er in der Seele dasjenige sieht, was zunächstim wahren Sinne des Wortes sich ein Kind der göttlichenGeistigkeit nennen darf, so glaubt er einen sicheren Weg

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zu haben, wenn er durch das gewöhnliche Seelenlebenhindurchblickt auf den Quell, aus dem diese Seele ent-sprungen ist, und von dem er glaubt, daß sie zu ihmauch zurückkehren muß. Mit anderen Worten: der My-stiker ist der Meinung, daß er durch das Versenken insinnere Seelenleben den göttlichen Weltengrund findet,den er nicht finden kann, wenn er die äußeren Erschei-nungen der Natur noch so sehr zergliedert und mit demVerstande zu begreifen sucht. Ein solcher Mystiker ver-meint, daß dasjenige, was sich den äußeren Sinnen dar-bietet, einen Schleier bildet, durch den das menschlicheErkennen nicht unmittelbar durchdringen kann bis zuden göttlichen Urgründen; daß aber dasjenige, was manin der Seele erlebt, ein viel dünneres Gewebe, ein vieldünneres Schleiergewebe darstellt, und daß man auf demWege nach innen vordringen kann zu dem, was dergöttliche Weltengrund ist, der ja auch den äußeren Er-scheinungen zugrunde liegen muß. Das ist die Mystik,die in der Form des Erlebens zunächst sich uns charakte-risiert als der mystische Weg des Meisters Eckhart, derWeg des Johannes Tauler und der Weg des Suso; unddann weiter durch die Mystik dieses Zeitalters, bis zudem oben genannten Angelus Silesius.

Man muß sich allerdings klar darüber sein, daß dieseGeister und Persönlichkeiten auf solchem Wege desErkenntnisstrebens nicht allein glaubten, nur dasjenigebloß zu finden, was man von vornherein unmittelbarbetrachten könnte als das Ergebnis innerer Seelenfor-schung. Wir haben uns ja in den Vorträgen dieses Win-ters in der mannigfaltigsten Art und von den verschie-densten Seiten her mit dieser inneren Seelenforschungbeschäftigt; wir haben darauf hinweisen können, daß,wenn man hineinblickt in das, was man berechtigt ist,

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das menschliche Innere zu nennen, man da zunächstfindet die dunkelsten Untergründe der Seele, da wo dieSeele noch hingegeben ist den Affekten wie Schrecken,Furcht, Angst und Hoffnung, was wir die Skala vonLust und Leid, Freude und Schmerz nennen können.Wir haben gesagt, daß wir diesen Teil des Seelenlebenszusammenfassen in dem, was man Empfindungsseelenennt. Wir haben weiter gesagt, wie nun ferner unter-schieden werden muß in dem dunklen Grunde desmenschlichen Seelenlebens das, was man Verstandes-oder Gemütsseele nennt, in das man gelangt, wenn dasIch, der Mittelpunkt des Seelenlebens, die äußeren Ein-drücke verarbeitet, wenn es in stiller Hingabe wirkenund ausgleichen läßt, was in der Empfindungsseele aufle-ben kann. Wir haben gesagt, daß das, was man innereWahrheit nennt, in der Verstandesseele aufgeht. Wenndann das Ich weiter arbeitet in innerer Tätigkeit an dem,was es gewonnen hat auf diesem Wege zur Verstandes-seele, dann arbeitet das Ich sich hinauf zur Bewußtseins-seele, wo erst eine klare Ich-Erkenntnis möglich ist, wodas möglich ist, was aus einem bloßen Innenleben wie-derum hinaufführt zu einem Wissen, zu einem wirkli-chen Wissen über die Welt. So haben wir gleichsam,wenn wir diese drei Glieder des Seelenlebens uns vorAugen stellen, das Gewebe dessen, was wir finden, wennwir uns zunächst unmittelbar in unser Inneres versen-ken. Wir finden, wie das Ich an diesen drei Seelenglie-dern arbeitet.

Diejenigen, die als Mystiker Erkenntnis gesucht habenin der angegebenen Art, die glaubten allerdings nochetwas anderes zu finden durch das Untertauchen in dieTiefe des Seelenlebens. Für sie war das, was eben ge-nannt wurde, nur eine Art Schleiergewebe, durch das

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man hindurch muß, um zu dem Quell des Daseins zugelangen. Und vor allen Dingen glaubten diejenigen, diegenannt worden sind, wenn sie zu dem Quell des Seelen-daseins gelangen, dann würden sie als inneres Erlebnisdasjenige durchmachen, was in der äußeren Geschichtedargestellt wird als das Ereignis des Christus-Lebensund Christus-Sterbens.

Nun liegt ja allerdings folgendes vor, wenn diesemystische Vertiefung auch nur im mittelalterlichen Sinnein der Seele stattfindet: Der Gang eines solchen Mysti-kers ist der, daß er zunächst der Außenwelt gegenüber-steht mit den mannigfaltigsten Eindrücken auf das Ge-sicht, Gehör und andere Sinne. Er sagt sich: Ich habe dieLicht-, Farben-, Ton- und Wärmewelt und alles das vormir, was mir meine Sinne überliefern; und ich bearbeitezunächst dasjenige, was mir meine Sinne überlieferndurch meinen Verstand. Da bin ich aber immer an dieAußenwelt hingegeben, da kann ich nicht durch dasdichte Gewebe durchdringen bis zu dem Quell, aus demdas stammt, was sich mir als Töne, Farben und Empfin-dungen darlegt. Meine Seele aber behält in ihren Vorstel-lungen dasjenige zurück, was Bilder dieser Außenweltsind, meine Seele behält vor allen Dingen auch dasjenigein sich, was sie während der Eindrücke empfunden undgefühlt hat. Die Eindrücke der Außenwelt bleiben ja fürunsere Seelenwelt nicht das, was wir kalte, nüchterneVorstellungen nennen können. Denn das eine berührtuns so, daß wir mit Lust, das andere so, daß wir mitSchmerz erfüllt werden; das eine berührt uns mit Sympa-thie und das andere mit Antipathie. Mit unseren Interes-sen und mit unserem ganzen Innenleben weist uns sozu-sagen unser Ich auf die Welt, die auf uns Eindrückemacht, welche uns bald erheben und bald erdrücken, so

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daß, wenn wir uns als Mystiker zunächst abwenden vondieser Außenwelt, wir zurückbehalten die Vorstellungenund Erinnerungen, die uns innere Bilder geben von derAußenwelt, aber auch das, was wir in unseren Empfin-dungen und Gefühlen als den subjektiven Eindruck vonder Außenwelt empfangen haben. Da stehen wir nun mitall dem, so würde der Mystiker sagen, was die Außen-welt in uns hineingewirkt hat. So leben wir zunächst mitdem, was die Außenwelt in der Seele vom Morgen biszum Abend erzeugt, und dem, was als Lust und Leid inunserer Seele auflebt. So erscheint uns das innere Lebenzunächst als eine Wiederholung und Abspiegelung desäußeren Lebens.

Bleibt unsere Seele nun leer, wenn sie sich bemüht,alles das zu vergessen, was von der Außenwelt in ihrgespiegelt wird, wenn sie alle Eindrücke und Vorstel-lungen der Außenwelt tilgt? Das eben ist das Erleben desMystikers, daß es für die Seele eine andere Möglichkeitgibt: daß diese Seele, wenn sie sozusagen vergißt nichtnur alle Erinnerungen, sondern auch alles, was sie alsSympathie und Antipathie fühlt, dann noch eine Mög-lichkeit hat, daß in ihr noch etwas da ist. So fühlt derMystiker, daß die Eindrücke der Außenwelt mit denbunten Bildern und ihren Wirkungen auf die Seele, daßdiese zunächst das Lebendige sind, was uns hinnimmt inunserem Innenleben; daß die etwas erdrückt haben, wasin den geheimen Untergründen der Seele vorhanden ist.Das fühlt der Mystiker. Er sagt sich: Wenn wir demAußenleben hingegeben sind, dann wirkt dieses Leben inder Außenwelt wie ein starkes, mächtiges Licht, das diefeineren, inneren Seelenerlebnisse überleuchtet und aus-löscht, wie ein starkes Licht ein geringeres Licht aus-löscht. Und dann, wenn wir alle die Eindrücke der

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Außenwelt tilgen, dann leuchtet auf das sonst überleuch-tete innere Fünklein, wie Eckhart sich ausdrückt - dannerfahren wir in unserer Seele nicht ein Nichts, sondernwir erfahren dann in der Seele etwas, was vorher schein-bar nicht vorhanden war, was unwahrnehmbar gewesenist durch das laute Getöse der Außenwelt.

Aber das, was wir in unserem Inneren erleben, läßtsich das, so fragt sich der Mystiker, wenn er sich selberklarwerden will, vergleichen mit dem, was wir in derAußenwelt erleben? Nein, das läßt sich damit nichtvergleichen. Das unterscheidet sich radikal von dem, waswir in der Außenwelt erleben. Allen Dingen der Außen-welt stehen wir ja so gegenüber, daß wir zunächst in ihrInneres nicht hineindringen können, daß sie uns wirklichnur ihre Außenseite darbieten. So daß wir denken kön-nen: wenn wir auch bloß die Farben und Töne wahr-nehmen, hinter ihnen steckt etwas, was zunächst als dasVerborgene der Dinge angesehen werden muß; bei demaber, was wir in der Seele erleben, wenn wir die Ein-drücke und Vorstellungen der Außenwelt tilgen, beidem liegt es so, daß wir selber darinnen stecken, daß wires selber sind, daß wir nicht sagen können, es zeigt unsnur seine Außenseite. Denn gerade das, was sonst macht,daß wir ein verborgenes Inneres vermuten können, dasfällt weg beim wirklichen inneren Erleben. Und wennwir nun die Gabe haben, daß wir uns dem hingeben, wasda im Innern aufleuchtet, dann zeigt es sich in seinerwahren Wesenheit so, daß es sich wiederum unter-scheidet gegenüber all dem, was uns in der Außenweltentgegentritt. Das letztere zeigt sich uns so, daß esentsteht und vergeht, daß es aufblüht und verwelkt, daßes geboren wird und stirbt. Wenn wir aber dieses beob-achten, was in der Seele sich zeigt, wenn jenes kleine

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Fünklein anfängt zu leuchten, so merken wir in derSache selber, daß alle die Begriffe von Entstehen undVergehen, Geburt und Tod darauf nicht anwendbarsind; daß uns etwas Selbständiges entgegentritt, demgegenüber alle Begriffe von Entstehen und Vergehen,von Blühen und Welken, von Außen und Innen, die unsin der Außenwelt begegnen, keinen Sinn mehr haben. Soergreifen wir nicht eine Oberfläche, eine Außenseite derOffenbarung des Dinges in der Seele, sondern wir ergrei-fen das Ding selber in seiner wahren Wesenheit, undgerade dadurch können wir durch diese innere Erkennt-nis dazu kommen, Bürgschaft zu erlangen von dem, wasin uns selber unvergänglich ist, was in uns selber gleichist dem, was wir uns als den Begriff des Geistes bildenmüssen, in dem alle Materie ihren Urgrund hat. DiesesErlebnis empfindet nun der Mystiker so, daß er sagt:Also muß ich in mir ertöten, in mir überwinden alle dieErlebnisse, die ich sonst habe; sterben muß in mir dasgewöhnliche Seelenleben und Tod muß sich ausbreiten;dann steigt herauf die wahre Seele, die Siegerin überGeburt und Tod. Und diese Erweckung des innerenSeelenkernes nach dem Tode des gewöhnlichen Seelenle-bens, das empfindet der Mystiker wie eine innere Aufer-weckung, wie ein Nachleben dessen, was ihm vorgestelltwird in dem Bilde, das die Geschichte überliefert imLeben, Sterben und Auferstehen des Christus. So siehtder Mystiker in sich selber seelisch-geistig ablaufen dasChristus-Ereignis als inneres mystisches Erlebnis.

Nun müssen wir uns, wenn wir den Mystikern folgenauf diesem Pfade, klar sein darüber, daß Mystik, sobetrieben, überall hinführen muß zu dem, was mannennen kann eine gewisse Einheit in allem Erleben. Dasliegt eben in der Natur unseres Seelenlebens, daß wir aus

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der Mannigfaltigkeit der Sinnesimpulse, aus der Mannig-faltigkeit der auf und ab wogenden Wahrnehmungenund Gefühle, aus der Mannigfaltigkeit und Fülle derGedanken heraus zur Vereinfachung vorschreiten, undzwar aus dem einfachen Grunde, weil in der Seele dasIch lebt, das Zentrum des Lebens, das immer daranarbeitet, Einheit zu schaffen in unserem ganzen Seelen-leben. So daß wir uns sagen müssen: Es ist uns ganzerklärlich, daß, wenn der Mystiker die Pfade der Seelen-erlebnisse beschreitet, sich ihm diese so darstellen, daßalles Mannigfaltige und alles Viele nach der Einheithinstrebt, die einfach durch das in unserem Innern le-bendige Ich gegeben ist. Daher werden wir bei allenMystikern eine Weltanschauung ausgeprägt finden, wel-che man geistigen Monismus nennen konnte, ein Strebennach der Einheit. Und da der Mystiker sich bis zu derErkenntnis erhebt, daß das innere Seelenwesen Eigen-schaften hat, die radikal verschieden sind von den Eigen-schaften der äußerlich sich offenbarenden Welt, so erlebter sozusagen auch in seinem Innern die Gleichartigkeitdessen, was in der Seele als ihr Kern ist, mit demgöttlich-geistigen Weltengrund, den er daher als eineneinheitlichen darstellt.

Was jetzt erzählt worden ist, soll nur als eine Erzäh-lung hingenommen werden. Es ist unmöglich, die Aussa-gen eines Mystikers anders im neuzeitlichen Sinne wie-derzugeben, als etwa von einem mystischen Erlebnis aus,von den mystischen Erlebnissen aus, die eben die eigeneSeele als ureigenste Erfahrung durchmacht. Da kannman dann das Fremde, was der Mystiker uns erzählt,vergleichen mit den eigenen Erlebnissen. Aber eine äuße-re Kritik ist unmöglich, weil man sich nur erzählenlassen kann, was erlebt wird, wenn man es nicht selbst

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erlebt hat. Aber es stellt sich uns, wenn wir von demGesichtspunkte ausgehen, der immer unseren Vorträgenzugrunde gelegen hat, ein klarer Weg hin, den derMystiker beschreitet. Es stellt sich für unsere Seele derWeg nach dem Innenleben dar; und das ist zunächst,wenn wir die Dinge auch nur geschichtlich betrachten,wie sie sich in der Menschheitsgeschichte ergeben haben,eben einer der Wege. Wenn man auch diesen oder jenenfür richtig hält, es ist einer der Wege, den der mensch-liche Geist zur Erforschung der Dinge ergriffen hat, undman wird sich über die eigentliche Antwort auf dieFrage: Was ist Mystik? - nur Klarheit verschaffen kön-nen, wenn auch ein wenig hineingeleuchtet wird auf denanderen Weg, der eingeschlagen werden kann. Den My-stiker führt sein Weg zur Einheit, zu einem göttlich-geistigen Wesen. Das hat sich ihm ergeben dadurch, daßer den Weg nach innen einschlug, wo das Ich die Einheitder Seelenerlebnisse ist. Der andere Weg, an dem sozusa-gen das mystische Erforschen des Daseins oder derDaseinsgründe beleuchtet werden muß, das ist der Weg,den der Menschengeist doch immer versucht hat - durchden Schleier der Außenwelt zu dringen nach den Grün-den des Daseins. Da ist es vor allen Dingen neben vielemanderen die menschliche Gedankenarbeit gewesen, wel-che versucht hat, durch das, was die Sinne sehen können,und durch das, was der Alltags verstand begreifen kann,im tieferen Denken doch dasjenige zu begreifen, was sounter der Oberfläche der Dinge liegt. Wohin kommtnaturgemäß im Gegensatz zur Mystik zuletzt ein solcherWeg? Ein solcher Weg kann eigentlich, wenn man alleVerhältnisse, die dabei in Betracht kommen, berück-sichtigt, im Grunde genommen zu nichts anderem füh-ren, als aus der Vielheit und der Mannigfaltigkeit der

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äußeren Erscheinungen zurückzuschließen auch auf eineVielheit der geistigen Untergründe des Daseins. Darumfinden in den neueren Zeiten die Menschen, welche, wieetwa Leibniz oder später Herbart, durch das Denkendiesen Weg betreten haben, daß es nicht angeht, ausirgendeiner Einheit heraus die Fülle der äußeren Erschei-nungen zu erklären. Sie fanden kurz dasjenige, was manals den wahren Gegensatz aller Mystik bezeichnen muß:sie fanden die Monadologie, sie kamen dazu, die Weltanzusehen, oder sagen wir, das Reich der Urgründe derWelt anzusehen als eine Vielheit von Monaden, vongeistigen Wesenheiten.

So sagt sich Leibniz, der große Denker des 17. und 18.Jahrhunderts: Wenn wir da hinblicken auf das, was unsim Raum und in der Zeit entgegentritt, so kommen wirnicht mehr zurecht, wenn wir glauben, daß das aus einerEinheit stammt; da müssen viele Einheiten zusammen-wirken.

Und durch die gegenseitige Tätigkeit der Monaden,die er sich geistig vorstellt, durch die Tätigkeit einerMonadenwelt kommt das zustande, was dem Auge, demOhr und den äußeren Sinnen sich darbietet. Es kannheute nicht ausgeführt werden, aber einer tieferen Be-trachtung der Entwickelung des Geistes würde sich erge-ben, daß alle diejenigen, welche Einheit auf dem Wegenach außen suchten, zunächst im Grunde genommensich einer Täuschung hingaben, der Täuschung, daß siedas, was nur im Innern mystisch erlebt wird, die Einheit,nach außen warfen wie eine Projektion oder eine ArtSchattenbild und glaubten, die Einheit, die sie durch denWeg nach innen fanden, die liege auch durch das Den-ken erreichbar der Außenwelt zugrunde und wäre dortauch zu finden. Ein gesundes Denken findet aber keine

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Möglichkeit, in der Außenwelt durch das Denken zurEinheit zu kommen, sondern findet, daß das, was uns dain bunter Mannigfaltigkeit entgegentritt, durch das Zu-sammenwirken und Einfließen von verschiedenen We-senheiten, die sich gegenseitig beeinflussen, zustandekommen muß durch Monaden. So führt Mystik zurEinheit, weil das Ich in unserem Innern arbeitet als einEinheitliches; weil es als Zentrum der Seele arbeitet. Soführt der Weg durch die Außenwelt notwendigerweisezur Vielheit, zur Monadologie, sozusagen zur Anschau-ung, daß viele Geistwesen zusammenwirken müssen, umunser Weltbild zustande zu bringen, weil wir von vorn-herein als menschliche Beobachter der Welt, wenn wirnach außen blicken, durch eine Vielheit von Organenund eine Vielheit von einzelnen Beobachtungen uns dieErkenntnis der Außenwelt verschaffen.

Hier kommen wir an einen Punkt, der einmal ausge-sprochen werden darf, der von einer grenzenlosen Wich-tigkeit und Bedeutung ist, der aber sozusagen in derGeschichte des Geisteslebens nur allzuwenig berück-sichtigt worden ist: Mystik führt zur Einheit; aber dieTatsache, daß sie das göttliche Grundwesen als Einheiterkennt, rührt von der inneren Seelenverfassung, vondem Ich her. Das Ich drückt seinen Stempel der Einheitauf, wenn man den göttlichen Geist ansieht als Mystiker.Das Schauen nach der Außenwelt führt zur Vielheit derMonaden. Aber nur unser Anschauen und die Art undWeise, wie die Außenwelt uns entgegentritt, führt zurVielheit, und daher schauen Leibniz und Herbart dieUntergründe der Welt in einer Vielheit. Das, was sichdurch ein tieferes Forschen aus dieser Tatsache ergibt,ist, daß Einheit und Vielheit Begriffe sind, die gar nichtangewendet werden dürfen da, wo man eigentlich den

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göttlich-geistigen Weltengrund vermutet; daß Einheitund Vielheit etwas sind, was uns gar nicht dienen sollzur Charakteristik des göttlich-geistigen Weltengrundes;daß dieser göttlich-geistige Weltengrund nicht dadurchcharakterisiert werden kann, wenn er in seiner Wesen-heit charakterisiert werden soll, daß wir sagen, er sei eineinheitlicher, oder daß wir sagen, er sei ein monadologi-scher, ein vielheitlicher. Sondern wir müssen sagen, er isterhaben über das, was Einheit und Vielheit zunächstsind; Vielheit und Einheit sind Begriffe, die gar nichtdahin reichen, wo das Göttlich-Geistige zu fassen ist.

Damit wird allerdings ein Gesetz ausgesprochen, wel-ches Licht werfen kann auf vieles, was man Streit nenntin der Weltanschauung, den Streit zwischen Monismusund Monadologismus. Sie treten so oft als Gegensatz inden Weltanschauungen auf. Würden diejenigen, die dastreiten und diskutieren, sich bewußt sein, daß sie mitunzulänglichen Begriffen gegenüber dem Weltengrundarbeiten, dann erst würden sie das richtige Licht werfenauf den Gegenstand ihrer Diskussion.

Wir haben nun sozusagen gefunden, worin das Wesender eigentlichen Mystik besteht. Wir können sagen: esist ein inneres Erleben, aber ein so geartetes inneresErleben, daß es den Mystiker zu einer wirklichen Er-kenntnis führen soll. Darf er auch nicht sagen, daß esWahrheit ist, wenn er den Gegenstand seines Erlebensals Einheit bezeichnet, weil die Form der Einheit nur ausdem eigenen Ich kommt, so darf er doch immerhinsagen, daß er als ein Darinnenstehender die geistigeSubstantialität in sich erlebt.

Wenn wir nun von dieser allgemeinen Darstellung undCharakteristik der Mystik zu den einzelnen Mystikernübergehen, dann finden wir gar häufig dasselbe, worauf

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sich ja die Gegner aller Mystik berufen. Da finden wir,daß jenes innere Erleben in der einzelnen Individualität,in der einzelnen Persönlichkeit eben auch individuelleFormen annimmt; das heißt, daß die Erlebnisse, dieinneren Seelenerfahrungen des einen Mystikers nichtvöllig zusammenstimmen mit den Seelenerfahrungen desanderen Mystikers. Nun braucht man sich über dieseTatsache bei einem klaren Denken nicht sonderlich zuverwundern, denn dadurch, daß zwei Menschen etwasVerschiedenes erleben, folgt noch gar nicht, daß dieSache falsch sei, über die sie sprechen. Wenn einer einenBaum von rechts, ein anderer denselben Baum von linksansieht und sie beschreiben ihn, so wird es derselbeBaum sein, aber jeder wird ihn anders beschreiben, unddoch kann jede Beschreibung wahr sein. Aus diesemeinfachen Bilde kann man auch verstehen, warum dieSeelenerfahrungen der einzelnen Mystiker verschiedensind: der Mystiker tritt ja nicht als eine sozusagenabsolut leere Tafel vor sein Innenerleben. Wenn es auchsein Ideal ist, die äußeren Erlebnisse abzutöten undauszutilgen und die Aufmerksamkeit von ihnen völligabzuziehen, so ist es doch so, daß die äußeren Erlebnissein ihm einen Seelenrest lassen, und daß es nicht gleich-gültig ist, ob einer, der Mystiker wird, dieses oder jeneserlebt hat. Es bleibt schon von Einfluß, ob der Mystikeraus diesem oder jenem Volkschar akter herausgewachsenist, ob er dieses oder jenes im Leben erfahren hat. Wenner jetzt auch alles das, was er erfahren hat, aus der Seeleherauswirft, so wird dennoch, was er innerlich erlebt,einen Ausdruck erhalten von dem, was er vorher erlebthat. Er muß es auch beschreiben mit Begriffen und Ideenund Worten, die er hereinbringt aus seinem bisherigenLeben. Es kann bei verschiedenen Mystikern durchaus

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dasselbe sein, was sie erleben, auch wenn sie es mitverschiedenen Mitteln der vorherigen Erlebnisse be-schreiben. Und erst für den, der imstande ist, durchselbsteigenes inneres Erleben abzusehen von dem, wasIndividuelles an der Beschreibung und Darstellungist, für den wird es möglich sein, doch zu erkennen,daß, wenn sich die verschiedenen Mystiker noch soverschieden ausdrücken, das was sie erleben, das Re-ale der Erfahrung, im Grunde genommen doch das glei-che ist; gerade so, wie wenn man einen Baum von ver-schiedenen Seiten photographiert, diese Photographienverschieden aussehen und doch derselbe Baum zugrun-de liegt.

Ein anderes aber gibt es, was allerdings in einer gewis-sen Weise ein Einwand ist gegen mystisches Erleben;und da hier nicht aus einer Sympathie oder Antipathiegeschildert werden soll, sondern in objektiver Darstel-lung, so darf nicht verschwiegen werden, daß dieserEinwand berechtigt ist gegen alle Mystik. Dadurch, daßdas mystische Erleben ein intimes inneres Seelenerlebensein muß, und der Mystiker den Rest mit hineinnimmt,der von seinen individuellen Erlebnissen und Erfah-rungen, bevor er Mystiker geworden ist, herrührt, sowird es in der Regel außerordentlich schwierig sein, daßdasjenige, was ein Mystiker sagt, weil es so sehr an dieeigene Seele gebunden ist, richtig verstanden und über-haupt von einer anderen Seele voll aufgenommen werdenkann. Das Intimste wird immer bis zu einem Gradeintim bleiben müssen in aller Mystik und wird sichaußerordentlich schwer mitteilen lassen; selbst dann,wenn man einen noch so hohen Grad des Verständnissesund Entgegenkommens dem Mystiker entgegenbringt,wird es schwierig sein. Warum? Das wird aus dem

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Grunde der Fall sein, weil zwar das, was verschiedeneMystiker während ihres mystischen Erlebens erfahren,dasselbe ist, wenn nur beide Mystiker weit genug vorge-schritten sind - und derjenige, der den guten Willen hat,sich eine Überzeugung davon zu verschaffen, der wirdschon erkennen, daß beide Mystiker auf dasselbe hinwei-sen -, daß es aber ein anderes ist, was der eine Mystikerund der andere vor seinem mystischen Erlebnis erlebthat. Daher - weil das mystische Erlebnis gefärbt wirddurch das vorhergehende Erleben -, daher werden dieAusdrücke, das Gepräge der Darstellung, die geradenicht aus dem mystischen Erleben, sondern aus demvormystischen Leben des Mystikers stammen, uns im-mer etwas unverständlich bleiben, wenn wir uns nichtauch bemühen, den Mystiker so aufzufassen, daß wireingehen auf sein vormystisches Erleben; daß wir unseine Anschauung verschaffen, warum er seine mysti-schen Erlebnisse gerade so darstellt. Dadurch wird aberder Blick abgelenkt von dem allgemeinen Gültigen zueinem persönlichen Interesse an dem Mystiker. Das istnun eine Tatsache, die wir auch in gewisser Beziehung inder Entwickelungsgeschichte der Mystik beobachten.Wir können sagen, daß wir gerade bei den intimstenMystikern absehen müssen davon, daß sozusagen das,was sie hinstellen als ihre Erkenntnis, so wie es ist, auchauf einen anderen übertragen und von ihm angenommenwerden kann. Es kann schwer verallgemeinert werden,es kann sozusagen die mystische Erkenntnis nicht leichtallgemeine Welterkenntnis werden.

Um so stärker kann aber gerade das Interesse an derIndividualität, an der Persönlichkeit des Mystikers wer-den, und wir können unendlich reizvoll finden, diemystische Persönlichkeit zu betrachten, insofern sich in

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ihr das allgemeine Weltbild spiegelt. So wird gewisser-maßen das, was der Mystiker darstellt, und was dochvon ihm nur deshalb geschätzt wird, weil es ihn zu denUntergründen und Quellen des Daseins führt, uns voneinem geringeren Interesse sein in bezug auf das Objekti-ve, was es uns über die Welt sagt; und es wird unsgerade interessant mit Bezug auf den einzelnen Men-schen, mit Bezug auf das Subjektive, das heißt auf diemystische Individualität. Für den also, der den Mystikermit seiner Mystik betrachtet, ist eigentlich gerade daswertvoll, was der Mystiker selber überwinden will, dasPersönliche, das Unmittelbare, wie er der Welt gegen-übersteht. So können wir allerdings unendlich viel überdie Tiefe der menschlichen Natur erfahren, wenn wirsozusagen die Menschheitsgeschichte betrachten, vonMystiker zu Mystiker schreitend; aber es wird unsschwerfallen - das kann nie genug betont werden - zusagen: dieser oder jener Mystiker liefert uns dieses oderjenes, was für uns, so wie er es sagt, unmittelbareGültigkeit haben kann.

Da stellt sich vielleicht doch objektiv der Mystikgegenüber die Monadologie, welche darauf ausgeht, dieallen Menschen gemeinsame Außenwelt denkend zu be-trachten. Daher hat man auch das Gefühl gegenüberdiesen monadologischen Systemen, daß zwar in ihnenIrrtum über Irrtum vorkommen kann, daß man aberüber sie diskutieren und nach seinem subjektiven Ent-wickelungsstandpunkt etwas darüber ausmachen kann.Ein Irrtum des Monadologen wäre in diesem Sinnewenigstens nur nach seiner Entwickelungsstufe denkbar.

So kann also die Mystik, die zunächst hier geschildertworden ist, unendlich reizvoll sein, aber wir werdendoch ihre Grenze ganz objektiv ins Auge fassen, wenn

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wir das auf die Seele wirken lassen, was zu ihrer Charak-teristik eben jetzt gesagt worden ist.

Eine andere Beleuchtung erfährt dasjenige, was dasWesen der Mystik ist, dann, wenn wir es messen andem, was wir sozusagen aus dem tieferen Geisteslebenunserer Gegenwart heraus gewinnen als die eigentlichegeisteswissenschaftliche Methode, zu den Urgründen desDaseins vorzudringen. Man versteht ja in der Regel eineSache, die gewisse Schwierigkeiten durch die Feinheitihrer Begriffe macht, dann erst richtig, wenn man sieabmessen kann an etwas anderem, das ihr verwandt ist.

Es ist hier oft in den Vorträgen gesagt worden, daß eseinen Aufstieg zu den höheren Welten gibt. Wir habenhier in gewisser Beziehung einen dreifachen Weg. Wirhaben hingedeutet auf den Weg nach außen und dannauf den Weg nach innen, den nicht die Mystiker deralten Mysterien, wohl aber die mittelalterlichen Mystikereingeschlagen haben, und hierbei haben wir beim letzte-ren klarstellen können, wo seine Grenzen liegen. Wirwollen nun von den beiden den Blick abwenden zu dem,was hier als der eigentlich geisteswissenschaftliche odergeistig-forscherische Weg bezeichnet werden kann.

Es ist schon gesagt worden, daß diese geisteswissen-schaftliche Erkenntnis darin besteht, daß der Menschnun nicht einfach einen Weg einschlägt, entweder nachaußen zu den Untergründen dessen, was sich für dieSinne offenbart, also zu den Monaden; oder nach innenzu dem, was sich als die Untergründe des eigenen Seelen-lebens darlebt, zur mystischen Einheit der Welt; sondernes wurde betont, daß die geisteswissenschaftliche Metho-de darin besteht, daß gesagt wird, der Mensch kannnicht nur Wege gehen, welche ihm seine unmittelbarvorhandene Erkenntnis möglich macht, sondern er hat in

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sich verborgene, schlummernde Erkenntniskräfte; und erfindet von diesen ausgehend dann andere Wege als diebeiden angegebenen. Was tut derjenige, der einen derbeiden gekennzeichneten Wege geht? Er sagt: Nun, ichbleibe als Mensch wie ich bin; so bin ich geworden. Ichkann hinausgehen und versuchen, den Schleier der Sin-neswelt zu durchdringen und vordringen bis zu denUntergründen des Daseins; ich kann austilgen die Außen-erlebnisse und dann auferstehen lassen das Fünklein, dasvon der Außenwelt nur übertönt und überleuchtet wird,das sich sonst der Aufmerksamkeit entzieht. Aber wasder geisteswissenschaftlichen Erkenntnis zugrunde liegt,ist das, daß der Mensch nicht mit seinen Erkenntnis-kräften bleiben will, was er ist, sondern daß er sagt: Sowahr ich mich entwickelt habe zu dem, was ich heutebin, so wahr kann ich mich zunächst selber, wenn ichnur die entsprechende Methode anwende, in meinerSeele entwickeln, kann höhere Erkenntniskräfte entwik-keln, als ich sie schon habe. Würde man etwa das, wasjetzt gesagt worden ist, mit der mystischen Art desErkennens zusammenstellen, würde man sagen müssen:Gewiß, man kann, wenn man das äußere Seelenlebenaustilgt, dazu kommen, daß man das innere Fünkchenfinden kann und beobachtet, wie es dann leuchtet undwie es auflebt, wenn man das andere vertilgt hat; abereben doch nur beobachtet, was schon da ist. Geisteswis-senschaftliche Forschung aber würde dem Mystiker sa-gen: Nein, nicht bloß das tun wir; wir kommen schonzu dem Fünkchen, aber bleiben nicht dabei stehen,sondern suchen die Methoden herbeizuschaffen, die die-ses Fünkchen zu einem viel stärkeren Licht entfaltenkönnen. Wir nehmen den Weg nach außen und nachinnen; wir entwickeln neue Erkenntniskräfte, gehen also

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nicht sogleich den Weg nach außen oder nach innen. Dieneuere geisteswissenschaftliche Forschung charakterisiertsich im Gegensatz zu der Mystik des Mittelalters wieauch zur Monadologie und den alten Mysterienlehrendadurch, daß sie so die inneren Erkenntnis kr äfte entwik-kelt, daß die beiden Wege, der Weg nach außen und derWeg nach innen zu dem Fünkchen des Mystikers, mit-einander vereinigt werden, daß ein Weg gegangen wird,auf welchem man zu dem einen und anderen Ziele aufgleiche Weise kommt. Wieso das?

Das kommt dadurch zustande, daß die Entwickelungder höheren Erkenntniskräfte durch eine Methode derneueren Geisteswissenschaft den Menschen führt überdrei Erkenntnisstufen. Die erste Erkenntnisstufe, dieüber das gewöhnliche Erkennen hinausgeht, nennt manimaginatives Erkennen. Die zweite Stufe ist das inspi-rierte Erkennen, und die dritte Stufe ist das, was man imwahren Sinne intuitives Erkennen nennt. Wie kommtnun die erste Erkenntnisstufe zustande? - Was machtman da in der Seele, um höhere Erkenntniskräfte zuentwickeln? An der Art, wie sie zustande kommt, kön-nen Sie ersehen, wie sich Monadologie und Mystikdurch diesen Erkenntnisweg der neueren geisteswissen-schaftlichen Forschung überwindet. Das Beispiel, wel-ches besonders leicht hineinführt in das Begreifen derimaginativen Erkenntnis, ist hier schon öfter erwähntworden. Es ist eben ein Beispiel aus den Methoden, dieder Geisteswissenschafter auf sich anwendet; es ist einBeispiel unter vielen, das man am besten darstellt, wennman das, was geschieht zwischen Lehrer und Schüler, ineinen Dialog faßt.

Der Lehrer, welcher in einem Schüler jene höherenErkenntniskräfte erziehen wollte, welche zur Imagina-

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tion führen, der würde so zu dem Schüler sagen: Sieh dirdie Pflanze an, sie wächst aus dem Boden heraus undentfaltet Blatt nach Blatt bis zur Blüte. Diese Pflanzevergleiche mit dem Menschen, wenn er vor dir steht.Dieser Mensch hat etwas voraus vor der Pflanze; er hatdas voraus, daß sich die Welt in ihm in seinen Vorstel-lungen, Gefühlen und Empfindungen spiegelt; er hat dasvoraus, was man menschliches Bewußtsein zu nennenhat. Aber er hat sich dieses menschliche Bewußtsein mitetwas erkaufen müssen; nämlich damit, daß er aufneh-men mußte auf seinem Wege zum Menschen heraufLeidenschaften, Triebe und Begierden, die ihn in Irrtum,Unrecht und in das Böse hineinführen können. DiePflanze wächst sozusagen nach den ihr eingeborenenGesetzen, sie entfaltet ihr Wesen nach diesen eingebo-renen Gesetzen, und sie steht vor uns in ihrer grünenSaftigkeit keusch, ohne daß wir ihr zuschreiben können,wenn wir nicht Phantasten sind, Leidenschaften, Triebeund Begierden, die sie ablenken können von dem richti-gen Wege. Betrachten wir nun aber das, was der äußereAusdruck ist des menschlichen Bewußtseinslebens, desmenschlichen Ich - wenn wir das Blut betrachten, wie esden Menschen durchkreist wie der grüne Chlorophyll-saft die Pflanze, dann müssen wir sagen: Das Blutdurchpulst und durchkreist den Menschen, indem es einAusdruck ist ebenso für seine Erhebung zu höherenBewußtseinsstufen wie auch seiner Leidenschaften undBegierden, die ihn herunterziehen. Und jetzt könnte dergeisteswissenschaftliche Lehrer zu seinem Schüler sagen:Stelle dir vor, daß der Mensch sich weiter entwickelt,daß der Mensch durch sein Ich Herr wird über Irrtum,Böses und Häßliches, über alles das, was ihn herunter-ziehen will in das Böse, daß er läutert und reinigt seine

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Affekte und Leidenschaften. Stelle dir ein reales Idealvor, dem der Mensch zustrebt, und wo dann sein Blutnicht mehr der Ausdruck sein wird irgendwelcher Lei-denschaften, sondern dessen, was in ihm selber Herr istüber alles das, was ihn herunterziehen kann; dann läßtsich sein rotes Blut vergleichen mit dem, was aus demgrünen Pflanzensaft selbst bei der roten Rose gewordenist. Wie die rote Rose uns darstellt den Pflanzensaft inkeuscher Reinheit, uns auf einer vollkommeneren Stufevor Augen bringt, was die Pflanze auf einer unvollkom-meneren darstellt, so würde uns das rote Blut beimgeläuterten und gereinigten Menschen dasjenige darstel-len, was es ist, wenn der Mensch Herr über alles Herab-ziehende geworden ist.

Diese Empfindungen und Vorstellungen kann der Gei-steslehrer in dem Gemüt, in der Seele des Geistesschü-lers erwecken. Wenn nun der Geistesschüler kein trocke-ner, nüchterner Schüler, kein Stock ist, wenn er empfin-den und fühlen kann das ganze Geheimnis, das in einemsolchen Vergleiche sich uns bildlich darstellt, dann wirdes wirken auf seine Seele, dann wird für ihn ein Erlebnissein, was ihm als ein Symbolum für das Erleben ingeistiger Anschauung vor die Seele tritt. Dieses Symbo-lum kann sein das Rosenkreuz: das schwarze Kreuz, dasausdrücken soll, was in der niederen Natur des Men-schen ertötet ist; und die Rosen wie das rote Blut, dashinaufgeläutert und gereinigt ist bis zu einem keuschenAusdruck seiner höheren Seele in ihm selber. Dasschwarze Kreuz, von roten Rosen umrankt, wird damiteine symbolische Zusammenfassung dessen, was die See-le erlebt in jenem Zwiegespräch zwischen Geistesschülerund Lehrer. Wenn der Geistesschüler ein solches Symbo-lum sich mit dem Blut seiner Seele erkauft hat, indem er

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alle die Vorstellungen und Gefühle und Empfindungenauf die Seele hat wirken lassen, die ihn innerlich berech-tigen, etwas zusammenzufassen in dem Rosenkreuz,wenn er nicht nur glaubt: ich stelle einfach ein Rosen-kreuz vor mich hin, sondern wenn er in ihm die Essenzhat eines ganz in blutender Seele errungenen innerenhöheren Stimmungsgehaltes, dann wird er sehen, daß einsolches Bild - und andere ähnliche Bilder - in seinerSeele etwas heraufholt. Das ist etwas, was nicht mehrbloß das geistige Fünkchen ist, sondern eine neue Er-kenntniskraft, die ihn fähig macht, in neuer Art die Weltanzusehen. Da ist er nicht stehen geblieben bei dem, waser war in seinem bisherigen Leben, sondern er hat seineSeele hinaufentwickelt. Und wenn er das immer wiedertut, kommt er endlich zur imaginativen Erkenntnis, dieihm zeigt, daß es draußen in der Welt noch etwasanderes gibt. Da entwickelt sich also eine neue Art vonErkenntnis gegenüber dem Erkennen, das er schon hat,wenn er bei dem stehen bleibt, was er bisher war.

Und jetzt führen wir uns vor die Seele, wie der Wegzustande gekommen ist. Hat da der Mensch gesagt: Ichgehe den Weg nach außen und suche nach den Unter-gründen der Dinge? - Das hat er nur zum Teil gesagt. Ersagt sich so: Ich gehe nun in die Außenwelt und suchenicht die Untergründe der Dinge, suche nicht nachMolekülen und Atomen, ich nehme nicht einmal das vonder Außenwelt, was sie mir darbietet, aber ich behalteetwas bei mir von dem, was diese Außenwelt mir darbie-tet. Das schwarze Kreuz ist nicht etwas, was in der Seeleentstehen würde, wenn man nicht das Holz draußenhätte; die rote Rose ist etwas, was sich die Seele niekonstruieren könnte, wenn sie nicht einen äußeren Ein-druck von der roten Rose hätte. So ist allerdings dasjeni-

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ge, was der Inhalt in der Seele ist, aus der Außenweltentnommen.

Wir können nicht sagen wie der Mystiker, daß wiralles Äußere getilgt haben, daß wir die Aufmerksamkeitganz abgelenkt haben von der Außenwelt; wir könnensagen, wir haben von der Außenwelt das hereinge-nommen, was sie uns selber geben kann - wir habennicht das Tor vor der Außenwelt zugeschlossen, habenuns ihr hingegeben -, aber wir haben es nicht so genom-men, wie sie es uns gibt; denn nirgends ist in derWirklichkeit ein Rosenkreuz. Das, woraus wir das Ro-senkreuz als Sinnbild gebildet haben, ist in der Außen-welt vorhanden; das Rosenkreuz selber ist nicht in derAußenwelt. Wo ist denn die Veranlassung dazu, daß wirdiese beiden, daß wir Rose und Holz zu einem Sinnbildzusammengefaßt haben? Diese Veranlassung ist in derBearbeitung unserer eigenen Seele. Wir haben das, waswir in der eigenen Seele erleben können, wenn wir dieSeele hingeben an die Außenwelt, und das, was wirerleben können in der Außenwelt, wenn wir sie nichtbloß anstarren, wie sie ist, sondern wenn wir uns in dieAußenwelt vertiefen - so erleben wir mystisch innerlichdas, was sich uns ergibt aus dem Vergleich der Pflanzemit dem sich entwickelnden Menschen. Wir haben dar-auf verzichtet, dieses Seelenerlebnis unmittelbar wie derMystiker aufzunehmen, sondern hingeopfert die Seelen-erlebnisse dem, was die Außenwelt zu geben hat, undmit Hilfe dessen, was die Seele innerlich geben kann, einSinnbild uns geformt. In dem Sinnbild ist zusammenge-flossen mystisches Innenleben und Außenleben. Wirdürfen niemals sagen, das Rosenkreuz sei eine Wahrheitgegenüber der sinnlichen Welt und auch nicht gegenüberder Innenwelt; denn niemand könnte in der Innenwelt,

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wenn er nicht die Eindrücke der Außenwelt empfinge,ein Rosenkreuz konstruieren. Es ist zusammengeflossenin dem Sinnbild dasjenige, was die Seele von sich aus inihrem Inneren erleben und erfahren kann mit dem, wassie von außen empfangen kann. Dafür steht dieses Sinn-bild jetzt auch wieder so vor uns, daß es zunächstunmittelbar nicht in die Außenwelt und nicht unmit-telbar in die Innenwelt führt, sondern daß es wirkt wieeine Kraft. Stellen wir es in der Meditation vor unsereSeele hin, dann bringt diese Kraft ein neues geistigesAuge hervor, und wir sehen jetzt hinein in die geistigeWelt, die wir früher weder im Inneren noch im Äußerenfinden konnten; und wir bekommen zunächst eine Ah-nung davon, daß das, was der Außenwelt zugrunde liegt,und was wir jetzt durch imaginative Erkenntnis erfahrenkönnen, daß das dasselbe ist, identisch mit dem, was wirauch im Innern haben.

Wenn wir nun aufrücken zur inspirierten Erkenntnis,dann müssen wir etwas abstreifen von unserem Bilde.Wir müssen etwas machen, was unmittelbar ähnlich istdem ganzen Verfahren des Mystikers, der nach innengeht. Da müssen wir die Rose und das Kreuzesholzvergessen. Es ist das eine schwierige Prozedur, aber siekann ausgeführt werden. Wir müssen das ganze Sinnbilddem Inhalte nach aus unserer Vorstellung entfernen.Aber was schwer gelingen wird, das muß gelingen.

Es war seelische Tätigkeit, die nötig war, um den obengegebenen Vergleich in einem Sinnbild vor die Seele zurücken. Wir müssen die Seele selber beobachten, das,was sie getan hat, um das schwarze Kreuz als den zuüberwindenden Menschen vor die Seele zu rücken; ihreinneren Erlebnisse an der Bildung von Symbolen mußman sich vor Augen stellen. Wenn also der Mensch sich

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in seine Seelenerlebnisse mystisch vertieft, dann kommter zur inspirierten Erkenntnis. Und dann erlebt er ineiner neuen Fähigkeit, in der Fähigkeit der Inspiration,daß ihm nicht nur das Fünkchen im Inneren erscheint,sondern daß es sich ihm erhellt zu einer mächtig flam-menden Erkenntniskraft, durch die er etwas erlebt, wassich zeigt als völlig verwandt und doch völlig unabhän-gig von seinem Inneren. Denn er hat ja seine Tätigkeitnicht so belauscht, wie sie nur als eine innerliche ist,sondern als eine solche, die er an einem Äußeren geübthat. So ist selbst hier in diesem mystischen Rest dasjeni-ge vorhanden, was bloß eine Erkenntnis des Inneren istund doch eine Erkenntnis von dem, was mit der Außen-welt zusammenhängt.

Jetzt kommt eine Arbeit, die entgegengesetzt ist derArbeit des Mystikers. Da müssen wir etwas tun, was dergewöhnlichen Naturwissenschaft ähnlich ist, wir müssenhinausgehen in die Außenwelt. Das letztere ist dasSchwierige dabei, ist aber erforderlich, wenn die intuitiveErkenntnis zustande kommen soll. Hier muß derMensch die Aufmerksamkeit von seiner eigenen Tätig-keit abwenden, er muß vergessen, was er getan hat, umdas Rosenkreuz zustande zu bringen. Wenn er aberGeduld hat, wenn er seine Übungen lange genug undrichtig ausführt, so wird er sehen, daß ihm etwas zu-rückbleibt, von dem er ganz gewiß weiß, daß es vonseinem eigenen inneren Erlebnis absolut unabhängig ist,nicht subjektiv gefärbt ist, sondern ihn hinaufführt zuetwas, was von seiner subjektiven Persönlichkeit unab-hängig ist, was aber durch seine objektive Wesenheitzeigt, daß es gleich ist dem, was das Zentrum desmenschlichen Wesens, des menschlichen Ich ist. In derintuitiven Erkenntnis gehen wir, um sie zu erreichen, aus

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uns heraus und kommen doch zu etwas, was unseremeigenen inneren Wesen gleich ist. So steigen wir auf vondem, was wir im Innern erleben, zu dem Geistigen, daswir jetzt nicht im Inneren, sondern in der Außenwelterleben.

Im ersten, in der imaginativen Erkenntnis, macht derMensch etwas, was sowohl Mystik ist wie Monadologie,was ihn erhebt über die Mystik wie über die Monado-logie. In der inspirierten Erkenntnis tut er einen Schrittauf einer höheren Stufe, den der Mystiker, der sich alsMensch läßt, so wie er ist, unten macht. In der intuitivenErkenntnis tut der Geistesschüler einen Schritt, der ihnauf einer richtigen Stufe, nicht unmittelbar so wie er ist,in die Außenwelt hinausführt. So werden wir geradedasjenige, was die Schattenseiten sowohl der Monado-logie wie der gewöhnlichen Mystik sind, bei der geistes-wissenschaftlichen Forschung, beim Aufsteigen in Imagi-nation, Inspiration und Intuition überwinden.

Und jetzt können wir uns auf die Frage: Was istMystik? - eine Antwort geben. Es ist ein Unternehmender menschlichen Seele, durch Vertiefung in das eigeneInnere den göttlich-geistigen Quell des Daseins zu fin-den. Im Grunde genommen muß auch geisteswissen-schaftliche Erkenntnis diesen mystischen Weg machen.Klar ist sie sich aber, daß sie ihn nicht zu früh machendarf, daß sie erst die Vorbereitungen treffen muß, umihn in der Seele machen zu dürfen. So können wir sagen:Mystik ist ein solches Unternehmen, das einem berech-tigten Impuls und Drang der menschlichen Seele ent-springt, etwas formal durchaus Richtiges; das nur dannvon der menschlichen Seele zu früh unternommen wird,wenn diese menschliche Seele nicht zuerst Fortschrittezu machen versucht hat in der imaginativen Erkenntnis.

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Wenn man das gewöhnliche menschliche Leben vertiefenwill in der Mystik, so liegt die Gefahr vor, daß man sichnicht tief genug von sich frei und unabhängig gemachthat, um etwas anderes als ein individuell gefärbtes Bildder Welt zu liefern. Wenn man aber zur imaginativenErkenntnis aufgestiegen ist, dann hat man sein Inneresausgegossen in etwas, was man der Außenwelt entnom-men hat; da hat man sich das Recht erworben, auch einMystiker sein zu dürfen. Alle Mystik sollte daher auf derrichtigen Entwickelungsstufe des Menschen unter-nommen werden. Die Schäden der Mystik treten dannhervor, wenn der Mensch zu früh dasjenige tun will, wasder mystischen Erkenntnis zugrunde liegt.

So dürfen wir sagen: In dem, was als berechtigteMystik vorliegt, haben wir für die Geisteswissenschafteine Etappe, um gerade dasjenige genau verstehen zulernen, was das wirkliche Ziel und die Intention dergeisteswissenschaftlichen Forschung ist. Kaum durch ir-gend etwas kann man so viel lernen über das Ziel unddie Intentionen der geistigen Forschung als durch diehingebende Betrachtung der Mystiker. Man kann sichhinaufringen an den Mystikern zu den Erkenntnissender geistigen Forschung. Man darf nur nicht glauben,daß der wahre Geistesforscher, wenn er etwas als berech-tigt mit Mystik bezeichnet zu werden anerkennt, dannalle Entwickelung leugnet. Gerade so erscheint Mystikdem Geistesforscher als etwas Berechtigtes; es muß je-doch hinaufgestiegen werden bis zu einem gewissenGrade der Entwickelung, wenn ihre Methoden nicht zusubjektiven Ergebnissen, sondern zu solchen führen sol-len, die nun als wirkliche Wahrheit über die geistigeWelt gelten können. So kann man schließlich sagen, daßdie Frage: Was ist Mystik? - damit beantwortet werden

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kann, daß Mystik ein Unternehmen der menschlichenSeele ist, das innerhalb der Entwickelung der mensch-lichen Seele oftmals zu früh vollführt wird. Dannbraucht nicht viel gesagt zu werden über Gefahren, dieeine verfrühte mystische Vertiefung im Menschen her-vorrufen kann. Die verfrühte mystische Vertiefung istein Gang in die Tiefe der menschlichen Seele, bevor derMensch Anstalt dazu gemacht hat, daß sein Inneresverwächst mit der Außenwelt. Damit schließt er sich oftunberechtigterweise von der Außenwelt ab. Das kannaber im Grunde genommen nur ein raffinierter undverfeinerter Egoismus sein. Das ist auch bei vielen My-stikern so, wenn sie die Aufmerksamkeit abwenden vonder Außenwelt und sich ergehen in inneren Entzük-kungen und Beseligungen, Erhebungen und Befreiungen,die sie in ihrem Innenleben haben in jener goldenenStimmung, welche sich über die Seele ausgießen kann,wenn sie so recht in ihrem Inneren schwelgt. DieserEgoismus aber kann überwunden werden, wenn das Ichgezwungen ist, zunächst aus sich herauszugehen, undseine Tätigkeit an der Bildung der Symbole in die Au-ßenwelt fließen läßt. Daher wird eine Symbolik derimaginativen Erkenntnis zu einer Wahrheit führen, wel-che den egoistischen Charakter von sich abstreift. Daßder Mensch ein Sonderling oder ein verfeinerter Egoistauf einer höheren Stufe werden kann, das ist die Gefahr,die zuletzt den Mystiker treffen kann, die vorhandensein kann, wenn auf einer zu wenig entwickelten Stufeein mystisches Erkenntnisstreben unternommen wird.Mystik ist berechtigt, und wahr ist es, was AngelusSilesius gesagt hat:

Wann du dich über dich erhebst und Gott läßt wal-ten, / Dann wird in deinem Geist die Himmelfahrt ge-

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halten. - Wahr ist es, durch die Entwickelung der Seelegelangt der Mensch nicht nur in sein Inneres, sondernauch in die geistigen Reiche, die der Außenwelt zugrun-de liegen. In vollkommenem Ernste aber muß er dasErheben über sich selbst nehmen, und er darf das Hin-ausgehen über sich selbst nicht verwechseln mit einembloßen Hineinbrüten in das Selbst, wie es schon imMenschen ist. Wir müssen voll ernst nehmen den erstenTeil des Satzes: «Wann du dich über dich erhebst», undauch vollen Ernst machen mit dem zweiten Teil desSatzes: «und Gott läßt walten». Den lassen wir abernicht walten, wenn wir uns zurückziehen von irgend-einer Seite der göttlichen Offenbarung, sondern wennwir vereinigen Inneres und Äußeres als zwei Seiten dergöttlich-geistigen Offenbarungen. Wir lassen nicht denGott wahrhaft walten, wenn wir uns nur zurückziehenvon der Außenwelt, sondern wir lassen ihn walten, wennwir unser Inneres opfern können dem, was uns alsOffenbarung der Außenwelt entgegenfließen kann.Wenn wir diese Gesinnung hegen in bezug auf unseregeisteswissenschaftliche Erkenntnis, dann nehmen wirauch in der richtigen Weise den zweiten Satz des Ange-lus Silesius: Wir lassen den geistig-göttlichen Grund derAußen- und Innenwelt in uns walten; und dann erstkönnen wir hoffen, daß auch der dritte Teil uns sicherfüllt, daß wir erhoben werden durch eine Himmel-fahrt, das heißt, zu einem geistigen Reiche kommen, dasweder von unserer Innen-, noch von der Außenweltgefärbt ist, sondern das gleichen Grundes ist mit all dem,was uns die unendliche Sternenwelt leuchtend von außenentgegenstrahlt, was Luftkreis unsere Erde umgibt,was als Pflanze grünt, was als Wesen die Flüsse durch-lebt und die Meere ausfüllt; was aber zu gleicher Zeit als

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Göttlich-Geistiges lebt, wenn wir denken und sinnen,fühlen und wollen über die Welt, was im Äußeren undim Inneren Göttlich-Geistiges ist. So sehen wir insbe-sondere an einem solchen Beispiele, daß es nicht genü-gend ist, daß wir einen Satz wie den des Angelus Sileshishinnehmen, sondern daß wir diesen Satz auf der richti-gen Stufe, wo er einzig und allein allseitig und wahr vonuns verstanden wird, in uns aufnehmen. Dann werdenwir sehen, daß Mystik uns, weil sie den richtigen Kernenthält, wirklich dahin führt, wo wir reif sind, diegeistigen Reiche allmählich zu schauen, und daß Mystikim höchsten und wahrsten Sinne dasjenige in uns ver-wirklichen kann, was in diesem schönen Satze des Ange-lus Silesius gesucht und entdeckt werden kann:

Wenn du dich über dich selbst erhebst und wahrhaftigden göttlich-geistigen Weltengrund in dir läßt walten:dann wird in dir die Himmelfahrt zu den göttlich-gei-stigen Urgründen des Daseins gehalten.

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DAS WESEN DES GEBETES

Berlin, 17. Februar 1910

In dem Vortrage «Was ist Mystik?» wurde hier vor achtTagen von jener besonderen Art mystischer Versenkunggesprochen, die im Mittelalter in der Zeit von MeisterEckbart angefangen bis zu Angelus Silesms hervorge-treten ist. Diese besondere Art mystischer Versenkungwurde dadurch charakterisiert, daß der Mystiker ver-sucht, frei und unabhängig zu werden von all jenenErlebnissen, die durch die äußere Welt in unserer Seeleangeregt werden, und daß er versucht vorzudringen zujener Erfahrung, zu jenem Erlebnis, das ihm zeigt: wennauch alles aus unserer Seele, was den gewöhnlichenEreignissen des Tages entstammt, ausgelöscht wird, undsozusagen die Seele sich in sich selbst zurückzieht, sobleibt innerhalb dieser menschlichen Seele eine Welt fürsich, eine Welt, die ja immer da ist, die nur überleuchtetwird von den sonst so mächtig und gewaltig auf denMenschen wirkenden äußeren Erlebnissen, und die des-halb zunächst nur als ein schwaches Licht erscheint; alsein so schwaches Licht, daß sie wohl von vielen Men-schen gar nicht beachtet wird. Darum nennt der Mysti-ker diese innere Seelenwelt zunächst das «Fünklein».Aber er ist sich klar, daß dieses unscheinbare Fünkleinseiner Seelenerlebnisse angefacht werden kann zu einermächtigen Flamme, die dann erleuchtet die Quellen undUntergründe des Daseins; mit anderen Worten: die denMenschen auf dem Wege in die eigene Seele hinführt zuder Erkenntnis seines eigenen Ursprunges, was man jawohl «Gott-Erkenntnis» nennen kann.

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Weiter ist in jenem Vortrag darauf hingewiesen wor-den, wie die Mystiker des Mittelalters zunächst davonausgingen, daß dieses Fünklein sozusagen durch sichselbst, so wie es ist, wachsen müsse. Im Gegensatz dazuwurde hervorgehoben, wie dasjenige, was man heute«Geistesforschung» nennt, auf Entwickelung, auf bewuß-te und in den menschlichen Willen gestellte Entwicke-lung dieser inneren Seelenkräfte ausgeht und zu höherenArten der Erkenntnis hinaufsteigt, wie wir sie bezeichnethaben als imaginative, als inspirierte und als intuitiveErkenntnis. So erschien uns jene mittelalterliche mysti-sche Versenkung wie der Ausgangspunkt der wahrenhöheren Geistesforschung, welche den Geist zwar zu-nächst durch Entwickelung des Innern sucht, welcheaber gerade durch die Art und Weise, wie sie ihreeigenen Wege einschlägt, über dieses Innere hinausge-führt wird; und hinausgeführt wird zu dem, was alsQuellen und Untergründe des Daseins allen Erschei-nungen und Tatsachen zugrunde liegt, und zu denen wirja mit unserer Seele selbst gehören. So erschien uns jeneMystik des Mittelalters wie eine Art Vorstufe zur wah-ren Geistesforschung. Und wer den Sinn hat, sich in dieInnigkeit eines Meisters Eckhart zu vertiefen, wer denSinn hat, zu erkennen, welche unermeßliche Kraft derspirituellen Erkenntnis jene mystische Versenkung demJohannes Tauler gebracht hat; wer einen Sinn hat zusehen, wie tief in die Geheimnisse des Daseins späterValentin Weigel oder Jakob Böhme hineingeführt wur-den durch alles, was sie aus solcher mystischen Versen-kung gewinnen konnten - indem sie allerdings darüberhinausgehen -; wer einen Sinn hat zu verstehen, was einAngelus Silesius geworden ist gerade durch solche mysti-sche Versenkung, wie er imstande war, nicht nur in

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leuchtender Einsicht in die großen Gesetze der geisti-gen Weltordnung hinein zu schauen, sondern was dieserAngelus Silesius auch an hinreißender, erwärmenderSchönheit geleistet hat in bezug auf die Aussprüche, dieer tun durfte über die Weltengeheimnisse: wer das alleserkennt, wird ermessen, welche Kraft der Innerlichkeitder Menschennatur in dieser mittelalterlichen Mystikliegt, und welche unendliche Hilfe aus dieser Mystikdemjenigen werden kann, der die Wege der Geistesfor-schung selber gehen will. So erscheint uns - gerade mitRücksicht auf jenen Vortrag vor acht Tagen - die mittel-alterliche Mystik wie die große, wunderbare Vorschuleder Geistesforschung. Und wie sollte das auch anderssein? Will denn der Geistesforscher etwas anderes, alsjenes Fünklein, von dem die Mystiker gesprochen, durchseine eigenen inneren Kräfte zur Entfaltung bringen? Erunterscheidet sich ja von den Mystikern nur dadurch,daß sie glaubten, in ruhiger Seele sich hingeben zudürfen jenem kleinen leuchtenden Fünklein, damit esvon selber anfange, immer herrlicher zu brennen und zuleuchten; während der Geistesforscher sich klar ist, daßder Mensch seine Fähigkeiten und Kräfte, die von derWeisheit der Welt in seinen Willen gestellt sind, anwen-den muß auf die Vergrößerung jenes Fünkchens.

Wenn so die mystische Stimmung eine gute Vorbe-reitung ist und überall hinweist auf Geistesforschung, sodürfen wir andererseits wiederum sagen: Eine Vorbe-reitung, eine Vorstufe zu jener mystischen Versenkung,wie sie in der Zeit des Mittelalters hervorgetreten ist, istdiejenige Seelentätigkeit, welche uns heute etwas genauerbeschäftigen soll, und die man im wahren Sinne dasGebet nennen kann. Und man könnte sagen: Wie derMystiker fähig wird zu seiner Versenkung dadurch, daß

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er schon in einer gewissen Weise - vielleicht unbewußt,aber doch - gearbeitet hat an seiner Seele, daß er schoneine Stimmung mitbringt zur mystischen Versenkung, sowird derjenige, der hinarbeiten will zu dieser mystischenVersenkung, welcher Wege gehen will, die zuletzt indiese mystische Versenkung einmünden können, eineVorstufe finden können in dem wahren Gebet.

Allerdings durch die Entwickelung der letzten Jahr-hunderte in geistiger Beziehung ist das Wesen des Gebe-tes in der mannigfaltigsten Weise von dieser oder jenerGeistesströmung verkannt worden. Daher wird es heutenicht leicht sein, zu dem wahren Wesen des Gebetesvorzudringen. Wenn wir bedenken, daß mit aller geisti-gen Entwickelung der letzten Jahrhunderte ja verknüpftwar etwas, was man nennen könnte ein Hervortretennamentlich egoistischer Geistesströmungen, von denenweite Kreise ergriffen worden sind, so wird es nichtverwunderlich sein, daß gerade das Gebet mit hineinge-zogen worden ist in die egoistischen Wünsche, in dieegoistischen Begierden der Menschen. Und man darfwohl sagen: Kaum ist durch etwas anderes das Gebetmehr mißzuverstehen als durch das Durchtränktsein mitirgendeiner Form des Egoismus. In diesem Vortrage sollversucht werden, das Gebet ganz unabhängig von ir-gendeiner Partei- oder sonstigen Richtung, rein aus dengeisteswissenschaftlichen Voraussetzungen heraus zu un-tersuchen.

Wenn man das Gebet kennenlernen will - das sei nurzu einer vorläufigen Verständigung gesagt -, so könnteman sagen: Während der Mystiker voraussetzt, daß er inseiner Seele irgendein kleines Fünkchen finden werde,das dann weiter leuchten und weiter brennen kann durchseine mystische Versenkung, so will der Betende gerade

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jenes Fünkchen, jenes selbsteigene Seelenleben erst er-zeugen. Und das Gebet, aus welchen Voraussetzungenheraus es auch auftrete, erweist sich dadurch gerade inseiner Wirksamkeit, daß es die Seele anregt, jenes Fünk-chen des Mystikers allmählich entweder aufzufinden,wenn es da ist und, verborgen zwar, in der Seele leuch-tet, oder aber es selbst zum Aufleuchten zu bringen.Wenn wir das Bedürfnis nach Gebet, das Wesen desGebetes untersuchen wollen, müssen wir aber eingehenauf eine Charakteristik der menschlichen Seele in ihrenTiefen, von denen wir ja in einem der vorhergehendenVorträge sagten, daß auf sie so recht anwendbar ist derSpruch des alten griechischen Weisen Heraklit: DerSeele Grenzen wirst du niemals finden, und wenn duauch alle Straßen durchliefest; so weit ist das, was sie mitihren Geheimnissen umschließt. Und wenn auch derBetende zunächst nur auf der Suche ist nach den Ge-heimnissen der Seele, so darf man doch sagen: Aus jenenStimmungen intimster Art heraus, welche durch dasGebet angeregt werden können, erahnt selbst der naivsteMensch etwas von den unendlichen Weiten des Seelenle-bens. Wir müssen diese Seele, wie sie in uns lebt und unslebendig vorwärts bringt, in ihrer Entwickelung einmalin folgender Weise erfassen:

Wir müssen uns klar werden, daß so etwas, was wiedie Seele in lebendiger Entwickelung lebt, nicht nur vonder Vergangenheit kommt und in die Zukunft weiter-schreitet, sondern daß sie in jedem Augenblick ihresgegenwärtigen Lebens etwas in sich trägt von der Ver-gangenheit — und sogar in gewisser Weise etwas von derZukunft. In den Augenblick, den wir die Gegenwartnennen, erstrecken sich hinein, insbesondere für dasSeelenleben, die Wirkungen von der Vergangenheit und

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die Wirkungen, die wie aus der Zukunft uns entgegen-eilen. Demjenigen, der tiefer hineinblickt in das Seelen-leben, wird es schon so vorkommen können, als ob inder Menschenseele zwei Strömungen sich fortwährendbegegneten: eine Strömung, die aus der Vergangenheitsich herauflebt, aber auch eine Strömung, die aus derZukunft uns entgegenkommt. Es mag sein, daß man esfür andere Gebiete des Lebens als eine Träumerei undPhantasterei zunächst findet, wenn man von einem Her-aneilen der Ereignisse aus der Zukunft spricht. Denn esist ja leicht, wenn auch trivial, zu sagen: Was zukünftiggeschieht, ist eben noch nicht da; daher können wirnicht sagen, daß das, was morgen geschehen werde, uns«entgegeneilt», während wir sehr wohl sagen können:was in der Vergangenheit geschehen ist, erstreckt seineWirkungen in die Gegenwart herein. - Für das letztereist es natürlich sehr leicht, Begründung über Begrün-dung zu finden. Wer wollte denn hinwegleugnen, daßunser Leben von heute das Ergebnis unseres Lebens vongestern ist? Wer möchte leugnen, daß wir heute unterder Wirkung unseres Fleißes oder unserer Lässigkeit vongestern oder vorgestern stehen? Das Hereinragen derVergangenheit in unser Seelenleben wird niemand leug-nen. Aber ebensowenig sollte die Realität des Zukünf-tigen geleugnet werden, wenn wir in der Seele selber dieWirklichkeit eines solchen Hereintretens der Zukunftser-eignisse, bevor sie da sind, sehen. Oder gibt es dennnicht so etwas wie Angst vor irgend etwas, was wirmorgen erwarten, oder Furcht vor irgend etwas, wasmorgen geschehen kann? Ist denn das nicht etwas wieein Fühlen, ein Empfinden, das wir einer, wenn auch füruns unbekannten Zukunft entgegensenden? In jedemMoment, wo sich die Seele fürchtet und ängstet, beweist

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sie durch die Realität ihrer Gefühle und Empfindungen,daß sie nicht nur mit den Wirkungen der Vergangenheitrechnet, sondern daß sie in sich selber lebensvoll rechnetmit dem, was aus der Zukunft in sie hineineilt. Das seiennur einzelne Andeutungen. Wer das Seelenleben ausmes-sen will, wird Zahlreiches finden, das vielleicht wider-spricht den Abstraktionen des Verstandes, die da sagen:das Zukünftige ist noch nicht da; es kann deshalb nochnicht wirken, das sich aber in seiner lebendigen Realitätzeigt, wenn wir auf das unmittelbare Seelenleben ebenhinblicken.

In unserer Seele fließen zwei Ströme gleichsam zu-sammen von der Vergangenheit und von der Zukunftund bilden dort - wer wollte das leugnen, wenn er sichselber beobachtet? - etwas wie einen «Wirbel», ganzähnlich wie beim Zusammenfluß von zwei Strömendraußen. Wenn wir nun dasjenige genauer betrachten,was aus der Vergangenheit hereinlebt in unsere Seele, damüssen wir sagen: Unter dem Eindrucke des in derVergangenheit Erlebten ist unsere Seele geworden. Wiewir die Erlebnisse der Vergangenheit angewendet haben,so sind wir heute, und wir tragen das Vermächtnisunserer Taten, unseres Fühlens und Denkens aus derVergangenheit in unserer Seele. Wir sind so, wie wirgeworden sind. Wenn wir nun zurückblicken wollenvon unserem heutigen Standpunkt auf unsere früherenErlebnisse, namentlich auf jene Erlebnisse, an derenZustandekommen und Verwertung für unsere Seele wirselber beteiligt waren, wenn wir also die Erinnerungschweifen lassen in die Vergangenheit, werden wir garoft, wenn wir Einkehr halten in uns, auch zu einemUrteil über uns selber kommen und uns sagen: Jetzt sindwir so; und so, wie wir sind, sind wir imstande, zu

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manchem, was in unserer Vergangenheit sich abgespielthat, durch uns selbst nicht «Ja» zu sagen; wir sind fähiggeworden, jetzt mit manchem nicht einverstanden zusein, vielleicht mancher Tat der Vergangenheit uns sogarzu schämen. Wenn wir so unsere Gegenwart an unsereVergangenheit anreihen, dann wird uns ein Gefühl vondem überschleichen, was wir so nennen können: Oh, esist etwas in uns, was unendlich viel reicher, unendlichviel bedeutsamer ist als das, was wir durch unsernWillen, durch unser Bewußtsein, durch unsere indivi-duellen Kräfte aus uns gemacht haben! Denn gäbe esnicht in uns etwas, was hinausragt über das, was wir ausuns gemacht haben, so könnten wir uns auch nichtselber tadeln, auch uns nicht selber erkennen. Wir müs-sen sagen: In uns lebt etwas, was größer ist als das, waswir bisher an uns selber ausgenützt haben! Wenn wir einsolches Urteil in ein Gefühl verwandeln, dann werdenwir hinschauen auf das uns Bekannte, das wir in unsernvergangenen Taten und Erlebnissen beobachten können;und das klar vor uns liegen kann - so klar als eben dieErinnerung möglich ist -, und wir werden dieses Klare,Offenliegende vergleichen können mit etwas in uns, wasgrößer ist als das Offenliegende, mit etwas in der Seele,was sich herausarbeiten will, was uns anleitet, uns überuns selbst zu stellen und uns zu beurteilen auf demStandpunkte der Gegenwart. Kurz, wir werden etwas inuns ahnen, was über uns selber hinausragt, wenn wirjenen Strom ansehen, der aus der Vergangenheit in dieSeele fließt. Und diese Ahnung eines Größeren in unsselber ist im Grunde das erste Aufleuchten des innerenGottesgefühles in der Seele; ein Gefühl davon, daß inuns selber etwas lebt, was größer ist als alles, waszunächst in unsere Willkür gestellt ist, und das bewirkt,

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daß das Gottesgefühl in uns erwacht, daß wir hinschau-en auf etwas, was uns über unser engbegrenztes Ichhinausführt zu einem geistig-göttlichen Ich. So sprichteine in das Gefühl, in die Empfindung verwandelteBetrachtung der Vergangenheit.

Wie spricht nun das, was wir das Hineinfließen desZukunftsstromes in die Seele nennen können, wenn wires in ein Gefühl, in eine Empfindung verwandeln?

Das spricht noch deutlicher und noch wesentlicher zuuns. Während beim Zurückblicken in die Ereignisse derVergangenheit sich unsere Empfindung und unser Ge-fühl wie ein abweisendes Urteil, wie Reue, wie Schamvielleicht geltend macht, so stehen der Zukunft gegen-über von vornherein die Empfindungen und Gefühle davon Angst und Furcht, von Hoffnung, von Freude. Aberdiesen Gefühlen gegenüber steht zunächst für den Men-schen der Strom der Ereignisse noch nicht selber da; erdurchschaut ihn noch nicht. Er kann hier leichter sogarden Begriff, die Idee in ein Gefühl verwandeln, als imersten Falle. Denn das tut die Seele selber. Weil sie unsder Zukunft gegenüber nur die Gefühle der Wirklichkeitgibt, so stehen unsere Gefühle und Empfindungen derZukunft da wie etwas, was sich herausgebiert aus einemunbekannten Strom, von dem wir wissen: er kann sooder so auf uns wirken, er kann uns das oder jenesgewähren. Wenn wir nun dies in die richtige Empfin-dung verwandeln, was aus dem dunklen Schoß der Zu-kunft mit Sicherheit uns entgegenkommt, und wenn wirfühlen, wie es hereinströmt in unsere Seele, und wie sichihm entgegenstellen unsere Empfindungswelten, dannfühlen wir, wie unsere Seele immer von neuem sichentzündet an den Erlebnissen, die uns aus der Zukunftentgegenkommen. Wir fühlen hier erst recht, wie unsere

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Seele reicher, umfassender werden kann als sie ist; wirfühlen unsere Seele schon in der Gegenwart so, daß siesicher in der Zukunft einen unendlich reicheren undmächtigeren Inhalt umfassen wird. Wir fühlen uns schonverwandt mit dem, was uns aus der Zukunft entgegen-kommt, müssen uns damit verwandt fühlen. Wir müssenunsere Seele gewachsen fühlen dem ganzen Inhalt, denihr die Zukunft noch geben kann.

Betrachten wir so Vergangenheit und Zukunft in demHereinströmen in die Gegenwart, dann zeigt sich uns,wie das Seelenleben über sich selber ahnend hinaus-wächst. Wir werden es daher begreiflich finden, wenndie Seele, zurückblickend auf die Vergangenheit, gewahrwird jenes Bedeutungsvolle, das in sie hineinspielt, unddem sie nicht gewachsen ist; daß sie entfalten kann eineStimmung, eine Grundempfindung gegenüber dem, wassich so als Ergebnis der Vergangenheit zeigt. Wenn sodie Seele - sei es im Urteil oder in Reue und Scham übersich selber - das Mächtige im Strom aus der Vergan-genheit in sich hineinfließen fühlt, dann erzeugt sich das,was man nennen könnte die Andacht gegenüber demGöttlichen, das uns aus der Vergangenheit anschaut.Und diese Andacht gegenüber dem Göttlichen, das unsaus der Vergangenheit anschaut, das wir ahnen könnenals etwas, was auf uns wirkt, dem wir aber mit unsermBewußtsein nicht gewachsen sind, erzeugt die eine Ge-betsstimmung - denn es gibt zwei Gebetsstimmungen -;jene Gebetsstimmung, die wir bezeichnen können alsdiejenige, welche zur Gottinnigkeit führt. Denn waswird die Seele wollen können, wenn sie still und intimsich diesen Empfindungen und Gefühlen gegenüber sol-cher Vergangenheit hingibt? Sie wird wollen können,daß das Mächtigere, das sie unbenutzt gelassen hat, das

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sie mit ihrem Ich nicht durchdrungen hat, in ihr gegen-wärtig werde. Die Seele wird sich sagen können: Wäredieses Mächtigere in mir, dann wäre ich heute eineandere; es hat in mir nicht gelebt, es war in mir nichtgegenwärtig. Das Göttliche, was ich ahne, war nichtetwas, was zu meinem Innenleben gehörte; deshalb habeich mich nicht so gemacht, daß ich zu mir selber heuteganz «Ja» sagen kann. - Wenn die Seele so empfindet,überkommt sie jene Stimmung, durch die sie sich sagt:Wie kann ich in diese Seele hereinbekommen, was inallen meinen Taten und Erlebnissen zwar gelebt hat, wasaber mir unbekannt war? Wie kann ich -hereinziehendieses Unbekannte, von meinem Ich nicht Erfaßte?Wenn diese Stimmung in der Seele sich auslebt, sei esdurch ein Gefühl, durch ein Wort oder eine Idee, dannhaben wir das Gebet gegenüber der Vergangenheit.Dann suchen wir uns auf einem Wege dem Göttlichenandächtig zu nähern.

Demjenigen, was wir charakterisieren konnten als ausdem Strome der unbekannten Zukunft uns das Gött-liche leuchten lassend, dem gegenüber gibt es nun eineandere Stimmung. Und wenn wir sie vergleichen wollenmit der eben charakterisierten, dann fragen wir uns nocheinmal: Was führt uns zur Gebetsstimmung gegenüberder Vergangenheit? Daß wir unvollkommen geblie-ben sind, trotzdem wir ahnen können, daß ein Gött-liches in uns hineinleuchtet; daß wir nicht alle Fähigkei-ten, nicht alle Kräfte entwickelt haben, die aus diesemGöttlichen fließen können; unsere Mängel, was uns ge-ringer macht, als das Göttliche ist, das in uns hineinleuch-tet: das führt uns zur Gebetsstimmung gegenüber derVergangenheit. Was macht uns aus der Zukunft hereinin einer ähnlichen Weise mangelhaft? Was hemmt aus

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der Zukunft unsere Entwickelung, unseren Aufstiegzum Geistigen?

Da brauchen wir nur daran zu denken, daß geradejene Gefühle und Empfindungen, die wir schon nennenkonnten, fressen an unserem Seelenleben: Angst undFurcht vor dem Unbekannten der Zukunft. Gibt es aberetwas, was in die Seele sich ergießen kann als Kraft derSicherheit gegenüber dem Zukünftigen? -Ja, das gibt es.Richtig wird es aber in der Seele nur wirken, wenn es alsGebetsstimmung auftritt. Und das ist das, was mannennen kann das Ergebenheitsgefühl gegenüber dem,was aus dem dunklen Schoß der Zukunft in unsere Seeleeintritt. Mißverstehen wir uns auf diesem Gebiete nicht.Es wird hier nicht etwa dem ein Loblied gesprochen,was man von da und dorther als Ergebenheit bezeichnenkann, sondern es wird eine ganz bestimmte Art vonErgebenheit charakterisiert: Ergebenheit gegenüber dem,was uns die Zukunft bringen kann. Wer ängstlich undfurchtsam hinblickt auf das, was ihm die Zukunft brin-gen kann, der hindert seine Entwickelung, hemmt diefreie Entfaltung seiner Seelenkräfte. Nichts ist eigentlichdieser freien Entfaltung der Seelenkräfte so hinderlich alsdie Furcht und Angst vor dem Unbekannten, das ausdem Strome der Zukunft in die Seele hereintritt. Was dieErgebenheit gegenüber der Zukunft bringen kann, dar-über kann eigentlich nur die Erfahrung urteilen. Was istErgebenheit gegenüber den Zukunftsereignissen?

In ihrer idealen Gestalt wäre diese Ergebenheit jeneSeelenstimmung, die sich immer sagen könnte: Was auchkommt, was mir auch die nächste Stunde, der nächsteMorgen bringen mag, ich kann es zunächst, wenn es mirganz unbekannt ist, durch keine Furcht und Angst än-

dern. Ich erwarte es mit vollkommenster innerer Seelen-

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ruhe, mit vollkommener Meeresstille des Gemütes! JeneErfahrung, die sich aus einem solchen Ergebenheitsge-fühl gegenüber den Zukunftsereignissen ergibt, geht da-hin, daß derjenige, der so gelassen, mit vollständigerMeeresstille des Gemütes der Zukunft entgegenlebenkann und dennoch seine Energie, seine Tatkraft in keinerWeise darunter leiden läßt, die Kräfte seiner Seele in derintensivsten Weise, in der freiesten Art zu entfaltenvermag. Es ist, wie wenn gleichsam Hemmnis nachHemmnis von der Seele fiele, wenn sie immer mehr undmehr jene Stimmung überkommt, die jetzt als «Ergeben-heit» charakterisiert worden ist gegenüber den aus derZukunft uns zuströmenden Ereignissen.

Dieses Ergebenheitsgefühl kann sich die Seele nichtauf einen Machtspruch geben, nicht durch eine aus demNichts hervorgeholte Willkür. Dieses Ergebenheitsge-fühl ist das Resultat dessen, was man die andere Gebets-stimmung nennen kann, jene Gebetsstimmung, welchesich richtet an die Zukunft und ihren von Weisheitdurchdrungenen Lauf der Ereignisse. Hingabe an das,was man göttliche Weisheit in den Ereignissen nennt;hervorrufen in sich selber immer wieder den Gedanken,die Empfindung, den Impuls des Gemütslebens, daß das,was da kommen werde, sein muß, und daß es nachirgendeiner Richtung seine guten Wirkungen haben müs-se: das Hervorrufen dieser Stimmung in der Seele unddas Ausleben dieser Stimmung in Worten, in Empfin-dungen, in Ideen, das ist die zweite Art der Gebetsstim-mung, die Stimmung des Ergebenheitsgebetes.

Aus diesen Stimmungen der Seele müssen hervorge-holt werden die Impulse zu dem, was man Gebet nennt.Denn in der Seele selber sind die Antriebe gegeben, undim Grunde kommt Gebetsstimmung in eine jede Seele,

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die sich nur ein wenig erhebt über die unmittelbareGegenwart. Gebetsstimmung, könnte man sagen, ist dasHinaufblicken der Seele aus dem zeitlich vorüberge-henden Gegenwärtigen in das Ewige, das Vergangenheit,Gegenwart und Zukunft umschließt. Aus dem Grunde,weil für den Menschen dieses Hinausblicken und Hinaus-leben aus dem Augenblick der Gegenwart so notwendigist, läßt Goethe seinen Faust das große, bedeutsameWort zu Mephistopheles sprechen:

Werd' ich zum Augenblicke sagen:Verweile doch! du bist so schön!

das heißt: könnte ich mich je mit einem Leben imbloßen Augenblicke begnügen -

Dann magst du mich in Fesseln schlagen,Dann will ich gern zu Grunde gehn!

Man könnte also auch sagen: Es ist Gebetsstimmung, diesich Faust erfleht, um aus den Fesseln des Gesellen, desMephistopheles, herauszukommen.

Gebetsstimmung führt uns also auf der einen Seite zurBetrachtung unseres engbegrenzten Ich, das aus derVergangenheit herauf in die Gegenwart gearbeitet hat,und das, wenn wir es ansehen, uns klar zeigt, wieunendlich mehr in uns ist, als wir benutzt haben; undauf der andern Seite führt uns diese Betrachtung in dieZukunft und zeigt uns, wie aus dem unbekannten Schoßder Zukunft unendlich viel mehr in das Ich hineinfließenkann, als dieses Ich bereits in der Gegenwart erfaßt hat.In eine dieser zwei Stimmungen hinein ist jede Gebets-stimmung zu bringen. Wenn wir so die Stimmung desGebets erfassen und das Gebet als einen Ausdruck dieserStimmung, dann werden wir in dem Gebete selber jene

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Kraft finden, die uns über uns selbst hinausführt. Dennwas ist denn das Gebet anders, wenn es so in unsauftritt, als das Aufleuchten jener Kraft in uns, diehinaus will über das, was unser Ich in einem Augen-blicke war! Und wenn das Ich nur erfaßt wird vondiesem seinem Hinausstreben, dann lebt schon in ihmjene Kraft, die Entwickelungskraft ist. Wenn wir aus derVergangenheit lernen: Wir haben mehr in uns, als wirbenutzt haben! - da ist unser Gebet ein Aufschreien zudem Göttlichen: es möge da sein, es möge uns erfüllenmit seiner Gegenwart! Wenn wir zu dieser Erkenntnisgefühls- und empfindungsmäßig gekommen sind, dannist das Gebet Ursache der Weiterentwickelung in uns.Und wir können das Gebet dann zählen zu den Entwik-kelungskräften unseres eigenen Ich.

Ebenso können wir es halten mit der Gebets Stimmunggegenüber der Zukunft, wenn wir in Furcht und Angstdem gegenüber leben, was die Zukunft uns bringenkann. Denn da fehlt uns jene Ergebenheit, die aus demGebete strömt, das wir entgegensenden unseren Geschik-ken, die uns aus der Zukunft entgegeneilen, und vondenen wir sagten: Sie sind aus der Weisheit der Weltüber uns verhängt. Die Hingabe an diese Ergebenheits-stimmung wirkt anders, als wenn wir Furcht und Angstdem entgegensenden, was uns entgegenkommen soll.Durch Angst und Furcht wird unsere Entwickelunggehemmt; wir weisen durch die Wellen der Furcht undder Angst das zurück, was in unsere Seele aus derZukunft herein will. Aber wir nähern uns ihm in be-fruchtender Hoffnung, so daß es in uns hineinkommenkann, wenn wir ihm in Ergebenheit entgegenleben. So istdiese Ergebenheit, die uns scheinbar klein macht, einestarke Kraft, die uns der Zukunft entgegenträgt, so daß

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die Zukunft den Inhalt der Seele bereichert und unsereEntwickelung auf eine immer neue Stufe bringt.

Da haben wir das Gebet erfaßt, wie es eine wirkendeKraft in uns selber ist. Daher sehen wir in dem Gebeteine Ursache in uns, die unmittelbare Wirkungen nachsich zieht, nämlich die Vergrößerung und Entwickelungunseres Ich. Wir brauchen dann gar nicht besondereäußere Wirkungen abzuwarten; sondern wir sind unsklar: Wir haben mit dem Gebete selber etwas in unsereSeele gesenkt, das wir erleuchtende und erwärmendeKraft nennen können. Erleuchtende Kraft, weil wir dieSeele frei machen gegenüber dem, was uns aus derZukunft entgegeneilt, und sie geeignet machen, das auf-zunehmen, was uns aus dem dunklen Schoß der Zukunftwerden kann; erwärmend wirken wir auf die Seele, weilwir sagen können: Zwar haben wir in der Vergangenheitversäumt, völlig das Göttliche in unserem Ich zur Entfal-tung zu bringen; jetzt aber haben wir uns in unserenEmpfindungen und Gefühlen mit ihm durchdrungen,und es kann wirken in uns. Die Gebetsstimmung, dieuns aus dem Gefühl für die Vergangenheit kommt,erzeugt jene innere Seelenwärme, von der alle diejenigenzu erzählen wissen, welche das Gebet in seiner Wahrheitzu empfinden vermögen. Und die erleuchtende Wirkungzeigt sich bei denen, die das Ergebenheitsgefühl desGebetes kennen.

Wenn wir so das Wesen des Gebetes betrachten,werden wir uns nicht wundern, daß gerade die großenMystiker in der Hingabe an das Gebet die beste Vorschu-le fanden für das, was sie in der mystischen Versenkungdann suchten. Sie leiteten sozusagen die Stimmung ihrerSeele durch das Gebet vorher hin zu jenem Punkt, wosie dann fähig wurden, das charakterisierte «Fünklein»

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aufleuchten zu lassen. Gerade durch die Vergangenheits-betrachtung kann uns erklärlich erscheinen jene tiefeInnigkeit, jene wunderbare Intimität des Seelenlebens,die den Menschen beim wahren Gebet überkommenkann. Es ist doch das Erleben, das Erfahren in derAußenwelt, was uns uns selber entfremdet, auch ganzgenau das gleiche, das in der Vergangenheit das in unsMächtigere - unser bewußtes Ich - nicht hat aufkommenlassen. Wir waren hingegeben den äußeren Eindrücken,wir gingen auf in dem Mannigfaltigen des äußeren Le-bens, was uns zerstreut und uns nicht zur Sammlungkommen läßt. Das ist aber dasselbe, was die mächtigere,stärkere Gotteskraft in uns nicht zur Entfaltung kom-men ließ. Jetzt aber, wo wir dies in einer solchenStimmung der Gottinnigkeit in uns entfalten, fühlen wiruns in uns selber nicht hingegeben an die zerstreuendenWirkungen der Außenwelt. Das ist es, was uns mit jenerunsäglichen, wunderbaren Wärme des In-sich-Seins er-füllt wie mit einer inneren Seligkeit, was wirkliche innereGottdurchwärmung genannt werden kann. Und wie dieWärme im Kosmos es ist, welche bei den höheren Wesenals Innenwärme physisch auftritt, und dadurch aus denniederen Wesen, welche die gleiche Wärme haben wiedie Umgebung, die höheren Wesen erst gestaltet; wiediese physische Wärme das Wesen materiell in sichverinnerlicht, so ist es die durch das Gebet erzeugteSeelenwärme, die aus einem Seelenwesen, das sich in derAußenwelt verliert, ein solches macht, das sich in sichselber zusammenschließt. Wir erwarmen in dem Gott-gefühl in uns im Gebet; wir erwarmen nicht nur, wirfinden uns intim in uns selber.

Wenn wir dann auf der anderen Seite an die Dinge derAußenwelt herantreten, so erscheinen sie uns im Grunde

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genommen immer mit dem durchmischt, was man nen-nen kann «dunkler Schoß des Zukünftigen». Denn wergenauer die Dinge betrachtet, muß sich sagen: In allem,dem er entgegengeht in der Außenwelt, ist immer einZukünftiges. Überall sozusagen stößt uns etwas zurück,wenn wir Furcht und Angst vor dem haben können, wasuns treffen kann. Wie ein dichter Schleier steht dieAußenwelt vor uns. Wenn wir aber das Ergebenheits-gefühl, die Gebetsstimmung entwickeln gegenüber dem,was aus dem dunklen Schoß der Zukunft uns entgegen-tritt, dann können wir erfahren, wie wir allen Wesen derAußenwelt gegenübertreten können mit dem Gefühlderselben Sicherheit und Hoffnung, das uns aus demErgebenheitsgefühl strömt. Wir können uns dann allenDingen gegenüber sagen: Weisheit der Welt ist es, dieuns entgegenleuchten wird! Während uns sonst aus al-lem, dem wir gegenübertreten, Finsternis anstarrt, unddie Finsternis in die Empfindung hinein tritt, werden wirjetzt sehen, wie durch das Ergebenheitsgefühl in uns dieEmpfindung ersteht, daß im Grunde genommen nurdurch das, was wir in der Seele als das Höchste ersehnenund begehren können, weisheitsvoller Gehalt der Weltuns aus allem entgegenleuchten wird. - So können wirsagen: Es ist die Hoffnung auf Erleuchtung aus derganzen Umwelt, die uns wird aus der Ergebenheitsstim-mung des Gebetes. Und wie die Finsternis uns in unsselber zusammenschließt, wie die Finsternis uns Verlas-senheit und Enge schon im Physischen zeigt, wenn wirin Nachtesdunkel irgendwo stehen und Schwarzes umuns herum sich ausbreitet, so fühlen wir, wenn derMorgen kommt und das Licht uns entgegentritt, uns ausuns selber herausversetzt; aber nicht so, daß wir unsverlieren würden, sondern so, wie wenn wir unserer

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Seele bestes Wollen, unserer Seele bestes Sehnen jetzt indie Außenwelt hineintragen könnten. So fühlen wir jenesHingegebensein an die Welt, das uns uns selber entfrem-det, überwunden durch die Gebetswärme, die uns mituns selber zusammenschließt. Und wenn wir die Gebets-wärme in sich zur Entfaltung bringen bis zum Ergeben-heitsgefühl, welches das Gebet durchströmen kann, dannentzündet sich die Gebetswärme zum Gebetslicht. Wirtreten jetzt neuerdings aus uns heraus und wissen: Wennwir jetzt mit der Außenwelt uns vereinigen und dieBlicke richten auf alles, was in der Umwelt ist, dannfühlen wir uns nicht zerstreut und uns selber entfremdetin ihr; sondern dann fühlen wir, wie das, was unsererSeele Bestes ist, aus der Seele herausfließt, und fühlenuns vereint mit dem, was uns aus der Umwelt herausentgegenleuchtet.

Diese beiden Gebetsströmungen lassen sich bildlichnoch besser zum Ausdruck bringen als in Begriffen, sozum Beispiel wenn wir uns daran erinnern, was im AltenTestament von Jakob erzählt wird als jener mächtige, dieSeele durchwühlende Kampf des Jakob in der Nacht. Ererscheint uns so, wie wenn wir selber hingegeben sindder Mannigfaltigkeit der Welt, an die unsere Seele sichzunächst verliert, und die sie nicht zu sich selber kom-men läßt. Wenn das Streben sich in sich zu finden danndoch erwacht, dann kommt der Kampf unseres höherenIch gegenüber dem niederen Ich; dann wogen die Stim-mungen auf und ab; dann aber arbeiten wir uns durchgerade durch jene Gebetsstimmung, und es kommt zu-letzt jener Augenblick, der uns gezeigt wird in der Er-zählung bei Jakob dadurch, daß sich der innere nächtlicheKampf seiner Seele ausgleicht, erhellt und harmonischwird, als ihm die Morgensonne entgegenleuchtet. So wirkt

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in der Tat das wahre Gebet in der menschlichen Seele.Wenn wir so das Gebet betrachten, ist es frei von

jeglichem Aberglauben. Denn dann ist es das, was unse-rer Seele allerbestes Teil zur Entfaltung, was unmittelbarin unsere Seele eine Kraft bringt. So angesehen ist dasGebet die Vorstufe der mystischen Versenkung, wie diemystische Versenkung selber die Vorstufe ist alles des-sen, was wir Geistesforschung nennen können. Und eswird uns auch schon aus der Charakteristik des Gebeteserklärlich erscheinen, was öfter hier erwähnt worden ist:daß wir im Grunde genommen eigentlich Irrtum überIrrtum auf unsere Seele laden, wenn wir glauben, wirkönnten das Göttliche, sozusagen den Gott, mystischnur in uns selber finden. Diesen Fehler haben allerdingsMystiker und auch sonst christlich gesinnte Leute desMittelalters vielfach gemacht. Sie haben ihn gemacht,weil die Gebetsstimmung gerade während der Zeiten desMittelalters anfing sich zu durchtränken mit Egoismus;mit jenem Egoismus, durch den die Seele sich sagt: Ichwill vollkommener und immer vollkommener werdenund an nichts anderes denken als an dieses immer voll-kommener Werden. Im Grunde genommen ist es nur einNachklang jener egoistischen Sehnsucht nach bloßer in-nerer Vollkommenheit, wenn eine verkehrte theoso-phische Strömung heute davon spricht, daß der Mensch,wenn er nur absehe von allem Äußeren, den Gott in dereigenen Seele finden könne.

Wir haben ja gesehen, daß es zwei Gebetsströmungengibt: die eine führt zur Erwärmung unseres Inneren, dieandere führt im Ergebenheitsgefühl wiederum hinaus indie Welt und führt gerade zur Erleuchtung und zurwahren Erkenntnis. Wer so die Gebetsstimmung betrach-tet, wird bald sehen, daß diejenige Erkenntnis, die wir

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uns mit den gewöhnlichen Mitteln des Verstandes erar-beiten, unfruchtbar ist in gewisser Beziehung gegenübereiner anderen Erkenntnis. Wer Gebetsstimmung kennt,der kennt jene Zurückgezogenheit der Seele in sichselber, wo sie sich aus der Mannigfaltigkeit der Welt, diesie zerstreut, herauslöst, wo sie sich in sich selber sam-melt und in sich selber das erlebt, was man nennen kann:völliges In-sich-geschlossen-Sein und Bei-sich-Sein, sicherinnernd an das, was erhaben ist über den Augenblick,was aus Vergangenheit und Zukunft hereinragt in dieSeele. Wer diese Stimmung kennt, wo windstill, sinnen-still unsere ganze Umgebung wird, wo nur die schönstenGedanken und Empfindungen, deren wir fähig sind, dieSeele im Innern zusammenhalten, wo vielleicht auchdiese zuletzt schwinden und nur eine Grundempfindungin der Seele lebt, die nach zwei Seiten hinweist: nachdem Gotte, der sich aus der Vergangenheit, nach demGotte, der sich aus der Zukunft ankündigt - wer dieseStimmungen kennt und mit ihnen zu leben weiß, derweiß auch, daß es für die Seele solche großen Momentegibt, wo sie sich sagt: Ich habe jetzt einmal abgesehenvon dem, was ich bewußt durch mein Denken zustandebringen kann an Gescheitheit, habe abgesehen von dem,was ich zustande bringen kann durch meine Empfin-dungen, habe abgesehen von jenen Idealen, welche ichfassen kann durch mein Wollen, zu dem ich bishererzogen worden bin; ich habe alles aus meiner Seeleherausgefegt. Ich war hingegeben meinen höchsten Ge-danken und Empfindungen; ich habe auch diese ausmeiner Seele gefegt und nur die eben charakterisierteGrundempfindung leben lassen. Wer solche Empfin-dungen kennt, der weiß: Wie uns die Wunder der Naturentgegentreten, wenn wir das reine Auge auf die Natur

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richten, so leuchten hinein in unsere Seele neue Empfin-dungen, die wir bisher nicht gewahr werden konnten.Willensimpulse und Ideale sprießen auf in der Seele,welche uns bisher fremd waren, so daß die fruchtbarstenMomente in dieser Grundstimmung erwachen.

So kann uns das Gebet im besten Sinne des Worteseine Weisheit geben, zu der wir im gegebenen Augen-blick noch nicht fähig sind; es kann uns die Möglichkeitgeben zu einem Fühlen und Empfinden, das wir unsbisher noch nicht anerziehen konnten. Und wenn dasGebet unsere Selbsterziehung weiter führt, kann es unseine Stärke des Wollens geben, zu der wir uns bishernicht haben aufschwingen können. Wenn wir allerdingseine solche Gebetsstimmung haben wollen, dann müssenes die größten Gedanken sein, die herrlichsten Empfin-dungen und Impulse, deren wir fähig sein können, die inder Seele aufleben, damit sie eine solche Stimmung ausihr herausholen. Und da kann ja immer wieder nurhingewiesen werden auf diejenigen Gebete, die seit ural-ten Zeiten oder in den feierlichsten Momenten derMenschheit gegeben worden sind.

In meiner kleinen Schrift «Das Vaterunser» finden Sieeine Darstellung des Inhaltes, aus dem sich zeigt, daßallerdings in die «sieben Bitten» eingeschlossen ist alleWeisheit der Welt. Mögen Sie immerhin denken: Indiesem Büchlein wird von dem Vaterunser gesagt, daßnur derjenige die «sieben Bitten» dieses Gebetes verste-hen kann, der die tieferen Quellen des Weltalls kennt;der naive Mensch aber, der das Vaterunser betet, kanndoch nicht diese Tiefen ergründen! Das ist aber auchnicht notwendig. Damit das Vaterunser hat zustandekommen können, war notwendig, daß aus einer umfas-senden Weisheit der Welt in Worte geprägt worden ist,

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was man «tiefste Welten- und Menschheitsgeheimnisse»nennen kann. Weil dies aber nun im Vaterunser enthal-ten ist, deshalb wirkt es in den Worten des Vaterunsers,auch wenn man noch lange nicht die Tiefen diesesGebetes versteht. Das ist aber gerade das Geheimniseines wahren Gebetes, daß es hervorgeholt sein muß ausder Weltenweisheit. Und weil es daraus hervorgeholt ist,deshalb wirkt es, trotzdem wir es noch nicht verstehen.Wir können es verstehen, wenn wir zu den höherenStufen hinaufsteigen, zu denen Gebet und Mystik vorbe-reiten. Das Gebet bereitet uns für die Mystik, die Mystikfür die Meditation, Konzentration vor, und von dawerden wir hingewiesen zu dem eigentlichen Arbeitenfür die Geistesforschung.

Es ist kein Einwand, wenn man sagt, man müsse dochdasjenige verstehen, was man betet, wenn das Gebet dierichtige Wirkung haben soll. Das ist einfach nicht rich-tig. Wer versteht die Weisheit einer Blume, wenn er sichdoch an einer Blume erfreuen kann? Man braucht dieWeisheit der Blume nicht zu durchdringen, und dennochkann sich Freude in die Seele ergießen, wenn man dieBlume anschaut. Daß die Blume da ist, dazu war dieWeisheit notwendig; daß wir uns an der Blume erfreuen,dazu ist zunächst die Weisheit nicht notwendig. Daß einGebet zustande kommen kann, dazu ist die Weisheit derWelt notwendig; daß aber das Gebet, wenn es da ist, diecharakterisierte Wärme und das charakterisierte Licht indie Seele gießt, dazu ist ebensowenig die Weisheit not-wendig, wie sie notwendig ist, daß uns die Blume erfreu-en kann. Aber etwas, was nicht durch die Weisheit derWelt zustande gekommen ist, könnte auch nicht jeneKraft haben. Schon an der Art, wie das Gebet wirkt,zeigt sich uns, welche Tiefe das Gebet hat.

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Wenn die Seele wirklich sich entwickeln soll unterdem Einfluß eines solchen in ihr Lebenden, so kannimmer wieder darauf hingewiesen werden, wie an einemwahren Gebet ein jeder Mensch, auf welcher Stufe derEntwickelung und der Erziehung er auch steht, etwashaben kann. Der Naivste, der vielleicht nichts weiterweiß als das Gebet selber, kann das Gebet auf die Seelewirken lassen. Das Gebet selber wird es sein, das Wir-kungskräfte hervorrufen kann, welche ihn immer höherund höher bringen. Aber man ist nie fertig mit einemGebet, wie hoch man auch steht; denn es kann immernoch die Seele um eine Stufe höher bringen, als sie schonist. Und das Vaterunser ist ein Gebet, das nicht nurgebetet werden kann, sondern das auch mystische Stim-mung hervorrufen kann, und das auch der Gegenstandsein kann der höheren Meditation und Konzentration.Das könnte noch von manchen Gebeten gesagt werden.Aber allerdings ist aus dem Mittelalter etwas heraufge-zogen, was das Gebet und die Gebetsstimmung heuteetwas unrein machen kann, und was man nur mit demWorte «Egoismus» bezeichnen kann.

Wenn man durch das Gebet nur in sich selber hinein-kommen will, sich nur in seinem Innern vervoll-kommnen will - wie das auch mancher mittelalterlicheChrist nur wollte, vielleicht auch heute noch will -,wenn man nicht auch durch die Erleuchtung den Blickwieder in die Welt, nach außen, senden will, dann stelltsich das Gebet dar als etwas, was zu gleicher Zeit denMenschen dazu bringt, sich von der Welt abzusondern,weltenfremd und weltenfern zu sein. Das war bei vielenMenschen der Fall, die das Gebet im Sinne von falscherAskese und Einsiedelei benutzten. Solche Menschenwollten nicht nur vollkommen sein im Sinne der Rose,

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die sich schmückt, um den Garten schön zu machen,sondern sie wollten noch vollkommen sein wegen ihreseigenen Selbstes, um in der Seele die eigene Seligkeit zufinden. Wer in der Seele den Gott sucht und nichtwieder mit diesen gefundenen Kräften hinausgehen willin die Welt, der wird dann schon finden, daß sichsolches Beginnen in gewisser Weise rächt. Und Sie kön-nen finden in mancherlei Schriften, deren Verfasser nurdie eine Gebetsstimmung kennen, die zur innerlichenErwärmung führt - selbst bis zu jener Schrift des Mi-chael de Molinos hin -, ganz sonderbare Beschreibungenvon allerlei Leidenschaften und Trieben, Versuchungen,Anfechtungen und wilden Gelüsten, welche die Seelegerade dann erlebt, wenn sie durch innerliches Gebet,durch völliges Hingegebensein an das, was sie für ihrenGott hält, die Vollkommenheit sucht. Das ist nichtsanderem zuzuschreiben als dem Umstände, daß derMensch erfahren muß, wenn er einseitig den Gott sucht,einseitig sich der geistigen Welt nähern will, nur dieGebetsstimmung entfalten will, die zur innerlichenDurchwärmung führt, und nicht auch die andere, die zurDurchleuchtung führt, daß dann die andere Seite sichrächt. Wenn ich nur mit Reue und Schamgefühl in dieVergangenheit blicke und sage: Es ist etwas Mächtiges inmir, das ich in meinen bisherigen Erlebnissen nichtausgeprägt habe, von dem ich mich aber jetzt erfüllenlassen will, damit ich vollkommen werde, dann trittallerdings diese Stimmung nach dem Vollkommenen hinin gewisser Weise auf. Aber das andere, das Unvollkom-mene, das in der Seele sitzt, das macht sich als eineGegenkraft geltend, stürmt um so wuchtiger hervor undzeigt sich als Versuchung und Leidenschaft. In demAugenblicke, wo sich die Seele ernstlich gefunden hat in

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innerlicher Durchwärmung und Gottinnigkeit, und denGott wiederum in allen Werken, wo er sich offenbart,sucht, wo sie nach Erleuchtung strebt: da wird siefinden, daß sie schon herauskommt aus sich selber undsich entfernt von dem engen, egoistischen Ich, und daßHeilung, Sänftigung der inneren Leidenschaften undStürme eintritt. Deshalb ist es so schlimm, wenn in derGebetsstimmung, in der mystischen Versenkung oderMeditation sich ein Egoistisches beimischt. Wenn wirden Gott finden wollen und ihn dann nur in unsererSeele halten wollen, dann zeigt sich, daß unser Egois-mus ungesund ist, daß er sich hinauf erhalten hat bis indie höchsten Bestrebungen unserer Seele; und dannrächt sich diese egoistische Stimmung. Nur dann kön-nen wir geheilt werden, wenn wir, nachdem wir denGott in uns gefunden haben, dasjenige, was wir nun inuns haben, selbstlos über die Welt ausgießen in unserenGedanken, Empfindungen, in unserem Willen und inunseren Taten.

Man hört heute so oft - und es kann nicht genugdavor gewarnt werden -, insbesondere auf dem Gebieteeiner falsch verstandenen Theosophie: Du kannst dasGöttliche nicht in der Außenwelt finden; der Gott lebtin dir selber! Gehe nur recht in dich selber hinein, dannwirst du den Gott in dir finden. - Ich habe sogar einmaljemanden sagen hören, der es liebte, seinen Zuhörern inder Art zu schmeicheln, daß er sie aufmerksam machteauf den Gott in der eigenen Seele: Ihr braucht gar nichtszu lernen und zu erfahren über die großen Geheimnissedes Weltalls; ihr braucht nur in euch hineinzuschauen,da findet ihr den Gott in euch selber!

Dagegen muß gehalten werden etwas anderes, was erstzur Wahrheit führen kann. Ein mittelalterlicher Denker

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hat gegenüber dieser Stimmung, die richtig ist, wenn siein ihren Grenzen gehalten wird, das richtige Wort gefun-den. Wollen wir uns doch einmal darüber klar sein:Nicht jene Dinge sind die schädlichsten, die unwahrsind, denn das Unwahre wird sich der menschlichenSeele sehr bald als unwahr zeigen. Das Schlimmste sinddie Dinge, die unter gewissen Voraussetzungen wahrsind, und die, wenn sie unter falschen Voraussetzungenangewendet werden, etwas durchaus Falsches darstellen.Es ist in gewisser Weise wahr, daß man den Gott in sichselber suchen muß; und weil es wahr ist, wirkt es um soschlimmer, wenn es nicht in gewissen Grenzen gehaltenwird, in denen man es halten muß.

Ein mittelalterlicher Denker hat gesagt: Wer würdedenn ein Werkzeug, das er benutzen will, überall drau-ßen in der Welt suchen, wenn er ganz genau weiß, daßes in seinem Hause liegt? Er wäre ein Tor, wenn er dastäte. Ein ebensolcher Tor aber ist der, der ein Werkzeugzur Gotterkenntnis überall in der Welt draußen suchte,wenn es doch im Hause, in der eigenen Seele ist. Aberwohl gemerkt, es ist gesagt: das Werkzeug! Nicht denGott selber suche man in der eigenen Seele. Der Gottwird mittels des Werkzeuges gesucht, und das Werkzeugwird man nirgends draußen finden. Das muß man in derSeele suchen - durch wahres Gebet, durch echte mysti-sche Versenkung, durch Meditation und Konzentrationauf den verschiedenen Stufen — und mit diesem Werk-zeug herantreten an die Reiche der Welt: Man wird denGott überall finden; denn er offenbart sich, wenn mandas Werkzeug hat, um ihn zu finden, in allen Reichender Welt und auf allen Daseins stufen. So müssen wir dasGotteswerkzeug in uns selber suchen, dann werden wirüberall den Gott finden.

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Solche Betrachtungen wie diese über «das Wesen desGebetes» sind heute nicht beliebt. Heute hört man etwa:Nun, was sollte denn das Gebet an dem Lauf der Weltändern können, wenn wir um dieses oder jenes bitten?Der Gang der Welt geht doch nach notwendigen Geset-zen, die wir nicht ändern können! - Wer wirklich eineKraft erkennen will, muß sie da suchen, wo sie ist. Wirhaben heute die Kraft des Gebetes in der menschlichenSeele gesucht und haben gefunden, daß sie etwas ist, wasdie Seele vorwärts bringt. Und wer da weiß, daß in derWelt der Geist es ist, der wirkt - nicht der phantastische,abstrakte, sondern der konkrete Geist -, und daß diemenschliche Seele dem Reich des Geistes angehört, derwird auch wissen, daß nicht nur materielle Kräfte in derWelt nach äußerlich notwendigen Gesetzen wirken, son-dern daß alles, was geistige Wesenheiten sind, in derWelt auch dann wirkt, wenn die Wirkungen dieser Kräf-te und Wesenheiten für das äußere Auge und für dieäußere Wissenschaft nicht sichtbar sind. Stärken wir alsodas geistige Leben durch das Gebet, dann brauchen wirdie Wirkungen nur abzuwarten. Sie werden sich einstel-len. Aber es wird erst der die Wirkungen des Gebetes inder äußeren Welt suchen, der zunächst selber die Kraftdes Gebetes als Realität erkannt hat.

Wer das erkannt hat, der möge einmal folgendes Expe-riment machen. Er möge, nachdem er zehn Jahre seinesLebens die Kraft des Gebetes verachtet hat, auf dieseszehnjährige, ohne Gebet verlaufene Leben zurückblik-ken; und möge zurückblicken auf einen zweiten Ab-schnitt, der auch schon vergangen ist, der wieder zehnJahre dauerte, in welchem er die Kraft des Gebeteserkannt hat, und er möge beide Jahrzehnte vergleichen:er wird sehen, wie sich der Verlauf seines Lebens geän-

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dert hat unter dem Einfluß jener Kraft, die er mit demGebet in die Seele ergossen hat. Kräfte zeigen sich inihren Wirkungen. Es ist leicht, Kräfte zu leugnen, wennman ihre Wirkungen gar nicht hervorruft. Wie sollte derein Recht haben, die Kraft des Gebetes zu leugnen, dergar nicht versucht hat, das Gebet in sich wirksam wer-den zu lassen! Oder glaubt man, daß derjenige dieLichtkraft kennt, der sie niemals entwickelte oder sichniemals ihr genaht hat? Eine Kraft, die in der Seele unddurch die Seele wirken soll, lernt man nur erkennen inihrem Gebrauch.

Auf weitere Wirkungen des Gebetes einzugehen - daslassen Sie mich nur durchaus gestehen -, dazu ist dieGegenwart, wenn man sich auch noch so vorurteilslos insie hineinstellt, noch gar nicht die rechte Zeit. Denn zumBegreifen dessen, daß ein Gemeindegebet, das heißt, dasZusammenfließen jener Kräfte, die aus einer betendenGemeinde sich ergeben, erhöhte Geisteskraft und damiterhöhte Kraft der Wirklichkeit hat, um das zu begreifen,sind die Elemente in unserem Zeitverständnis noch nichtherbeigetragen. Daher begnügen wir uns mit dem, washeute als das innere Wesen des Gebetes vor unsere Seelegetreten ist. Es genügt auch. Denn wer einiges Ver-ständnis dafür hat, wird allerdings hinauskommen übermanches, was heute als Einwand gegen das Gebet soleicht erhoben wird.

Wie sind doch diese Einwände? Sie gehen auf mancher-lei. So wird man zum Beispiel sagen: Man vergleicheeinmal einen tätigen Menschen der Gegenwart, der seineKraft dazu verwendet, seinen Mitmenschen in jedemAugenblick zu nützen, mit einem Menschen, der sichstill in sich zurückzieht und die Kräfte seiner Seele imGebet verarbeitet: müßig wird man ihn vielleicht nennen

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gegenüber dem Tätigen! - Verzeihen Sie, wenn ich auseinem gewissen Gefühl für geisteswissenschaftliche Er-kenntnis sage, daß es auch noch einen anderen Stand-punkt gibt. Ich möchte ihn grotesk aussprechen, aber erist nicht unbegründet. Allerdings wird der, der heute dieZusammenhänge im Leben kennt, behaupten, daß man-cher, der heute einen Leitartikel in dieser oder jenerZeitung schreibt, seinen Mitmenschen besser diente,wenn er betete und an der Vervollkommnung seinerSeele arbeitete, so grotesk das auch klingt. Man möchteherbeisehnen die Menschen, die sich heute davon über-zeugen könnten, daß es gescheiter wäre, wenn sie bete-ten, statt daß sie Artikel schreiben. Es ließe sich dasnoch auf manche gerade moderne Beschäftigung desgeistigen Lebens anwenden.

Aber auch zum Verständnis des ganzen Menschen-lebens ist das Verständnis jener Kraft notwendig, diesich im Gebet auslebt, die sich uns insbesondere dannauch zeigen kann, wenn wir einzelne Gebiete des höhe-ren geistigen Lebens in Betracht ziehen. Wer könntedenn verkennen, wenn er nicht nur in egoistisch einsei-tiger Weise das Gebet auffaßt, sondern in der weitenArt, wie wir es heute getan haben, daß das Gebet indieser Art zum Beispiel ein Bestandteil der Kunst ist?Gewiß, es gibt in der Kunst auch eine andere Stimmung,die in der Komik, in der humoristischen Stimmung sicherhebt über das, was geschildert werden soll. Aber esgibt in der Kunst auch dasjenige, was sich gebetartigauslebt: die Ode, den Hymnus. Selbst in der Malereigibt es so etwas, was man nennen kann ein «gemaltesGebet». Und wer würde denn leugnen können, daß unsin einem gigantischen, herrlichen Dom etwas wie einerstarrtes Gebet, das zum Himmel aufstrebt, entgegen-

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tritt? - Man muß diese Dinge nur im Zusammenhangemit dem Leben begreifen können; dann wird man auchim ganzen Gebet, wenn wir es seinem Wesen nachbetrachten, dasjenige sehen, was zu jenen Dingen gehört,die den Menschen aus der Endlichkeit und Vergäng-lichkeit seines Lebens hinausführen in das Ewige. Dashaben insbesondere solche Leute gefühlt, die den Weggefunden haben vom Gebet zur Mystik, wie der heuteund bereits das vorige Mal erwähnte Angelus Silesius.Als er Mystiker geworden war, verdankte er die innigeWahrheit und die herrliche Schönheit, die warme Innig-keit und die leuchtende Klarheit seiner mystischen Ge-danken - wie zum Beispiel die im «CherubinischenWandersmann» - der Vorschule des Gebetes, die aufseine Seele so mächtig gewirkt hatte. Und was ist esdenn im Grunde genommen, was alle solche Mystik wiedie des Angelus Silesius durchströmt und durchleuchtet?Was ist das anders als Ewigkeitsstimmung, zu der dasGebet vorbereitet? Und etwas von jener Stimmung kannjeder Betende ahnen, wenn er durch das Gebet zurwahrhaften inneren Ruhe, zur Innerlichkeit, und dannwieder zur Befreiung von sich selbst gekommen ist;etwas von jener Stimmung, die den Menschen aufblickenläßt aus dem vorübergehenden Augenblick zu der Ewig-keit, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geradein unserer Seele verbindet. Ob der Mensch es weiß odernicht weiß als Beter: wenn er das Gebet schickt zudenjenigen Seiten des Lebens, in denen er seinen Gottsucht, wird er die Empfindungen, die Gefühle, die Ge-danken, die Worte, in welchen seine Gebetsstimmungsich auslebt, von dem durchströmt haben, was an Ewig-keitsstimmung lebt in dem schönen Spruch des AngelusSilesius, der unsere heutige Betrachtung beschließen

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mag, und der im Grunde genommen wie ein göttlichesAroma, wie eine göttliche Süßigkeit jedes wahre Gebetdurchleben kann, wenn auch oft unbewußt:

Ich selbst bin Ewigkeit, wann ich die Zeit verlasse,Und mich in Gott und Gott in mich zusammenfasse.

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KRANKHEIT UND HEILUNG

Berlin, 3. März 1910

Aus den Vorträgen, welche ich in diesem Winter hierhabe halten dürfen, ging wohl denjenigen, welche mehroder weniger ständige Zuhörer waren, mit Deutlichkeithervor, daß es sich in diesem Vortragszyklus um eineReihe von einschneidenden Seelenfragen handelte. Vondem Gesichtspunkte einer Seelenfrage soll auch die heu-tige Darstellung gegeben sein, die Darstellung über dasWesen von Krankheit und das Wesen von Heilung.

Was vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaftüber die entsprechenden Tatsachen des Lebens zu sagenist, insofern sie bloß physische Ausdrücke geistiger Ursa-chen sind, das wurde in früheren Vorträgen - zumBeispiel in dem Vortrage «Wie begreift man Krankheitund Tod?», über den «Krankheitswahn» und das «Ge-sundheitsfieber» - hier auseinandergesetzt. Heute soll essich um wesentlich tiefere Fragen in der Erkenntnis vonKrankheit und Heilung handeln.

Krankheit, Heilung oder wohl auch der tödliche Aus-gang dieser oder jener Krankheit greifen ja tief in dasMenschenleben ein. Und wenn wir uns nach den ganzenVorbedingungen, nach den geistigen Untergründen derDinge, die unseren Betrachtungen hier zugrunde liegen,immer wieder gefragt haben, so dürfen wir wohl auchgegenüber diesen einschneidenden Tatsachen und Erleb-nissen des menschlichen Daseins nach den geistigen Ur-sachen fragen. Mit andern Worten, wir dürfen die Frage

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aufwerfen: Was hat die Geisteswissenschaft zu diesenErlebnissen zu sagen?

Da werden wir allerdings wieder einmal tief hinein-schauen müssen in den ganzen Sinn der Entwickelungdieses menschlichen Lebens, um uns klar zu werden, wiein den normalen Gang der Entwickelung des Menschensich hineinstellen können Krankheit, Gesundheit, Tod,Heilung. Denn im Grunde genommen sehen wir diegenannten Erscheinungen sich gleichsam hineinstellen indie normale Entwickelung des Menschen. Tragen sievielleicht etwas bei zu unserer Entwickelung? Mit an-dern Worten, treiben sie uns in der Entwickelung nachvorwärts oder nach rückwärts? Wir kommen zu einemklaren Begriff von diesen Erscheinungen nur, wenn wirauch hier die Gesamtnatur des Menschen ins Auge fas-sen.

Diese Gesamtnatur haben wir schon öfter hier sodargestellt, daß sie sich zusammensetzt aus den realenvier Gliedern des menschlichen Wesens: erstens aus demphysischen Leib, den der Mensch gemeinschaftlich hatmit allen mineralischen Wesen seiner Umgebung, welcheihre Formen von den ihnen innewohnenden physischenund chemischen Kräften und Gesetzen haben. Das zwei-te Glied der menschlichen Wesenheit nannten wir immerden Äther- oder Lebensleib und konnten sagen, daß ihnder Mensch in der Art, wie wir von ihm sprechen,gemeinschaftlich hat mit allem Lebendigen, also mit denpflanzlichen und tierischen Wesenheiten seiner Umge-bung. Dann haben wir hingewiesen auf den astralischenLeib, den der Mensch als drittes Glied seiner Wesenheithat; er ist der Träger von Lust und Leid, Freude undSchmerz, von allen vom Morgen bis zum Abend in unsauf und ab wogenden Empfindungen, Vorstellungen,

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Gedanken und so weiter. Diesen astralischen Leib hatder Mensch nur noch gemeinschaftlich mit der tierischenWelt seiner Umgebung. Und dann haben wir immerbetrachtet das höchste Glied der menschlichen Wesen-heit, das ihn zur Krone der Erdenschöpfung macht, denTräger seines Ich, seines Selbstbewußtseins. Wenn wirdiese vier Glieder ins Auge fassen, so können wir unszunächst sagen: Es erscheint uns - auch bei einer ober-flächlichen Betrachtung - eine gewisse Verschiedenheitzwischen diesen vier Gliedern. Den physischen mensch-lichen Leib haben wir vor uns, wenn wir den Menschen,wenn wir uns selber von außen betrachten. Die äußerenphysischen Sinnesorgane können wahrnehmen, was wirals physischen Menschenleib bezeichnen. Mit dem andiese physischen Organe gebundenen Denken, das heißtmit jenem Denken, das an das Instrument des Gehirnsgebunden ist, können wir diesen physischen Leib desMenschen begreifen. Er zeigt sich uns daher, wenn wirihn von außen betrachten.

Ganz anders ist das Verhältnis zu dem menschlichenAstralleib. Wir haben aus den vorhergehenden Darstel-lungen schon erkannt, daß nur für das wahre hellsichtigeBewußtsein der astralische Leib sozusagen eine äußereTatsache ist; daß nur dieses, durch die schon öftercharakterisierte Schulung des Bewußtseins, den astrali-schen Leib in gewisser Art so sehen kann wie denphysischen Leib. Für das normale Leben ist der astrali-sche Leib des Menschen nicht von außen wahrnehmbar;von den in ihm auf und ab wogenden Trieben, Begier-den, Leidenschaften, Gedanken, Gefühlen und so weiterkann das Auge nur die Äußerungen sehen. Dagegennimmt der Mensch selber in seinem Innern diese Erleb-nisse seines astralischen Leibes wahr. Er nimmt wahr,

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was wir Triebe, Begierden, Leidenschaften, Freude undSchmerz, Lust und Leid nennen. Daher können wirsagen, daß sich der astralische Leib zum physischen Leibverhält so, daß wir den ersteren im normalen Menschen-leben von innen anschauen, den physischen Leib abervon außen.

In einer gewissen Beziehung stehen nun die andernbeiden Glieder der menschlichen Natur, der Ätherleibund der Träger des Ich, zwischen diesen äußersten Ex-tremen. Der physische Leib ist rein äußerlich wahrzu-nehmen, der astralische Leib rein innerlich. Aber dasMittelglied zwischen dem physischen Leib und demAstralleib ist der Ätherleib. Er ist von außen nichtwahrzunehmen, wirkt aber nach außen. Er wirkt imgewöhnlichen Leben des Menschen so nach außen, daßwir sagen können: Was der astralische Leib an Kräften,an inneren Erlebnissen entwickelt, das muß zunächst aufden Ätherleib übertragen werden; dann kann es ersteingreifen in die physischen Werkzeuge, in den physi-schen Leib. So wirkt zwischen dem astralischen Leibund dem physischen Leib der Ätherleib als Mittelglied.Es führt also von außen nach innen dieser Äther- oderLebensleib. Wir können ihn nicht mehr mit physischenAugen sehen. Aber was wir mit physischen Augen sehenkönnen, ist nur dadurch ein Werkzeug des astralischenLeibes, daß der Ätherleib nach außen in den physischenLeib hineinwirkt.

In gewisser Beziehung geht nun dasjenige, was wir dasmenschliche Ich nennen, wieder von innen nach außen -während der Ätherleib von außen nach innen zum Astral-leib geht. Denn durch das Ich, und was es aus demastralischen Leib macht, wird der Mensch ein Erkennerder äußeren Welt, der physischen Umwelt, aus der der

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physische Leib selbst entnommen ist. Das tierische Le-ben geht ohne individuelle, ohne persönliche Erkenntnisvor sich, weil das Tier dieses persönliche Ich nicht hat;weil das Tier alle seine Erlebnisse des astralischen Leibesinnerlich durchlebt, aber nicht seine Lust und sein Leid,Sympathie oder Antipathie dazu benutzt, um sich Er-kenntnis der äußeren Welt zu verschaffen. Was wir Lustund Leid nennen, Freude und Schmerz, Sympathie oderAntipathie, das sind allerdings Erlebnisse des astrali-schen Leibes im Tier; aber das Tier benutzt seine Lustnicht dazu, um zu jauchzen über die Schönheit der Welt,sondern es bleibt innerhalb desjenigen Elementes, dasihm Wohlbehagen gibt. Das Tier lebt in seinem Schmerzunmittelbar; den Menschen führt sein Schmerz hinausüber sich selbst zur Aufklärung über die Welt, weil dasIch ihn wieder hinausleitet und zusammenbringt mit deräußeren Welt. So sehen wir, wie auf der einen Seite derAtherleib nach dem Innern des Menschen weist zumAstralleib hin, wie das Ich des Menschen aber nach derAußenwelt hinführt, zu der uns umgebenden physischenWelt.

Nun haben wir auch schon öfter betont, daß derMensch ein Wechselleben führt. Dieses Wechsellebenkönnen wir jeden Tag betrachten. Wir sehen in der Seeledes Menschen von dem Augenblick, wo er morgensaufwacht, alle die auf und ab flutenden Erlebnisse desastralischen Leibes, Freude und Schmerz, Lust und Leid,Empfindungen, Vorstellungen und so weiter. Wir sehen,wie des Abends diese Erlebnisse in ein unbestimmtesDunkel hinuntersinken, wie der astralische Leib und dasIch in den Zustand der Unbewußtheit oder, vielleichtbesser gesagt, der Unterbewußtheit übergehen. Wir ha-ben auch schon betont, worauf das beruht, daß der

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Mensch diese Wechselzustände tagtäglich durchmacht.Wenn wir den wachenden Menschen ins Auge fassen,wie er sich vom Morgen bis zum Abend darstellt, sosind ineinander verschlungen, in ihren Wirkungen inein-andergegliedert physischer Leib, Ätherleib, astralischerLeib und Ich. Wenn der Mensch des Abends einschläft,zeigt sich dem okkulten Bewußtsein, daß im Bette liegenbleiben physischer Leib und Ätherleib, und wie in ihreeigentliche Heimat, in die geistige Welt, einkehren astra-lischer Leib und Ich, die sich aus physischem Leib undÄtherleib herausziehen. Nun können wir uns in gewisserWeise noch eine andere Bezeichnungsweise zurecht-rücken, die es möglich machen wird, uns über unsereheutigen Auseinandersetzungen in entsprechender Weisezu verständigen.

Wir können sagen, was wir den physischen Leibgenannt haben, und was wir bezeichnen mußten alsdasjenige, was uns nur seine Außenseite darbietet, gehtals der äußere Mensch im Schlafe nach außen in diephysische Welt und nimmt den Ätherleib mit, den Ver-mittler zwischen dem Äußeren und dem Innern. Daherkann im schlafenden Menschen keine Vermittlung seinzwischen dem Äußeren und dem Innern, weil der Äther-leib, der Vermittler, in die äußere Welt gegangen ist. Wirkönnen daher in gewisser Beziehung sagen, beim schla-fenden Menschen sind physischer Leib und Ätherleibeben nur der äußere Mensch; wir können gewisserma-ßen physischen Leib und Ätherleib überhaupt als den«äußeren Menschen» bezeichnen, wenn auch der Äther-leib von dem Äußeren nach dem Innern der Vermittlerist. Dagegen können wir den astralischen Leib und dasIch beim schlafenden Menschen als den «inneren Men-schen» bezeichnen. Und wir können das auch beim

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wachenden Menschen tun, aus dem Grunde, weil alleErlebnisse des astralischen Leibes im normalen Zustandeinnerlich erlebt werden, und weil ;a auch dasjenige, wasdas Ich im wachen Leben von der äußeren Welt erken-nen kann, von dem menschlichen Innern aufgenommenwird, um da als Erkenntnis verarbeitet zu werden. DasÄußere wird ein Inneres durch das Ich. Das alles zeigt,daß wir von einem «äußeren» und einem «inneren»Menschen sprechen können; der äußere Mensch aus demphysischen Leib und dem Ätherleib bestehend, der inne-re Mensch aus Ich und astralischem Leib.

Nun wollen wir einmal das sogenannte normale Men-schenleben seinem Sinn nach in seiner Entwickelungbetrachten. Wir wollen uns einmal fragen: Warum eigent-lich kehrt denn jede Nacht der Mensch mit seinemastralischen Leib und seinem Ich in eine geistige Weltzurück? Hat das einen gewissen Sinn? Hat die Einkehrin den Schlaf zustand für den Menschen einen Sinn? -Solche Dinge sind ja hier schon angedeutet worden, aberwir brauchen sie ganz notwendig für unsere heutigenAuseinandersetzungen. Wir müssen die normale Entwik-kelung kennen lernen, um die scheinbar abnormen Na-turgesetze, die sich in Krankheit und Heilung darleben,durchschauen zu können. Warum kehrt jede Nacht derMensch in einen Schlaf zustand ein?

Das können wir nur verstehen, wenn wir das ganzeVerhältnis des astralischen Leibes und des Ich zu dem,was wir den «äußeren Menschen» genannt haben, unseinmal vor Augen rücken. - Wir haben den astralischenLeib den Träger von Lust und Leid, Freude undSchmerz, von Trieb, Begierde, Leidenschaft genannt,von all den auf und ab wogenden Vorstellungen, Wahr-nehmungen, Ideen und Empfindungen. Wenn aber der

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astralische Leib von all dem der Träger ist, wie kommtes denn, daß in der Nacht der Mensch diese Erlebnissegar nicht hat, wo doch der eigentliche innere Mensch mitseinem astralischen Leib so zusammen ist, daß physi-scher Leib und Ätherleib nicht dabei sind? Wie kommtes, daß dann diese Erlebnisse heruntersinken in einunbestimmtes Dunkel? Was ist der Grund? - Der Grundist der, daß astralischer Leib und Ich, obwohl sie Trägersind von Freude und Schmerz, Urteil, Vorstellung undso weiter, nicht alles das direkt erleben können, wovonsie der Träger sind. In unserem Menschenleben sindastralischer Leib und Ich, um ihre eigenen Erlebnisse zuhaben, im normalen Zustand darauf angewiesen, in denphysischen Leib und Ätherleib unterzutauchen. Was wirals unser Seelenleben vor uns haben, ist nicht etwas, wasder astralische Leib unmittelbar erlebt. Wäre es das, somüßten wir es auch in der Nacht erleben, wo wir mitdem astralischen Leib zusammen sind. Es ist gleichsamein Echo oder Spiegelbild, was wir im Seelenleben desTages vor uns haben. Physischer Leib und Ätherleibwerfen uns wie durch einen Spiegel oder durch ein Echodasjenige zurück, was wir im astralischen Leibe erleben.Alles was uns unsere Seele vom Augenblicke des Aufwa-chens bis zum Einschlafen vorzaubert, kann sie uns nurvorzaubern, indem sie ihre eigenen Erlebnisse in jenemSpiegel erblickt, der geformt ist aus dem physischen Leibund dem Äther- oder Lebensleib. In dem Augenblick,wo wir den physischen Leib und Ätherleib in der Nachtverlassen, haben wir zwar in uns alle Erlebnisse desastralischen Leibes, wir sind uns aber ihrer nicht be-wußt, weil zum Bewußtwerden die Spiegelung oderEchowirkung von physischem Leib und Ätherleib ge-hört.

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So sehen wir in unserem ganzen Leben, wie es vomMorgen, wo wir aufwachen, bis zum Abend, wo wireinschlafen, abläuft, eine Wechselwirkung zwischen deminneren und dem äußeren Menschen, zwischen Ich undastralischem Leib auf der einen Seite und dem physi-schen Leib und Ätherleib auf der andern Seite. DieKräfte nun, welche dabei wirken, sind die Kräfte desastralischen Leibes und des Ich. Denn nimmermehrkönnte der physische Leib, als eine Summe von physi-schen Einrichtungen, unser Seelenleben aus sich hervor-bringen, und ebensowenig könnte es der Ätherleib. DieKräfte zum Herauslocken dieses Spiegelbildes kommenaus dem astralischen Leib und dem Ich, geradeso wiedas, was wir im Spiegel sehen, nicht aus dem Spiegelkommt, sondern von dem, was sich im Spiegel beschaut.So liegen alle die Kräfte, welche unser Seelenleben be-wirken, im astralischen Leib und im Ich, im innernMenschen; und sie betätigen sich in der Wechselwirkungvon Außen- und Innenwelt. Diese Kräfte sehen wirwährend des Tages arbeiten an unserem Seelenleben, inWechselwirkung treten, gleichsam ausstrahlen nach demphysischen Leib und Ätherleib. Wir sehen sie aber auchgegen den Abend in den Zustand eintreten, den wir die«Ermüdung» nennen. Wir sehen sie abgenutzt gegen denAbend, verbraucht. Und wir würden unser Leben nichtfortführen können, wenn wir nicht in der Lage wären,jeden Abend in eine andere Welt einzukehren als die, inder wir vom Morgen bis zum Abend leben. In dieserWelt, in der wir vom Morgen bis zum Abend leben,können wir das Seelenleben sozusagen aufbauen, vorunsere Seele hinzaubern. Das vermögen wir mit denKräften des astralischen Leibes. Aber wir verbrauchenauch diese Kräfte und können sie nicht aus dem Tagesle-

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ben heraus ersetzen. Ersetzen können wir sie nur aus dergeistigen Welt heraus; aus der Welt heraus, in die wireinkehren an jedem Abend. Das ist der Sinn des Schlafes.Wir könnten nicht leben, ohne in die nächtliche Welteinzukehren und von dort her die Kräfte zu holen, diewir tagsüber verbrauchen. So können wir sagen, wirholen uns jede Nacht aus der geistigen Welt diejenigenKräfte, die wir vom Morgen bis zum Abend verbrau-chen. Damit beantworten wir die Frage: Was bringenwir in die physische Welt hinein, wenn wir in unsernAtherleib und physischen Leib einkehren? - Das alsowissen wir jetzt.

Tragen wir nun nichts aus der physischen Welt umge-kehrt in die nächtliche Welt hinein? - Das ist die andereFrage, und sie ist ebenso wichtig wie die erste.

Um uns diese Frage zu beantworten, müssen wirallerdings auf einiges eingehen, das uns aber schon dasgewöhnliche Menschenleben zeigt. Im gewöhnlichen Le-ben haben wir sogenannte Erlebnisse. Diese Erlebnissenehmen einen merkwürdigen Gang in unserem Lebenzwischen der Geburt und dem Tode an. Wie stellt sichuns dieser Gang dar? Das können wir an einem Beispielbetrachten, das Öfter hier erwähnt worden ist: an demBeispiel des Schreibenlernens. - Wenn wir die Federansetzen, um unsere Gedanken auszudrücken, üben wirdie Kunst des Schreibens. Wir können schreiben. Wassetzt das aber voraus? Es setzt voraus, daß wir in einergewissen Zeit des Daseins zwischen Geburt und Todeine ganze Reihe von Erlebnissen gehabt haben. Denkenwir daran, was wir erleben mußten, um imstande zusein, unsere Gedanken auszudrücken, indem wir dieFeder ansetzen und eben «schreiben». Stellen Sie sichvor, was Sie alles als Kind durchgemacht haben, von

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dem ersten ungeschickten Versuch an, die Feder zuhalten und auf dem Papier anzusetzen und so weiter. Dawerden Sie vielleicht sagen: Gott sei Dank, daß wir dasnicht wieder alles in die Erinnerung zurückrufen müs-sen 1 Denn es wäre schlimm, wenn wir uns jedes Malbeim Schreiben an alles erinnern müßten, an alle dieverunglückten Versuche, Striche zu machen, vielleichtauch an die Strafen, die damit verbunden waren, und soweiter, um das zu entwickeln, was wir die Kunst desSchreibens nennen. Was ist denn da geschehen? Dasjeni-ge, was wir im eminenten Sinne im Menschenleben eineEntwickelung nennen zwischen Geburt und Tod. Wirhaben eine ganze Summe von Erlebnissen durchgemacht.Diese Erlebnisse haben eine lange Zeit in Anspruchgenommen; dann sind sie gleichsam zusammengeronnen,haben einen Extrakt gebildet, und dieser Extrakt ist das,was wir als das «Können» des Schreibens bezeichnen.Alles andere ist in ein unbestimmtes Dunkel der Verges-senheit heruntergesunken. Aber wir brauchen uns nichtdaran erinnern, weil sich eine Entwickelungsstufe unse-rer Seele da heraus entwickelt hat. So rinnen unsereErlebnisse zusammen in Extrakte, in Essenzen, die alsunser Können, als unsere Tüchtigkeit und unsere Fähig-keiten im Leben auftreten. Das ist unsere Entwickelungim Dasein zwischen Geburt und Tod. Erlebnisse werdenumgewandelt in seelische Fähigkeiten zunächst, die sichallerdings durch äußere körperliche Werkzeuge auslebenkönnen. Alles persönliche Erleben zwischen Geburt undTod geht so vor sich, daß sich Erlebnisse umwandeln inFähigkeiten oder auch in das, was wir Weisheit nennen.

Wie die Umwandlung vor sich geht, können wir unsvor die Seele stellen, wenn wir auf den Zeitraum vomJahre 1770 bis 1815 hinblicken. In ihn fiel ein großes,

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gewaltiges Ereignis der Weltgeschichte. Eine große An-zahl von Menschen waren Zeitgenossen dieses Ereig-nisses. Fragen wir uns einmal, wie diese Zeitgenossensich dazu gestellt haben? - An dem einen sind dieErlebnisse vorübergegangen, ohne daß er sie bemerkt hat- stumpf. Er hat die Erlebnisse nicht umgewandelt inWelterkenntnis, in Weltweisheit. Andere haben tiefe Le-bensweisheit, also einen Extrakt sich daraus gebildet.

Wodurch werden aus Erlebnissen Fähigkeiten undWeisheit in der Seele gebildet? Dadurch, daß wir dieErlebnisse, wie sie zunächst an uns herantreten, Abendfür Abend mitnehmen in unsern Schlafzustand; in jeneSphären, in denen die Seele oder der innere Mensch weiltzwischen Abend und Morgen. Da wandelt er in Extrak-te, in Essenzen um, was Erlebnis über eine gewisse Zeitist. Wer das Leben beobachten kann, der weiß, wenn ereine Reihe von Erlebnissen beherrschen und zusammen-reihen soll in einer einzelnen Kunst, dann ist es notwen-dig diese Erlebnisse in entsprechenden Schlaf Zeiten um-zuwandeln. Er kann zum Beispiel am besten dadurchetwas auswendig lernen, daß er etwas lernt, es über-schläft, es wieder lernt, es wieder überschläft. Wenn ernicht die Erlebnisse eintauchen kann in den Schlafzu-stand, um sie herauskommen zu lassen als Fähigkeitenoder in der Form von Weisheit oder Kunst, dann ist ernicht imstande, eine Entwickelung in diesen Erlebnissendurchzumachen.

Da tritt uns auf einer höheren Stufe entgegen, wasnotwendig ist auf einer niederen Stufe: die Pflanze diesesJahres kann nicht zu der Pflanze des nächsten Jahreswerden, wenn sie nicht in das Unbestimmte des Erden-schoßes zurückkehrt und das nächste Jahr wiederwächst. Hier bleibt die Entwickelung eine Wiederho-

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lung. Da wo wir es beim Menschen beleuchtet haben, istes eine wirkliche «Entwickelung»; da werden die Erleb-nisse versenkt in den nächtlichen Schoß des Unbewuß-ten, und sie werden wieder herausgeholt - allerdings ineiner Wiederholung, aber um endlich so weit umge-wandelt zu sein, daß sie als Weisheit, als Fähigkeiten, alsLebenserfahrungen zutage treten können.

So hat man das Leben zu Zeiten verstanden, in denenman tiefer in die geistigen Welten hineinschauen konnte,als das heute eine äußere Betrachtung kann. Daher fin-den wir da, wo uns Kulturführer der alten Zeiten beson-dere Dinge im Bilde mitteilen wollen, gerade auf solchemerkwürdigen Grundsätze des menschlichen Lebenshingedeutet. Fragen wir uns: Was müßte denn jemandtun, der verhindern wollte, daß eine Reihe von Erleb-nissen des Tages nicht in seiner Seele Feuer fangen undsich umwandeln in irgendeine Fähigkeit? Fragen wir daszum Beispiel einem sehr bedeutsamen Erlebnis der Seelegegenüber, jenem Erlebnis, das sich herausbildet, wennjemand längere Zeit hindurch eine gewisse Beziehung zueiner andern Persönlichkeit erlebt. Diese Erlebnisse miteiner andern Persönlichkeit senken sich in das nächtlicheBewußtsein ein und werden wieder herausgeboren ausdem nächtlichen Bewußtsein als das, was wir die Liebezu der andern Persönlichkeit nennen, die, wenn siegesund ist, gleichsam ein Extrakt ist, der aufeinanderfol-genden Erlebnisse. Das Gefühl der Liebe zu der andernPersönlichkeit ist dadurch entstanden, daß sich die Sum-me der Erlebnisse in einen Extrakt zusammengezogenhat, wie wenn wir die Erlebnisse zu einem Gewebezusammenformen. - Was müßte nun jemand tun, wenner verhindern wollte, daß eine Reihe von Erlebnissen zurLiebe werden? - Er müßte eine besondere Kunst anwen-

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den: Er müßte verhindern den naturgemäßen Vorgang inder Nacht, daß sich unsere Erlebnisse umgestalten zuder Essenz, zu dem Liebesgefühl; er müßte das, was dasGewebe der Tageserlebnisse ist, wieder auflösen in derNacht. Wenn er dazu imstande ist, dann erreicht er das,daß an seiner Seele spurlos vorübergeht, was dazu ange-tan ist, das Erlebnis zu der andern Persönlichkeit inseiner Seele in Liebesgefühl zu verwandeln.

In diese Tiefen des menschlichen Seelenlebens wollteHomer hineinweisen, indem er das Bild der Penelopehinstellte, die das Erlebnis mit der Freierschar hat: Sieverspricht einem jeden die Heirat, wenn sie ein bestimm-tes Gewebe fertig habe; sie entgeht der Einhaltung desVersprechens nur dadurch, daß sie stets in der Nachtwieder auflöst, was sie bei Tage gewebt hat. - Ungeheu-re Tiefen der Erlebnisse erblicken wir da, wo Seherzugleich Künstler sind. Man hat heute dafür wenigGefühl und wird derartige Interpretationen solcher Dich-ter, die zugleich Seher waren, als willkürlich erklärenoder sie wohl auch als Phantastereien auslegen. Das tutden alten Dichtern nichts und auch der Wahrheit nichts,sondern höchstens unserer Zeit, die dadurch verhindertwird, in die Tiefen des menschlichen Lebens hineinzu-gehen.

Wir nehmen also des Abends etwas mit hinein in dieSeele, was wir auch wieder mit heraus bringen. Wirnehmen mit hinein, was die Seele entwickelt zwischenGeburt und Tod und sie zu immer höheren Stufen vonFähigkeiten erhebt. Nun fragen wir uns aber: Wo liegtdie Grenze dieser Entwickelung des Menschen? - DieseGrenze können wir kennenlernen, wenn wir uns vorAugen führen, wie der Mensch, wenn er des Morgensaufwacht, jedesmal denselben physischen Leib und den-

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selben Ätherleib vorfindet mit jenen Fähigkeiten undAnlagen, mit jener Konfiguration im Innern, mit denensie ausgestattet waren von der Geburt des Menschen an.An dieser Konfiguration, an diesen Gestaltungen undinneren Formen des physischen Leibes und des Äther-leibes kann der Mensch nichts ändern. Könnte er in denschlafenden Zustand hinein den physischen Leib, oderwenigstens den Ätherleib mitnehmen, dann könnte erändern an ihnen. Er trifft sie des Morgens an, wie er siedes Abends verlassen hat. Da haben wir eine deutlicheGrenze dessen, was die Entwickelung vermag in demLeben zwischen Geburt und Tod. Es ist diese Entwicke-lung zwischen Geburt und Tod im wesentlichen auf dasseelische Erleben beschränkt; sie kann nicht übergreifenauf das körperliche Erleben.

Wir brauchen uns nur klar zu sein, wenn jemand nochso viel Gelegenheit hätte, äußere Erlebnisse durchzu-machen, die ihn musikalisch vertiefen könnten, die ge-eignet wären in seiner Seele ein tiefes musikalischesLeben zu entwickeln, er könnte es nicht entwickeln,wenn er kein musikalisches Ohr mitbekommen hätte,wenn die physisch-ätherische Formung seines Ohres esihm nicht möglich machte, den Einklang herzustellenzwischen dem äußeren und dem inneren Menschen. Wirmüssen uns aber darüber klar sein: Damit der Menschein Ganzes ist, müssen alle einzelnen Glieder seinerNatur eine Einheit, eine Harmonie bilden. Daher wer-den wir uns sagen können: Alles was ein Mensch miteinem unmusikalischen Ohr an Gelegenheit hat, Erleb-nisse in sich zu empfangen, die ihn hinaufheben könnenauf eine höhere Stufe des musikalischen Erlebens, dasmuß in der Seele drinnen bleiben, muß resignieren; eskann nicht heraus, weil die Grenze jeden Morgen gezo-

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gen ist in dem, was die mitgebrachte Gestalt und Formder inneren Organe ist. Verstehen werden wir eine sol-che Sache dann, wenn wir uns klar sind, daß es nichtbloß auf die gröbere Gestaltung des Ätherleibes und desphysischen Leibes ankommt, sondern auf ganz feineKonfigurationen dabei. Man muß sich klar sein, daß einejede Seelenfähigkeit des Menschen in unserem jetzigennormalen Leben sich ausleben muß durch ein Organ;und wenn das Organ nicht in entsprechender Weisegeformt ist, kann sie sich nicht ausleben. Was Physio-logie, was Anatomie nicht nachweisen können, die feineplastische Gestaltung in den Organen, das ist gerade dasWesentliche; sie entgehen natürlich der Anatomie undPhysiologie; aber gerade sie sind es, die einer Umfor-mung zwischen Geburt und Tod nicht fähig sind.

Ist nun der Mensch gänzlich ohnmächtig, dasjenige inseinen physischen Leib und Ätherleib hineinzuarbeiten,was er an Erlebnissen und Erfahrungen in seinem astrali-schen Leib und seinem Ich aufnimmt?

Wir wissen ja, wenn wir den Menschen betrachten,daß bis zu einem gewissen Grade der Mensch auch anseinem physischen Leibe sogar formen kann. Manbraucht nur einen Menschen zu betrachten, der zehnJahre hindurch sein Leben mit einer tiefen inneren Ge-dankenarbeit zugebracht hat; da werden sich Gesten undPhysiognomien geändert haben. Aber das alles ist gebun-den an engste Grenzen. Ist es nun immer an solcheengste Grenzen gebunden?

Daß es nicht immer an engste Grenzen gebunden ist,das können wir nur verstehen, wenn wir an ein Gesetzappellieren, von dem hier auch schon öfter gesprochenwurde, worauf aber immer wieder hingewiesen werdenmuß, weil es unserm zeitgenössischen Leben so fern liegt -

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ein Gesetz, das sich vergleichen läßt mit dem andernGesetz, das im 17. Jahrhundert auf einem niedrigerenGebiete für die Menschheit erobert worden ist.

Bis ins 17. Jahrhundert hinein haben die Menschengeglaubt, es könnten niedere Tiere, Insekten und soweiter aus Flußschlamm herauswachsen. Sie glaubten,daß es bloße Materie sei, welche den Regenwurm undInsekten aus sich herauswachsen ließe. Das war nichtnur ein Glaube von Laien, sondern auch von Gelehrten.Wenn wir in frühere Zeiten zurückgehen, können wirfinden, wie alles so systematisiert wurde, daß zum Bei-spiel angegeben wurde, was man zu tun habe, um reinaus der Umgebung heraus Leben entstehen zu lassen. Dawird zum Beispiel in einem Buche des 7. nachchristli-chen Jahrhunderts beschrieben, daß man nur einen Pfer-deleichnam mürbe zu schlagen brauche, um Bienen zuerhalten; von Ochsen bekäme man Hornissen, Wespenvon Eseln. Da glaubte man, es wächst aus der Substanzder unmittelbaren Umgebung das Lebendige heraus.Und es war erst im 17. Jahrhundert der große Naturfor-scher Francesco Redi, der zuerst den Satz ausgesprochenhat: Lebendiges kann nur aus Lebendigem entstehen!Wegen dieser Wahrheit, die heute als eine selbstverständ-liche gilt, so daß kein Mensch begreifen kann, daß manjemals etwas anderes geglaubt hat, wegen dieses Satzeswurde Redi noch im 17. Jahrhundert als ein arger Ketzerbetrachtet, der nur mit Mühe und Not dem Schicksal desGiordano Bruno entgangen ist.

So ist es überhaupt mit solchen Wahrheiten: Zuerstgalten die, welche sie zu verkünden hatten, als Ketzer,und sie verfielen der Inquisition. Damals kam man mitVerbrennung oder drohte damit. Heute ist man vondieser Art der Inquisition abgekommen. Man verbrennt

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nicht mehr. Aber diejenigen, welche heute auf demkurulischen Stuhl der Wissenschaft sitzen, sie betrachtenjene Menschen, welche auf einer höheren Stufe eine neueWahrheit mitteilen, als Narren und Träumer. Als Narrenund Träumer werden heute diejenigen betrachtet, welcheden Satz, den Francesco Redi im 17. Jahrhundert für dasLebendige aufgestellt hat, in anderer Weise vertreten.Wie Redi darauf hingewiesen hat, daß es eine ungenaueBetrachtungsweise ist, wenn man glaubt, daß aus demUnlebendigen unmittelbar das Lebendige herauswachsenkönne, sondern daß man zurückgehen muß auf eingleichartiges Lebendiges, auf den Keim, der aus derUmgebung die Substanzen und Kräfte heranzieht, umsich in seinem Sinne zu entfalten - so hat derjenige, derheute auf dem Boden der Geisteswissenschaft steht, zuzeigen, daß das, was mit der Geburt ins Dasein tritt alsein Seelisch-Geistiges, von einem Seelisch-Geistigen glei-cher Art herrührt, und daß es sich nicht nur zusammen-setzt aus den vererbten Merkmalen. Wie der Regen-wurmkeim die Substanzen heranzieht, um sich zu ent-wickeln, so muß der seelisch-geistige Keim ebenfalls dieSubstanzen seiner Umgebung heranziehen, um sich zuentfalten. Mit andern Worten, wenn wir das Seelisch-Geistige im Menschen zurückverfolgen, kommen wir zueinem früheren Seelisch-Geistigen, das vor der Geburtda ist, und das nichts zu tun hat mit Vererbung. Was inletzter Instanz aus dem Satze folgt: Geistig-Seelischeskann nur aus Geistig-Seelischem kommen - das führthin zu dem Satze von den wiederholten Erdenleben, vondem Sie sich überzeugen können, wenn Sie sich tiefereinlassen auf Geisteswissenschaft. Unser Leben zwischenGeburt und Tod führt zurück auf andere Leben, die wirfrüher durchgemacht haben. Geistig-Seelisches kommt

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von Geistig-Seelischem, und in dem Geistig-Seelischender Vorzeit liegen die Ursachen zu dem, was wir jetztzwischen Geburt und Tod erleben. Und wenn wir durchdie Pforte des Todes gehen, nehmen wir mit, was wir indiesem Leben aufgenommen und aus Ursachen zu Fä-higkeiten ausgebildet haben. Das, was wir mitnehmen,wenn wir durch die Pforte des Todes in eine geistig-seeli-sche Welt eintreten, das bringen wir wieder zurück,wenn wir in künftiger Zeit durch eine neue Geburt insDasein treten.

Da sind wir zwischen dem Tode und der neuenGeburt in einer andern Lage, als wenn wir jeden Abenddurch den Schlafzustand in die geistige Welt hineinge-hen, aus der wir morgens wieder aufwachen. Wenn wirmorgens aufwachen, finden wir unsern Ätherleib undphysischen Leib so wieder, wie sie am Abend waren.Wir können in sie nicht hineinarbeiten, was an unsvorübergegangen ist im Leben zwischen Geburt undTod. Wir haben eine Grenze gefunden an dem fertigenÄtherleib und physischen Leib. Wenn wir aber durchdie Pforte des Todes gehen in eine geistige Welt, legenwir den physischen und Atherleib ab und nehmen vomÄtherleib nur die Essenz mit. Jetzt sind wir in dergeistigen Welt und sind jetzt nicht in die Notwendigkeitversetzt, Rücksicht zu nehmen auf einen bestehendenphysischen Leib und Ätherleib. In der ganzen Zeit vomTode bis zur neuen Geburt kann der Mensch mit reingeistigen Kräften arbeiten; denn er hat es da mit reingeistigen Substanzen zu tun. Er nimmt aus der geistigenWelt dasjenige heraus, was er braucht, um ein Urbildeines neuen physischen Leibes und Ätherleibes zu for-men, in welches jetzt die Dinge hineingearbeitet werden,die er in den früheren physischen und Ätherleib nicht

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hineinarbeiten konnte. So bildet der Mensch ein Urbildseines physischen Leibes und Ätherleibes bis zur neuenGeburt heran, ein rein geistiges Urbild, in das hineinver-woben sind die Erlebnisse, in bezug auf welche die Seeleresignieren mußte zwischen Geburt und Tod. Dann trittder Moment ein, wo das Urbild bei seinem Abschlußangelangt ist, und wo der Mensch imstande sein wird,dasjenige, was er in sein Urbild aufgenommen hat, inden plastischen physischen und ätherischen Leib hinein-zubilden; dann arbeitet das geistige Urbild mit an jenemSchlafzustand, den der Mensch jetzt durchmacht.

Könnte der Mensch den physischen Leib und denätherischen Leib jeden Morgen beim Aufwachen mit-bringen, dann könnte er ihn aus der geistigen Weltheraus formen; dann müßte er ihn aber auch umbilden.Aber mit der Geburt wacht der Mensch aus einemSchlafzustand auf; denn Geburt bedeutet aufwachen auseinem Schlafzustand, der in der Tat den physischen Leibund den Ätherleib im vorgeburtlichen Zustand mitum-faßt. Hier ist es, wo astralischer Leib und Ich hinunter-steigen in die physische Welt, in physischen Leib undÄtherleib, die sie jetzt plastisch ausgestalten können,und wo sie hineinformen können alles, was sie imfrüheren Leben nicht hineinformen konnten in den ferti-gen Leib. Jetzt können sie in einem neuen Leben amphysischen Leib und Ätherleib das zum Ausdruck brin-gen, was sie als eine höhere Entwickelungsstufe erklim-men können, was sie aber in dem früheren Leben nichterklimmen konnten, weil sie der fertige Ätherleib undphysische Leib daran gehindert haben.

So sehen wir, wie der Mensch mit der Geburt in derTat aus der geistigen Welt heraus aufwacht, aber so, daßer sich jetzt andere Kräfte mitbringt, als er sich sonst am

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Morgen aus dieser selben geistigen Welt heraus mit-bringt. Morgens bringen wir uns nur die Kräfte mit, dieunser Seelenleben entwickeln können zwischen Geburtund Tod. Da vermögen wir nicht auf unsere anderenWesensglieder einzuwirken. Wenn wir aber mit der Ge-burt aus der geistigen Welt heraus ins Dasein treten,bringen wir uns die Kräfte mit, die plastisch umgestal-tend wirken auf physischen Leib und Ätherleib, dasheißt, die für eine Entwickelung sorgen, in welche physi-scher Leib und Ätherleib einbezogen werden.

Könnten wir den physischen Leib und Ätherleib nichtzertrümmern, könnte der physische Leib nicht durchden Tod durchgehen, so könnten wir unsere Erlebnissenicht in die Entwickelung einbeziehen. Hier ist derPunkt, wo wir sagen müssen, wenn wir auch noch sosehr mit Furcht und Schrecken dem Tode entgegen-schauen und Leid und Schmerz empfinden vor demTode, der uns selber treffen soll, so können wir nursagen, wenn wir die Welt von einem überpersönlicheriStandpunkt aus betrachten: Wir müssen den Tod gerade-zu wollen! Denn er allein gibt uns die Möglichkeit,diesen Leib zu zertrümmern, um uns einen neuen imnächsten Leben aufzubauen, damit wir alle unsere Erden-früchte hineinbringen ins Leben.

So wirken in dem normalen Gang der Menschheits-entwickelung zwei Ströme zusammen: ein innerer undein äußerer. Diese beiden Strömungen zeigen sich unsnebeneinanderstehend im physischen Leib und Ätherleibauf der einen Seite und im astralischen Leib und Ich aufder andern Seite. - Was kann der Mensch nun tunzwischen Geburt und Tod in bezug auf physischen Leibund Ätherleib? Nicht nur wird der astralische Leibabgenutzt durch das Seelenleben, sondern es werden

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auch die Organe des physischen Leibes und des Äther-leibes abgenutzt. Da zeigt sich nun folgendes: Währendder astralische Leib in der Nacht in einer geistigen Weltist, arbeitet er auch zugleich am physischen Leib und amÄtherleib, um sie in jenen Zustand wieder zu bringen, indem sie normalerweise sind. Nur im nachtschlafendenZustand kann wieder hergestellt werden im physischenLeib und Ätherleib, was wahrend des Tages zerstörtworden ist. So sehen wir, wie allerdings auch an demphysischen Leib und an dem Ätherleib aus der geistigenWelt heraus geschaffen wird. Aber es ist eine Grenzevorhanden: die Anlage und Konfiguration des physi-schen Leibes und des Ätherleibes sind mit der Geburtgegeben und bleiben innerhalb enger Grenzen dieselben.Wir sehen da gleichsam in der Weltentwickelung zu-sammenarbeiten zwei Strömungen, welche wir nichtohne weiteres in abstrakter Weise in Harmonie bringenkönnen. Wer versuchen wollte, mit abstrakten Gedan-ken diese beiden Strömungen zusammenzudenken, werleichten Herzens eine Philosophie entwickeln wollte undsagen würde: Nun ja, harmonisch muß der Mensch sein;also müssen die zwei Strömungen beim Menschen ineiner Harmonie sein - der würde sich gewaltig irren.Das Leben arbeitet nicht nach Abstraktionen; das Lebenarbeitet so, daß dasjenige, was wir in unsern Abstrak-tionen erträumen, erst nach langen Entwickelungen er-reicht werden kann. Das Leben arbeitet so, daß esGleichgewichtszustände, Harmonien erst dadurch her-vorbringt, daß durch Disharmonien hindurchgegangenwird. So ist das lebendige Spiel im Menschen, das durchGedanken auch gar nicht so ohne weiteres in Einklanggebracht werden soll. Es bedeutet immer ein abstraktes ,̂nüchternes Denken, wenn wir Harmonie hineinträumen

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wollen, wo sich das Leben durch Disharmonien hin-durch zu Gleichgewichtslagen entwickelt. Das ist aberüberhaupt das Schicksal der menschlichen Entwickelung,daß uns die Harmonie vorschweben muß als Ziel, daswir aber nicht erreichen, wenn wir es in irgendeinenZustand der menschlichen Entwickelung bloß hinein-träumen.

So wird uns vielleicht auch nicht unverständlich sein,wenn die Geisteswissenschaft sagt, daß das Leben aller-dings sich anders ausnimmt, je nachdem wir es betrach-ten vom Gesichtspunkt des inneren oder des äußerenMenschen aus. Das sind zwei verschiedene Gesichts-punkte. Wer mit irgendeiner Abstraktion diese zweiGesichtspunkte vereinigen wollte, der würde nicht be-rücksichtigen, daß es nicht bloß ein Ideal, ein Urteil gibt,sondern so viele Urteile wie Gesichtspunkte, und daßgerade durch das Zusammenwirken der verschiedenenUrteile erst die Wahrheit gefunden werden kann. Daherdürfen wir vermuten, daß der Gesichtspunkt des Lebensin bezug auf den inneren Menschen vielleicht ein andererist als in bezug auf den äußeren Menschen. Man könnteja vielleicht durch einen Vergleich klarmachen, daß dieWahrheiten ganz relative sind, je nach dem sie von daoder dort her betrachtet werden. -

Es ziemt sich ganz gewiß für einen Riesen, der eineFaust hat so groß wie ein kleines Kind, zu sagen: Ichlache mir ins Fäustchen! Ob aber der Zwerg, der gerade-so groß ist wie ein kleines Kind, vom Riesen sagen kann:Er lacht sich ins Fäustchen - das ist eine andere Frage.Die Dinge nehmen sich notwendig wie sich ergänzendeWahrheiten aus. Es gibt keine absolute Wahrheit inbezug auf äußere Dinge. Die Dinge müssen von denverschiedensten Gesichtspunkten betrachtet werden, und

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die Wahrheit muß gefunden werden durch die einzelnenWahrheiten, die sich gegenseitig beleuchten.

Daher brauchen auch nicht in dem Leben, wie es unsvor Augen tritt, der äußere Mensch, physischer Leib undÄtherleib, und der innere Mensch, Astralleib und Ich, inirgendeiner Entwickelungsepoche des Lebens in einemvollkommenen Einklang zu stehen. Würde der Einklangein vollkommener sein, dann wäre es so, daß derMensch, wenn er sich des Abends in die geistige Welthineinbegibt, die Erlebnisse des Tages mitnähme und sieumgestaltete in regelmäßiger Weise in die Essenzen desKönnens, der Weisheit und so weiter. Es würde dann sosein, daß er die Kräfte, die er aus der geistigen Welt desMorgens, hineinbringt in die physische Welt, in bezugauf das Seelenleben anwendete; aber niemals würde dieGrenze überschritten werden, die wir charakterisierthaben, und welche für den physischen Leib gezogen ist.Dann gäbe es aber auch keine menschliche Entwicke-lung. Der Mensch muß lernen, diese Grenzen selbst zubeachten; er muß sie in sein Urteil aufnehmen. Es mußfür ihn im breitesten Umfange die Möglichkeit geben,diese Grenzen zu überschreiten.

Und er überschreitet sie fortwährend! Im wirklichenLeben finden fortwährend Grenzüberschreitungen statt,so daß zum Beispiel der astralische Leib und das Ich,wenn sie auf den physischen Leib wirken, die Grenzennicht einhalten. Dadurch aber übertreten sie die demphysischen Leibe eingepflanzte Gesetzmäßigkeit. Wirschauen dann dasjenige, was an solchen Grenzüberschrei-tungen geschehen ist, in Unregelmäßigkeiten, in Desor-ganisationen des physischen Leibes, in dem Hervortre-ten dessen, was sich darstellt als die Krankheiten, die ausdem Geiste, aus Astralleib und Ich heraus, bewirkt

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worden sind. - Noch in anderer Weise kann eine Grenzeüberschritten werden, nämlich dadurch, daß der Menschals innerer Mensch die Zusammenstimmung mit deräußeren Welt nicht trifft, daß er versagt in bezug auf denvollständigen Einklang mit der äußeren Welt. Wir kön-nen uns das an einem drastischen Beispiel klarmachen.

Als vor wenigen Jahren der berühmte Ausbruch desMont Pele in Zentralamerika stattgefunden hatte, fandman nachher in den Trümmern ganz merkwürdige, sehrlehrreiche Dokumente. Auf einem stand: Ihr brauchteuch nicht mehr zu fürchten, denn die Gefahren sind allevorüber; es werden keine weiteren Ausbrüche mehrerfolgen! Das zeigen uns die Gesetze, die wir als Natur-gesetze erkannt haben. - Diese Dokumente, auf denengeschrieben war, daß weitere vulkanische Ausbrücheunmöglich wären nach der Naturerkenntnis, waren ver-schüttet worden - und mit ihnen die Gelehrten, die dieseDokumente verfaßt hatten aus der gewöhnlichen Gelehr-tenerkenntnis. Wir sehen hier sich ein tragisches Ereignisvollziehen. Aber gerade daran können wir die Dishar-monie des Menschen mit der physischen Welt ganz klarsehen. Niemand kann zweifeln, daß der Verstand derje-nigen Gelehrten, die diese Naturgesetze erforscht haben,ausgereicht hätte, die Wahrheit zu finden, wenn er nurgehörig ausgebildet worden wäre. Denn an Verstand hates ihnen nicht gemangelt. Merkwürdig ist es, daß derVerstand dazu gehört, aber daß er doch allein gar nichtsmachen kann. Denn die Tiere, die vor solchen Katastro-phen stehen, wandern aus! Das ist eine bekannte Tatsa-che. Nur die Haustiere gehen mit dem Menschen zu-grunde. Es genügt also der sogenannte tierische Instinkt,um weit mehr an Weisheit gegenüber solchen kommen-den Ereignissen zu entwickeln, als die heutige mensch-

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liehe Weisheit. Dasjenige, was «Verstand» ist, macht esnicht aus; unser heutiger Verstand ist auch bei denjeni-gen genügend vorhanden, welche die größten Torheitenbegehen. Unser Verstand reichte also wohl aus; aber esreichen nicht aus die Erfahrungen aus den Erlebnissen,weil diese nicht gereift sind. In dem Augenblick, wo derVerstand mit engbegrenzten Erlebnissen etwas festsetzt,was ihm plausibel erscheint, da kann er in diese Dishar-monie kommen mit den wirklichen äußeren Erlebnissen,und dann brechen die äußeren Erlebnisse über ihmzusammen. Denn es besteht ein Verhältnis zwischendem physischen Leib und der Welt, das der Menschnach und nach erkennen und überschauen wird mit denKräften, die er heute schon hat; aber erst dann wird er eskönnen, wenn er sich Erlebnis über Erlebnis aus deräußeren Welt gesammelt hat und diese Erlebnisse verar-beitet hat. Dann wird an dem, was er aus diesen Erleb-nissen entwickelt hat, um völlige Harmonie herzustellen,auch kein anderer Verstand mitgearbeitet haben als derheutige; denn der Verstand ist gerade heute auf einergewissen Hohe angelangt. Was fehlt, ist die Ausreifungder Erfahrungen und Erlebnisse. Wenn diese Ausreifungder Erlebnisse nicht dem Äußeren entspricht, dannkommt der Mensch in Disharmonie mit der Außenweltund kann an den Ereignissen der Außenwelt zerbrechen.

Wir haben an einem drastischen Beispiel gesehen, wiedie Disharmonie eingetreten ist zwischen dem physi-schen Leib der betreffenden Gelehrten und dem, was siein ihrem Innern als ihre Seelenentwickelungs-Stufe er-reicht haben. Wir haben dieses Beispiel herangezogen,um unsere Betrachtungen zu verdeutlichen. Diese Dis-harmonie braucht nicht dadurch aufzutreten, daß gewal-tige Ereignisse über uns hereinbrechen; sondern eine

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solche Disharmonie ist prinzipiell und wesentlich immerdann gegeben, wenn irgendwelche äußeren Schädigun-gen unsern physischen und Ätherleib treffen; wenn äuße-re Schädigungen den äußeren Menschen so treffen, daßer nicht imstande ist, durch seine Kräfte von innendiesen äußeren Schädigungen entgegenzuarbeiten, sie ausseinem Leben zu verbannen. Dasselbe ist jedesmal derFall, wenn irgendeine äußere Schädigung an uns heran-tritt, sei sie nun äußerlich sichtbar, oder sei sie einesogenannte innere Schädigung, die aber doch eigentlicheine äußerliche ist; denn wenn wir uns den Magenverderben, so ist das dem Wesen nach ganz dasselbe, alswenn uns ein Ziegelstein auf den Kopf fällt. Es ist derFall, wenn der Konflikt entsteht, oder entstehen kannzwischen dem inneren Menschen und dem, was vonaußen an ihn herantritt; wenn der innere Mensch diesemäußeren Menschen nicht gewachsen ist.

Und im Grunde ist jede Krankheit eine solche Dis-harmonie, eine solche Grenzüberschreitung zwischendem inneren und dem äußeren Menschen. Was in einerfernen Zukunft als eine Harmonie erst erreicht werdenmuß, was ein abstrakter Gedanke bleiben würde, wennwir es hineinträumen wollten in das Leben, das stelltsich dadurch her, daß tatsächlich fortwährend Grenz-überschreitungen stattfinden. Der Mensch lernt erst da-durch immer reifer in bezug auf sein inneres Leben zuwerden, wenn er allmählich sieht, wie er durch das, waser schon erlangt hat, dem äußeren Leben nicht gewach-sen ist. Das bezieht sich nicht nur auf die Dinge, welchedas Ich durchdringt, sondern auch auf dasjenige, was derastralische Leib durchdringt. Was das Ich durchdringt,erlebt der Mensch bewußt vom Aufwachen bis zumEinschlafen; wie der astralische Leib wirkt, wie er seine

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Grenzen überschreiten kann und sich ohnmächtig erwei-sen kann, um eine richtige Harmonie herzustellen zwi-schen innerem und äußerem Menschen, das entzieht sichzwar dem gewöhnlichen Bewußtsein des Menschen, istaber dennoch vorhanden. In allen diesen Dingen habenwir das tiefere innere Wesen der Krankheit gegeben.

Welches sind nun die zwei möglichen Ausgänge derKrankheit? - Entweder es tritt Heilung ein, oder dieKrankheit endet mit dem Tode. Wie wir die Entwicke-lung des normalen Lebens betrachten, so können wirhineinstellen Tod auf der einen Seite, Heilung auf derandern Seite.

Was bedeutet nun für die gesamte Entwickelung desMenschen eine Heilung? - Da müssen wir uns klar sein,was für die Gesamtentwickelung des Menschen zunächstdie Krankheit ist.

Die Krankheit stellt dar eine Disharmonie zwischeninnerem und äußerem Menschen; der innere Menschkann nicht in Harmonie kommen mit dem äußerenMenschen, wenn Krankheit gegeben ist. Es muß sich ingewisser Weise der innere Mensch zurückziehen ausdem äußeren Menschen. Wir können das am einfachstensehen, wenn wir uns in den Finger schneiden. - Wirkönnen nur den physischen Leib zerschneiden, nicht denAstralleib. Aber der Astralleib muß fortwährend eingrei-fen in das gewöhnliche Getriebe, und die Folge ist jetzt,daß der astralische Leib in dem zerschnittenen Fingernicht dasjenige findet, was er finden müßte, wenn er bisin die kleinsten Teile den Finger durchdringen will. Erfühlt sich zurückgestoßen aus dem physischen Finger-teil. Das ist das Wesentliche einer ganzen Summe vonKrankheiten, daß der innere Mensch sich vom äußerenzurückgestoßen fühlt, daß er nicht Anteil nehmen kann

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an dem äußeren Menschen, weil er zerstört ist, weil erihm durch Schädigung entrissen ist. Nun können wir dieSache so weit bringen, daß wir entweder durch äußereEinwirkungen den äußeren Menschen herstellen - oderden inneren Menschen so stark machen, daß er selbstden äußeren Menschen herstellt; das heißt, es kannHeilung eintreten. Dann wird in einer schwächeren oderstärkeren Art die Verbindung von äußerem und inneremMenschen nach der Heilung wiederum da sein; dasheißt, es kann jetzt der innere Mensch in gewisser Weisedie Möglichkeit finden, in dem korrigierten äußerenMenschen doch weiter zu leben; er kann wieder ein-greifen.

Das ist ein Vorgang, der sich vergleichen läßt mit demAufwachen. Es war ein künstliches Zurückgezogenseindes inneren Menschen. Jetzt ist ihm neuerdings dieMöglichkeit gegeben, im äußeren Menschen das zu erle-ben, was der Mensch nur in der äußeren Welt erlebenkann. Die Heilung gibt dem Menschen die Möglichkeit,zurückzukehren und das hineinzutragen, was er nichthineintragen könnte, wenn er nicht zurückkehren könn-te. Daher wird das, was den Heilungsprozeß ausmacht,aufgenommen in den inneren Menschen und bildet jetzteinen inneren Bestandteil dieses inneren Menschen. Ge-nesung, Heilung ist das, worauf wir mit Befriedigung,mit Genugtuung zurückblicken können, weil wir unssagen können: Ebenso wie wir beim Einschlafen etwasmitnehmen für den inneren Menschen, wodurch wir ihnhöher bringen, so nehmen wir durch die Heilung etwasmit, wodurch wir den inneren Menschen höher bringen.Wenn es auch nicht gleich sichtbar ist, vorhanden ist es:wir werden in unserem inneren Menschen, in unseremseelischen Erleben unter allen Umständen erhöht; wir

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erfahren eine Steigerung unseres inneren Menschendurch die Genesung. Wir nehmen in die geistige Welt,die wir während des Schlafes durchleben, dasjenige mit,was wir durch die Genesung haben. Die Heilung ist alsoetwas, was mit hineingeht in den Schlafzustand, was unsstärkt in bezug auf die Kräfte, die wir heranbildenwährend des Schlafzustandes. - Alles was die geheimnis-vollen Beziehungen von Heilung und Schlaf sind, würdesich erläutern lassen, wenn wir Zeit hätten, diese ange-deuteten Gedanken ganz auszubreiten. Daraus könnenSie schon sehen, wie wir die Heilung gleichstellen kön-nen dem, was wir des Abends mit hineinnehmen in diegeistige Welt, und was die Entwickelungsvorgänge för-dert, insofern sie zwischen Geburt und Tod überhauptgefördert werden können. Was wir aber aus den äußerenErlebnissen im normalen Erleben nach innen hinein-ziehen, das muß in unserem Seelenleben zwischen Ge-burt und Tod als höhere Entwickelung herauskommen.Doch nicht immer muß dasjenige, was wir als Heilungaufnehmen, herauskommen; wir können es sehr wohlmitnehmen durch die Pforte des Todes, und es kann unserst in einem nächsten Leben zugute kommen. Was unsaber die Geisteswissenschaft zeigt, ist dies, daß wir einerjeglichen Heilung dankbar sein müssen, denn eine jedeHeilung bedeutet eine Erhöhung des inneren Menschen,die wir nur mit den Kräften erreichen, die im Innernaufgenommen werden.

Die andere Frage ist die: Was bedeutet für den Men-schen eine Krankheit, die mit dem Tode endet?

In gewisser Weise bedeutet sie das Umgekehrte, daßwir nicht imstande sind, die zerstörte Harmonie zwi-schen innerem und äußerem Menschen wieder herzu-stellen; daß wir die Grenze nicht überschreiten können

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in diesem Leben zwischen dem inneren und dem äuße-ren Menschen; daß dieses Überschreiten der Grenze inrichtiger Art uns in diesem Leben unmöglich ist. Wiewir stille stehen müssen vor dem gesunden Leib amMorgen, wenn wir aufwachen, so müssen wir, wenn eineKrankheit mit dem Tode endet, stille stehen vor demgeschädigten Leib, können nicht wieder eine Änderungan ihm hervorrufen. Wie der gesunde Leib bleibt, wie erist, und uns am Morgen aufnimmt, so nimmt uns dergeschädigte Leib nicht auf, das heißt, wir müssen mitdem Tode endigen. Wir müssen diesen Leib verlassen,weil wir nicht imstande sind, die Harmonie wiederherzustellen. Dafür aber nehmen wir diese Erlebnissenunmehr mit in die geistige Welt, die wir betreten, ohnedaß wir einen äußeren Leib zur Verfügung haben. Waswir als Frucht in uns aufgenommen haben, daß uns eingeschädigter Körper nicht wieder aufnimmt, das wirdeine Bereicherung desjenigen Lebens, das zwischen demTode und einer neuen Geburt verläuft. So müssen wiralso auch einer Krankheit, die mit dem Tode endet,dankbar sein, weil sie uns die Möglichkeit bietet zu einerSteigerung unseres Lebens zwischen Tod und neuerGeburt, um die Kräfte und Erfahrungen zu sammeln, dienur zwischen Tod und neuer Geburt ausreifen können.

Da haben wir die seelische Konsequenz einer Krank-heit, die mit dem Tode endet, und die seelische Konse-quenz einer Krankheit, die mit Heilung endet. In dasganze innere Leben greifen die Heilungsprozesse ein undbringen uns vorwärts; in alles, was die Entwickelung ineiner äußeren Welt bedeutet, greifen die Krankheitenein, die mit dem Tode enden. Das gibt uns zwei Gesichts-punkte: Wir können einer Krankheit, die mit einerHeilung endet, dankbar sein, weil wir durch sie in

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unserem Innern stärker geworden sind; und wir könneneiner Krankheit, die mit dem Tode endet, dankbar sein,weil wir wissen: Wenn wir uns auf eine höhere Stufeerheben in dem Leben zwischen Tod und neuer Geburt,so wird der Tod für uns von unendlicher Wichtigkeitsein, und wir haben dann gelernt, daß unser Leib nichtso sein darf, wenn wir ihn wieder aufbauen. Und wirwerden jene Schädigungen vermeiden, an denen wirgescheitert sind.

So haben wir in der Tat die Notwendigkeit, uns aufzwei Gesichtspunkte zu stellen. Keinem Menschen solltees einfallen, etwa aus der Geisteswissenschaft heraus zusagen: Wenn der Tod, mit dem eine Krankheit endet,etwas ist, dem wir dankbar sein müssen, wenn dertödliche Ausgang einer Krankheit etwas ist, was uns imnächsten Leben höher bringt, dann müßten wir dieKrankheit mit dem Tode endigen lassen und sie nichtheilen! - Wer das sagte, spräche nicht im Sinne wahrerGeisteswissenschaft, denn eine solche hat es nicht mitAbstraktionen zu tun, sondern mit denjenigen Wahrhei-ten, die von den verschiedensten Gesichtspunkten ge-wonnen werden. Wir haben die Pflicht, mit allen Mit-teln, die uns zu Gebote stehen, für die Heilung zusorgen. Innerhalb des menschlichen Bewußtseins liegtdie Aufgabe zu heilen, so viel man kann. Denn derStandpunkt, daß wir auch dem Tode dankbar sein kön-nen, wenn er eingetreten ist, ist nicht ein solcher, der indas gewöhnliche menschliche Bewußtsein hineinfällt,sondern der nur gewonnen werden kann, wenn manüber das gewöhnliche Menschheitsbewußtsein sich er-hebt. Von einem «Götter-Standpunkt» aus ist es berech-tigt, diese oder jene Krankheit mit dem Tode endigen zulassen; vom menschlichen Standpunkt aus ist es nur

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berechtigt, alles aufzuwenden, was die Heilung herbei-führen kann. Eine Krankheit, die mit dem Tode endet,muß von einem andern Gesichtspunkt aus beurteilt wer-den. Zwischen diesen zwei Gesichtspunkten gibt es zu-nächst keine Vereinigung; sie müssen nebeneinander her-gehen. Alles abstrakte Harmonisieren nützt hier nichts.Die Geisteswissenschaft muß vordringen zu der Aner-kennung solcher Wahrheiten, die von einer gewissenSeite das Leben darstellen, und anderer Wahrheiten, diees von einer andern Seite darstellen.

Richtig ist der Satz: Heilung ist gut! Heilung istPflicht! - Richtig ist aber auch der andere Satz: Der Todist gut, wenn er als das Ende einer Krankheit auftritt;der Tod ist wohltätig für die gesamte menschliche Ent-wickelung! - Trotzdem sich beide Sätze widersprechen,enthalten sie beide lebendige Wahrheiten für das lebendi-ge Erkennen. Gerade wo in das Menschenleben zweisolche Strömungen hineinleuchten, die sich erst harmoni-sieren müssen, sehen wir, wie wir nicht schabionisierenund systematisieren dürfen, sondern daß wir das Lebenim breitesten Umfange betrachten müssen. Klar müssenwir uns sein, daß sogenannte Widersprüche, wenn sienur auf Erfahrung, auf Erleben und auf tieferer Erkennt-nis der Sache beruhen, unsere Erkenntnis nicht beein-trächtigen, sondern daß sie uns gerade nach und nach ineine lebensvolle Erkenntnis hineinführen, weil das Lebenselber sich zu Harmonie entwickelt.

Das normal verlaufende Leben schlingt sich so fort,daß wir aus Erlebnissen uns Fähigkeiten bilden, und daßwir aus dem, was wir zwischen Geburt und Tod nichtinnerlich verarbeiten können, dasjenige weben, was wirdann zwischen Tod und neuer Geburt verarbeiten kön-nen. In diesen normalen Gang des Menschenlebens

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schlingen sich Heilung und tödliche Krankheit so hinein,daß eine jede Heilung ein Beitrag ist, um den Menschenhinaufzuführen zu höheren Stufen, und daß eine jedetödliche Krankheit den Menschen wiederum hinaufführtauf eine höhere Stufe; einmal in bezug auf den inneren,das andere Mal in bezug auf den äußeren Menschen. Soschreitet die Welt vorwärts, indem sie nicht in einer,sondern in zwei entgegengesetzten Strömungen fort-schreitet- Gerade an Krankheit und Heilung zeigt sichuns die ganze Kompliziertheit des menschlichen Lebens.Wäre nicht Krankheit und nicht Heilung, so würde dasnormale Leben nur so verlaufen können, daß derMensch am Gängelbande des Daseins sein Leben fort-spänne, immer an der Grenze stehen bliebe, und sozusa-gen aus der geistigen Welt heraus zwischen Tod undneuer Geburt sich die Kräfte geben lassen müßte, umseinen Organismus neu aufzubauen. Da würde derMensch nie die Früchte seiner eigenen Arbeit an derWeltentwickelung entfalten können. Diese Früchte kannder Mensch in den engeren Grenzen des Lebens nurdadurch entfalten, daß er irren kann; denn nur dadurch,daß man weiß, welches der Irrtum ist, kommt man zueiner Überzeugung der Wahrheit. Die Wahrheit so auf-nehmen, daß sie die eigene Angelegenheit der Seele wird,daß sie hineingreift in die Entwickelung, das kann mannur, wenn man die Wahrheit aus dem Mutterboden desIrrtums herausholt. Gesundheit könnte der Mensch auchhaben, wenn er nicht mit seinen eigenen Fehlern undUnvollkommenheiten durch Grenzüberschreitungen ein-griffe ins Leben. Eine Gesundheit, die so zustandekommt wie die innerlich erkannte Wahrheit, eine Ge-sundheit, die sich der Mensch von Inkarnation zu Inkar-nation durch sein eigenes Leben selbst erringt, eine

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solche Gesundheit kommt durch die realen Irrtümer,durch die Krankheiten zustande, also dadurch, daß derMensch auf der einen Seite lernt, seine realen Irrtümerund Fehler in der Heilung zu überwinden, und auf derandern Seite dadurch, daß er in dem Leben zwischenTod und neuer Geburt auf diejenigen Fehler hingestoßenwird, die er in einem Leben nicht gutmachen konnte,damit er lernt, sie in dem nächsten Leben gut zu ma-chen.

Wir können jetzt wiederum anknüpfen an unser drasti-sches Beispiel und können sagen: Der Verstand jenerGelehrten, welche damals so falsch prophezeit haben,wird nicht bloß vorsichtig werden, um nicht so schnellzu urteilen, sondern er wird die Erlebnisse ausreifenlassen, um nach und nach Harmonie herzustellen mitdem Leben.

So sehen wir, wie Heilung und Krankheit in dasMenschenleben eingreifen und zu dem führen, ohne dasder Mensch sein Ziel nie als sein eigenes erreichenkönnte. Wenn wir so Krankheit und Heilung betrachten,können wir sehen, wie das scheinbar abnorme Eingreifenin unsere Entwickelung - und dazu gehört Krankheitund Heilung und der tödliche Ausgang der Krankheit -zum menschlichen Dasein gehört, wie der Irrtum dazugehört, wenn wir die Wahrheit erkennen wollen. Wirkönnten in bezug auf Krankheit und Heilung dasselbesagen, was ein großer Dichter in einer wichtigen Epocheüber den menschlichen Irrtum gesagt hat: «Es irrt derMensch, so lang' er strebt!» Das könnte unter Umstän-den so erscheinen, als ob der Dichter hätte sagen wollen:Es irrt der Mensch immer! - Der Satz ist aber umkehr-bar, und wir können ihn so aussprechen: Es strebe derMensch, so lange er irrt! - Der Irrtum gebiert ein neues

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Streben. Der Satz: «Es irrt der Mensch, so lang' erstrebt!» braucht uns daher durchaus nicht mit Trostlo-sigkeit zu erfüllen; denn jeder Irrtum erzeugt neuesStreben, und der Mensch wird so lange streben, bis erüber den Irrtum hinaus ist. Das heißt, der Irrtum selberführt über sich hinaus zur menschlichen Wahrheit! Undebenso können wir sagen: Es mag der Mensch erkran-ken, so lange er sich entwickelt! Durch die Krankheitentwickelt er sich zugleich zur Gesundheit. So strebt dieKrankheit in der Heilung, und sogar im Tode über sichselbst hinaus und erzeugt die Gesundheit nicht als eindem Menschen Fremdes, sondern als eine aus dem Men-schenwesen selbst herausgewachsene, mit diesem Men-schenwesen übereinstimmende Gesundheit.

Alles, was in solch merkwürdigen und bedeutungs-vollen Gebieten erscheint, ist wohl geeignet, uns zuzeigen, wie die ganze Welt in ihrer Weisheit so einge-richtet ist, daß der Mensch in allen Entwickelungsmo-menten die Gelegenheit findet, über sich selbst hinaus-zuwachsen - ganz im Sinne jenes Satzes von AngelusSilesius, mit dem wir den Vortrag «Was ist Mystik?»beschließen konnten. Wir wandten ihn damals auf dieintimere Entwickelung an; jetzt können wir ihn ausdeh-nen in bezug auf das weite Gebiet von Krankheit undHeilung und können sagen, selbst da zeigt sich unswahrhaftig:

Wann du dich über dich erhebst und Gott läßt walten:So wird in deinem Geist die Himmelfahrt gehalten!

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DER POSITIVE UND DER NEGATIVE MENSCH

Berlin, 10. März 1910

In bezug auf das menschliche Seelenleben erblicken wir,wenn wir prüfend den Blick schweifen lassen vonMensch zu Mensch, die allergrößte Verschiedenheit. Wirhaben auf typische Verschiedenheiten der Menschen undihre Gründe in bezug auf das Seelenleben im Laufedieser Vorträge hingewiesen; wir haben hingedeutet aufdie Verschiedenheit der Menschenseelen in bezug aufCharakter, Temperament, in bezug auf andere Inhaltedes Seelenlebens, Fähigkeiten, Kräfte und so weiter. Einebedeutsame Verschiedenheit zeigen uns nun die Men-schenseelen - und damit alle menschlichen Individuali-täten — in bezug auf das, was in dem heutigen Vortragbetrachtet werden soll als der positive und der negativeMensch. Nun möchte ich mich gleich im Beginne desVortrages dagegen verwahren, daß diese Darstellung, dieganz in dem Charakter der übrigen Vorträge gehaltensein soll, irgend etwas zu tun habe mit den dilettanti-schen, aber heute so gangbaren Darstellungen, welchediese Ausdrücke vom «positiven» und «negativen» Men-schen gebrauchen. Was im heutigen Vortrage gesagtwerden wird, werden wir ohne jegliche Beziehung zusolchen Bezeichnungen lediglich aus sich selbst herausbegreifen müssen.

Wir könnten uns nun zunächst umsehen nach einerArt Definition, nach einer Art Begriffserklärung dessen,was ein positiver und negativer Mensch ist. Wenn wireine solche Begriffsbezeichnung aufstellen wollten, könn-

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ten wir etwa sagen: Im Sinne einer wahrhaftigen undtiefer eindringenden Seelen- und Menschenlehre könnenwir als einen «positiven» Menschen denjenigen bezeich-nen, der gegenüber den auf ihn eindringenden äußerenEindrücken die Festigkeit und Sicherheit seines Innerenbis zu einem gewissen Grade zu bewahren in der Lageist; so daß er in diesem seinem Innern festumrisseneBegriffe und Vorstellungen hat, eine gewisse Summe vonNeigungen und Abneigungen, von Empfindungsim-pulsen, in denen er nicht beirrt werden kann durch dieEindrücke, die im Außenleben in ihn einfließen. Ebensokann als ein positiver Mensch derjenige bezeichnet wer-den, der für sein Handeln gewisse Triebe und Impulsehat, von denen er sich nicht durch jeden beliebigenEindruck des Tages abbringen läßt. Und als einen «nega-tiven» Menschen könnten wir denjenigen bezeichnen,der leicht sich den wechselnden Eindrücken des Lebenshingibt, der stark ergriffen wird von diesen oder jenenVorstellungen, die ihm bei diesem oder jenem Men-schen, in dieser oder jener Versammlung auftauchen,und durch die er leicht geneigt wird, das, was er nacheiner gewissen Seite hin gedacht, gefühlt und empfundenhat, einer Änderung zu unterwerfen und etwas anderesin seine Seele aufzunehmen. In bezug auf das Handelnkönnten wir einen solchen Menschen als einen negativenbezeichnen, der sich von seinen Trieben und Impulsendes Handelns leicht durch alle möglichen Einflüste-rungen dieses oder jenes Menschen abbringen laßt.

Damit hätten wir so ungefähr etwas gewonnen inbezug auf den positiven und negativen Menschen, wasuns eine Art Definition sein kann. Aber gerade solchenins Leben doch tief einschneidenden Eigenartigkeitender menschlichen Natur gegenüber können wir uns

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leicht überzeugen, daß wir mit Begriffserklärungen, mitDefinitionen im Grunde genommen sehr wenig gewon-nen haben, und daß das Streben nach solchen möglichstbequemen Begriffs Vorstellungen ein ziemlich eitles ist.Denn wenn wir von einer solchen abstrakten Begriffsde-finition heruntersteigen ins wirkliche Leben, so könnenwir sagen: Ein Mensch mit starken Trieben, mit starkenLeidenschaften, die seit der Kindheit ein gewisses Geprä-ge angenommen haben, die gewohnheitsmäßig im Lebendieselben bleiben, ein solcher Mensch wird sozusagen ansich alles mögliche von guten, von schlimmen Beispielenund Vorbildern haben vorübergehen lassen und wird beidem bleiben, was seine gewohnten Triebe und Leiden-schaften sind. Er wird sich eigensinnig vielleicht dieseoder jene Vorstellungen und Begriffe über dieses oderjenes gemacht haben, und man wird ihm Grün und Blauan Tatsachen und dergleichen vorbringen können: erwird bei seinen Vorstellungen bleiben, und es wird sichHindernis über Hindernis auftürmen, um nur diesesoder jenes als eine ihn anders überzeugende Tatsachebeizubringen. Ein solcher Mensch wäre ein sehr positi-ver Mensch, seine Positivität würde ihn aber zu nichtsführen, als stumpf und eindruckslos durch das Lebenhindurchzugehen, nichts zu sehen und nichts zu hören,was seinen Lebensinhalt bereichern und umfassendermachen könnte. Einen anderen, der geneigt ist, in jedemAugenblicke in der hingebungsvollsten Weise neue Ein-drücke aufzunehmen, der bereit ist, überall da, wo sichseinen gewohnten Vorstellungen gegenüber Tatsachenergeben, die ihn erschüttern, diese Vorstellungen zukorrigieren, einen solchen Menschen könnten wir - viel-leicht nach verhältnismäßig kurzer Zeit - einen ganzanderen werden sehen. Wir könnten sehen, wie er Epo-

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ehe um Epoche seines Lebens durchmacht, von einemInhalte seines Lebens zu einem andern eilt, und erkonnte uns vielleicht nach einiger Zeit erscheinen als einvöllig Verwandelter gegenüber einer früheren Lebens-epoche. Und wenn wir ihn vergleichen mit einem sol-chen, der stumpf und eindruckslos durch das Lebengeht, dann werden wir sagen können: Er hat sein Lebenbesser angewendet als der andere. Aber wir müßten ihnaus den angedeuteten Charaktereigenschaften heraus be-zeichnen als einen negativen Menschen.

Wir könnten finden, daß irgend jemand mit einerrobusten Natur, die sich gewohnheitsmäßig durch dasLeben fortschleppt, durch die Mode der Zeit sich verlei-ten ließe, eine Reise durch ein Land zu machen, inwelchem man große Kunstschätze sieht; aber er ist sopositiv in all den Empfindungen, die er einmal in seinerSeele abgeladen hat, daß er an Kunstwerk und Kunst-werk vorbeigeht, höchstens einmal nachsieht im Baede-ker, welches die bedeutendsten sind, und daß nach alle-dem - so «positiv» ist er -, wenn er nach Hause kommt,seine Seele gar nicht bereichert worden ist durch diesesSich-Fortschleppen von Galerie zu Galerie, von schönerLandschaft zu schöner Landschaft. Es wäre also ein sehrpositiver Mensch. Und es konnte einen Menschen geben,der ungefähr dasselbe durchmacht, aber mit einem sol-chen Charakter, daß er jedem einzelnen Bilde tief hingege-ben ist, mit Enthusiasmus an jedes einzelne Bild sich ver-liert, so daß er unmittelbar, wenn er davor steht, sich sel-ber ganz vergißt und ganz in dem lebt, was er sieht; undso bei dem nächsten Bilde, bei dem dritten und so weiter.So geht er mit einer Seele, die an jede Einzelheit hingege-ben ist, durch das Ganze hindurch; aber weil er so jederEinzelheit hingegeben ist, verwischt jeder nächste Ein-

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druck den vorhergehenden, und wenn er zurückkommt,hat er doch nur ein Chaos in seiner Seele. Das wäre einMensch, entgegengesetzt in gewisser Beziehung dem er-sten, dem positiven; er wäre ein sehr negativer Mensch.

So könnten wir in der mannigfaltigsten Weise Beispie-le finden für positive und negative Menschen. Wir könn-ten als einen negativen Menschen denjenigen bezeichnen,der so viel gelernt hat, daß sein Urteil unsicher gewor-den ist gegenüber jeder Tatsache; daß er nicht weiß, waswahr ist und was falsch und zu einem Zweifler demLeben und dem Wissen gegenüber wird. Er wäre einnegativer Mensch. - Ein anderer könnte dieselben undebensoviele Eindrücke haben; aber er geht so durch dasLeben, daß er die Eindrücke verarbeitet und die Fülleder Eindrücke einzureihen weiß in die Fülle seiner vonihm aufgesammelten Weisheit. Er wäre ein positiverMensch im besten Sinne des Wortes.

Ein Kind kann bis zur Tyrannei gegenüber den Er-wachsenen positiv sein, indem es überall auf die in ihmfestsitzende Natur fußt und alles, was dagegen spricht,abzuweisen sucht. So kann es, indem es sich durchnichts beeinflussen läßt, sehr positiv sein. Und einMensch, der viel im Leben erfahren hat, durch mancher-lei Irrtümer und Enttäuschungen durchgegangen ist, erkann, trotzdem er viel erfahren hat, jedem Eindruck vollhingegeben sein, kann leicht aufzurichten und leichtniederzuschmettern sein; dieser kann trotz großer Le-benserfahrungen ein negativer Mensch im Verhältnis zueinem Kinde sein. Kurz, erst wenn wir das Leben inseiner Mannigfaltigkeit, nicht nach Begriffen, auf unswirken lassen, wenn die Begriffe uns nur eine Art Leitersind, um die Tatsachen und Ereignisse des Lebens aufden Sprossen dieser Leiter anzuhängen, nur wenn wir

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die Begriffe so betrachten, daß sie uns helfen, die Er-scheinungen und Tatsachen des Lebens zu ordnen undzu regeln, können wir über so einschneidende Dinge alspositiver und negativer Mensch dem Leben gegenüberzurechtkommen. Denn wir berühren damit in der Tat,indem wir auf diese Eigentümlichkeit der Menschenseeleeingehen, etwas Allerwichtigstes. Die Sache wäre imGrunde genommen einfach, wenn man den Menschennicht in der lebendigsten Weise zu denken hätte — wirhaben das ja oftmals in diesen Vorträgen in seinemvollen Umfange hervorgehoben - lebendig darinnen ste-hend in dem, was wir «Entwickelung» nennen.

Wir sehen des Menschen Seele von Entwickelungs-stufe zu Entwickelungsstufe eilen. Und wenn wir imwahren Sinne der Geisteswissenschaft sprechen, er-scheint uns ja auch nicht dasjenige, was sich im Lebendes einzelnen Menschen zwischen Geburt und Tod ab-spielt, als etwa gleichförmig verlaufend; denn wir wis-sen, daß dieses Leben zwischen Geburt und Tod nur dieWiederholung ist von vorhergehenden - und der Aus-gangspunkt für nachfolgende Leben. Und wenn wir sodas gesamte Menschenleben durch die verschiedenenVerkörperungen hindurch betrachten, kann es uns leichteinleuchtend sein, daß wenn für irgendeinen Menschenin einem Leben zwischen Geburt und Tod die Entwicke-lung einmal langsamer verläuft, so daß er sein ganzesLeben hindurch auf denselben Charaktermerkmalen, aufdemselben Vorstellungsinhalt beharrt, er dafür in einemanderen Leben um so mehr die Entwickelung nachzu-holen hat, welche ihn zu anderen Stufen des menschli-chen Seelenlebens führt. Die Betrachtung des einzelnenLebens bleibt eben überall im höchsten Grade unzu-länglich.

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Wenn wir die Seele selber betrachten, wie sie sich unsin den vorhergehenden Vorträgen dargestellt hat, sokönnen wir fragen: Wie kommen wir dieser Seele undihrem Leben gegenüber zurecht mit den Andeutungen,die wir jetzt gewonnen haben über den positiven undnegativen Menschen?

Wir haben in den früheren Vorträgen gezeigt, wie dasSeelenleben des Menschen durchaus nicht ein chaoti-sches Aufundabwogen von Vorstellungen, Empfin-dungen und Begriffen ist, wie es dem ersten flüchtigenBlick erscheint, sondern wie wir drei Glieder dieserseelischen Wesenheit zu unterscheiden haben:

Zunächst das, was wir als das niederste Glied dermenschlichen Seele bezeichnen müssen, und das wirgenannt haben die «Empfindungsseele». Wir finden dieseEmpfindungsseele zunächst in ihrer, man möchte sagen,ureigensten Gestalt dann, wenn wir Menschen auf ver-hältnismäßig niedriger Entwickelungsstufe betrachten;Menschen, die noch ganz hingegeben sind an das, was inihnen an Leidenschaften, Trieben, Begierden, Wünschenfür das Dasein liegt, und die daher jedem aufsteigendenWunsch, jeder aufsteigenden Begierde einfach folgen.Was wir als das Ich, als den eigentlichen selbstbewußtenKern der Menschenseele bezeichnet haben, ruht sozusa-gen für solche Menschen, die vorzugsweise in der Emp-findungsseele leben, wie in einem wogenden Meere vonLeidenschaften, Trieben, Begierden, von Sympathienund Antipathien, und wird jedem Sturm der menschli-chen Seele gegenüber wie ein Sklave sich verhalten. Einsolcher Mensch wird seinen Neigungen folgen, nichtindem er sie beherrscht, sondern indem er sich vonihnen beherrschen läßt. Er wird seinem unbestimmteninneren Verlangen nachgeben. Das Ich wird sich wenig

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herausheben aus dem Gewoge von Trieben, Begierdenund Neigungen. Wenn sich die Seele weiter entwickelt,dann wird mehr und mehr deutlich, wie das Ich in einemstarken Mittelpunktsgefühl sich herausarbeitet.

Wir wissen, daß ein höheres Seelenglied, das ja beijedem Menschen vorhanden ist, die Vorherrschaft gegen-über der Empfindungsseele antritt, wenn der Menscheine Entwickelung durchmacht. Dieses zweite Seelen-glied haben wir «Verstandesseele» oder «Gemütsseele»genannt. Wenn der Mensch beginnt, nicht jeder Neigungund jedem Triebe einfach zu folgen, dann arbeitet sichheraus, was immer in ihm ist, was aber die Vorherrschaftantreten kann, wenn der Mensch anfängt, vom Ich ausseine Neigungen und Begierden zu beherrschen, wennsich in die wechselnden Eindrücke des Lebens dasjenigehineinmischt, was diese Eindrücke in ihm zu einemgeschlossenen Innenleben machen kann. Daher zeigt unsdieses zweite Glied der menschlichen Seele, die Verstan-desseele, wenn sie vorherrscht, den Menschen in einemvertiefteren Zustande.

Sodann wiesen wir auf das höchste Glied der mensch-lichen Seele hin, auf die «Bewußtseinsseele», wo das Ichmit seiner ganzen Stärke hervortritt. Da kehrt sich dasmenschliche Innenleben wiederum nach außen, und dieVorstellungen und Begriffe sind jetzt nicht nur dazu da,um über die Leidenschaften Herr zu werden, sondernauf dieser Stufe wird das ganze innere Seelenleben vondem Ich aus dirigiert, so daß es ein wissender Spiegel derAußenwelt wird. Wenn sich der Mensch zur Erkenntnisder Außenwelt erhebt, dann tritt die Bewußtseinsseeledie Oberherrschaft in seinem Seelenleben an. Diese dreiSeelenglieder finden wir bei jedem Menschen; nur ist daseine oder das andere in jedem Falle vorherrschend.

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Nun haben uns die letzten Vorträge gezeigt, daß dieSeele in ihrer Entwickelung noch weiter gehen kann.Schon im gewöhnlichen Leben muß ja die Seele weitergehen, wenn der Mdnsch im wahren Sinne des Wortesein Mensch werden will. Ein Mensch, der zu Antriebenseines Handelns nur erhalten könnte, was die äußerenForderungen des Lebens ihm stellen, der nur das zuImpulsen seines Handelns hätte, wozu er getrieben wirddurch Sympathie und Antipathie, der würde nicht dasBestreben haben, die reine Menschennatur in sich zurDarstellung zu bringen. Erst wer sich erhebt über diegewöhnlichen Forderungen, die ihm Sympathie und An-tipathie einimpfen, zu sittlichen Idealen und Ideen, erstder sucht die reine Menschennatur darzustellen. SittlicheIdeen, ethische Vorstellungen müssen aufsteigen in derMenschennatur aus dem, was wir die geistige Welt nen-nen; denn durch unsere sittlichen Forderungen und ethi-schen Begriffe bereichern wir das Seelenleben mit neuenElementen. Denn nur dadurch hat der Mensch eine«Geschichte», daß er in das Leben etwas hineintragenkann, was sein Inneres aus unbekannten dunklen Tiefenherauszieht und dem äußeren Leben einprägt. Ebensowürden wir niemals zu einem wirklichen Wissen überdie Weltengeheimnisse kommen, wenn wir nicht dieäußeren Erlebnisse gleichsam auffädeln könnten an denIdeen, die wir nicht in der äußeren Welt sehen können,sondern die wir aus unserem Geiste der Außenweltentgegenbringen, und wodurch wir erst die äußere Weltin der wahren Gestalt erklären und begreifen können.Dadurch bringt der Mensch schon ein geistiges Elementin sein Inneres hinein, bereichert die Seele mit jenenElementen, die sie niemals aus dem bloßen äußerenLeben gewinnen könnte.

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Wie wir in dem Vortrage «Was ist Mystik?» geschil-dert haben, kann der Mensch zu einem höheren Seelen-leben dadurch aufsteigen, daß er sich für eine Weilewillkürlich den Eindrücken und Anregungen der Au-ßenwelt verschließt, seine Seele leer macht und dann sichdem hingibt, was in seiner Seele aufflammen kann, was -nach einem Ausdruck des Meisters Eckhart - nur über-leuchtet wird als ein kleines Fünklein von den wech-selnden Tageserlebnissen, was aber aufflammen kann,wenn der Mensch sich ihm in innerer Versenkung hin-gibt. Ein solcher Mystiker steigt auf zu einem Lebenüber das gewöhnliche Seelenleben hinaus; er vertieft sichin die Weltengeheimnisse dadurch, daß er das an Ge-heimnissen in sich selber zur Offenbarung bringt, was inseine Seele hineingelegt ist von diesen Weltengeheim-nissen. Und in einem folgenden Vortrage haben wirgesehen: Wenn der Mensch in Ergebenheit das Zukünf-tige erwartet, wenn er der Vergangenheit gegenüber sichso verhält, daß er ein Größeres in sich wohnen fühlt, alssich schon in ihm ausgebildet hat in seinem heutigenDasein, dann wird er dazu gestimmt, das Größere, dasüber ihn hinausragt, anzubeten. Wir haben gesehen, daßder Mensch im Gebet über sich selbst hinauswächst inseinem Innern, daß er sich erhebt zu etwas, was er außennicht sehen kann, was aber über sein gewöhnlichesLeben hinausgeht. Und endlich haben wir gesehen, daßdurch die eigentliche geistesforscherische Schulung, wel-che die drei Stufen der Imagination, der Inspiration undder Intuition erreicht, der Mensch hineinwächst in eineWelt, die dem gewöhnlichen Menschen so unbekannt ist,wie die Welt des Lichtes und der Farben dem blindenAuge unbekannt ist. — So haben wir ein Seelenwachstumgesehen, das über das normale hinausgeht, und wir

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blicken damit hinein in eine Entwickelung der menschli-chen Seele durch die mannigfaltigsten Stadien hindurch.

Wenn wir den Menschen zwischen Geburt und Todbetrachten, werden wir sagen: Die Menschen um unsherum sind in bezug auf ihre Entwickelung auf denverschiedensten Stufen. Der eine Mensch zeigt uns,wenn er ins Dasein tritt, daß er die Anlage hat zu dieseroder jener Stufe; und wir sehen, daß ihm ein gewissesMaß zugewiesen ist, innerhalb dessen er die Seele zueinem gewissen Grade führen kann, um das, was er sicherrungen hat, dann mitzunehmen, wenn er durch diePforte des Todes geht, und in einem neuen Lebenweiterzuführen. So können wir Menschen ihren Charak-teren nach auf den mannigfaltigsten Stufen finden. Wennwir diese Menschen dann betrachten, wie sie von Stufezu Stufe schreiten, werden uns die beiden Vorstellungenvom positiven und negativen Menschen nicht nur sobegegnen, daß-wir sagen: der eine ist positiv, der andereist negativ; sondern sie begegnen uns dann so, daß wirsie bei einem einzelnen Menschen in den aufeinanderfol-genden Entwickelungsstufen finden. Wir sehen einenMenschen, der im Beginne seiner Entwickelung starkhervortretende, eigensinnige Impulse in seiner Empfin-dungsseele hat, der sich uns zeigt mit bestimmten Trie-ben, Begierden und Leidenschaften bei einem verhält-nismäßig noch dunklen, kaum gefühlten Ich-Mittel-punkt. Ein solcher Mensch ist zunächst ganz positiv. Ergeht als ein positiver Mensch durch das Leben. Wenn erin dieser Form ein positiver Mensch bleiben müßte,würde er überhaupt nicht vorwärts kommen. DerMensch muß im Laufe seiner Entwickelung von einempositiven Menschen, der er in bezug auf gewisse Eigen-schaften auf einer untergeordneten Entwickelungsstufe

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ist, zu einem negativen werden; denn das, was derMensch in seine Entwickelung aufnehmen soll, muß anihn herankommen können. Wer nicht sozusagen durchUnterdrückung gewisser positiver Eigenschaften, die inseiner Empfindungsseele gegeben sind, sich bereit ma-chen wollte, daß neue Eindrücke, die er noch nicht inseiner Seele hat, in ihn einfließen können und sich mitseiner Seele vereinigen, daß sie ein Inhalt der Seelewerden; ein Mensch, der also nicht imstande wäre, übereinen gewissen Grad von Positivität, den ihm die Naturohne sein Zutun verliehen hat, sich hinauszuheben zueiner gewissen Negativität, um neue Eindrücke aufzu-nehmen, der könnte nicht weiterkommen.

Da liegt die Notwendigkeit ausgesprochen, daß in derTat der Mensch im Verlaufe seiner Entwickelung positi-ve Eigenschaften überwinden muß, sich sozusagen selbernegativ machen muß, damit er einen neuen Seeleninhaltaufnehmen kann. Damit aber berühren wir etwas, wasgleichzeitig für das Seelenleben notwendig ist, und wasin gewisser Weise auch eine Gefahr bedeuten kann. Wirberühren ein Kapitel unseres Seelenlebens, das uns sorecht veranschaulicht, wie nur intime Seelenkunde unssicher durch das Leben leiten kann. Denn es kann sichzeigen, wie der Mensch gar nicht vorwärtskommenkann, wenn er gewisse Gefahren des Seelenlebens scheu-en würde. Und gewisse Gefahren sind beim negativenSeelenleben immer vorhanden; denn ein Mensch mit ei-nem negativen Seelenleben ist den äußeren Eindrückenhingegeben. Der negative Mensch ist eben ein solcher, inwelchen die Eindrücke einfließen, der eins wird mit denäußeren Eindrücken, sich mit ihnen vereinigt. Damit ist esaber schon gegeben, daß der negative Mensch nicht nurgute äußere Eindrücke aufnehmen kann, sondern auch

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schlimme und gefährliche. Was sich uns darstellt bei derBetrachtung eines Menschen mit negativen Seeleneigen-tümlichkeiten, ist namentlich das Folgende:

Wer einen negativen Zug hat in seiner ganzen Seele,der wird, wenn er anderen Menschen gegenübertritt,leicht durch allerlei Dinge, die nichts zu tun haben zumBeispiel mit Vernunft und Urteil, hingerissen werden,dasjenige aufzunehmen, was von dem anderen Menschenausgeht - nicht nur das, was sie ihm sagen, sondern auchdas, was sie tun -, und nachzuahmen ihre Beispiele, ihreHandlungen; er wird leicht werden können wie dieandern Menschen. Damit ist ein solcher negativerMensch in die Möglichkeit versetzt, zwar den gutenEindrücken sich leicht hinzugeben, aber auch der Ge-fahr, daß jede mögliche schlechte Anregung von außensich in seiner Seele so ablagern kann, daß er sich mit ihridentifiziert, und daß sie ein Glied seines Seelenlebenswird. Wenn wir von dem normalen Verlauf des Lebensaufsteigen zu dem, was der Kenner des geistigen Lebensweiß, was an geistigen Tatsachen und geistigen Wesen-heiten in unserer Umgebung wirkt, dann muß gesagtwerden, daß allerdings der Mensch mit negativen Seelen-eigenschaften gerade für die ungreifbaren, unbestimm-baren, sich im äußeren Leben wenig offen zeigendenEindrücke eine Hingabe hat und durch sie leicht beein-flußbar ist. Ein Beispiel: Es ist durchaus den Tatsachendes Lebens entsprechend, daß der Mensch ein ganzanderes Wesen wird, wenn er in größerer Gesellschaftist, als wenn er allein ist; er wird in bezug auf seinganzes Seelenleben für den genaueren Betrachter einanderer in einer Gemeinschaft - und namentlich in einertätigen Gemeinschaft, als wenn er allein ist. Wenn derMensch allein ist, folgt er seinen eigenen Impulsen; dann

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wird auch ein schwaches Ich die Gründe für sein Han-deln aus sich heraus suchen. In der Gemeinschaft gibt esaber immer eine Art «Massenseele»; da fließen die Trie-be, die Begierden, die Urteile und so weiter zusammen.Ein positiver Mensch wird sich nun nicht leicht demhingeben, was da zusammenfließt; der negative Menschwird aber jederzeit leicht beeinflußbar sein von dem, wasjetzt als Massenseele bezeichnet worden ist. Daher kannman immer wieder erleben, daß es zutrifft, was einDialektdichter mit ein paar Worten gesagt hat: Es istzwar grob gesagt, aber dem Leben gegenüber stecktdoch ein Körnchen Wahrheit darinnen, wenn Roseggersa£ti

' Oaner ist a MenschZwoa san Leit'San's mehra, san's Viecher.

Die Erfahrung kann man überall machen: Oft ist derMensch wirklich klüger allein, als wenn er in Gemein-schaft ist; da ist er der Durchschnittsstimmung fast ganzausgeliefert. Daher sehen wir ja so leicht, daß jemand ineine Versammlung geht mit ganz unbestimmten Empfin-dungen und Trieben; dann tritt ein Redner auf, der mitBegeisterung für etwas eintritt, was zunächst dem betref-fenden Zuhörer vielleicht ganz fern gelegen hat; derRedner selbst überzeugt ihn vielleicht nicht so stark alsder allgemeine Jubel der übrigen Zuhörer. Er wird auchdavon ergriffen und geht überzeugt hinaus.

Dieses Suggestive in der Massenstimmung spielt eineungeheure Rolle im Leben. Das kann uns aber auchverdeutlichen, wo die Gefahren liegen gegenüber dem,was wir die negative Seelenstimmung nennen. Daraufberuht auch das Gefahrvolle aller Sektenbildung. Wozuman oft einen einzelnen Menschen nicht leicht bringen

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könnte, wenn man versuchte, ihn zu diesem oder jenemzu überzeugen, das ist verhältnismäßig leicht, wenn maneine Art von Sekte zusammen hat. Da ist immer eineMassenstimmung vorhanden; da wirkt Seele auf Seele.Und da sind es besonders die sogenannten negativenNaturen, die ausgeliefert sind dem, was Massenstim-mung, Sektenstimmung ist. Da liegen ganz gewaltigeGefahren für die negative Seele.

Wir können noch weiter gehen. Wir haben in denvorherigen Vorträgen geschildert, wie sich die Seeledurch die Entwickelung hinaufleben kann in höhereRegionen des geistigen Lebens. Und Sie finden in meinerSchrift «Die Geheimwissenschaft im Umriß» dargestellt,wie die Seele es machen muß, um eine gewisse Stufe inihrer Entwickelung zu überschreiten und in höhere Ge-biete hinaufzukommen. Da muß die Seele immer etwasunterdrücken, muß zunächst etwas Positives unter-drücken und muß sich offen machen für neue Eindrük-ke, muß sich gleichsam künstlich in eine negative Stim-mung versetzen. Ohne dieses künstlich sich in eine neueStimmung Versetzen geht es gar nicht. Wir haben ja ofthervorgehoben, was der Geistesforscher tun muß, wenner zu höheren Stufen des Daseins hinaufkommen will.Was im gewöhnlichen Leben des Menschen beim Ein-schlafen eintritt, daß die Seele leer wird von äußerenAnregungen, dieses Versinken in den Schlaf muß derGeistesforscher willkürlich, bewußt herstellen. Er mußsich bewußt in die Stimmung versetzen, wodurch alleäußeren Eindrücke des Tages aufhören, so daß die Seeleganz leer wird. Dann muß sich die Seele hingebenkönnen den Eindrücken, die zunächst, wenn der Betref-fende im Beginne seiner Übungen steht, ganz neu sind;das heißt, er muß sich so negativ wie möglich machen.

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Und alles, was wir im mystischen Leben, im Erkennender höheren Welten nennen «innere Beschaulichkeit»,«innere Versenkung», das bringt im Grunde genommennegative Seelenstimmungen hervor. Das ist gar nicht zuumgehen. Wenn der Mensch die Anregungen der Au-ßenwelt unterdrückt und bewußt einen Zustand her-stellt, durch den er ganz in sich versenkt ist und nichtshineinläßt von dem, was ihn bisher als positiver Menschausgefüllt hat, dann ist er in einem negativen, selbstbe-schaulichen Zustand.

Ja, auch dann schon tritt etwas Ähnliches ein, wennder Mensch die etwas bequemeren äußeren Mittel an-wendet, die zwar ein höheres Leben nicht herbeiführenkönnen, die aber dem, der in die höheren Welten hinauf-steigen will, eine gewisse Unterstützung gewähren:wenn er von dem, was sonst die positiven Triebe imMenschen auch animalisch fördert, übergeht zu einerbesonderen Diät, zum Beispiel zur vegetarischen odereiner ähnlichen. Nicht dadurch, daß man Vegetarierwird oder dieses oder jenes nicht ißt, kann man sich indie höheren Welten hinaufbefördern; das wäre allerdingszu bequem, wenn der Mensch sich in die höhere Welt«hinaufessen» könnte; denn was in die höheren Weltenhinaufführt, ist das Arbeiten an der eigenen Seele. DieseArbeit wird aber erleichtert, wenn wir die äußere Leib-lichkeit entlasten von den schwächenden Einflüssen, dieeine gewisse Ernährung auf den Menschen haben kann.Wer ein höheres, geistiges Leben führen will, der wirdsich überzeugen, wie seine Kräfte wachsen, wenn er einebestimmte Diät befolgt. Aber wenn man gewisse Nah-rungsmittel fortläßt, die dem Menschen das Positive, dasrobust Festlegende geben, so kommt man durch diesesWeglassen auch in eine Negativität hinein. Wer auf dem

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Boden wahrer, echter, nicht scharlatanhafter Geisteswis-senschaft steht, der wird niemals leugnen, was einfachden Tatsachen gemäß mit einem wirklichen geistigenLeben in Verbindung stehen muß - auch schon durchäußere Dinge, welche mit einem geistigen Leben verbun-den sind. Damit wird der Mensch in gewisser Weise inGefahr kommen, auch den schlechten geistigen Einflüs-sen zugänglich zu werden. Wie wir, wenn wir unsgeistesforscherisch bilden und uns leer machen von denEindrücken des Tages, zugänglich werden den geistigenTatsachen und Wesenheiten, die immer in unserer Um-gebung sind, und zwar den guten geistigen Mächten undKräften zugänglich werden, die wir erst wahrnehmenlernen, wenn das Organ dafür offen ist, so werden wirauch den schlimmen geistigen Mächten und Kräftenzugänglich; denn die sind damit verbunden. Genau so,wie wir auch mißklingende Töne hören, wenn wir wohl-lautende Töne hören wollen. Wenn wir in die geistigeWelt eindringen wollen, müssen wir uns auch klar sein,daß wir nach der schlimmen Seite geistige Erfahrungenmachen können. Wenn wir nur nach der negativen Seitehingegeben wären der geistigen Welt, konnte Gefahrüber Gefahr unser geistiges Leben bedrohen.

Wenn wir zunächst noch absehen von der geistigenWelt und einer geistigen Entwickelung selber und unsauf den Horizont des gewöhnlichen Lebens stellen, sokönnen wir schon fragen: Wie wirkt das auf den Men-schen, was ihn zunächst negativ macht, zum Beispieleine vegetarische Diät? - Wenn der Mensch einfach auseinem agitatorischen Eigensinn heraus Vegetarier wird,ohne ein sachgemäßes Urteil einzuholen, oder aus einemPrinzip heraus, ohne daß er in seiner seelischen Lebens-und Handlungsweise etwas ändert, dann wird dieses

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Übergehen zur vegetarischen Diät ihn unter Umständenrecht sehr schwach machen gegenüber diesen oder jenenLebenseinflüssen, und er wird vielleicht besonders inbezug auf gewisse leibliche Eigenschaften herunter-kommen können. Wenn aber jemand überzugehen hatzu einem Leben der Initiative, wenn er sich neue Aufga-ben des Lebens zu setzen hat, die sich ihm stellen nichtaus dem äußeren Leben, sondern aus einem reichen, insich entwickelten Seelenleben heraus, wenn er neuenInhalt in sein Leben hineinbringt, dann kann es ihmungeheuer nützen, wenn er auch in bezug auf die Diät ineine neue Lebensweise eintritt und sich die Hindernisse,die aus der alten Diät kommen können, aus dem Wegeschafft.

Die Dinge sind in ganz verschiedener Weise wirksam;das zeigt sich aber nur für den, der das Leben intimbetrachtet. Weil diese Dinge dem wahren Geistesfor-scher bekannt sind, darum betont er so stark, was hierschon oft betont worden ist: daß der wahre Geistesfor-scher niemand die Mittel geben wird, sich in die höherenWelten hinaufzuerheben, ohne ihn zugleich darauf auf-merksam zu machen, daß man nicht bloß die negativenEigenschaften der Seele, die notwendig sind zum Emp-fangen neuer Eindrücke, nicht bloß Beschaulichkeit undVersenktsein in sein Inneres entwickelt, sondern zu glei-cher Zeit dem Leben, das eine neue Stufe erklimmensoll, einen mächtigen, es haltenden und es ausfüllendenInhalt gibt. Wem man die Mittel an die Hand gibt, Kraftzu entwickeln, um in die geistige Welt hineinzuschauen,den würde man durch die damit verbundene Negativitätauch in die Lage versetzen, allen möglichen schlimmengeistigen Kräften ausgesetzt zu sein. Wenn man aber beijemand, der in die geistige Welt eindringen will, zugleich

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den guten Willen findet, sich aus den Mitteilungen derGeistesforscher heraus damit bekanntzumachen, was esin den höheren Welten gibt, dann wird ein solcher inkeinem Augenblicke bloß der Negativität hingegebensein; sondern er wird etwas haben, was die Seele aufeiner höheren Stufe mit einem positiven Inhalt ausfüllenkann. Deshalb wird so oft betont, man solle nicht nurnach höheren Stufen der Seele suchen, sondern parallelgehen lassen ein sorgfältiges Studieren dessen, was ausder Geisteswissenschaft heraus als Mitteilung gegebenwerden kann. Daher wird gerade in der Geistesfor-schung berücksichtigt, daß der Mensch, wenn er neueWelten erleben soll, notwendig in eine Negativität hin-einkommt.

Aber was wir so hervorrufen müssen, wenn wir dieSeele bewußt entwickeln, das tritt uns an verschiedenenMenschen draußen im Dasein entgegen, weil ja nicht nurim gegenwärtigen Leben die Seele eine Entwickelungdurchmacht, sondern schon in früheren Leben Entwicke-lungen durchgemacht hat und bereits auf einer bestimm-ten Stufe ins Dasein tritt. Wie wir im gegenwärtigenLeben von Stufe zu Stufe eilen und, wenn wir zu einerpositiven Stufe kommen wollen, dazwischen negativeSeeleneigenschaften ausbilden müssen, so können wirauch einen solchen Abschluß gehabt haben, als wir dasletzte Mal durch die Pforte des Todes gingen und in einnächstes Leben mit vorwiegend negativen oder auchpositiven Eigenschaften eintraten. Was dazu angetan ist,uns in das Leben mit positiven Eigenschaften herein-treten zu lassen, das wird uns so lassen, wie wir sind undwird ein Hemmschuh höherer Entwickelung sein; dennwas uns an Anlagen zu positiven Eigenschaften gegebenist, gibt einen scharf ausgeprägten Seelencharakter. Die

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Anlage zu einer negativen Seelenstimmung gibt uns zwardie Möglichkeit, daß wir zwischen Geburt und Tod vielin unser Seelenleben hineinführen; aber sie liefert unsauch all den Wechselfällen des Lebens aus, vor allemaber den wechselnden Eindrücken, die wir von denanderen Menschen empfangen. Daher können wir be-sonders sehen, wenn ein Mensch mit negativer Seelen-stimmung anderen Menschen gegenübertritt, wie dieEigenschaften dieser anderen Menschen auf ihn abfär-ben. So kann ein negativer Mensch, wenn er einemFreunde oder jemandem, mit dem er sonst im Verhältniseiner Neigung steht, nahe tritt, wirklich erfahren, wie erimmer ähnlicher und ähnlicher dem anderen wird. Men-schen mit negativer Eigenschaft in Ehe oder Freund-schaft werden sogar die Schriftzüge des anderen anneh-men. Wer das Leben so betrachtet, der wird sehen, wiedie Schriftzüge des einen Ehegatten mit negativer Seelen-anlage immer ähnlicher werden den Schriftzügen desanderen.

So sind wir als negative Menschen den wechselndenEinflüssen anderer Menschen, namentlich derer, welchenwir nahe treten, hingegeben. Dadurch sind wir als nega-tive Seelen sogar in gewisser Weise der Gefahr derEntselbstung ausgesetzt, so daß unser eigenes Seelenle-ben, unser eigenes Ich ausgelöscht werden kann. Das istdie Gefahr des negativen Menschen.

Die Gefahr des positiven Menschen ist die, daß erEindrücke von den anderen Menschen nicht leicht auf-nimmt, daß Eigenschaften des anderen nicht leicht inseine Seele hineingehen, daß er an allen anderen Men-schen vorübergeht, sich nicht anschließen kann, nichtFreundschaften, nicht Neigungen im Leben finden kann.Es ist die Gefahr des positiven Menschen, daß er verhär-

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tet und verödet bleiben kann in bezug auf seine Seele.Aber auch sonst dem Leben gegenüber zeigt sich, wiedie positiven Eigenschaften und negativen Eigenschaftenin der Seele wirksam sind. Und es ist tatsächlich tiefhineinführend in das Leben, wenn wir die Menschenunter diesem Gesichtspunkte des positiven und des nega-tiven Menschen betrachten; auch da, wo der Mensch derNatur gegenübersteht. Wer das Leben wirklich intim zubetrachten vermag, wird sogar an den Einflüssen derNatur auf den Menschen positive und negative Wirkun-gen unterscheiden können. Was wirkt denn vorzugs-weise von einem Menschen auf den anderen? Was wirktdenn vorzugsweise dann, wenn der Mensch äußere Ein-drücke empfängt?

Es gibt eines, was in gewisser Weise die Seele immerpositiver macht. Das ist für den gegenwärtigen Men-schen in seiner heutigen normalen Entwickelung -gleichgültig, welche Stufe des Lebens er erreicht hat -das Urteil, die vernünftige Erwägung, das Sich-klar-Werden über irgendeine Situation, über irgendein Le-bensverhältnis. Das macht immer in gewisser Weisepositiv. Dagegen ist das Verlieren des gesunden, selbst-bewußten Urteils immer etwas, was die Seele negativmacht, was Eindrücke in die Seele hineinsendet, ohnedaß sie sich durch positive Eigenschaften dagegen weh-ren kann. Ja, selbst das können wir sehen, daß mensch-liche Eigenschaften, wenn sie heruntertreten in die Sphä-re des Unbewußten, stärker auf den anderen Menschenwirken, als wenn sie von der Sphäre des gesundenUrteils ausgehen, von der Sphäre der ordentlichen,selbstbewußten Urteilskraft. Man muß es ja leider imLeben vielfach erfahren - und gerade in einer geisteswis-senschaftlichen Bewegung: Wenn Mitteilungen aus der

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geistigen Welt gegeben werden, die durchaus gekleidetsind in eine festgeschürzte Logik, Mitteilungen, welchegerade in dieselben Formen des Urteils sich kleiden, dieman auch sonst im Leben anerkennt, dann gehen dieMenschen solchen Mitteilungen sogar gern aus demWege; das lassen sich die Menschen leider durchausnicht gefallen, daß in vernunftgemäßer Weise, schön dieTatsachen nach Ursache und Wirkung fortführend, Mit-teilungen aus den geistigen Welten gegeben werden.Wenn diese Mitteilungen aber so gegeben werden, daßman sich in gewisser Weise des Urteils entschlagen kann,daß man das Urteil übersehen kann, dann sind dieMenschen leicht zu gewinnen für Mitteilungen aus dergeistigen Welt. Es gibt sogar Menschen, die im höchstenGrade argwöhnisch sind denen gegenüber, welche mitgesunder Vernunft Mitteilungen aus der geistigen Weltgeben, dagegen sehr gläubig gegenüber solchen, welcheim medialen Zustande, wie inspiriert von einer unbewuß-ten Macht, derartige Mitteilungen in die Welt setzen.Diese Menschen, die nicht wissen, was sie sagen, diemehr sagen, als sie selbst wissen, sie finden sogar mehrGläubige als die, welche genau wissen, was sie sagen. Eswird vielfach gesagt: Wie kann jemand über die geistigeWelt etwas sagen, der nicht wenigstens in einem halbaußerbewußten Zustande ist, so daß man sieht, daß ervon einer fremden Macht besessen ist! - Das gilt vielfachals Grund gegen die Mitteilung von Tatsachen aus dergeistigen Welt, die bewußt gegeben werden. Daher istdas Laufen zu Medien viel beliebter als dasjenige, was inden Formen und Begründungen einer gesunden Vernunftaus der geistigen Welt den Menschen geboten wird.

Wenn aber das, was aus der geistigen Welt kommt,heruntergetaucht wird in eine Region, wo die Bewußt-

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heit ausgeschlossen ist, ausgeschlossen wird, ist immerdie Gefahr vorhanden, daß es auf die negativen Seelenei-genschaften wirkt; denn da treten immer die negativenEigenschaften in Kraft, wo etwas aus dunklen, unterbe-wußten Gründen an den Menschen herantritt. Wenn wirdas Leben genauer betrachten, können wir immer wiedersehen, daß der Dümmere durch seine positiven Eigen-schaften eine stärkere Wirkung selbst auf den Weiserenhat, daß dieser sehr leicht demjenigen verfällt, was auseiner nicht so gesunden Vernunft, wie er selbst sie hat,aus irgendwelchen dunklen Tiefen zutage gebracht wird.Daher können wir es begreifen, wie im Leben feinereNaturen mit einer fein ausgearbeiteten Vernunft ausgelie-fert sind Leuten mit einem robusten Vorstellungsver-mögen, die alles aus ihren Trieben und Neigungen her-aus behaupten. Man würde das Leben durchaus verste-hen, wenn man noch weiter ginge. Man würde dannauch sehen, wie sich die merkwürdige Tatsache darstellt,daß einem Menschen jemand gegenübertreten kann, dernicht nur seine gesunde Vernunft zuweilen verleugnet,sondern der in bezug auf seine Vernunft angekränkelt istund aus einem angekränkelten Bewußtsein heraus diesesoder jenes behauptet. Solange das Krankhafte nicht be-merkt wird, sind feinere Naturen solchen Menschen,welche aus einer krankhaften Seelenverfassung etwasbehaupten, ungemein stark ausgeliefert. Alle diese Dingegehören zu einer wirklichen Lebensweisheit; und wirkönnen sie nur richtig ins Auge fassen, wenn wir unsklar sind, daß der Mensch, der nach der einen Seite hinpositive Seeleneigenschaften hat, auch namentlich für diegesunde Vernunft gar nicht zugänglich zu sein braucht,daß dagegen ein Mensch mit negativen Eigenschaftendem zugänglich ist, wofür er nichts kann, und worin die

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Vernunft gar nicht hineinleuchten kann. Diese Dingemüssen für eine feinere Seelenkunde durchaus berück-sichtigt werden.

Aber auch wenn wir nicht Eindrücke von Menschenin Betracht ziehen, sondern jene Eindrücke, die von dersonstigen Umgebung des Menschen in die Seele kom-men, ins Auge fassen, können wir Wichtiges und Bedeu-tungsvolles gewinnen, wenn wir von dem Gesichtspunktdes positiven und des negativen Menschen ausgehen.Denken wir uns zum Beispiel, irgendein Forscher bear-beitet ein ganz bestimmtes Gebiet, und nehmen wir an,er ist ein sehr fruchtbarer Forscher, der viele einzelneTatsachen der äußeren Welt verarbeitet, rein tatsachen-mäßig. Dadurch wirkt er zum Heile der Menschheit.Nun aber verbindet er diese Tatsachen nach den Vorur-teilen seiner Seele, nach alle dem, was er aus Erziehungund aus seinem vorhergehenden Leben gewonnen hat,durch eine bestimmte Theorie und Weltanschauung, dievielleicht gar nichts anderes darstellt als eine ganz einsei-tige Auslegung der Tatsachen. Dieser Mensch wird mitden Begriffen und Ideen, die er aus den Tatsachengewonnen hat - wenn er sie nur selbst durch sein eigenesNachdenken gewonnen hat -, durchaus etwas haben,was in gesundender Weise auf seine Seele wirken kann;denn es ist dadurch, daß er es sich selbst als seineWeltanschauung erarbeitet hat, etwas, was seine Seelemit positiver Stimmung erfüllt. Nehmen wir aber an, eskommen jetzt Bekenner und Anhänger, die nicht an denTatsachen selbst sich die Ideen erarbeiten, sondern siehören oder lesen; die nicht jene Gefühle haben, welchesich der betreffende Forscher im Laboratorium undKabinett erarbeitet hat: bei einem ganzen Heere vonAnhängern kann das alles negativen Seeleneigenschaften

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entsprechen. Dasselbe Glaubensbekenntnis können wirbei einem Schulhaupt, das einer einseitigen Richtung sichhingibt, als die Seele positiv machend anschauen; und beieinem ganzen Heere von Anhängern, die nur nachbeten,womit der andere seine Seele erfüllt hat, kann dasselbedurchaus negativen Eigenschaften entsprechen und unge-sund wirken, kann sie immer schwächer und negativermachen.

Das ist etwas, was uns durch die ganze Geschichte desmenschlichen Geisteslebens auffallen muß. Wir könnenauch heute sehen, wie Menschen mit einer ganz materia-listisch-mechanistischen Weltanschauung, die sie sichselbst mit Fleiß aus ihren Tatsachen erarbeitet haben,durchaus frische, erfreuliche, positive Naturen sind, dieuns als entzückende Charaktere entgegentreten. Bei ih-ren Anhängern aber, die im Grunde genommen in ihrenKöpfen dieselben Vorstellungen tragen, die sie aber nichtselbst gewonnen haben, da zeigen sich diese Vorstel-lungen entsprechend einer ungesunden, negativen,schwächenden Seelenverfassung. Deshalb können wir dieTatsache verzeichnen, daß es ein Unterschied ist, ob mansich eine Weltanschauung selber erwirbt oder sie bloßannimmt: das eine Mal entspricht sie positiven, dasandere Mal negativen Seeleneigenschaften. Diese Dingekreuzen sich durchaus überall im Leben.

So können wir sehen, wie uns unsere Stellung zurWelt sowohl positiv wie auch negativ machen kann.Negativ machen kann uns zum Beispiel eine rein theore-tische Naturbetrachtung; überhaupt das, was wir nichtsehen können. Aber um eine gewisse Stufe zu erreichen,müssen wir auch Negatives in uns hineinbringen. Esmuß auch theoretische Naturerkenntnis geben. Man darfsich aber deshalb nicht der Einsicht verschließen, daß

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theoretische Naturerkenntnis - das Systematisieren derTiere, Pflanzen, Mineralien, und was daraus folgt alsNaturgesetze in Begriffen und Ideen - auf unsere Seeleso wirkt, daß wir mit unserem negativen Charakter demhingegeben sind. Dagegen wirkt alles, was wir charakte-risieren können als Aufnehmen der Natur im ganzenund großen, mit lebendigem Gefühl, so auf unsere Seele,daß es die positive Seelenstimmung wachruft; zum Bei-spiel das Entzücktsein über die Pflanzenblüte, die wirnicht zergliedern, sondern in ihrer Schönheit auf unswirken lassen, das Hingegebensein an die Morgenröte,die wir nicht astronomisch prüfen, sondern in ihrerglanzvollen Herrlichkeit betrachten. Denn bei allem, waswir aus irgendeiner Weltanschauung aufnehmen, sindwir nicht mit der Seele dabei; wir lassen es uns diktierenvon anderen. Aber wir sind mit unserer ganzen Seeledabei, wenn wir entzückt oder abgestoßen sein könnenvon den Naturerscheinungen. Was wahr ist an der Na-tur, das kümmert sich nicht um unser Ich; aber was unsentzücken oder abstoßen kann, das muß sich um unserIch kümmern; denn je nachdem unser Ich ist, gehen wirentzückt oder abgestoßen an der Natur vorbei.

So können wir sagen: Das lebendige Sich-Einfügen indie Natur kultiviert in uns die positive Stimmung; dasTheoretisieren über die Natur kultiviert negative Seelen-stimmung. Das aber wieder verschränkt sich mit dem,was vorher gesagt worden ist: daß derjenige, der zuersteine Reihe von Naturerscheinungen zergliedert, vielmehr positiv wirkt als der, der die Erkenntnisse desanderen aufnimmt und lernt. Das sollte man in allerwahren Pädagogik berücksichtigen. Und damit hängtzusammen, daß überall da, wo man ein Bewußtseingehabt hat von den Dingen, die jetzt dargestellt worden

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sind, darauf gesehen wurde, daß der Mensch niemals nurdie negativen Eigenschaften kultiviert in der Seele. War-um hat Plato vor die Pforte seines philosophischenTempels die Worte geschrieben: Nur wer mit der Geo-metrie bekannt ist, solle eintreten! - Das geschah ausdem Grunde, weil Geometrie, Mathematik zu denjeni-gen Betätigungen des menschlichen Seelenlebens gehö-ren, die man gar nicht in Wahrheit auf Autorität hinannehmen kann. Geometrie ist etwas, was man wirklichmit der inneren Seele durchdringen muß, was man sicherarbeiten muß und was man immer nur durch einepositive Seelentätigkeit erringen kann. Würde man dasheute berücksichtigen, so würde es einen großen Teil derWeltanschauungssysteme, die die Welt heute durch-schwirren, gar nicht geben. Denn wer da weiß, wie mansich ein solches Begriffssystem wie das geometrischepositiv erarbeitet, der hat Respekt vor der inneren Tätig-keit des Menschen. Wer zum Beispiel Haeckels «Welträt-sel» liest und keinen Begriff hat, wie man sich so etwaserarbeitet, der wird leicht ein neues Weltanschauungs-system produzieren können. Er braucht dazu nur dieBegriffe ein wenig zu ändern; dabei arbeitet er aber auslauter negativer Seelenstimmung heraus.

So liegt für einen Menschen etwas das Positive unbe-dingt Kultivierendes in der Geisteswissenschaft oder An-throposophie. Wenn der Mensch nach den heute belieb-ten Methoden, zum Beispiel in Lichtbildern oder ande-ren Demonstrationen, diese oder jene Errungenschaftender Gegenwart vorgeführt erhält, diese oder jene Tiereoder Naturerscheinungen in Lichtbildern sehen kann,dann ist er ganz passiv dem hingegeben, und seineSeelenstimmung ist negativ; er braucht gar keine positi-ven Eigenschaften zu entwickeln, er braucht gar nicht

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nachzudenken. Man kann dabei dem Menschen zumBeispiel die verschiedenen Phasen eines über das Gebirgeherabgleitenden Gletschers vorführen und anderes. Dasist ein Beweis dafür, wie man heute die negativen Eigen-schaften der Menschen liebt. So einfach hat es die An-throposophie nicht. Sie kann höchstens ihre Dinge sym-bolisch in Lichtbildern vorführen. Für die Dinge, welchein die geistige Welt hinaufführen, gibt es kein anderesEingangstor als das menschliche Seelenleben. Wer wirk-lich fruchtbar in die Geisteswissenschaft eindringen will,muß es daher schon hinnehmen, daß ihm über diewichtigsten Sachen gar nichts demonstrativ vorgeführtwird. Er ist darauf angewiesen, daß er in seiner Seeleselber mitarbeitet, so daß er die positivsten Stimmungenaus der Seele herauslösen muß. Deshalb ist aber dieGeisteswissenschaft im eminentesten Sinne dazu geeig-net, die positiven Eigenschaften der Menschenseele zukultivieren. Darin liegt auch das Gesunde einer solchenWeltanschauung, die gar keinen anderen Anspruchmacht, als das Wachrufen der in der menschlichen Seeleliegenden Kräfte. Indem Anthroposophie appelliert anein in jeder Seele Selbsttätiges, ruft sie das heraus, was inder Seele selbst verborgen liegt, um zu durchdringen alleSäfte und Kräfte des Leibes, und was im vollsten Sinnegesundend wirkt auf den ganzen Menschen. Und da dieAnthroposophie nicht an etwas anderes appelliert, als andie gesunde Vernunft, die nicht durch Massensuggestionhervorgerufen werden kann, sondern nur durch dasVerständnis des einzelnen, und da sie auf alles verzichtet,was durch Massensuggestion hervorgerufen werdenkann, so rechnet sie gerade mit den positivsten Seelen-eigenschaften des Menschen.

Damit haben wir ungeschminkt zusammengetragen,

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was uns zeigt, wie der Mensch unter den beiden Strö-mungen des Lebens, dem Positiven und Negativen,steht. Der Mensch kann sich zu höheren Stufen nichtanders entwickeln, als daß er eine untere positive Stufeverläßt, sich in eine negative Stimmung versetzt und indieser Stimmung einen neuen Inhalt aufnimmt und sichso damit durchsetzt, daß er wieder auf einer höherenStufe positiv wirksam werden kann. Wer die Naturrichtig zu beachten versteht, der weiß, wie es die Weis-heit der Welt macht, um den Menschen von einemPositiven zu einem Negativen und von einem Negativenwieder zu einem neuen Positiven zu führen.

Es ist schön, von diesem Gesichtspunkt aus eine Ein-zelheit zu betrachten, zum Beispiel die berühmte Defini-tion des Aristoteles über das Tragische. Eine Tragödie,sagt er, führt uns vor eine abgeschlossene Handlung inder Weise, daß bei dem Zuschauer ausgelöst werdenFurcht und Mitleid, aber so, daß Furcht und Mitleid eineKatharsis, eine Läuterung durchmachen. Der Mensch,der mit allem gewöhnlichen Egoismus ins Dasein tritt,ist in seinem Egoismus zunächst sehr positiv; er schließtsich in sich ab, er verhärtet sich. Man wird zunächst ingewissem Sinne sehr negativ, wenn man mit den anderenMenschen ihr Leiden mitfühlt, ihre Freude empfindetwie die eigene. Man wird in gewissem Sinne dadurchnegativ, daß man aus seinem Ich herausgeht und Mitlei-den, Mitfühlen entwickelt. Und man wird auch negativdadurch, daß man sich vertieft in das, was wie einunbestimmtes Schicksal über einem Menschen waltet;daß man sich vertieft in das, was aus den Handlungeneines Menschen, mit dem wir sympathisieren, morgenwerden kann. Oder wer kennt nicht jenes Beben, das wireinem Menschen gegenüber haben, der irgendeiner Ver-

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richtung zueilt, so daß ihn vielleicht morgen ein Un-glück treffen kann, das wir voraussehen, während er ausseinen Impulsen heraus nicht anders kann, als dieseHandlung vollziehen. Wir fürchten uns vor dem, waseintreten mag. Dadurch werden wir aber in eine negativeSeelenstimmung versetzt; denn Furcht ist eine negativeSeelenstimmung. Aber wir würden teilnahmslos werdengegenüber dem Leben, wenn wir nicht mehr fürchtenkönnten mit dem, was einer unbestimmten Zukunftentgegengeht. So werden wir negativ durch Mitfühlenund Furcht. Damit wir aber positiv werden können,führt uns die Tragödie das Bild eines Helden vor, andessen Handlungen wir Mitgefühl empfinden sollen, unddessen Schicksal uns zunächst so entgegentritt, daß unse-re Furcht erregt wird; aber zu gleicher Zeit wird unsdurch die ganze Abgeschlossenheit der Handlung dasBild des Helden so vorgeführt, daß Furcht und Mitleidsich läutern, daß sie aus negativen Eigenschaften sichumwandeln in harmonische Befriedigung, die wir andem Kunstwerk haben und wiederum in das Positivesich herauferheben.

So stellt uns die Definition des alten griechischenPhilosophen an dem Kunstwerk dar, wie die Kunst einElement im Leben ist, das einer notwendigen negativenSeelenstimmung entgegenkommt, um sie umzuwandelnins Positive. Der künstlerische Schein führt uns auf einehöhere Stufe hinauf in allen seinen Gebieten, wo wirzunächst negativ werden müssen, um aus einem unent-wickelten Seelenleben herauszukommen. In der Schön-heit müssen wir zunächst dasjenige anschauen, was sichuns entgegenstellen soll, weil wir sonst nicht über unseregegenwärtige Stufe hinauskommen würden. Dann aberüberzieht sich auch das andere Leben durchaus mit dem

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Glanz einer höheren Seelenstimmung, wenn wir zuerstdurch die Kunst auf eine höhere Seelenstufe heraufge-hoben worden sind.

So sehen wir, wie nicht nur im Leben des einzelnen,sondern wie auch im Gesamtleben der Menschheit dasPositive und Negative abwechselt, wie es immerzu bei-trägt zur Erhöhung des einzelnen Menschen von Inkar-nation zu Inkarnation, aber auch des Lebens der ganzenMenschheit. Wir könnten leicht, wenn wir dazu Zeithätten, zeigen, wie es positive Zeitalter und Epochengegeben hat; wir könnten ganze Zeitalter als positivegeschichtliche Menschheitszeitalter beschreiben, andereals negative und so weiter. In alle einzelnen Sphären desSeelenlebens, und damit des Menschenlebens überhaupt,leuchtet die Idee des Positiven und Negativen hinein. Sietritt nicht so auf, daß nun der eine Mensch ein positiverund der andere ein negativer ist; sondern es geht jedenMenschen an. Jeder muß auf den verschiedenen Stufendes Daseins durch positive und negative Zustände hin-durchgehen. Erst wenn wir die Sache so erblicken, wirdsie uns eine Lebenswahrheit und dadurch die Grundlagezu einer Lebenspraxis. Daher kann sich uns auch beidieser Betrachtung ein Wort bestätigen, das wir an dieSpitze und an den Schluß eines dieser Vorträge gestellthaben, das Wort des alten griechischen PhilosophenHeraklit, den man, weil er so tief in das menschlicheLeben hineinzuschauen vermochte, den «Dunklen» ge-nannt hat: «Der Seele Grenzen magst du nimmer finden,und wenn du auch alle Straßen durchliefest; so weit sindihre Horizonte!»

Nun könnte jemand kommen und sagen: Dann ist alleSeelenforschung vergeblich! Denn wenn die Seele soweit ist, daß ihre Grenzen nirgends zu finden sind, dann

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kann sie keine Forschung ermessen, und man könnteverzweifeln an ihrer Erkenntnis! Das wird aber nur einnegativer Mensch sagen. Ein positiver Mensch würdehinzufügen: Gott sei Dank, daß dieses Seelenleben soweit ist, daß man es mit keiner Erkenntnis umspannenkann; denn dadurch ist es geeignet, daß wir alles, waswir heute in unserer Seele mit der Erkenntnis umspan-nen, morgen überschreiten können und so zu höherenStufen hinauf eilen können! Seien wir froh, daß das See-lenleben in jedem Augenblicke unserer Erkenntnis spot-tet. Wir brauchen ein unbegrenztes Seelenleben; denndie Perspektive ins Unbegrenzte hinein gibt uns dieHoffnung, daß wir das Positive jeden Augenblick über-schreiten können, daß das Seelenleben von Stufe zu Stufeeilen kann. Gerade die Grenzenlosigkeit und Unerkenn-barkeit des Seelenlebens gibt uns deshalb die bedeut-samste Perspektive für unsere Zukunftshoffnung undZukunftszuversicht. Weil wir niemals die Grenzen derSeele selbst finden können, ist die Seele fähig, die Gren-zen zu überschreiten und immer höhere und höhereStufen zu ersteigen.

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IRRTUM UND IRRESEIN

Berlin, 28. April 1910

Dieser Zyklus von Vorträgen, den ich die Ehre hatte indiesem Winter hier vor Ihnen zu halten, hatte die Aufga-be, vom geisteswissenschaftlichen Standpunkt aus, wie erin dem ersten Vortrage hier charakterisiert worden ist,die verschiedensten Erscheinungen des menschlichen See-lenlebens und auch des Lebens im weiteren Umkreise zubeleuchten. Heute soll nun betrachtet werden ein Gebietdes menschlichen Lebens, das uns tief hineinführen kannin menschliches Elend, menschliches Leid, vielleichtauch menschliche Hoffnungslosigkeit. Dafür soll in demnächsten Vortrage ein Gebiet berührt werden unter demTitel «Das menschliche Gewissen», das uns wieder in dieHöhen hinaufführen wird, wo am meisten zutage tretenkann Menschenwürde und Menschenwert, die Kraft desmenschlichen Selbstbewußtseins. Und dann soll der Ab-schluß des diesjährigen Zyklus gegeben werden mit einerBetrachtung der Mission der Kunst, in welcher diedurchaus gesunde Seite dessen gezeigt werden soll, wasuns vielleicht heute in seiner furchtbarsten Schattenseitedes Lebens erscheinen wird.

Wenn von Irrtum und Irresein gesprochen wird, danntauchen gewiß in eines jeden Seele Bilder des tiefstenmenschlichen Leides auf, auch wohl Bilder des tiefstenmenschlichen Mitgefühls. Und alles, was so in der Seeleauftaucht, kann doch wieder die Aufforderung dazusein, auch in diesen Abgrund des menschlichen Seelenle-bens ein wenig mit dem Lichte hineinzuleuchten, das wir

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gewonnen zu haben glauben in diesen Vorträgen. Gera-de derjenige, der sich immer mehr gewöhnt im Sinne derDenkweise zu verfahren, die uns hier vor die Seelegetreten ist, muß sich ja der Hoffnung hingeben, daßdurch diese geisteswissenschaftliche Anschauungsweisedieses traurige Kapitel menschlichen Lebens in gewisserBeziehung eine Aufhellung erfahren kann. Denn wer dieLiteratur kennt, und ich meine jetzt nicht die so sehrsich breit machende Laienliteratur, sondern die mehrwissenschaftliche, der wird sich sagen können, wenn ervon seinem geisteswissenschaftlichen Standpunkt aus dieSache betrachtet, daß die Literatur in gewisser Bezie-hung außerordentlich weit ist und eine Fülle von Mate-rial bietet zur Beurteilung der einschlägigen Tatsachen;daß es aber auch andrerseits in keiner Literatur so sehrzutage tritt, wie wenig die verschiedenen Theorien, dieAnschauungsweisen und Denkgewohnheiten unsererZeit geeignet sind, dasjenige auch zusammenzufassen,was an Erfahrungen, an Erlebnissen, an wissenschaftli-chen Beobachtungen zutage gefördert wird. Gerade aufdiesem Gebiete hat man so recht Gelegenheit zu sehen,wie die Geisteswissenschaft in vollem Einklänge sichfühlt mit wahrer, echter Wissenschaft, mit allem, was alswissenschaftliche Tatsachen, Ergebnisse und Erfahrun-gen uns entgegentritt; wie sie aber auch sozusagen aufSchritt und Tritt einen Widerspruch finden muß zwi-schen diesen Erfahrungen und Erlebnissen, und der Art,wie man vom Standpunkte heutiger wissenschaftlicherWeltauffassung diese Erfahrungen und Erlebnisse zu be-greifen versucht. Wir werden allerdings auch auf diesemGebiete nur einzelne skizzenhafte Linien hinzeichnenkönnen, aber vielleicht werden sie doch eine Anregunggeben können, um uns auf diesem Gebiete ein Verständnis

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zu verschaffen, das auch geeignet ist, in unsere Lebens-praxis einzufließen, damit wir immer mehr und mehr im-stande sein werden, uns zurechtzufinden gegenüber die-sen traurigen Verhältnissen, die wir hiermit berühren.

Wenn wir nur die Worte «Irrtum» und «Irresein»aussprechen, dann sollte uns eines auffallen: daß wir -ob wir uns nun dessen bewußt oder unbewußt sind -mit dem Worte «Irrtum» etwas aussprechen, was grund-verschieden ist von dem, was wir als «Irresein» bezeich-nen. Auf der andern Seite wieder wird der genaueBeobachter eines Seelenlebens, das wirklich als im Zu-stande des Irreseins bezeichnet werden darf, Ausdrücke,Offenbarungen finden können, die sich doch nicht vielanders ausnehmen denn als Steigerungen dessen, wasman auch im gewöhnlichen Leben bei einem normalen,immer noch als gesund anzusehenden Seelenleben alsIrrtum in der einen oder andern Beziehung zu begreifenvermag. Man wird auch wieder mit einer solchen Beob-achtung Unfug treiben können insofern, als gewisseBestrebungen des geistigen Lebens die Tendenz haben,die einzelnen Grenzen zu verwischen, und immer wiederbetonen, daß eine feste Grenze zwischen dem gesunden,normalen Seelenleben und einem solchen, das man mitdem Worte «Irresein» bezeichnen kann, eigentlich garnicht bestehe.

Dieser Satz hat etwas Gefährliches; das muß geradebei einer solchen Gelegenheit betont werden. Und zwarhat er etwas Gefährliches nicht etwa, weil er unrichtigist, sondern weil er richtig ist. Das klingt paradox; aberdennoch ist es so, daß unrichtige Sätze zuweilen wenigergefährlich sind als richtige, die in einer einseitigen Weiseausgelegt und angewendet werden können, weil mansozusagen die Gefahr des Richtigen nicht merkt. Man

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glaubt schon etwas gesagt zu haben, wenn man ingewisser Hinsicht den Beweis führen kann, daß irgendetwas richtig ist; aber man müßte sich klar sein, daß einejede richtige Sache auch ihre Kehrseite hat, und daß jedeWahrheit, die wir finden, sozusagen nur in bezug aufgewisse Tatsachen und Erlebnisse eine Wahrheit ist; daßsie jedoch in dem Augenblicke anfängt gefährlich zuwerden, wenn wir sie ausdehnen auf andere Gebiete,wenn wir sie übertreiben und glauben, daß sie einedogmatische Geltung habe. Daher ist in der Regel nichtsdamit getan, wenn man von einer Wahrheit weiß, daß siebesteht; sondern wichtig ist, daß wir bei einer richtigenErkenntnis die Grenze beobachten, innerhalb welcherdie Erkenntnis gilt.

Wir können allerdings im gewöhnlichen gesunden See-lenleben Erscheinungen erblicken, die, wenn sie über eingewisses Maß hinausgehen, sich auch als Symptomeeines krankhaften Seelenlebens darstellen. Das volle Ge-wicht dieses Ausspruches merkt nur derjenige, der wirk-lich gewohnt ist, intimer das menschliche Leben zubetrachten. Wer wollte denn nicht zugeben zum Bei-spiel, daß es zu einem krankhaften Seelenleben gehört,was man unter den Begriff «Irresein» fassen kann, wennein Mensch nicht in der Lage ist, an einen Begriff, den erfassen kann, im rechten Augenblick einen zweiten an-zuknüpfen, sondern bei diesem einen Begriff stehenblei-ben muß, und so stehenbleiben muß, daß er ihn auchdann festhält, wenn er schon in einer ganz anderenSituation ist, und ihn da anwendet, wo er nicht mehrhineinpaßt, mit andern Worten, wenn er unter einemBegriff handelt, der für ein Früheres richtig war, für dasSpätere aber nicht mehr richtig ist. Wer wollte sagen,daß das nicht scharf an ein krankhaftes Seelenleben

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grenzen kann? Ja, wenn es in einem gewissen Maßevorkommt, ist es geradezu ein Symptom für seelischeErkrankung. Wer wollte aber wieder leugnen, daß esMenschen gibt, welche nicht weiter kommen können inihrer Arbeit wegen ihrer Weitschweifigkeit, wegen ihrerUmständlichkeit? Da ist, wenn man nicht loskommenkann von einer Vorstellung, der Anfang gegeben imnormalen Seelenleben, wo wir aufhören müssen vonIrrtum zu reden, und wo wir bereits anfangen müssen,von krankhaftem Irresein zu sprechen.

Nehmen wir zum Beispiel an, jemand unterliegt demSeelenfehler, und das kommt durchaus vor, daß er, wenner in seiner Nähe husten hört, aus diesem Husten nichtdas gewöhnliche Husten heraushört, sondern die Illusi-on empfängt, daß die Leute schlimme Dinge über ihnsprechen, sozusagen über ihn schimpfen. Wer nun seinganzes Leben so einrichtet, daß es als eine Folge vonHandlungen erscheint, die unter dem Einfluß einer sol-chen Illusion stehen, der wird für einen Menschen gehal-ten werden, dessen Seelenleben ein krankhaftes ist. Wienahe liegen aber dennoch gewisse Erscheinungen desgewöhnlichen Lebens, wo wir einfach davon sprechen,daß irgend jemand da oder dort etwas erlauscht und sichauch die Worte zurecht legt, und etwas ganz anderesgehört zu haben glaubt, als wirklich ausgesprochen wor-den ist. Oder haben Sie noch nicht gehört, wie unendlichoft es vorkommt, daß jemand sagt: Der oder jener hatdies oder das über mich gesagt! - wovon auch nicht eineSpur zu finden ist, daß es der andere wirklich gesagt hat?Es ist auch zuweilen recht schwierig, sozusagen festzu-stellen, wo das ganz normale Seelenleben selbst in sei-nem gesunden Ablauf hineinfließen kann in das krank-hafte Seelenleben.

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Paradox mag es erscheinen, aber es könnte doch zumanchem Gedanken auf diesem Gebiete anregen, wennwir uns denken, daß jemand bei der Betrachtung einerAllee die ganz normale Wahrnehmung hat, daß er dienahen Bäume in ihren natürlichen Entfernungen sieht,während die entfernteren immer näher und näher rük-ken, und daß er nun den Beschluß faßte, die Bäume, wiesie einander gegenüberstehen, mit Stricken zu verbinden,die Stricke aber dabei immer kürzer und kürzer machenwollte, je weiter die Bäume von ihm fortstehen. Dawürden wir das Beispiel haben, daß er aus einer ganzgesunden Wahrnehmung einen Fehlschluß macht. Aberdie gesunde Wahrnehmung ist eben nicht anders vorhan-den, als wenn jemand eine Illusion hat. Die Illusion istauch eine Wahrnehmung. Dann erst entsteht das Unge-sunde und Schädigende einer Illusion, wenn der Betref-fende sie für eine eben solche Wirklichkeit hält als etwaden Tisch, der vor ihm steht. Erst wenn er die Wahr-nehmung nicht in der richtigen Weise zu deuten vermag,entsteht das, was man als krankhaft bezeichnen kann.Nun kann man diesen letzten Fall, daß jemand eineHalluzination hat und sie als eine Wirklichkeit im ge-wöhnlichen physischen Sinne ansieht, mit dem verglei-chen, was vorhin als ein Paradoxon angeführt wurde,daß jemand die Stricke immer kürzer und kürzer ma-chen wollte, mit denen er die Bäume einer Allee verbin-det. Da würden wir innerlich, logisch, einen Unterschiedzwischen diesen zwei Dingen nicht finden können. Den-noch aber: wie nahe liegt es, bei einer Illusion einfalsches Urteil zu bilden, und wie ferne liegt es, bei derWahrnehmung einer Allee uns ein gleiches falsches Ur-teil zu bilden! Das alles erscheint vielleicht manchemtöricht. Trotzdem aber muß man sich an solche intimen

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Dinge halten, denn sonst kommt man nicht weiter undwürde nicht sehen, wie oft normales Seelenleben hinein-fließen kann in ein ungesundes.

Nun können wir als weitere Beispiele noch eklatantereFälle anführen von Menschen, deren Seelenleben als imhöchsten Grade gesund und scharfsichtig gilt. Ich möch-te etwas anführen von einem deutschen Philosophen, dervon denen, die auf diesem Gebiete sich betätigt haben,zu den ersten Männern seines Faches in der Gegenwartgerechnet wird. Dieser Philosoph erzählt von sich fol-gendes Erlebnis:

Er kam einmal in ein Gespräch mit einem Manne, unddieses Gespräch führte die beiden dazu, über einen ihnenbeiden bekannten Gelehrten zu sprechen. In dem Au-genblick, wo das Gespräch auf jenen Gelehrten kommt,verfällt der Philosoph auf die Vorstellung eines illu-strierten Werkes über Paris - und im nächsten Augen-blicke gleich hinterher auf die Vorstellung eines Photo-graphiealbums von Rom. Dabei wird das Gespräch überjenen Gelehrten immer weiter geführt. Währenddessenversuchte der betreffende, der eben Philosoph war, sichzu prüfen, wie es möglich war, daß während des Gesprä-ches einmal das Bild eines illustrierten Werkes über Parisund dann das Bild eines Photographiealbums von Romauftauchen konnte. Und er legte sich das auch ganzrichtig zurecht. Der Gelehrte, über den sie sprachen,hatte nämlich einen merkwürdigen Spitzbart. DieserSpitzbart rief sogleich in dem Unterbewußtsein des Phi-losophen die Vorstellung hervor von Napoleon III., derauch einen Spitzbart hatte; und diese Vorstellung vonNapoleon III., die sich in sein Bewußtsein hineinge-drängt hatte, führte auf dem Umwege über Frankreichzu dem illustrierten Werk über Paris. Und nun tauchte

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vor ihm das Bild eines anderen Mannes auf, der aucheinen Knebelbart gehabt hat, das Bild Victor Emanuelsvon Italien; und dieses Bild führte auf dem Umwegeüber Italien zu dem Photographiealbum von Rom. Dahaben Sie eine merkwürdige Aneinanderreihung, mankönnte sagen eine ursachenlose, eine regellose Aneinan-derreihung von Vorstellungen, die ablaufen, währendetwas ganz anderes im vollbewußten Seelenleben ver-folgt wird. Nehmen Sie nun einen Menschen, der bis zudem Augenblicke gekommen wäre, wo das illustrierteWerk über Paris vor ihm auftauchte, und nun den Fadendes Gespräches nicht mehr festhalten könnte, und gleichhinterher die nachfolgende Vorstellung hätte des Photo-graphiealbums von Rom: er wäre einem regellosen Vor-stellungsleben hingegeben; er würde sich nicht ruhig miteinem Menschen unterhalten können, sondern mittendrinnen sein in einem krankhaften Seelenleben, welchesihn ohne Zusammenhang von Ideen-Flucht zu Ideen-Flucht führte.

Aber unser Philosoph geht weiter und stellt danebeneinen andern Fall, woran er erkennen will, wie sich dieDinge zueinander verhalten. - Einst ging er zum Steuer-amt, um seine Steuern zu bezahlen. Er hatte 75 Markzu zahlen. Und da er trotz der Philosophie ein ordnungs-liebender Mann ist, hatte er auch diese 75 Mark in seinAusgabenbuch eingetragen und war dann an seine an-dere Beschäftigung gegangen. Nachträglich einmal wollteer sich erinnern, wieviel er Steuern bezahlt habe. Eswollte ihm nicht einfallen. Er dachte nach; und da erPhilosoph ist, ging er dabei systematisch zu Werke. Ersuchte von umliegenden Vorstellungen an die Vorstel-lung der Steuersumme heranzukommen. Er versuchtesich zu konzen t r i e ren auf seinen G a n g nach d e m Steuer-

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amt. Und da fiel ihm ein das Bild von vier goldenenZwanzig-Mark-Stücken, welche er in seiner Geldtaschehatte, und weiter das Bild, daß er fünf Mark zurückbe-kommen hat. Diese zwei Bilder standen vor ihm, und erkonnte nun durch eine einfache Subtraktion herausfin-den, daß er 75 Mark Steuern bezahlt hatte.

Hier haben Sie zwei ganz voneinander verschiedeneFalle. In dem ersten arbeitet sozusagen das Seelenleben,wie es will, ganz ohne irgendeine Korrektur zu erfahrenvon dem, was wir den bewußten Ablauf der Vorstel-lungen nennen können; es erzeugt das Bild des illu-strierten Werkes über Paris und das Bild eines Photogra-phiealbums von Rom. Im zweiten Falle sehen wir, wiedie Seele durchaus systematisch vorgeht, jeden Schrittmit voller Willkür tut. Es ist das tatsächlich ein beträcht-licher Unterschied zwischen dem Ablauf zweier Seelen-vorgänge. Nun macht aber jener Philosoph nicht aufetwas aufmerksam, was dem Geistesforscher sogleichauffallen wird. Denn es ist das Wesentliche im erstenFalle, daß er sich mit einem andern unterredet, daß erseine Aufmerksamkeit auf den andern wendet, daß seinganzes bewußtes Seelenleben sich hinlenken mußte aufdie Führung des Gespräches mit dem andern, und daßdie regellos aufeinanderfolgenden Bilder, die wie in einerandern Schicht des Bewußtseins auftauchten, sich selbstüberlassen waren. In dem zweiten Falle wendet derPhilosoph seine Aufmerksamkeit nur darauf, was fürBilder aufeinanderfolgen sollen. Daraus würde sich wie-der nur erklären, daß die Bilder im ersten Falle regellosablaufen, während sie im zweiten Falle unter der Korrek-tur des bewußten Seelenlebens stehen.

Warum sind denn überhaupt Bilder da? Darüber gibtunser Philosoph keine Antwort. Wer das Leben beobach-

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ten kann, wer ähnliche Fälle auch sonst kennt, und werin der Lage ist, ein wenig aus der Natur des betreffendenPhilosophen zu urteilen - mir ist in diesem Falle nichtnur die Tatsache, sondern auch der Mann bekannt -, derwird, wenn wir das Wort gebrauchen wollen, die folgen-de Hypothese aufstellen können. Der betreffende Philo-soph hat in seiner Unterredung einen Menschen vor sichgehabt, der ihn nicht sehr stark interessierte. Es war eingewisser Zwang notwendig, um die Aufmerksamkeit aufdas Gespräch zu konzentrieren; daher hatte er ein gewis-ses überschüssiges Seelenleben, das sich nicht auslebte inder Unterredung, sondern das sozusagen nach innenschlug. Aber er hatte wiederum nicht die Kraft, denAblauf der Bilder zu kontrollieren; daher liefen sieregellos ab. Weil er sein Interesse auf eine Sache lenkenmußte, die ihn nicht besonders interessierte, traten nunBilder in dem überschüssigen Seelenleben auf; und weildie Aufmerksamkeit gerade dem interesselosen Gesprächzugewendet werden mußte, verliefen die Bilder des über-schüssigen Seelenlebens in regelloser Weise. — Da hättenwir auch einen Hinweis, wie tatsächlich solche Bilder,wie im Hintergrunde des bewußten Seelenlebens, geradenoch wie in einem Abglanz des bewußten Seelenlebensablaufen konnten. Solche Beispiele konnten wir in gro-ßer Anzahl vorführen. Das von mir gewählte Beispielwurde deshalb angeführt, weil es sehr charakteristischist, und weil wir daran viel lernen können.

Nun aber handelt es sich darum, daß wir uns fragen:Weist uns denn nicht gerade ein solcher Vorgang daraufhin, etwas tiefer in das menschliche Seelenleben hinein-zublicken? Oder wir könnten uns fragen: Wie kannüberhaupt eine solche Spaltung des Seelenlebens auftre-ten, wie sich das in dem angeführten Falle gezeigt hat?

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Und da kommen wir zu dem, wo die Erfahrungen undErlebnisse jenes Unglücksgebietes, das wir heute zuberühren haben, sich in ganz normaler Weise eingliedernlassen in das, was-nans im Verlaufe dieses Winters so oftentgegengetreten ist. Gerade jener angeführte Philosophsteht, wenn er solche Erscheinungen des eigenen Seelen-lebens erzählt, mehr oder weniger vor Rätseln. Er ver-mag nicht weiterzureden, wenn er solche Tatsachenregistriert hat, weil unsere äußere Wissenschaft, selbstwenn sie noch so viel erzählt, halt macht vor derErkenntnis des Wesens der Dinge und auch des Wesensdes Menschen.

Wir haben bei der Erkenntnis des Wesens des Men-schen gezeigt, daß wir nicht bloß den Menschen in derWeise zu betrachten haben, wie ihn die äußere Wissen-schaft ansieht, sondern daß wir tatsächlich zu unter-scheiden haben einen äußeren Menschen und einen inne-ren Menschen. Und daß dieser äußere Mensch nichtrealer ist als der innere Mensch. Wir haben auf denverschiedensten Gebieten gezeigt, daß wir den Schlafzu-stand zum Beispiel anders aufzufassen haben, als ihn diegewöhnliche Wissenschaft aufzufassen geneigt ist. Wirhaben gezeigt, wie dasjenige, was vom schlafenden Men-schen im Bette liegen bleibt, nur der äußere Mensch ist,und daß das gewöhnliche Bewußtsein nicht den unsicht-baren, höheren, eigentlichen inneren Menschen verfol-gen kann, der sich im Schlafe aus dem äußeren Men-schen herausbegibt. Das gewöhnliche Bewußtsein siehteben nicht, daß sich hier etwas Wirkliches hinausbegibt,was ebenso real ist wie das, was im Bette liegen bleibt,daß der innere Mensch vom Einschlafen bis zum Aufwa-chen hingegeben ist seiner eigentlichen Heimat, der gei-stigen Welt. Und daß er aus ihr dasjenige saugt, was er

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vom Aufwachen bis zum weiteren Einschlafen braucht,um das gewöhnliche Seelenleben zu unterhalten. Dahermüssen wir scharf gegenüberstellen und abgesondertvoneinander betrachten den äußeren Menschen, der auchim Schlafzustand mit seinen Gesetzen und Regeln vor-handen ist, und den inneren Menschen, der nur imWachzustand im äußeren Menschen darinnen ist, sichaber im Schlafzustand von ihm abgetrennt hat. So langewir diesen Unterschied nicht machen, werden wir diewichtigsten Erscheinungen des Menschenlebens nichtverstehen können. Diejenigen, welche aus Bequemlich-keit überall die Einheit sehen und überall leichten Her-zens einen Monismus begründen wollen, werden unsanklagen, daß wir Dualisten seien, weil wir die mensch-liche Wesenheit in zwei Glieder, in ein äußeres und eininneres Glied spalten. Solche Menschen sollten aber nurgleich zugeben, daß es ein scheußlicher Dualismus ist,daß die Chemiker das Wasser in Wasserstoff und Sauer-stoff spalten. Man kann gar nicht im höheren SinneMonist sein, wenn man nicht anerkennt, daß das Mononetwas viel tiefer Liegendes ist. Wer aber in dem Aller-nächsten gleich das Eine sehen will, der wird sich denBlick verschließen für die Mannigfaltigkeit des Lebens,für das, was allein das Leben erklären kann.

Nun haben wir aber auch gezeigt, daß wir in demäußeren und dem inneren Menschen auch wieder unter-scheiden müssen einzelne Glieder. Wir unterscheiden andem äußeren Menschen zunächst dasjenige Glied, daswir mit physischen Augen sehen, mit Händen greifenkönnen: den physischen Leib. Dann aber kennen wir einanderes Glied, das wir den Ätherleib genannt haben,eine Art von Kraftgestalt, die der eigentliche Aufbauerund Bildner des physischen Leibes ist. Physischer Leib

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und Ätherleib sind dasjenige, was im Schlafe im Betteliegen bleibt. Was aber beim schlafenden Menschen ausdem physischen Leib und Atherleib sich zurückziehtund in der geistigen Welt ist, das haben wir in diesenVorträgen bezeichnet als den astralischen Menschenleib,der in sich wiederum den eigentlichen Träger des Ichschließt. Dann haben wir aber noch feinere Unterschiedegemacht. Wir haben wieder in diesem astralischen Leibdrei Glieder des Menschen unterschieden, drei Gliederdes Seelenlebens. Und eine große Summe von Lebenser-scheinungen hat sich uns erklärt, indem wir diese dreiGlieder sorgfältig auseinander gehalten haben.

Wir haben das unterste Glied des Seelenlebens dieEmpfindungsseele genannt; wir haben ein zweites Gliedunterschieden als die Verstandes- oder Gemütsseele; undein drittes Seelenglied als die Bewußtseinsseele. Wennwir also von dem menschlichen Innern, von diesen dreiSeelengliedern sprechen, werden wir auch da nicht einchaotisches, unterschiedsloses Durcheinanderwirken vonallerlei Willensimpulsen, Gefühlserlebnissen, Begriffenund Vorstellungen anerkennen, sondern wir werden dasSeelenleben sorgfältig gliedern in diese drei Glieder. Nunbesteht im normalen Menschenleben ein gewisses Wech-selverhältnis zwischen dem äußeren und dem innerenMenschen. Dieses Wechselverhältnis können wir so cha-rakterisieren, daß wir sagen: Die Empfindungsseele, un-ser unterstes Seelenglied, das unsere Triebe und Leiden-schaften enthält, denen wir, wenn die höheren Seelen-glieder wenig entwickelt sind, sklavisch hingegeben sind,dieses Seelenglied ist in einer gewissen Weise in Wech-selwirkung mit dem, was wir in einer andern Hinsichtnoch rechnen können zum äußeren Menschen, was die-ser Empfindungsseele ähnlich, was aber im Menschen

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mehr äußerlich ist; und dieses mehr Äußerliche bezeich-nen wir als den Empfindungsleib. Deshalb sagen wir:Wir haben den äußeren Menschen und den innerenMenschen. Im inneren Menschen haben wir als unterstesGlied die Empfindungsseele, im äußeren Menschen ent-sprechend den Empfindungsleib. Den astralischen Leibmuß man hier als etwas anderes bezeichnen als denbloßen Empfindungsleib. Im einzelnen sind ja die dreiSeelenglieder nur Modifikationen des astralischen Lei-bes, und zwar nicht nur aus ihm herausgebildet, sondernauch herausgesondert. Die Empfindungsseele steht imWachzustande in dauernder Wechselwirkung mit demEmpfindungsleib; ebenso steht in ähnlicher Weise dieVerstandes- oder Gemütsseele mit dem Ätherleib inWechselwirkung; und was wir die Bewußtseinsseele nen-nen, steht in gewisser Weise in inniger Wechselwirkungmit dem physischen Leib. Daher sind wir in bezug aufalles, was Inhalt der Bewußtseinsseele werden soll, aufdie Mitteilungen des Bewußtseins im Wachzustande an-gewiesen. Was uns der physische Leib, was die Sinne unsüberliefern, was der Mensch mit dem Gehirn denkt, daswird zunächst Inhalt der Bewußtseinsseele.

So haben wir zwei dreigliederige Wesenheiten derMenschennatur, die einander entsprechen: die Empfin-dungsseele dem Empfindungsleib, die Verstandesseeleoder Gemütsseele dem Ätherleib, die Bewußtseinsseeledem physischen Leib. Diese Zusammengehörigkeit kannuns erst Aufschluß geben über jene Fäden, die vominneren Menschen zum äußeren Menschen gehen, dieuns zeigen können, wie das normale Seelenleben desMenschen gestört wird, wenn sie nicht in der richtigenWeise vom inneren zum äußeren Menschen laufen. Wes-halb ist das der Fall?

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In einem gewissen Sinne ist das, was wir Empfin-dungsseele nennen, durchaus abhängig von den Wirkun-gen des Empfindungsleibes; und wenn die Empfindungs-seele und der Empfindungsleib nicht in der richtigenWechselwirkung stehen, wenn sie nicht einander in derrechten Weise Entsprechungen sind, dann ist das gesun-de Seelenleben in bezug auf die Empfindungsseele unter-brochen. Ebenso ist es aber auch, wenn die Verstandes-seele nicht in der richtigen Weise regulierend eingreifenkann in den Ätherleib, wenn sie nicht in der Lage ist,den Ätherleib so zu gebrauchen, daß er ein richtigesInstrument sein kann für die Verstandesseele. Und wie-der wird die Bewußtseinsseele sich uns im Seelenlebenals abnorm zeigen müssen, wenn der physische Leib einHemmnis und Hindernis ist für das normale Auslebender Bewußtseinsseele. Wenn wir so den Menschen insachgemäßer Weise zergliedern, können wir ein regelmä-ßiges Zusammenwirken erkennen, das erforderlich istfür ein gesundes Seelenleben; und wir können auchbegreifen, daß alle möglichen Durchbrechungen eintre-ten können in der Wechselwirkung zwischen der Emp-findungsseele und dem Empfindungsleib, der Verstandes-seele und dem Ätherleib und der Bewußtseinsseele unddem physischen Leib. Und erst wer durchschauen kann,wie in diesem komplizierten Organismus die Fäden her-über- und hinüberlaufen, und was für Unregelmäßig-keiten darinnen entstehen können, erst der wird auchdurchschauen können, wie ein ungesunder Fall einesSeelenlebens liegt. Ein ungesunder Fall wird nur eintre-ten können, wenn eine Disharmonie zwischen dem inne-ren und äußeren Leben besteht. Sehen wir denn dasnicht in dem Fall, den wir angeführt haben? Nehmenwir noch einmal jenen Philosophen.

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In dem Seelenleben, das abläuft unter völliger Kontrol-le des Bewußtseins, sehen wir das, was in ihm gegen-wärtig ist, in der Bewußtseinsseele auf der einen Seiteund auf der andern Seite in der Verstandesseele. In derEmpfindungsseele sehen wir aber dasjenige, was dakaum bemerkbar Bild an Bild reiht: das illustrierte Werküber Paris, das Photographiealbum von Rom. Das läuftdeshalb in dieser Weise ab, weil er durch das Abziehender Aufmerksamkeit, wobei er dennoch hingegeben istan den Menschen, der vor ihm steht, eine Trennungherbeiführt zwischen Empfindungsseele und Empfin-dungsleib. Im Empfindungsleib haben wir zu suchen dieaufeinanderfolgenden Bilder, das illustrierte Werk überParis und das Photographiealbum von Rom. Da, in demEmpfindungsleib haben wir dasjenige, was als jener regel-lose Vorgang beschrieben worden ist. In der Bewußt-seinsseele, im inneren Menschen, vollzieht sich das, waseben der Inhalt des Gespräches zwischen den beidenPersonen war; und die Notwendigkeit, zwangsweise dieAufmerksamkeit dem Gespräch zu erhalten, spaltete indiesem Falle das Leben des Empfindungsleibes und derEmpfindungsseele.

Das sind in der Tat Übergangszustände. Denn dieschwächsten Störungen unseres Seelenlebens treten dannein, wenn sich als selbständig erweist der bloße Empfin-dungsleib. Da werden wir immer noch die Besonnenheitbewahren und den Faden im inneren Menschen aufrecht-erhalten und uns das Bewußtsein erhalten können, dasuns immer noch sagt: Wir sind nebenbei auch noch da,neben den zwangsweisen Bildern, die durch den selb-ständig gewordenen Empfindungsleib auftreten.

Wenn eine solche Spaltung aber eintritt in bezug aufVerstandesseele und Ätherleib, dann sind wir in einer

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viel schwierigeren Lage. Da gehen wir schon tief hineinin jene Zustände, die krankhaft zu werden beginnen.Und dennoch ist es schon da sehr viel schwieriger zuunterscheiden, wo das Gesunde aufhört, und wo dasKrankhafte anfängt. Wir können uns an einem kniffligenBeispiel klarmachen, wie schwierig es ist, die Erlebnisseder Verstandesseele ganz selbständig zu erhalten, wennder Atherleib streikt, wenn er nicht ein bloßes Werkzeugdessen sein will, was wir denken. Wenn der Ätherleibsich verselbständigt und sich der Verstandesseele entge-genstemmt, dann läßt er dasjenige, was Gedanke seinsoll, nicht vollständig zum Austrag kommen, so daßdann der Gedanke auf halbem Wege stehenbleibt undsich nicht zu Ende führen kann. Das tritt wirklich beiden sogenannten gescheitesten Menschen ein. Nehmenwir dafür ein groteskes Beispiel.

Es wird jeder das logisch Absurde belächeln und leichteinsehen, wenn man ihm sagt: Es ist doch ein ganzrichtiger Schluß: Was du nicht verloren hast, das hast dunoch. Lange Ohren hast du nicht verloren; also hast dunoch lange Ohren! - Das Absurde tritt dadurch ein, daßman mit seinem Denken nicht in Übereinstimmung istmit den Tatsachen. Aber nach genau demselben Muster,daß man sozusagen einen Vordersatz wählt - «was dunicht verloren hast, . . .» -, der dann eigentlich unver-merkt etwas in sich aufnimmt, was er sachgemäß nichtaufnehmen sollte, dadurch kommt man in Fällen, wo dieSache nicht so offenkundig liegt, zu den unglaublichstenIrrtümern in den wichtigsten Fragen des Lebens. - Sogibt es einen Philosophen, der immer eine Lehre wieder-holt, die er einmal aufgestellt hat über das menschlicheIch. Wir haben hier gerade öfter über das menschlicheIch gesprochen, wie es sich schon in seiner Wortbezeich-

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nung von allen andern Erfahrungen und Erlebnissen, diewir haben können, unterscheidet. Wir haben gesagt, denTisch kann jeder «Tisch», das Glas jeder «Glas», die Uhrjeder «Uhr» nennen; aber das einzige Wörtchen «Ich»kann nicht von außen an unser Ohr tönen, wenn es unsselbst bezeichnen soll. Damit wird auf einen Grundun-terschied hingedeutet zwischen dem Ich-Erlebnis undallen andern Erlebnissen. Solche Dinge kann man mer-ken. Man kann sie aber auch nur halb merken; und manmerkt sie halb, wenn man so schließt wie jener Philo-soph: Also kann das Ich niemals Objekt werden! Alsokann das Ich nie beobachtet werden! - Und es ist einescheinbar recht geistreiche Anschauung, wenn er weitersagt: Wer das Ich erfassen wollte, der müßte das Ichüberall hinbringen und doch wieder mit dem Ich dabeisein; das wäre dasselbe, als wenn jemand um einen Baumherumliefe und sich sagte, wenn er nur rasch genug läuft,dann kann er sich von hinten wieder abfangen! — DiesenVergleich macht der betreffende Philosoph. Und wiekönnte jemand von der Glaublichkeit nicht überzeugtwerden, wenn er das Dogma vom Ich, das nie selbererfaßt werden kann, durch einen solchen Vergleich nochverstärkt hört! Und dennoch: das Ganze beruht nurdarauf, daß man einen solchen Vergleich nicht machendarf. Denn man müßte die Vorstellung schon voraus-setzen, daß man dieses Ich nicht beobachten kann. Woll-te man den Vergleich mit dem Baum gebrauchen, sokönnte man nur sagen: Das Ich ist nicht zu vergleichenmit einem Menschen, der um den Baum herumläuft,sondern höchstens mit einem Menschen, der sich herum-ringelte um den Baum wie eine Schlange; dann könnteman vielleicht mit den Händen seine Füße ergreifen.Denn das Ich ist eine ganz andere Gegenständlichkeit als

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alles andere, was wir erfahren können. Es ist eine solcheGegenständlichkeit, die wir erfassen können als Subjektund Objekt zusammenfallend. Das haben auch dieMystiker aller Zeiten, die in symbolischer Sprache ge-sprochen haben, immer angedeutet in dem Bild dersich selbst erfassenden, sich in ihren eigenen Schwanzbeißenden Schlange. Diejenigen, die dieses Symbolgebrauchten, waren sich klar, daß sie in dem Gegen-stand, den sie vor sich hatten, gleichwohl sich selberanschauten.

An diesem Beispiel können wir sehen, wie wir von derbloßen Empfindung und Wahrnehmung von dem, wasuns unmittelbar vor Augen steht, und was nur in Dis-harmonie kommen kann mit dem Empfindungsleib, vor-rücken zu dem, was nicht nur in der bloßen Empfin-dung, in der bloßen Wahrnehmung arbeitet, sondern inder Verstandes- oder Gemütsseele. Wo wir innerlich dieGedanken verarbeiten müssen, was schon viel mehr derWillkür entzogen ist, da bieten nicht nur die bloßenBilder ein Hindernis, sondern etwas, was ganz andereWiderstände bietet, und was von einem nicht bis in seineletzten Konsequenzen sich führenden Denken nicht er-kannt werden kann. Da haben wir ein Beispiel, wie sichder Mensch einspinnen kann in eine Logik, von der ernicht bemerkt, daß sie nur seine Logik und nicht dieLogik der Tatsachen ist. Eine Logik der Tatsachen kannnur vorhanden sein, wenn wir die Herrschaft behaltenüber das Zusammenarbeiten der Verstandesseele mitdem Ätherleib, also den Ätherleib beherrschen. So daßin der Tat diejenigen krankhaften Äußerungen unseresSeelenlebens, die sich vorzugsweise als Störungen in derVerbindung von Vorstellungen zeigen, sich als dadurchbewirkt herausstellen, daß unser Ätherleib uns nicht als

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ein gesundes Werkzeug für die Äußerungen unsererVerstandesseele dienen kann.

Nun aber dürfen wir fragen: Wenn wir schon inunserer Anlage jenen Ätherleib mitgebracht haben, derfür die Entfaltung der Verstandesseele ein Hemmnisbietet, was können wir denn da eigentlich anderes sagen,als daß die Ursachen zu einem solchen Seelenleben, dasaus dem bloßen Irrtum in das Irresein übergeht, in etwasliegen, über das wir keine Gewalt haben? In gewissemSinne tritt uns gerade an einem solchen Beispiel, wennwir es wirklich durchschauen, etwas entgegen, was hierauch immer wieder betont worden ist, und was vonvielen unserer Zeitgenossen - auch von den aufgeklär-testen - als eine Phantasterei angesehen wird. Wir sehen,daß uns in einer ganz gewissen Weise unser ÄtherleibStreiche spielt, daß er, statt die Verstandesseele ruhiggewähren und arbeiten zu lassen, damit die Urteile zuEnde kommen, uns Hemmnisse entgegenwirft; so daßwir, anstatt zu sagen: Wir sind hier ohnmächtig undkönnen nicht weiter! - nun ein chaotisches, ein ver-zerrtes Urteil fällen. Wir sehen, daß unser Urteil, dasaus der Verstandesseele fließt, sich durcheinandermischtmit dem, was unser Ätherleib uns hineinmischt. Son-derbar: wir glauben eine äußere Körperlichkeit an unszu haben, und nun mischt sich die Tätigkeit diesesÄtherleibes hinein - wie etwas Gleichartiges - indie Tätigkeit unserer Verstandesseele. Wodurch erklärtsich das?

Wenn man nur mit Worten umgeht, kann man dabeihinweisen auf vererbte Anlagen und so weiter. Das tundiejenigen, die aus einer gewissen Denkgewohnheit her-aus über das Seelische überhaupt nicht logisch nachden-ken können. Aber die Philosophen, die nachdenken

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können über das Seelenleben, die sagen: Was in diesemFalle als Verkehrtheit, als chaotische Verworrenheit desSeelenlebens eintritt, kann nicht aus bloßer physischerVererbung stammen. - Und nun sehen wir einen vielge-nannten modernen Philosophen der Gegenwart, der ausseiner Denkgewohnheit heraus über dasjenige, was inuns verläuft und doch nicht bloß physisch ist, ein merk-würdiges Wort gebraucht. Man könnte sagen, es ist einniedliches Wort, wenn es sich nicht um ernste Wissen-schaft handelte, wenn Wundt sagt: Da werden wir ebenin die dunkle Unendlichkeit der Entwicklung hineinge-führt! - Wer gewohnt ist, wissenschaftlich zu denken,den berührt es sonderbar, wenn ihm eine solche Redens-art bei einem Philosophen entgegentritt, der heute in derganzen Welt als berühmt gilt. Man vergleiche damitdasjenige, was Geisteswissenschaft zu sagen hat, indemsie in unserer Gegenwart mit einer Wahrheit auftritt, diewir öfter verglichen haben mit einer andern Wahrheit,die erst im 17. Jahrhundert der große NaturforscherFrancesco Redi auf einem andern Gebiete ausgesprochenhat als den Satz: Lebendiges kann nur aus Lebendigementstehen! Die Geisteswissenschaft zeigt, indem sie die-sen Satz auf eine höhere Sphäre erhebt, die Wahrheit desSatzes: Geistig-Seelisches kann nur aus Geistig-Seeli-schem entstehen! Sie führt uns nicht in die bloße physi-sche Vererbung zurück, sondern sie zeigt uns, daß injedem Physischen ein Geistiges wirkt. Und wenn dieGegenwirkungen des Ätherleibes auf die Verstandesseelezu große sind, so müssen wir es glaublich finden, daßunsern Atherleib präpariert und gebildet haben mußetwas, was gleichartig ist mit unserer Verstandesseele;nur daß es ihn schlecht präpariert haben muß. Findenwir also heute in unserer Verstandesseele den Irrtum, so

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können wir freilich, wenn wir die Besonnenheit behal-ten, den Irrtum so korrigieren, daß er sich nicht bis aufdie Leiblichkeit überträgt. Und wir brauchen durchausnicht leichtfertig zu glauben, daß nun ein jeder Affektgleich eine Erkrankung bewirken muß. Niemand kannstrenger auf diesem Boden stehen als gerade die Geistes-wissenschaft, daß es ein Unsinn ist, ohne weiteres irgend-einem äußeren Einfluß zuzuschreiben, wenn dieser oderjener verrückt oder wahnsinnig geworden ist. Aber aufder andern Seite müssen wir uns klar sein, wenn wirauch nichts vermögen über unsern Ätherleib, daß erdennoch in der Art, wie er sich uns entgegenstellt, sichdurchtränkt und imprägniert zeigt mit denselben Geset-zen der Irrtümlichkeit, die uns heute als bloßer Irrtumentgegentreten, und daß wir die Krankheit dann haben,wenn wir den Irrtum verkörperlicht sehen im Ätherleib.Ein solcher Irrtum kann sich im gewöhnlichen Fall inunserem heutigen Leben zwischen Geburt und Todnicht sogleich organisieren. Er kann es nur, wenn erwiederholt wird und zur Gewohnheit wird; denn etwasanderes ist es, wenn wir immer wieder und wieder ineiner gewissen Richtung Irrtum auf Irrtum häufen zwi-schen Geburt und Tod, wenn wir uns immer wiedergewissen Schwächen des Denkens, des Fühlens und desWollens hingeben und damit leben zwischen Geburt undTod. - Wir haben betont, daß in den Leben zwischenGeburt und Tod eine Grenze besteht für die Übertra-gung dessen, was in der äußeren Körperlichkeit ge-schieht. Wenn wir durch die Pforte des Todes gehen,wird der physische Leib mit allen guten und mit allenschlechten Anlagen zerstört, und wir nehmen mit hin-über alles, was wir zubereitet haben an Gutem undSchlechtem im Denken, Fühlen und Wollen. Und indem

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wir uns in unserem nächsten Dasein unsere äußere Leib-lichkeit aufbauen, bringen wir in dieselbe dasjenige hin-ein, was irrig, was chaotisch ist, was Schwäche ist inunserem Denken, Fühlen und Wollen in unserer gegen-wärtigen Verkörperung.

Wenn wir daher mit einem Ätherleib zu rechnenhaben, der für uns ein Hemmnis ist, so dürfen wir sagen:Wenn wir in der Gegenwart den Irrtum in unseremSeelenleben haben, so können wir in unseren Ätherleibnicht unmittelbar hineinprägen, was die Seele ergriffenhat; aber indem wir durchgehen durch den Tod, wirktdasjenige, was jetzt bloß in unserem Seelenleben einIrrtum ist, organisierend auf das nächste Dasein. Was alsUrsache und als eine gewisse Anlage in unserem Äther-leib erscheint, das können wir nicht in dieser Verkör-perung finden, wohl aber können wir es dann finden,wenn wir in ein früheres Dasein zurückgreifen.

Damit sehen wir, daß wir ein weites Gebiet gewisserSeelenerkrankungen nur verstehen können, wenn wirnicht bloß hineingreifen in das geheimnisvolle «Dunkelder Unendlichkeit der Entwickelung», wobei man sichnichts denken kann, sondern daß wir zu einem früherenLeben des Menschen gehen müssen. Nur darf man auchdiese Wahrheit nicht wieder auf die Spitze treiben; dennman muß sich klar sein, daß der Mensch neben denfrüher erworbenen Eigenschaften auch solche in sichträgt, welche in der Vererbung liegen, und daß gewisseEigenschaften unseres äußeren Menschen als vererbte zubetrachten sind. Da entsteht die Notwendigkeit, daßman sorgfältig unterscheidet zwischen dem, wie sich derMensch hindurchlebt von Dasein zu Dasein, und wie ersich zeigt als Nachkomme seiner Vorfahren.

Nun kann ebenso eine Disharmonie eintreten zwi-

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sehen der Bewußtseinsseele, die unser Selbstbewußtseinbegründet, und unserem physischen Leib. Da tretendann in unserem physischen Leib nicht nur die Merkma-le auf, die wir uns selber zubereitet haben in einerfrüheren Verkörperung, sondern auch solche, die in derVererbungslinie zu finden sind. Aber auch da ist dasPrinzip dasselbe: Was in der Bewußtseinsseele wirkt,kann ein Hemmnis finden an dem, was die wirksamenGesetze des physischen Leibes sind. Und wenn dieBewußtseinsseele diese Hemmnisse findet, dann entste-hen alle die Dinge, die in gewissen Symptomen vonSeelenkrankheiten so grausam zutage treten. Hier istauch namentlich das Gebiet zu suchen, wo alle dieSchattenseiten eines besonderen Organs hervortreten,wenn in unserem physischen Leib die Tatsache auftritt,daß sich ein Organ besonders vor den übrigen hervortut.Wenn die Organe im physischen Leibe regulär zusam-menwirken und keines sich hervordrängt, dann wirdunser physischer Leib ein reguläres Instrument der Be-wußtseinsseele sein; wir werden in ihm kein Hemmnisfinden und werden gar nicht bemerken, daß wir dasphysische Instrument der Bewußtseinsseele haben, eben-sowenig wie ein gesundes Auge Hemmnis ist für einnormales Sehen. - Wir könnten dabei aufmerksam ma-chen auf jenen Fall, den ein bedeutsamer Naturforscherder Gegenwart erzählt. Ein Mann hatte in seinem einenAuge eine Trübung. Diese Trübung bewirkte, daß er aufjenem Auge nicht normal sah, daß er besonders in derDämmerstunde so etwas wie gespensterartige Bildungensah. Weil jener Einfluß seines Auges sich auf das Sehengeltend machte, hatte er häufig die Empfindung, als obsich ihm jemand in den Weg stellte. Wo sich ein solcherEinfluß des Auges als Hemmnis einstellt, da ist kein

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normales Sehen möglich. Diese partiellen Störungenkönnen in der mannigfaltigsten Weise zutage treten.

Wenn die Bewußtseinsseele ein Hemmnis findet indem physischen Leib, so müssen wir das immer zurück-führen auf das besondere Hervortun dieses oder jenesOrganes. Denn wenn alle Organe des physischen Leibesin normaler Weise zusammenwirken, stemmt er sichnicht der Bewußtseinsseele entgegen. Erst wenn sich einOrgan besonders hervortut, merken wir ein Hemmnis,weil wir jetzt einen Widerstand finden. Findet unsereBewußtseinsseele keinen Widerstand, dann bringen wirunser Ich-Bewußtsein in der regelmäßigen Weise zumAusdruck. Finden wir aber ein Hemmnis dieses freienVerkehrs mit der Außenwelt, und merken wir nicht imBewußtsein, daß ein Hemmnis da ist, dann treten Grö-ßenwahn-, VerfolgungsWahnideen ein als Symptome fürdie eigentliche, tiefer liegende Erkrankung.

So sehen wir, wenn wir den Menschen in seinerVielgliedrigkeit durchschauen, daß wir Harmonie undDisharmonie im Menschenleben begreifen können. Nurskizzenhaft konnte angedeutet werden, wie das Zusam-menwirken dieser verschiedenen Glieder geschieht, undwie von der Geisteswissenschaft aus in die wunderbarenErgebnisse, die heute in der Literatur vorliegen, Ord-nung und Begreifen gebracht werden kann.

Wenn wir dieses verstehen, werden wir auch nocheinen anderen Aufschluß gewinnen können. Vor allemdenjenigen, daß wir die Realität des inneren Menschenersehen, und wie der äußere und der innere Mensch vonVerkörperung zu Verkörperung zusammenwirken; wieuns in gewissen Fehlern des äußeren Menschen, zumBeispiel in den Fehlern seines Ätherleibes, nur dasjenigezutage tritt, was Wirkung ist von Schwächen und Feh-

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lern des Seelenlebens in früheren Daseinsstufen. Dasaber zeigt uns, daß wir nicht immer in der Lage seinwerden, wenn die Hemmnisse zu große sind, sie durchinneres, geregeltes, starkes Seelenleben zu überwinden.Wir werden es aber doch in vieler Beziehung tun kön-nen. Denn wenn wir in dem nicht normalen Seelenlebennur etwas haben wie einen Widerstand des äußerengegen den inneren Menschen, dann werden wir auchbegreifen, daß es darauf ankommt, die Kraft des innerenMenschen so stark als möglich zu machen. Ein schwa-cher Mensch, der nicht scharf die Konsequenzen seinerGedanken ziehen will, nicht scharf ausmeißeln will seineVorstellungen, der nicht darauf ausgeht seine Gefühle sozu bilden, daß sie im Einklänge sind mit dem, was ererlebt, ein solcher Mensch wird dem Widerstände desäußeren Menschen auch nur ein schwaches Gegenge-wicht entgegenstellen können; und er wird, wenn erKrankheitsanlagen in sich hat, im entsprechenden Zeit-punkt dem verfallen müssen, was man Seelenkrankheitennennt. Anders wird die Sache stehen, wenn wir einemkranken Äußeren ein starkes Inneres entgegenstellenkönnen; denn das Stärkere wird siegen! Und darausersehen wir, daß wir zwar nicht immer den Sieg davon-tragen können über das Äußere, daß wir aber allesmögliche tun können, um durch die Entwickelung einesstarken, geregelten Seelenlebens möglichst die Überhandzu haben über ein krankes Äußeres. Und wir sehen denNutzen dessen, wenn wir versuchen, unsere Gefühleund Empfindungen, unseren Willen so zu gestalten, daßwir uns nicht bei jeder kleinen Veranlassung affiziertfühlen; wenn wir versuchen, unser Denken über diegroßen Zusammenhänge auszudehnen; wenn wir nichtbloß die allernächst liegenden Gedankenfäden suchen,

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sondern mit unseren Gedanken bis in die feinsten Ver-zweigungen des Denkens gehen, und wenn wir daraufbedacht sind, unser Begehren so zu gestalten, daß wirnicht das Unmögliche wollen, sondern nach Maßgabeder Tatsachen. Wenn wir ein starkes Seelenleben entwik-keln, werden wir vielleicht dennoch an eine Grenzekommen können; wir werden aber das Möglichste getanhaben, um von Innen heraus das Übergewicht über alleäußeren Widerstände zu erlangen.

So sehen wir also, was es bedeutet, wenn der Menschsein Seelenleben in entsprechender Weise ausbildet. Inder Gegenwart versteht man wenig, was es heißt: Aus-bildung des Seelenlebens. Bei ähnlichen Gelegenheitenwurde schon erwähnt, daß man heute einen großen Wertzum Beispiel auf Turnen, Spazierengehen, auf großesTrainieren des physischen Leibes legt. Nichts soll gesagtwerden über das Prinzip, das hier angedeutet ist. DieDinge können gesund sein. Aber sie sind ganz bestimmtnicht zu einem guten Ziele führend, wenn man dabei nurauf den äußeren Menschen blickt, als ob er eine Maschi-ne wäre, wenn man Übungen macht, welche auf diebloße physiologische Kräftigung zielen. Man sollte beimTurnen überhaupt nicht solche Übungen machen, dieunter dem Gesichtspunkte geprägt sind, daß dieser oderjener Muskel besonders gekräftigt wird; sondern es soll-te dafür gesorgt werden, daß wir bei jeder Übung eineinnere Freude haben, aus einem inneren Wohlbehagenden Impuls zu einer jeden Übung holen. Aus der Seelesollen die Impulse zu den Übungen hervorgehen. DerTurnlehrer zum Beispiel sollte sich mit seinem Fühlenhineinversetzen können, wie die Seele dieses oder jenesWohlbehagen hat, wenn sie die eine oder die andereÜbung ausführt. Dann machen wir die Seele stark; sonst

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machen wir nur den Körper stark, und die Seele kanndabei so schwach wie möglich bleiben. Wer das Lebenbeobachtet, der wird finden, daß Übungen, die voneinem solchen Gesichtspunkt aus unternommen werden,gesundend wirken und etwas ganz anderes beitragenzum Wohlbefinden des Menschen als jene Übungen, dieunternommen werden, wie wenn der Mensch nur einanatomischer Apparat wäre.

Der Zusammenhang zwischen dem seelischen Lebenund dem physischen Leben enthüllt sich erst durch eingenaues Eingehen auf die Geisteswissenschaft. Wer daglaubt, daß man in dem Körperlichen einen Ausgleichsehen kann gegen geistige Anstrengungen, der weiß einWesentliches nicht. Wer Geistesforscher ist, der weiß,daß er zum Beispiel in der ungeheuerlichsten Weiseermüdet werden kann, wenn er genötigt ist, irgendeineWahrheit einem anderen beizubringen und dann zuhö-ren muß, wie der andere spricht, der noch nicht in einerordentlichen Weise darüber sprechen, noch keine richti-gen Gedankenbilder formen kann. In einem solchenFalle tritt für einen Geistesforscher starke Ermüdungein; während zum Beispiel gar keine Ermüdung eintritt,wenn er in den geistigen Welten noch so viel forscht; daskönnte bis ins Unendliche fortgehen. Das ist aus demGrunde so, weil man es in dem Falle des Zuhörens mitkörperlichen Vermittlungen zu tun hat, wobei das physi-sche Gehirn tätig ist; während geistiges Forschen zwar,wenn es auf den unteren Stufen verläuft, auch die Mit-wirkung der physischen Organe nötig hat; aber je höheres sich erstreckt, immer weniger ihrer bedarf und um soweniger ermüdend wirkt. Wenn der äußere Menschnicht mehr mitzuarbeiten hat, dann tritt nicht mehrdasjenige auf, was man Erschöpfung oder Ermüdung

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nennen könnte. Da sehen wir zugleich, daß man ingeistiger Tätigkeit Unterschiede machen muß; daß esetwas anderes ist, wenn geistige Tätigkeit den Impuls inder Seele selber hat oder wenn sie von außen angeregtwird. Das ist ja etwas, was immer zu beachten ist: daß inden Entwickelungsstadien des Menschen stets dasjenigeeintritt, was den inneren Impulsen entspricht.

Nehmen wir eines, was immer betont worden ist, undwas Sie nachlesen können in der kleinen Schrift «Die Er-ziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswis-senschaft». Da ist gesagt worden, daß das Kind bis zumsiebenten Jahre bei allem, was es tut, vorzugsweise denImpuls fühlt, es unter Nachahmung zu verrichten; daßes dann in der Zeit vom Zahn Wechsel bis zur Ge-schlechtsreife in der Entwickelung unter dem Zeichendessen steht, was man nennen könnte: Sich-Richten nacheiner Autorität oder Richten nach dem, was durch dasDarleben eines andern Menschen Eindruck auf unsmacht. Nehmen wir an, es wird dem keine Beachtunggeschenkt; es wird dagegen gesündigt, daß der Impulsder Seele bis zum siebenten Jahre auf Nachahmungeingestellt ist und in der Zeit vom siebenten Jahre bis zurGeschlechtsreife auf Autoritätsunterwerfung. Wird demkeine Rechnung getragen, so wird die äußere Körper-lichkeit, anstatt sich zu einem normalen Instrument fürdie Seele zu entwickeln, sich in Unregelmäßigkeit ent-wickeln, und es wird dann die Seele in den folgendenEpochen der menschlichen Entwickelung nicht mehr dieMöglichkeit haben, auf ein unregelmäßiges Äußeres inder richtigen Weise zu wirken und damit in Wechselwir-kung zu treten. Dann sehen wir, wenn der Mensch inWendepunkten des menschlichen Lebens in ein neuesStadium tritt, daß in einem gewissen Grade ein Glied des

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Menschen zurückgeblieben sein kann, wenn diese Regelnicht beobachtet wird. Und man würde leicht finden,daß nichts anderes demjenigen zugrunde liegt, was ge-wöhnlich als Jugendblödsinn, Dementia praecox, auf-tritt, als das Unterlassen der Beobachtung dieser Geset-ze. Durch das Außerachtlassen der richtigen Vorschrif-ten in früheren Epochen tritt dann in dem Zusammen-wirken zwischen äußerem und innerem Menschen alsDisharmonie dasjenige auf, was als Jugendblödsinn, De-mentia praecox, bekannt ist, als Symptom für eine ver-spätete Nachahmung. Dann zeigt sich eben, daß dasNicht-Zusammenstimmen dessen, was die Geisteswissen-schaft reinlich voneinander scheidet, in vieler Beziehungdie Ursache eines abnormen Seelenlebens ist. Ebensohaben wir in dem, was gegen Ende des Lebens als dieAltersparalyse auftritt, wiederum ein Nicht-Zusammen-stimmen zu sehen zwischen innerem und äußerem Men-schen, verursacht dadurch, daß der Mensch in der Zeitder Geschlechtsreife bis dahin, wo der Astralleib seinevöllige Entwickelung erreicht, nicht so gelebt hat, daßeine Harmonie eintreten kann zwischen äußerem undinnerem Menschen.

Auch daraus sehen wir also, daß uns die richtigeAnschauung über das Wesen des Menschen Licht brin-gen kann über das, was wir das Wesen von Irrtum undIrresein nennen können. Und wenn wir auch nur einenoberflächlichen Zusammenhang gefunden haben, wennwir auch nicht sagen können, daß der Irrtum, insofern erdem normalen Seelenleben angehört, sich bis in dasäußere Leben, bis in die Lebensäußerungen prägen kann,so müssen wir dennoch sagen, daß demgegenüber dasTrostreichere ein wichtiges Gesetz ist, nämlich daß wirdurch die Entwickelung einer starken Logik, eines gere-

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gelten, gefühlsharmonischen und willensharmonischenSeelenlebens uns stark machen gegen die Hemmungen,die vom äußeren Menschen kommen können. So gibtuns die Geisteswissenschaft, vielleicht nicht immer, dochmeist die Möglichkeit, die Übermacht, die Vorherrschaftdes äußeren Menschen auszuschließen. Etwas Wichtigesist es, daß wir, wenn wir den inneren Menschen pflegenund stark machen, ihn auch wieder dadurch stark ma-chen gegen die Übermacht des äußeren Menschen. EinHeilmittel gibt uns darin die Geisteswissenschaft. Sie istes daher, die immer wieder und wieder hinweist auf dieWichtigkeit, geordnete Gedankengänge und ein sachge-mäßes Vorstellungsleben zu entwickeln, nicht mit seinenGedanken auf halbem Wege stehenzubleiben, sondernkonsequent die Gedanken zu Ende zu denken. Das istimmer wieder von den verschiedensten Seiten her betontworden. Daher ist die Geisteswissenschaft mit ihrerstrengen Forderung, unser Seelenleben so zu gestalten,daß es innerlich diszipliniert und harmonisiert erscheint,selbst ein Heilmittel gegen das Überhandnehmen einerkrankhaften Körperlichkeit. Und Sieger kann derMensch sein über krankhafte Anlagen, wenn er überKörperschwäche, über Körpermißbildung auszubreitenvermag das Licht eines gesunden Wollens, eines gesun-den Fühlens und eines in sich selbst disziplinierten Den-kens. Das hört man heute oft nicht gern. Dennoch ist eswichtig für uns, um die Gegenwart zu begreifen. Und sokönnen wir sagen: Geisteswissenschaft weist uns sogareinen Trost: den, daß wir im Geiste, wenn wir ihn nurwahrhaft stärken, immer noch das beste Heilmittel ha-ben für alles, was uns im Leben treffen kann. Wir lernendurch Geisteswissenschaft nicht über den Geist theoreti-sieren, sondern wir lernen ihn zu einer wirksamen Kraft

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in uns zu machen, wenn wir versuchen, bei dem nichtstehenzubleiben, wobei das Philistertum so gerne ste-henbleiben will, bei halben Gedanken. Denn nur Halb-heit der Gedanken ist es, wenn gesagt wird: Beweist esuns, was ihr da sagt über wiederholte Erdenleben und soweiter! Dem ist es nicht zu beweisen, der mit seinenGedanken nicht zu Ende denken will; ganze Wahrheitenlassen sich mit halben Gedanken nicht beweisen! Nurfür ganze Gedanken lassen sie sich beweisen, und ganzeGedanken muß der Mensch in sich selbst entwickeln.

Wenn Sie das, was jetzt als Anweisung gegeben ist,weiter ausbauen, dann werden Sie sehen, daß damit einÜbel in unserer Zeit getroffen ist: das Übel des Unglau-bens an den Geist; daß aber zugleich aufmerksam ge-macht worden ist, wo die Mittel liegen, um den Unglau-ben in den Glauben an die wahre, starke Geistigkeit zuentwickeln. Der Glaube an die Vernunft ist im weitenAusmaße heute gar nicht in der Menschheit vorhanden.Daher ist nicht immer diejenige vernünftige Unbefan-genheit da, die notwendig ist, um die Wahrheiten derGeisteswissenschaft auch aufzufassen. Es soll nicht mitSpott und Ironie gesagt sein, sondern mit einer gewissenWehmut, daß man auch auf unsere heutige Zeit anwen-den könnte, was ein Ausspruch im «Faust» von gewissenLeuten sagt:

Wenn sie den Stein der Weisen hätten,Der Weise mangelte dem Stein!

Vernunft kann Geisteswissenschaft begreifen, und ver-nünftiges Begreifen der Geisteswissenschaft ist Gesun-dung bis in die äußerste Körperlichkeit hinein. Dasbehaupten übrigens nicht nur die heutigen Geistesfor-scher. Das behaupteten auch immer diejenigen, welche

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auf andern Wegen als die heutige Geisteswissenschaftsich dem Geiste zu nähern versuchten. Aber auch solcheMenschen werden heute wenig verstanden. Wer würdeheute nicht über einen Hegel spotten, gerade weil erüberall das Dasein, die Wirksamkeit und Notwendigkeitder Vernunft betont hat? Er hat sie so betont, daß er sichdie Wirksamkeit der Vernunft im gegenwärtigen Men-schen in dieser Art vorstellte: Dieses Menschenlebenmag ich mir vorstellen als ein Kreuz. Und für Hegelwaren die Rosen im Kreuz, was die Vernunft im Men-schen ist. Deshalb setzt er an die Spitze eines seinerWerke den Satz: «Vernunft ist die Rose im Kreuz derGegenwart!» Und Glaube an die Vernunft wird dasKreuz siegen lassen. Glaube an die Vernunft und Glaubean ein diszipliniertes Denken, an ein harmonisiertesEmpfindungs- und Willensleben wird an das Kreuz dieRosen hängen. Deshalb können wir sagen: Es ist dochetwas Wahres daran, daß wir in uns die Kraft haben,dem entgegenzuwirken, was wir Seelenkrankheiten nen-nen, wenigstens bis zu einer gewissen Grenze; wenn wirden Glauben haben an ein harmonisiertes Empfindungs-leben, das wir ausbilden können, an ein harmonisiertesWillensleben, das wir ausbilden können, und an ein insich diszipliniertes Vernunftleben, das wir ausbilden kön-nen und das wir ausbilden sollen. Bilden wir diese drei aus,so werden wir uns unter allen Umständen kräftigerund siegreicher im Leben machen. Und weil Hegel einharmonisches Empfindungs- und Willensleben, ein diszi-pliniertes Gedankenleben, eine vernünftige Intellektualitätzusammenfaßt in der Vernunft, deshalb tut er den Aus-spruch, der ein Leitspruch für uns sein kann bei der Aus-bildung unseres Seelenlebens, daß die Vernunft sein sollfür den Menschen die Rose im Kreuz der Gegenwart!

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DAS MENSCHLICHE GEWISSEN

Berlin, 5. Mai 1910

Gestatten Sie, daß ich den heutigen Vortrag mit einerpersönlichen Erinnerung beginne. Sie bezieht sich aufein kleines Erlebnis, das ich als ganz junger Menschhatte, und das zu den Dingen gehört, die, wenn auchscheinbar ganz klein und unbedeutend, doch für das Le-ben immer wieder schöne Erinnerungen bilden können.

Als ganz junger Mensch hörte ich einmal die Vorträgeeines Dozenten über Literaturgeschichte. Der betref-fende Vortragende begann damals seinen Kursus miteiner Betrachtung des Geisteslebens zur Zeit Lessingsund wollte einleiten eine Reihe von Betrachtungen, diedurch die literarische Entwickelung der zweiten Hälftedes 18. und eines Teiles des 19. Jahrhunderts führensollten. Und er begann mit Worten, welche einen tiefenEindruck machen konnten. Er wollte den Hauptcharak-terzug, der in das literarische Geistesleben zur ZeitLessings hineinkam, dadurch charakterisieren, daß ersagte: Das künstlerische Bewußtsein bekam ein ästheti-sches Gewissen. - Wenn man sich dann aus dem, was erweiter ausführte, zurechtlegte, was er mit diesem Aus-spruch eigentlich sagen wollte - diskutieren wollen wirüber die Berechtigung dieser Behauptung nicht -, so wares etwa folgendes: In die ganzen künstlerischen Betrach-tungen und in alle Absichten der künstlerischen Leistun-gen, die sich an das Bestreben Lessings und andererZeitgenossen anschlössen, kam hinein der tiefste Ernst,durch den sie die Kunst nicht bloß zu etwas machen

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wollten, was wie ein Anhängsel des Lebens dasteht, wasnur da ist, um auch nur etwas hinzuzufügen zu denverschiedenen anderen Vergnügungen des Lebens; son-dern sie wollten die Kunst vielmehr zu etwas machen,was sich als ein notwendiger Faktor jedes menschenwür-digen Daseins in die Entwickelung einfügen muß. DieKunst zu erheben zu einer ernsten und würdigenMenschheitsangelegenheit, die mitzusprechen hat in demChor, in welchem gesprochen wird über die großenfruchtbringenden Angelegenheiten der Menschheit, dassei das Ziel gewesen der Geister, die jene Epoche began-nen. - Das wollte jener Literarhistoriker sagen, indem erbetonte: Es kam in das künstlerisch-dichterische Lebenhinein ästhetisches Gewissen.

Warum konnte denn ein solcher Ausspruch eine Be-deutung haben für eine Seele, die hinhorchen wollte aufdie Rätsel des Daseins, wie sie sich in diesem oder jenemMenschenkopf spiegeln? Aus dem Grunde konnte einsolcher Ausdruck eine Bedeutung gewinnen, weil dieKunstauffassung geadelt werden sollte, indem sie miteinem Ausdruck belegt wurde, über dessen Bedeutungfür alles Menschendasein, für alle Menschenwürde undMenschenbestimmung kein Zweifel bestehen kann. Miteinem Ausdruck sollte der Ernst des künstlerischen Wir-kens belegt werden, über dessen Bedeutung sozusageneine Diskussion ausgeschlossen ist. Und es ist etwasdaran, wenn wir davon sprechen, daß in irgendeinerAngelegenheit jene Seelenerlebnisse eine Bedeutung ha-ben, die wir mit dem Ausdruck «Gewissen» bezeichnen,weil wir dadurch gleichsam die betreffenden Angelegen-heiten hinaufheben wollen zu einer Sphäre, in der siegeadelt werden. Das heißt mit anderen Worten: Diemenschliche Seele verspürt, wenn der Ausdruck «Gewis-

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sen» ausgesprochen wird, daß etwas berührt wird vondem Wertvollsten im menschlichen Seelenleben, etwasvon dem, was einen Mangel bedeuten würde für diesesSeelenleben, wenn es nicht in ihm vorhanden wäre. Undwie oft ist gesagt worden, um das Große und Bedeu-tungsvolle dessen zu charakterisieren, was mit dem Wort«Gewissen» bezeichnet wird - ganz gleichgültig, ob dasder andere bildlich oder wirklich versteht: Was sich alsGewissen ankündigt in der menschlichen Seele, ist dieStimme Gottes in dieser Seele. Und man wird auchkaum finden, daß es irgendeinen Menschen geben kann,wenn er auch noch so wenig über höhere geistige Ange-legenheiten nachzudenken bereit ist, der nicht irgend-einen Begriff sich von dem gemacht hätte, was mangemeinhin das «Gewissen» nennt. Ein jeder hat ja soungefähr das Gefühl: Was es auch sein mag, es ist eineStimme, die mit einer unwiderleglichen Gewalt in dereinzelnen Menschenbrust Entscheidungen trifft über das,was gut und was schlecht oder böse ist; über das, wasgetan werden soll, damit der Mensch mit sich selbereinverstanden sein kann, und was unterlassen werdenmuß, damit der Mensch nicht an den Punkt kommt, woer sich selber in gewissem Sinne mit Verachtung behan-deln muß. Daher können wir sagen: Das Gewissen er-scheint jeder einzelnen Menschenseele als etwas Heiligesin der Menschenbrust, als etwas, worüber es verhältnis-mäßig sogar leicht ist, irgendeine Ansicht zu gewinnen.

Anders allerdings stellt sich die Sache, wenn wir einwenig die menschliche Geschichte und das menschlicheGeistesleben betrachten. Wer würde denn nicht, wenn ereine solche geistige Angelegenheit ins Auge faßt, undwenn er tiefer zu sehen sich bemüht, ein wenig Umschauhalten bei denen, wo er ein Wissen darüber voraussetzen

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kann: bei den Philosophen? Allerdings würde es ihm dagegenüber einer solchen Angelegenheit so ergehen wiegegenüber so vielen anderen Menschheitsangelegenhei-ten: Die Erklärungen, die man bei den verschiedenenPhilosophen über das Gewissen findet, unterscheidensich, wenigstens scheinbar, beträchtlich voneinander,wenn sie auch immer einen mehr oder weniger dunklenKern enthalten, der überall gleich ist. Aber das wärenicht das Schlimmste. Wer sich recht viel Mühe gebenwollte, die verschiedenen Philosophen alter und neuererZeit zu fragen, was sie unter dem Gewissen verstandenhaben, der würde finden, daß er mancherlei recht schöneSätze bekäme - auch mancherlei recht schwer verständ-liche Sätze -, daß er aber nichts Rechtes träfe, von demer sich sagen könnte, daß es vollständig und zweifellosdasjenige zum Ausdruck brächte, wovon er fühlt: das istdas Gewissen! - Es würde allerdings heute viel zu weitführen, würde ich Ihnen eine Blütenlese geben von dem,was als die verschiedenen Erklärungen über das Gewis-sen Jahrhunderte hindurch von seiten gerade der philo-sophischen Führer der Menschheit gesagt worden ist. Dakönnte hingewiesen werden darauf, daß etwa von demersten Drittel des Mittelalters an und dann durch dieganze mittelalterliche Philosophie hindurch, wenn vomGewissen die Rede war, immer gesagt worden ist, dasGewissen sei eine Kraft der menschlichen Seele, welchefähig ist, unmittelbar Aussagen zu machen über das, wasder Mensch tun und lassen soll. Aber - so sagen zumBeispiel die Philosophen des Mittelalters - es liegt die-sem Kraftmoment in der menschlichen Seele noch etwasanderes zugrunde, noch etwas Feineres als das Gewissenselber. Eine Persönlichkeit, deren Name hier auch schonöfter genannt worden ist, Meister Eckhart spricht davon,

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daß dem Gewissen zugrunde läge ein ganz kleiner Fun-ke, der gleichsam als ein Ewiges in die Menschenseelegelegt worden ist, und der mit einer unwiderstehlichenGewalt, wenn er vernommen wird, anzeigt die Gesetzedes Guten und des Bösen.

Wenn wir dann in die neue Zeit heraufkommen, fin-den wir wieder die verschiedensten Erklärungen überdas Gewissen; darunter auch solche, welche einen eigen-tümlichen Eindruck hervorrufen müssen, weil sie deut-lich an der Stirn geschrieben tragen, daß sie den ganzenErnst jener inneren Gottesstimme, die wir das Gewissennennen, eigentlich nicht zum Ausdruck bringen. Es gibtPhilosophen, welche davon sprechen, daß das Gewisseneigentlich etwas sei, was der Mensch sich dadurch er-ringt, daß er immer mehr und mehr Lebenserfahrungenin seine Seele aufnimmt, immer mehr und mehr erlebt,was für ihn nützlich, schädlich, vervollkommnend undso weiter ist oder nicht. Und aus dieser Summe vonErfahrungen bilde sich sozusagen der Niederschlag einesUrteils, das dann spräche: Tue das, tue das nicht! - Esgibt andere Philosophen, welche dem Gewissen wieder-um die höchste Lobrede gehalten haben, die man ihmnur halten kann. Zu diesen letzten gehört der großedeutsche Philosoph Johann Gottlieb Fichte, der, wenn erauf das Grundprinzip alles menschlichen Denkens undSeins hinweisen wollte, vor allen Dingen auf das mensch-liche Ich hindeutete, aber nicht auf das vergängliche,persönliche Ich, sondern auf den ewigen Grundkern imMenschen. Er wies zugleich darauf hin, daß das Höch-ste, was der Mensch erleben kann in seinem Ich, dasGewissen sei. Und er sprach es geradezu aus, daß derMensch nichts Höheres erleben könne als das Urteil insich: Das mußt du tun, weil es deinem Gewissen wider-

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spräche, es nicht zu tun. Darüber könne man, wasMajestät, was Adel des Urteils betrifft, überhaupt nichthinausgehen. Und wenn Fichte gerade der Philosoph ist,der am allerstarksten von allen Philosophen auf die Kraftund Bedeutung des menschlichen Ich hingewiesen hat,so ist es charakteristisch, daß er als den bedeutendstenImpuls im menschlichen Ich wiederum das Gewissenhinstellt.

Je mehr wir allerdings dann in die neuere Zeit hinauf-kommen, und je mehr sich das Denken einem materiali-stischen Grundcharakter nähert, desto mehr finden wir,daß das Gewissen - nicht für die menschliche Brust undnicht für das menschliche Herz, wohl aber für dasDenken der mehr oder weniger materialistisch ange-hauchten Philosophen - in seiner Majestät sehr starkherabgedrückt wird. Nur durch ein Beispiel soll dasbeleuchtet werden.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gibt eseinen Philosophen, der ganz gewiß in bezug auf Vor-nehmheit der Seele, in bezug auf menschliches, harmoni-siertes Fühlen, in bezug auf Weitherzigkeit der Gesin-nung zu den schönsten und herrlichsten Persönlichkei-ten gehört. Er ist heute schon wenig mehr genannt: ichmeine Bartholomäus Carneri. Wenn Sie seine Schriftendurchgehen, finden Sie trotz der Vornehmheit seinerDenkweise, trotz der Weitherzigkeit seiner Gesinnung,weil er ganz angehaucht war von der materialistischenDenkweise seines Jahrhunderts, daß er das Gewissen socharakterisiert: Was können wir uns unter dem Gewis-sen vorstellen? Es ist doch im Grunde genommen nichtsanderes als eine Summe von Gewohnheiten und anerzo-genen Urteilen, die wir in der ersten Jugend aufgenom-men haben, die uns eingeprägt sind durch Erziehung

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und Leben, deren wir uns nicht mehr genau bewußtsind. Aus unseren anerzogenen Gewohnheiten herausspricht es: «Das sollst du tun - das sollst du nicht tun!»

Also auf die äußeren Lebenserfahrungen und Lebens-gewohnheiten, und zwar auf die engumschränktesten,wird hier der ganze Umfang des Gewissens zurückge-führt. Ja andere, noch mehr materialistisch angehauchtePhilosophen des 19. Jahrhunderts sind noch weiter ge-gangen. Und interessant ist in dieser Beziehung dieSchrift eines Philosophen, der in seiner mittleren Zeit aufFriedrich Nietzsche einen großen Einfluß gehabt hat:Paul Ree. Von ihm gibt es eine Schrift über die Entste-hung des Gewissens. Sie ist interessant, nicht weil manauch nur in einem einzigen Satze beistimmen könnte,sondern als ein Symptom für die Anschauungen unsererganzen Zeit. Darin wird ungefähr ausgeführt - seien wiruns bewußt, wenn man etwas kurz sagen und mit einpaar scharfen Linien darstellen muß, wird es dadurch inmanchen Einzelheiten etwas verzerrt werden müssen -:Die Menschheit hat sich in bezug auf alle Eigenschaftenentwickelt, also auch in bezug auf das Gewissen. Ur-sprünglich hatten die Menschen das überhaupt nicht,was wir das Gewissen nennen. Das ist nur ein Vorurteil,und zwar eines der gewaltigsten, wenn man das Gewis-sen für etwas Ewiges hält. Ursprünglich ist so etwas wieeine Stimme, die uns sagt: «Das sollst du tun - das sollstdu nicht tun!», eine Stimme, die wir als das Gewissenbezeichnen - so meint Paul Ree -, überhaupt nichtvorhanden gewesen. Aber es entwickelte sich das, waswir den Rachetrieb nennen könnten. Das war das Ur-sprünglichste. Wenn einem irgend etwas angetan war,entwickelte sich der Rachetrieb, dasjenige wieder zu-rückzugeben, was einem angetan worden war. Und

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durch die Komplikation der Lebensverhältnisse kam esdahin, daß in sozialen Verbänden die Rache den Mäch-ten übergeben wurde, denen man die Ausführung über-trug. So gewöhnte sich der Mensch daran, zu glauben,daß auf jede Tat, durch die ein anderer geschädigt wird,etwas folgen müsse, was man früher «Rache» genannthat. So bildete sich das Urteil heraus, daß gewisse Taten,die schlimme Folgen haben, ausgeglichen werden müs-sen durch andere Taten. Und aus der Weiterbildungdieses Urteils entstand dann ein Zusammenhang zwi-schen gewissen Gefühlen, die der Mensch haben kann,wenn eine Tat getan ist, oder selbst, wenn er in dieVersuchung kommt, etwas zu tun. Das hat der Menschvergessen, daß ursprünglich der Rachetrieb lebendigwar; das aber hat sich festgesetzt im Gefühl, daß eineHandlung folgen müsse als Ausgleich auf eine schädi-gende Tat. So glaubt der Mensch jetzt, daß eine «innereStimme» spräche, während es in Wahrheit nur die nachinnen verschlagene Stimme des Rachetriebes ist. - Dahaben wir einen extremen Fall, dadurch extrem, weildurch eine solche Auseinandersetzung das Gewissen alseine vollständige Illusion hingestellt wird.

Aber auf der anderen Seite müssen wir doch wiederzugestehen, daß auch jene Menschen viel zu weit gehen,welche behaupten, das Gewissen sei etwas, was als eineTatsache immer vorhanden gewesen sei, solange es über-haupt Menschen auf der Erde gäbe, daß es sozusagenetwas Ewiges sei. Indem sowohl dort, wo mehr geistiggedacht wird, wie auch dort, wo man das Gewissen alsreine Illusion erklärt, Fehler gemacht werden, ist eineVerständigung auf diesem Gebiete sehr schwierig, trotz-dem es sich um eine alltägliche, aber alltäglich-heiligeSache unseres menschlichen Innern handelt. Schon durch

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eine Umschau bei den Philosophen könnte man entneh-men, daß über das Gewissen selbst bei den bestenunserer menschlichen Persönlichkeiten früher anders ge-dacht worden ist, als wir es heute müssen. Es ist mitRecht hingewiesen worden von Leuten, die doch etwastiefer sehen in solchen Sachen, daß wir zum Beispiel beieiner so hehren Persönlichkeit wie Sokrates im Grundegenommen gar nicht so etwas finden wie das, was wirheute als «Gewissen» bezeichnen. Denn wenn wir sagen:das Gewissen ist eine Stimme, welche selbst in der Brustdes naivsten Menschen spricht und die wie mit göttlich-heiligem Impuls sagt: «Dies sollst du tun! das sollst dulassen!» so nimmt sich demgegenüber die von Sokratesgemachte und dann auf Plato übergegangene Behaup-tung doch etwas anders aus. Beide behaupten, daß Tu-gend etwas sei, was lehrbar sei, was man lernen könne.Sokrates will also sagen: Wenn der Mensch sich klareBegriffe bildet über das, was er tun oder nicht tun soll,so kann er durch Lernen, durch ein Wissen von der Tu-gend dazu kommen, allmählich tugendhaft zu handeln.

Wer nun auf dem heutigen Begriff des Gewissensfeststeht, könnte dagegen einwenden: Das wäre eigent-lich recht schlimm, wenn man erst abwarten müßte, bisman gelernt hat, was gut oder schlecht ist, um zu einemtugendhaften Handeln zu kommen. Das Gewissen istetwas, was mit viel elementarerer Gewalt in der mensch-lichen Seele spricht - und längst im einzelnen Fallevernehmbar spricht: «Das sollst du tun und das lassen!»bevor wir uns die höheren Ideen gebildet haben überdas, was gut und böse ist, bevor wir also eine Morallehreaufgenommen haben. Und Gewissen ist etwas, was einegewisse Ruhe in die menschliche Seele einziehen laßt,wenn der Mensch sich sagen kann: Du hast etwas getan,

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womit du einverstanden sein kannst. Schlimm wäre es -so kann mancher sagen -, wenn wir erst viel lernenmüßten über Wesen und Charakter der Tugend, um zueiner Zustimmung über unser Handeln kommen zuwollen. - Deshalb können wir sagen: Jener Philosoph,zu dem wir wie zu einem Märtyrer der Philosophieaufsehen, der durch seinen Tod geadelt und gekrönt hatsein philosophisches Werk, Sokrates, er stellt uns einenTugendbegriff hin, der sich schwer mit dem heutigenBegriff vom Gewissen vereinigen läßt. Und selbst beiden späteren griechischen Denkern wird immer nochgesagt, daß man sich durch Lernen in der Tugend ver-vollkommnen könne; was im Grunde der ursprüngli-chen elementaren Macht des Gewissens widersprechenwürde.

Woher kann es nun kommen, daß eine so hehre undgewaltig erscheinende Persönlichkeit wie Sokrates eigent-lich den Begriff, den wir uns heute vom Gewissenmachen, noch nicht kennt, trotzdem wir fühlen, wennwir an Sokrates herantreten, so wie ihn uns Plato alsUnterredner darstellt, daß aus seinen Worten der reinsteMoralsinn, die höchste Tugendkraft spricht? Das kommtvon nichts anderem her als davon, daß selbst diejenigenBegriffe, Vorstellungen und inneren Seelenerlebnisse, dieheute der Mensch so fühlt, als wären sie ihm gleichsameingeboren, auch im Laufe der Zeit von dg»* Menschen-seele erst errungen worden sind. Wer zurückgeht in dasGeistesleben der Menschheit, der wird allerdings finden,daß der Begriff des Gewissens und das Gefühl vomGewissen in den alten Zeiten - auch beim griechischenVolke - nicht in derselben Art vorhanden waren, wie sieheute gedacht und gefühlt werden. Entstanden ist derBegriff des Gewissens. Aber nicht auf so leichte Weise

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durch äußere Erfahrung und äußere Wissenschaft kannder Mensch etwas lernen über die Entstehung des Gewis-sens, wie es etwa durch Paul Ree versucht worden ist;sondern da muß schon tiefer hineingeleuchtet werden indie menschliche Seele.

Nun haben wir es in diesem Winter gerade als Aufga-be dieser Vorträge betrachtet, in das Gefüge der mensch-lichen Seele tiefer hineinzuleuchten, und zwar mit jenemLichte, das entnommen ist einer Entwickelung dermenschlichen Seele zu höheren Erkenntisfähigkeiten hin-auf. Es wurde ja alles Seelenleben so dargestellt, wie essich zeigt dem geöffneten Auge des Sehers, jenem Auge,das nicht nur die äußere Sinneswelt sieht und sich nichtnur ein Wissen erringt von der Sinneswelt, sondern dashinter den Schleier der Sinneswelt in die Region schaut,wo die eigentlichen Ursprünge der Sinneswelt liegen: indie geistigen Untergründe dieser Sinneswelt. Und aufder anderen Seite wurde wiederholt darauf hingewiesen- zum Beispiel in dem Vortrage «Was ist Mystik?» -,wie über dasjenige hinaus, was uns im Alltagsleben alsunser Seelenleben erscheint, das seherische Bewußtseinin tiefere Regionen der Seele hineinführt. Wir glaubenim gewöhnlichen Leben der Seele schon tiefere Unter-gründe zu erkennen, wenn wir in uns selber blicken unddie Gedanken-, Gefühls- und Willenserlebnisse finden.Es ist aber darauf hingewiesen worden, wie das, was sichunserer Seele im tagwachenden Zustand zeigt, im Grun-de nur die Außenseite für das eigentlich Geistige ist.Geradeso wie wir hinter den Schleier des Daseins schau-en müssen, wenn wir dessen Untergründe finden wollen,hinter das, was uns unsere Augen zeigen, was uns unsereOhren hören lassen, was uns unser Verstand durch dasGehirn erkennen läßt, so müssen wir hinter unser Den-

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ken, Fühlen und Wollen schauen, auch hinter die Grün-de dessen, was wir in unserem Innern als das gewöhn-liche Seelenleben haben, wenn wir die eigentlichen Ursa-chen, die geistigen Untergründe unseres eigenen Lebenskennenlernen wollen.

Von solchen Gesichtspunkten sind wir ausgegangen,um das menschliche Seelenleben in seinen mancherleiVerzweigungen zu beleuchten. Das hat sich uns heraus-gestellt, daß dieses menschliche Seelenleben in drei von-einander zu unterscheidenden Gebieten zu betrachten ist- wohl gemerkt, ich sage nicht «zu trennenden Gebie-ten»! Als das unterste Glied des Seelenlebens hat sichuns die Empfindungsseele dargestellt. Bei einem Men-schen, der noch ganz hingegeben ist seinen Trieben,Begierden und Leidenschaften, der es noch nicht dahingebracht hat, seine Affekte und Leidenschaften zu läu-tern und zu reinigen und von seinem Ich aus Herr übersie zu werden, sprechen wir davon, daß die Empfin-dungsseele das Übergewicht hat. Wenn der Mensch dannimmer mehr und mehr Herr wird über Triebe, Begier-den und Leidenschaften, dann zeigt sich uns ein höheresSeelenglied: die Verstandes- oder Gemütsseele. Darinmacht sich geltend, was im Menschen lebt als Wahrheits-sinn, als Mitgefühl mit anderen Menschen und derglei-chen. Die Verstandesseele entwickelt sich aus der Emp-findungsseele heraus. Und das höchste Seelenglied, zudem sich der Mensch zunächst aufschwingen kann - erwird in der Zukunft noch höhere Glieder entwickeln -,haben wir die Bewußtseinsseele genannt. Während derMensch in der Empfindungsseele das, was als äußereEindrücke von außen auf ihn wirkt, mit seinen Triebenund Leidenschaften beantwortet, steigt er in seine Ge-mütsseele hinauf, um, ohne lediglich auf Triebe und

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Leidenschaften zu hören, die Eindrücke der Welt zubeantworten. Wenn er seine Triebe, Begierden und Lei-denschaften läutert, entwickelt sich die Verstandesseele.Wenn er dann mit dem, was er sich in seinem Innernerobert hat, wiederum herantritt an die äußere Welt,wenn er sich innerlich Vorstellungen erworben hat, umdie Welt zu begreifen, und sich sagt: Meine Vorstel-lungen und Begriffe sind dazu da, um mir die Weltverständlich zu machen, - wenn er gleichsam wieder aussich herausgeht, um sich ein Bewußtsein zu erwerbenvon dem, was draußen in der Welt vorhanden ist, dannsteigt er hinauf zur Bewußtseinsseele.

Was ist es, was sich in der menschlichen Seele durchdiese drei Seelenglieder hinaufarbeitet? - Das ist dasmenschliche Ich, jener Einheitspunkt des menschlichenInnern, durch den alles zusammengehalten wird, wasgleichsam wie auf drei Saiten des Seelenlebens spielt,indem es sie in der verschiedensten Weise zusammen-klingen läßt, konsonierend oder dissonierend. Diese Ge-walt im Innern, die sich dadurch geltend macht, daß siedie Begriffe wieder verbindet mit den Dingen der Welt,nennen wir das menschliche Ich, das anwesend ist inallen drei Seelengliedern wie ein innerer Künstler, derauf dem menschlichen Seelenwesen spielt wie auf dreiSaiten. Aber was wir so sehen wie eine Art innerenSpiels des Ich innerhalb unserer Seelenglieder, das hatsich doch erst nach und nach entwickelt. Ja, die ganzeArt des jetzigen Bewußtseins hat sich erst nach und nachentwickelt. Und wir verstehen am besten, wie diesesmenschliche Bewußtsein und das heutige menschlicheSeelenleben sich aus der Urzeit hereinentwickelt haben,wenn wir ein wenig hinweisen auf das, was aus demMenschen in der Zukunft werden kann, und was schon

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heute aus ihm werden kann, wenn er aus der Bewußt-seinsseele heraus seine Seele entwickelt eben zu dem,was wir ein höheres, seherisches Bewußtsein nennenkönnen.

Die gewöhnliche Bewußtseinsseele läßt uns nur jeneAußenwelt begreifen, welche dem Sinnesleben gegen-übersteht. Wenn der Mensch hinter den Schleier derSinnenwelt dringen will, muß er sein Seelenleben höherhinaufentwickeln, muß er die Entwickelung in sich sel-ber fortsetzen. Dann macht er die große Erfahrung, daßes so etwas gibt wie eine Erweckung der Seele, etwas,was sich vergleichen läßt im niederen Seelenleben mitder Operation eines Blindgeborenen, der vorher nichtsgewußt hat von Licht und Farben und nachher herein-brechen sieht die lichtvolle, farbige Welt. So ist es mitdem, der durch die entsprechenden Methoden seineSeele zu höherer Entwickelung bringt und der dann denAugenblick erlebt, wo das, was sonst nicht genannt wirdin unserer Umgebung, was uns aber immer umschwirrt,hereintritt als eine Fülle von Wesenheiten und Tatsachenin unserem Seelenleben, weil wir uns ein neues Organerworben haben.

Wenn sich der Mensch bewußt durch Schulung zusolchem Sehertum entwickelt, nimmt er sein volles Ichin dieses Sehertum mit hinauf; das heißt, er bewegt sichinnerhalb der geistigen Wesenheiten und Tatsachen, dieunserer sinnlichen Welt zugrunde liegen, so wie er sichzwischen Tischen und Stühlen in der Sinnenwelt bewegt.Was ihn als sein früheres Ich geleitet hat durch Empfin-dungsseele, Verstandesseele und Bewußtseinsseele, dasnimmt er in eine höhere Region des menschlichen Seelen-lebens mit hinauf.

Wenden wir jetzt von dem hellseherischen Bewußt-

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sein, das durchleuchtet und durchglüht ist vom Ich desMenschen, den Blick wieder zurück auf das gewöhnlicheSeelenleben. In der verschiedensten Weise lebt das Ichdes Menschen in drei Seelengliedern. Haben wir einenMenschen, der ganz und gar in den Trieben, Begierdenund Leidenschaften lebt, die in seiner Empfindungsseeleaufsteigen, ohne daß er im Grunde etwas dazu tut, sosagen wir: er ist hingegeben an seine Empfindungsseele,und das Ich ist noch sehr schwach in ihm tätig. Da hatdas Ich keine besondere Gewalt; es folgt sozusagen denTrieben, Begierden und Leidenschaften der Empfin-dungsseele. Wir können sagen: Innerhalb jener Gewal-ten, die wie die Meereswogen der Seele auftauchen ausder Empfindungsseele, steht als eine schwache Leuchtedas Ich da und vermag noch wenig gegenüber demWogen der Triebe und Willensimpulse. - Freier undselbständiger arbeitet das Ich schon in der Verstandes-seele oder Gemütsseele. Da kommt der Mensch schonmehr zu sich, weil die Verstandesseele sich nur dadurchentwickeln kann, daß der Mensch das, was er in seinerEmpfindungsseele innerlich erlebt, im ruhigen, innerenSeelenleben verarbeitet. Der Mensch kommt in der Ver-standesseele zu seinem Ich, das heißt zu sich selber. DasIch wird immer leuchtender und leuchtender undkommt dann zur vollständigen Klarheit, so daß derMensch sich sagen kann: Ich habe mich erfaßt! Ich binzum eigentlichen Selbstbewußtsein gekommen! Zu die-ser Klarheit kann das Ich erst in der Bewußtseinsseelekommen. Da zeigt sich die vordringende Stärke des Ich,wenn wir hinaufdringen von der Empfindungsseeledurch die Verstandesseele zur Bewußtseinsseele.

Wenn sich aber der Mensch in seinem Ich über dieBewußtseinsseele hinausentwickeln kann zum hellsich-

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tigen Bewußtsein, gleichsam zu höheren Seelengliedern,so werden wir es auch begreiflich finden, wenn derSeher, zurückblickend in die Menschheitsentwickelung,uns sagt: Geradeso wie das Ich hinaufsteigt zu höherenSeelengliedern, so ist es auch in die Empfindungsseelehineingekommen von einem untergeordneten Gliede derMenschennatur. - Wir haben schon darauf hingewiesen,wie die Gesamtheit des menschlichen Innern - Empfin-dungsseele, Verstandes- oder Gemütsseele und Bewußt-seinsseele - sich entwickelt in der Gesamtheit dermenschlichen Hüllen, die wir bezeichnen als physischenLeib, Ätherleib und astralischen Leib oder Empfindungs-leib. Muß es da nicht begreiflich erscheinen, wenn nundie Geisteswissenschaft uns zeigt, daß das Ich, bevor essich hinaufentwickelt hat durch die Empfindungsseelebis zur Bewußtseinsseele, eigentlich in untergeordneten,noch wenig seelischen Gliedern des Menschen, in denäußeren menschlichen Hüllen tätig war? Bevor das Ichin der Empfindungsseele war, war es im Empfindungs-leib tätig; noch früher im Ätherleib und im physischenLeib. Da war es noch mehr ein solches Ich, das denMenschen von außen lenkte und leitete. Wenn wir unsvon dieser Wirksamkeit eine Vorstellung machen wollen,können wir etwa sagen: Wenn wir den Menschen voruns haben in seinen drei Hüllen, sehen wir das Ichwirksam, indem es den Menschen leitet und lenkt. Aberda ist der Mensch noch nicht fähig, zu sich Ich zu sagen,noch nicht fähig, in sich selber seinen Wesensmittel-punkt zu finden. Da kommen wir zu einem Ich, dasnoch in dem Dunkel des Leibeslebens waltet. Aber legenwir uns jetzt die Frage vor: Ist dieses Ich, das in dieserurfernen Vergangenheit im Menschen gewaltet hat unddie äußere Leiblichkeit aufgebaut hat, eigentlich unvoll-

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kommener zu denken als dasjenige Ich, das wir heuteselbst in unserer Seele tragen?

Wir blicken heute auf unser Ich als auf den eigentli-chen inneren Sammelpunkt unseres Wesens, das uns alsMenschen unsere Innerlichkeit gibt, und das sich inZukunft durch Schulung in unendlicher Weise vervoll-kommnen kann. Wir sehen in ihm den Inbegriff unserermenschlichen Wesenheit und zugleich dasjenige, was unsGewähr gibt für unsere Menschenwürde. Als wir nundieses Ich noch nicht spürten, als es noch an uns arbeite-te aus den dunklen geistigen Gewalten der Welt heraus,war es da unvollkommener, als es jetzt in uns ist? - Daskönnte nur derjenige sagen, der bloß abstrakt denkenwollte.

Wir blicken zum Beispiel auf unseren physischen Leibals auf etwas, was in urferner Vergangenheit aus dergeistigen Welt heraus gebildet worden ist, das aber dochda sein mußte, damit die Seele darinnen wohnen kann.Nur materialistischer Sinn könnte glauben, daß dieserphysische Leib nicht aus dem Geiste heraus ist. Aber wirblicken damit zugleich auf etwas, was als geistige Schöp-fung demjenigen vorangehen mußte, was wir jetzt unserInnenleben nennen. Denn unser Innenleben muß wäh-rend des Erdendaseins in einem Leibe wohnen, und dermußte vorher zubereitet sein. Wenn wir den Leib auchnur äußerlich betrachten, werden wir uns sagen müssen:Was ist dieser menschliche Leib doch für ein Wunder-werk an Vollkommenheit! Wer auch nur als Anatomoder Physiologe zum Beispiel das menschliche Herzanschaut in seinem Wunderbau, der wird sagen: Was istaller menschlicher Verstand, was ist alle technische Ge-schicklichkeit, verglichen mit dem, was sich uns alsWeisheit im Bau des menschlichen Herzens darstellt!

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Was ist alle unsere Ingenieurtechnik, die Brückengerüsteund dergleichen aufbaut, gegen das Gerüst des menschli-chen Oberschenkelknochens, das sich uns darstellt alsein wunderbares Gerüst von hin- und hergehenden Bal-kenlagen, wenn wir es durch das Mikroskop betrachten!Es ist ein schier unermeßlicher Hochmut, wenn derMensch glauben wollte, daß er auch nur im allerge-ringsten Grade das erreicht hätte, was als Weisheit hin-eingelegt ist in den Bau des äußeren physischen Leibes.Und wenn wir unser Seelenleben betrachten - gehen wirnur bis zu den Trieben, Begierden und Leidenschaften -und fragen wir: Wie wirken diese? Was tun wir nichtalles, um von unserem Innern heraus den weisheitsvollorganisierten Bau unseres Leibes zu untergraben? - dannwird der, der unbefangen das Weisheitswerk des mensch-lichen Hüllenbaues betrachtet, sagen müssen: Unendlichviel weiser ist der Bau unseres Leibes als das, was wir inunserem Innern tragen, von dem wir die Hoffnunghegen, daß es sich immer vollkommener gestalten wird,was aber heute im Grunde noch recht unvollkom-men ist. - Aber nimmermehr können wir etwas an-deres glauben, auch wenn wir nicht hellseherisch sind,wenn wir nur unbefangen das betrachten, was sich vordas äußere Auge hinstellt.

Muß nicht jene weisheitsvolle Tätigkeit, welche dasleibliche Gehäuse des Menschen aufgebaut hat, damitdieses von einem Ich bewohnt werde, von derselbenNatur und Wesenheit etwas haben, was das Ich selbstseiner Natur und Wesenheit nach ist? Müssen wir nichtdas, was an unsern Hüllen gearbeitet hat, uns mit einemIch-Charakter, nur mit einem unendlich vollkomme-neren Ich-Charakter denken? Wir müssen sagen: Etwas,das mit unserem Ich verwandt ist, hat durch urferne

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Zeiten hindurch gebaut an einem solchen Gehäuse, dasvon einem Ich bewohnt werden kann. - Wer das nichtglauben will, mag sich etwas anderes einbilden; aber ermag sich auch einbilden, daß ein menschliches Haus, dasgebaut ist, damit ein Mensch darinnen wohnen kann,nicht von einem Menschengeiste aufgeführt worden ist,sondern sich durch bloße Naturkräfte zusammengefügthabe. Das eine ist so richtig wie das andere, wenn man esnur unbefangen betrachtet. Daher blicken wir auf eineurferne Vergangenheit, wo Geistiges mit einer unendlichvollkommenen Ich-Natur an unsern Hüllen gearbeitethat, und da heraus arbeitete sich das Ich erst zumheutigen Bewußtsein herauf. Wie im Unterbewußtenwar es verborgen in Urzeiten in diesem Gehäuse.

Wenn wir diese Entwickelung betrachten seit jenerurfernen Vergangenheit, wo das Ich wie im dunklenMutterschoß der äußeren Hüllen drinnen war, so findenwir, daß es zwar von sich nichts wußte, dafür aber näherstand jenen geistigen Wesenheiten, die an unsern Hüllengebaut haben, die mit dem Ich verwandt, aber nurunendlich vollkommener sind als das Ich selbst. Daherwird es begreiflich erscheinen, daß das Seher-Bewußtseinzurückweist auf eine Zeit, wo der Mensch zwar noch

- nicht das Ich-Bewußtsein hatte, aber dafür im Schößedes geistigen Lebens selber war, und wo auch das heuti-ge Seelenleben ganz anders war, noch näher den Seelen-kräften, aus denen das Ich hervorgegangen ist. Wenn wirzurückgehen in die Vergangenheit der Menschheitsent-wickelung, finden wir auf dem Grunde aller menschli-chen Entwickelung ein ursprüngliches hellsichtiges Be-wußtsein, das nur nicht von einem Ich durchleuchtetwar, sondern dumpf und traumhaft wirkte; und diesemBewußtsein erst entsprießt das Ich des Menschen. Was

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sich der Mensch mit seinem Ich erst in der Zukunftwieder erringen wird, das finden wir in jener urfernenVergangenheit ohne das Ich. - Hellsichtiges Bewußtseinist aber damit verbunden, daß der Mensch geistige Tatsa-chen und geistige Wesenheiten in seiner Umgebungsieht. Das ist es, was uns die Geisteswissenschaft zeigt:daß der Mensch, bevor er zum heutigen Bewußtseingekommen ist, in seinem Seelenzustande in einem traum-haften Hellsehen war, wo er der geistigen Welt näherwar, sie schaute, wenn auch nur in einer ähnlichen Weisewie im Traum. Das ist der Urzustand der Menschheit.Da war der Mensch, weil er eben noch nicht von einemIch durchglüht war, noch nicht angewiesen, in seinemInnern zu bleiben, wenn er etwas Geistiges erblickenwollte, sondern da erblickte er das Geistige um sichherum und erblickte sich als Glied der geistigen Welt;und was er tat, hatte in seinem Anschauen noch einengeistigen Charakter. Wenn er etwas dachte, war es nichtso wie heute, wo der Mensch sagt: Jetzt denke ich! -sondern er hatte den Gedanken durch Hellsichtigkeitvor sich. Wenn er ein Gefühl zu entwickeln hatte, hatteer nicht nur in sein Inneres zu schauen, sondern dasGefühl war etwas, was ausstrahlte von ihm, wodurch ersich eingliederte in seine ganze geistige Umgebung.

So lebte der Mensch der Vorzeit in bezug auf seineSeele. Und aus diesem traumhaft-hellseherischen Be-wußtsein mußte sich der Mensch entwickeln, um zu sichselber zu kommen, um jenen Mittelpunkt zu finden, derheute noch unvollkommen ist, der aber in der Zukunftimmer vollkommener werden wird, wo der Mensch mitdem Ich in die geistige Welt hineinsteigen wird.

Wenn wir nun in jene Urzeiten der Menschheit zu-rückleuchten mit den Methoden, die wir hier charakteri-

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siert haben, und welche dem hellseherischen Bewußtseinzur Verfügung stehen, was sagt uns dann der Seher überdas ursprüngliche menschliche Bewußtsein, zum Beispielwenn der Mensch eine schlimme Tat begangen hatte? Dastellte sich die schlimme Tat nicht dar als etwas, was derMensch mit seinem Innern taxieren konnte, sondern ersah sie in ihrer ganzen Schädlichkeit und Schändlichkeitwie ein Gespenst vor seiner Seele stehen. Und wenn dasGefühl für die schlechte Tat in der Seele auftauchte, sowar die Folge die, daß die betreffende Tat in ihrerSchändlichkeit als geistige Wirklichkeit an den Menschenherantrat. Da war der Mensch gleichsam umgeben vonder Anschauung des Schlimmen seiner Tat.

Dann kam der Mensch immer mehr und mehr in dieZeit hinein, wo das alte traumhafte Hellsehen schwandund wo sich das Ich immer mehr und mehr geltendmachte. Indem der Mensch seinen Mittelpunkt in seinemInnern fand, erlosch das alte Hellseherbewußtsein, dafüraber tauchte immer deutlicher das Selbstbewußtsein auf.Was er früher vor sich hatte als Anschauung seinerbösen Tat - und auch seiner guten Tat -, das wurde insein Inneres verlegt. Es spiegelte sich gleichsam das, waser früher hellseherisch geschaut hatte, in seinem Innern.

Was waren das nun für Gestalten, die der Mensch imtraumhaften Hellsehen erblickte als geistige Gegenbilderseiner schlechten Tat? Es war das, was ihm die geistigenMachte seiner Umgebung zeigten als etwas, wodurch erdie Weltordnung gestört, zerrüttet hatte. Das war imGrunde keine schlimme Wirkung im rechten Sinne desWortes; es war eine heilsame Wirkung. Es war gleichsamdie Gegenwirkung der Götter, die den Menschen empor-heben wollten, indem sie ihm die Wirkung seiner Tatzeigten, um ihm zu ermöglichen, die schädliche Folge

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seiner Tat zu beseitigen. So war es zwar etwas Furcht-bares, wenn die Wirkung der schlimmen Tat vor demMenschen stand, aber im Grunde war es eine heilsameWirkung des Weltengrundes, aus dem der Mensch selbstherauskam. Als dann die Zeit kam, wo der Mensch insich seinen Ich-Mittelpunkt fand, da wurde diese An-schauung in das Innere verlegt und trat als Wirkungseiner Tat im Spiegelbilde im Innern auf. Wenn unserIch zuerst zum Vorschein kommt, ist es zunächstschwach innerhalb der Empfindungsseele vorhanden,und der Mensch muß sich langsam erst hinaufarbeiten,um das Ich nach und nach zur Vollkommenheit zubringen. Fragen wir uns einmal: Was wäre geschehen indem Augenblick der Entwickelung, als die hellseherischeAnschauung der Taten des Menschen von außen ver-schwand, wenn nicht innerlich etwas aufgetreten wäre indem noch schwachen Ich, was zugleich wie ein Gegen-bild jener wohltätigen Wirkung erschien, die dem Men-schen früher vor Augen trat, wenn er die Wirkung seinerTat hellseherisch schaute?

Der Mensch hätte sein schwaches Ich gehabt; er wäreaber hin und her gerissen worden in der Empfindungs-seele durch seine eigenen Leidenschaften wie in einemuferlosen, aufgepeitschten Meere. Was trat beim Men-schen in diesem großen weltgeschichtlichen Augenblickaus dem Äußeren in das Innere? Wenn es der großeWeltengeist war, der als heilsame Gegenwirkung dieschädliche Wirkung einer Tat vor das hellseherischeBewußtsein stellte, der dem Menschen zeigte, was erauszubessern hatte, dann war es nachher auch dieserWeltengeist, der sich als ein Mächtiges im Innern desMenschen kundgab, als das Ich selber noch schwachwar. So zog sich der früher in dem hellseherischen

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Anschauen sprechende Weltengeist in das menschlicheInnere in bezug auf dasjenige zurück, was er zur Korrek-tur der gestörten Weltordnung zu sagen hatte. Das Ichist noch schwach. Über diesem Ich wacht aber derWeltengeist; und er läßt sich vernehmen als etwas, wasjederzeit wachend über dem Ich steht und über dasurteilt, worüber das Ich noch nicht urteilen könnte.Hinter diesem schwachen Ich steht etwas wie ein Ab-glanz des mächtigen Weltengeistes, der früher im hell-sichtigen Bewußtsein dem Menschen die Wirkung seinerTaten gezeigt hatte.

So nahm der Mensch, als dann das alte Hellsehenhinschwand, von dem, was der Weltengeist selber wirk-te, nur noch einen Abglanz in seinem Innern wahr.Dieser Abglanz des korrigierenden Weltengeistes, derneben dem Ich wachend steht, erschien dem Menschenals das ihn überwachende Gewissen! So sehen wir, daßes wahr ist, wenn ein naives Bewußtsein davon spricht,daß das Gewissen die Stimme des Gottes im Menschensei. Aber wir sehen zugleich, daß uns die Geisteswissen-schaft in der Entwickelung des Menschen den Momentzeigt, wo das Äußere in das Innere getreten ist, und wodas Gewissen entstanden ist.

Was ich jetzt gesagt habe, kann rein geschöpft werdenaus den Anschauungen der geistigen Welt. Man brauchtkeine äußere Geschichte dazu; das muß ganz innerlichgeschaut werden. Wer es schauen kann, der empfindet esals eine Wahrheit von unwiderleglicher Gewißheit. Fra-gen wir aber jetzt einmal aus einem Zeitbedürfnis her-aus: Könnte uns vielleicht auch eine äußere Geschichteetwas zeigen, was sich wie eine Bestätigung dessen dar-stellt, was jetzt aus dem Tatbestand des inneren Schau-ens hervorgeholt ist?

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Was aus Seherbewußtsein herrührt, kann man an denäußeren Tatsachen immer prüfen. Wer so etwas behaup-tet, braucht nicht besorgt zu sein, daß es den äußerenTatsachen widerspricht. Nur ungenaues Prüfen könntedas vielleicht erleben. Aber es soll nur auf eines hin-gewiesen werden, was zeigen kann, wie die äußeren Tat-sachen durchaus das bestätigen, was jetzt als ein Tat-bestand aus dem hellsichtigen Bewußtsein hergeleitetworden ist.

Es ist gar nicht so lange her, wo wir den Augenblickder Entstehung des Gewissens wahrnehmen können.Wenn wir zurückgehen bis ins 5. und 6. Jahrhundert dervorchristlichen Zeitrechnung, treffen wir in Griechen-land einen gewaltigen Dichter der griechischen Drama-tik: Aschylos. Er stellt uns etwas sehr Merkwürdiges dar,merkwürdig aus dem Grunde, weil dasselbe später voneinem anderen griechischen Dichter anders dargestelltworden ist. Aschylos stellt dar den aus Troja heimkeh-renden Agamemnon, der beim Eintreffen in seiner Hei-mat von seiner Gattin Klytämnestra ermordet wird.Agamemnon wird gerächt von seinem Sohn Orest, der,nachdem ihm die Götter dazu den Rat gegeben haben,die Mutter tötet, die den Vater ermordet hat. Was istnun die Folge dieser Tat für Orest? Durch die Wirkungdes Muttermordes preßt sich aus seinem Innern etwasheraus - das wird uns bei Aschylos dargestellt -, was ihnfähig macht, das zu schauen, was während dieser Jahr-hunderte normalerweise nicht mehr geschaut werdenkonnte; abnormalerweise läßt die Gewalt solcher Tatwie ein altes Erbstück noch einmal das alte Hellsehenerstehen. Orest konnte sagen: Apollo, der Gott selber istes, der mir Recht gibt, daß ich meinen Vater an meinerMutter gerächt habe. Alles, was ich getan habe, spricht

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für mich. Aber das Blut der Mutter wirkt nach! Und imzweiten Teil der «Orestie» wird uns gewaltig dargestellt,wie das Erbstück des alten Hellsehens erwacht, wie sieherankommen, die Rachegöttinnen, die Erinnyen, diespäteren Furien der Römer. Die äußere Gestalt derWirkung des Muttermordes sieht Orest im traumhaftenHellsehen vor sich. Apoll selbst gibt ihm Recht; aber esgibt noch etwas Höheres. Das heißt: Äschylos wolltedarauf hinweisen, daß es eine noch höhere Weltordnunggibt, und er konnte es nur zeigen, indem er Orest indiesem Augenblick hellsichtig werden läßt. Noch nichtist Äschylos so weit, um das zu zeigen, was wir heuteeine innere Stimme nennen. Aber, namentlich wenn manden Agamemnon studiert, sagt man: Äschylos ist bis zudem Punkt gekommen, wo aus dem ganzen menschli-chen Seelenleben so etwas herausquellen müßte wie dasGewissen; ganz so weit ist er nur noch nicht. Er stelltvor Orest hin, was noch nicht zum Gewissen gewordenist: die Bilder des traumhaften Hellsehens. Aber wirmerken schon, wie er hart am Rande ist, zum Gewissenvorzudringen. Aus jedem Wort, das er zum Beispiel derKlytämnestra in den Mund legt, kann man förmlichherausfühlen: Jetzt sollte hingewiesen werden auf dieVorstellung, die wir mit dem Gewissen bezeichnen!Aber es kommt nicht dazu. In diesem Jahrhundert kannder große Dichter nur zeigen, wie früher schlechte Tatensich vor die menschliche Seele hingestellt haben.

Und nun gehen wir ein Menschenalter weiter; wirgehen von Äschylos über Sophokles zu Euripides, dernur kurze Zeit später denselben Tatbestand behandelt.Mit Recht ist von Forschern darauf hingewiesen worden- aber nur von der Geisteswissenschaft kann es insrechte Licht gesetzt werden -, daß er den Tatbestand so

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hinstellt, daß für die Auffassung des Orest, wenn vonTraumbildern gesprochen wird, diese nur - ähnlich wiebei Shakespeare - etwas sind wie Schattenbilder desinneren Gewissens.

Da können wir gleichsam mit Händen greifen, wie dasGewissen für die Dichtkunst erobert wird. Wir sehen,wie Äschylos, der große Dichter, noch nicht vom Gewis-sen spricht, während Euripides, sein Nachfolger, schondavon spricht. Wenn wir dies vor Augen haben, könnenwir verstehen, warum menschliches Denken, menschli-ches irdisches Wissen auch nur ganz langsam sich hinauf-arbeiten konnte zu einem Begriff vom Gewissen. DieKraft, die im Gewissen wirkt, hat auch gewirkt in altenZeiten, wo sich die Bilder, welche die Wirkungen derTaten des Menschen darstellten, dem hellseherischenSchauen zeigten. Es ist die Kraft nur von außen nachinnen gezogen. Aber was gehörte dazu, um sie auch zuempfinden? Das Moralische hätte man auch haben kön-nen gleichsam als Niederschlag dessen, was das mensch-liche Bewußtsein schon früher hatte. Um aber dieseKraft als eine innere zu empfinden, mußte man die ganzemenschliche Entwickelung mitmachen, die sich den Ge-wissensbegriff erst nach und nach erobert hat. In dieserZeit sehen wir zum Beispiel den großen, hehren DenkerSokrates stehen. Warum sollte Sokrates nicht in der Lagesein, vor allem zu sprechen, wie sich der Mensch Tugen-den aneignen kann? Warum sollten nicht seine Redenden tiefsten Eindruck machen können in bezug auf das,was sie uns als Moral vergegenwärtigen können? Undwarum sollte nicht trotzdem für die Philosophie seinerZeit der Gewissensbegriff noch nicht erobert wordensein, da wir doch sehen, wie in dieser Zeit die Menschen-seele erst dazu drängt, den Gewissensbegriff als den

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Gott, der im eigenen Innern spricht, zu entdecken? Wirwerden es gerade begreiflich finden, daß Sokrates nochnicht vom Gewissen spricht, weil diese menschlicheSeelenkraft damals erst von außen in das Innere hinein-gezogen ist.

Da sehen wir im Gewissen etwas, was sich mit demMenschen heranentwickelt, was der Mensch sich erringt.Wie aber muß sich dieses Gewissen zeigen? Wo muß essich am allerintensivsten darstellen als das, was es ist?Dort, wo der Mensch mit seinem Ich noch schwach indie Ich-Entwickelung hineingetreten ist! Das ist etwas,was wir nachweisen können in der menschlichen Ent-wickelung. In Griechenland selbst waren schon die Men-schen etwas weiter, so daß dort die Ich-Entwickelungschon hinauf gelangt war bis zur Verstandesseele. Wennwir aber von der griechischen Zeit zurückgehen - davonweiß die äußere Geschichte nichts, Plato und Aristoteleswußten es aus der hellseherischen Anschauung heraus —,wenn wir zu dem Ägyptertum und Chaldäertum kom-men, so finden wir, daß selbst die höchste Kultur etwasist, was nicht mit einem innerlich selbständigen Icherrungen wird. Was wir aus Ägyptens und ChaldäasHeiligtümern hervorgehen sehen, das unterscheidet sichgerade dadurch von der heutigen Wissenschaft, daß wirheute die Wissenschaft in der Bewußtseinsseele erfassen;in der vorgriechischen Zeit aber verdankte man alles denEingebungen der Empfindungsseele. In Griechenlandselber schreitet man dazu vor - und darauf beruht derFortschritt -, daß sich das Ich hinaufentwickelt von derEmpfindungsseele zur Verstandes- oder Gemütsseele.Wir leben heute in der Epoche der Entwickelung derBewußtseinsseele. Innerhalb dieser Entwickelung trittalso das eigentliche Ich-Bewußtsein erst so recht auf.

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Wer wahrhaftig die Menschheitsentwickelung betrachtet,kann geradezu verfolgen, wenn er von der orientalischenKultur hinübergeht zur westlichen Kultur, daß das Fort-schreiten der Menschheit so ist, daß ein immer größeresFreiheitsgefühl und eine immer größere Selbständigkeitauftritt. Während sich der Mensch früher ganz abhängigfühlte von dem, was ihm die Götter eingaben, tritt imWesten zuerst die Verinnerlichung der Kultur auf.

Das zeigt sich zum Beispiel daran, wie gerade Äschy-los danach ringt, das Bewußtsein vom Ich heraufzuholenin die menschliche Seele. An der Grenze von Orient undOkzident sehen wir Äschylos stehen, das eine Augenach dem Orient gerichtet, mit dem andern nach demOkzident blickend, herausholend aus der menschlichenSeele, was sich später namentlich in der Vorstellung,dem Begriff des Gewissens zusammenfaßt. Wir sehen,wie Äschylos darnach ringt, aber noch nicht in der Lageist, die neue Form des Gewissens dramatisch zu verkör-pern. Wenn man nur immer vergleichen will, wirft manauch alles leicht durcheinander. Man muß nicht nurvergleichen, man muß auch unterscheiden. Das ist dasWesentliche, daß im Westen alles darauf angelegt war,das Ich heraufzuholen aus der Empfindungsseele in dieBewußtseinsseele. Dumpf beschlossen bleibt das Ich imOsten als ein Unfreies. Im Westen dagegen wachsen dieMenschen heran, bei denen das Ich immer mehr sichhinaufringt in die Bewußtseinsseele. Wenn auch die Ent-wickelung zunächst so verläuft, daß das alte traumhafteHellseherbewußtsein zum Schweigen gebracht wird, soist doch alles dazu angelegt, das Ich aufzuwecken, undals Wächter des Ich, als die Gottesstimme im Innern, dasGewissen entstehen zu lassen. Und Äschylos ist derEckstein zwischen der östlichen und der westlichen

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Welt; er blickt mit einem Auge nach dem Osten, mitdem andern nach dem Westen. Daher verlief der Gangder Menschheitsentwickelung in der Weise, wie wir eseben sehen konnten.

In der Östlichen Welt hatten sich die Menschen einlebendiges Bewußtsein ihres Herkommens von dem gött-lichen Weltengeiste bewahrt. Aus diesem Bewußtseinheraus konnten die Verständnisse gewonnen werden fürdas, was einige Jahrhunderte danach geschah, nachdemdie Menschheit in vielen, wie in Aschylos, danach gerun-gen hatte, etwas zu finden, was im Innern als Gottes-stimme spricht. Denn da hatte sich zugetragen, daß jenerImpuls in die Menschheit trat, den wir bei aller Geistes-betrachtung in der Erd- und Menschheitsentwickelungansehen müssen als den größten, der jemals gekommenist, und den wir als den Christus-Impuls bezeichnen.

Durch den Christus-Impuls wurde die Menschheiterst in die Möglichkeit versetzt, zu begreifen, daß derGott, der der Schöpfer der Dinge, der der Schöpfer auchder äußeren Hüllen des Menschen ist, in unserm Innernverstanden und begriffen werden kann. Nur dadurch,daß die Menschheit die Gott-Menschheit des ChristusJesus begriff, wurde sie fähig zu begreifen, daß der Gottetwas sein kann, was zu uns in unserm eigenen Innernsprechen kann. Damit der Mensch in seinem Innernfinden konnte Gott-Natur, dazu war notwendig, daß alsäußeres historisches Ereignis der Christus in dieMenschheitsentwickelung hineintrat. Wäre nicht derGott, der Christus, in dem Menschenleib des Jesus vonNazareth anwesend gewesen, hätte er nicht ein für alle-mal gezeigt, daß der Gott im Innern des Menschenerfaßt werden kann, weil er einmal in der Menschheitanwesend war, wäre er nicht als der Sieger über den Tod

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angesehen worden in dem Mysterium von Golgatha, sohätte niemals der Mensch begreifen können die Inne-wohnung der Gottheit in seinem Innern. Wer behauptenwollte, daß der Mensch die innere Durchgottung begrei-fen könnte ohne einen äußeren historischen ChristusJesus, der mag auch behaupten, daß wir Augen hätten,wenn es keine Sonne gäbe in der Welt. Das wird ewigwahr bleiben, daß es eine Einseitigkeit ist, wenn Philoso-phen sagen: Ohne Augen könnten wir kein Licht sehen,also müssen wir das Licht von den Augen ableiten. -Einer solchen Vorstellung muß immer der Satz Goethesentgegengehalten werden: Das Auge sei am Lichte fürdas Licht gebildet! - Wenn keine Sonne den Raumdurchleuchtete, würden sich nicht aus der menschlichenOrganisation die Augen herausorganisiert haben. DieAugen sind Geschöpfe des Lichtes, und ohne die Sonnekönnte nie ein Auge die Sonne wahrnehmen. Kein Augeist fähig, die Sonne wahrzunehmen, ohne die Kraft zumWahrnehmen erst von der Sonne erhalten zu haben.Ebensowenig gibt es ein inneres Begreifen und Erkennender Christus-Natur ohne einen äußeren historischenChristus-Impuls. Was die Sonne ist im Weltenall für dasSehen, das ist der historische Christus Jesus für das, waswir die Durchdringung mit der Gott-Natur in uns selbernennen.

Um dies zu begreifen und zu verstehen, waren dieElemente gegeben in all dem, was vom Orient herüberkam; es mußte nur auf eine höhere Stufe gehoben wer-den. Die Elemente zum Begreifen des Gottes, der sichverbindet mit der Menschennatur, konnten sich allmäh-lich entwickeln aus der orientalischen Strömung heraus.Begreifen, entgegennehmen, was dieser Impuls gebrachthat, dazu waren die Seelen im Westen reif, in jenem

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Westen, wo sich am intensivsten das entwickelt hat, wasaus der Außenwelt in die menschliche Innenwelt hinein-gestiegen ist, und was als Gewissen wacht über eingewöhnliches schwaches Ich. So hat sich die Seelenkraftso vorbereitet, daß das Gewissen entstand, das nun sagt:In uns lebt der Gott, der denjenigen erschien, welchedrüben im Osten die Welt hellseherisch durchschauenkonnten; in uns lebt das Göttliche!

Aber was sich so vorbereitete, hätte nicht zum Be-wußtsein kommen können, wenn nicht in diesem Her-vorgehen des Gewissens selber schon der innerliche Gottwie in der Morgenröte vorausgesprochen hätte. So sehenwir, wie das äußere Verständnis für die Gottesidee desChristus Jesus im Orient geboren wird, wie ihm aberentgegenkommt im Westen, was das menschliche Be-wußtsein als das Gewissen ausbildete. Wir sehen zumBeispiel, wie im Römertum gerade in der Zeit, als diechristliche Zeitrechnung beginnt, immer mehr und mehrvom Gewissen gesprochen wird, und je weiter wir nachWesten kommen, desto deutlicher ist es im Keime, imBewußtsein vorhanden.

So arbeiten Osten und Westen sich gegenseitig in dieHände. Wir sehen die Sonne der Christus-Natur imOsten aufgehen; und wir sehen, wie sich das Christus-Auge im menschlichen Gewissen vorbereitet im Westen,um den Christus zu verstehen. Daher sehen wir denSiegeszug des Christentums nicht nach Osten, sondernnach Westen hin sich entwickeln. Im Osten breitet sichdafür ein Religionsbekenntnis aus, das die letzte Konse-quenz - wenn auch eine höchste - des Ostens ist: derBuddhismus ergreift die östliche Welt. Das Christentumergreift die westliche Welt, weil sich das Christentumerst sein Organ im Westen geschaffen hat. Da sehen wir

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das Christentum an das geknüpft, was dem Westen derallertiefste Kulturfaktor geworden ist: den Gewissensbe-griff gegliedert an das Christentum.

Nicht durch eine äußerliche Geschichtsbetrachtung,sondern indem wir innerlich die Tatsachen betrachten,kommen wir allein zu einem Erkennen der Entwicke-lung. Was heute ausgesprochen ist, wird noch vieleungläubige Gemüter finden. Aber die Zeit drängt dazu,den Geist in der äußeren Erscheinung zu erkennen. Dasvermag aber nur derjenige, der zunächst wenigstensdiesen Geist dort zu erblicken vermag, wo er sich durcheinen klar sprechenden Boten ankündigt. Das Volksbe-wußtsein sagt: Wenn das Gewissen spricht, spricht derGott in der Seele. Das höchste geistige Bewußtsein zeigtuns: Wenn das Gewissen spricht, spricht wirklich derWeltengeist. Und die Geisteswissenschaft zeigt den Zu-sammenhang des Gewissens mit der größten Erschei-nung in der Menschheitsentwickelung, mit dem Chri-stus-Ereignis. Kein Wunder daher, wenn für das moder-ne Bewußtsein dasjenige, was mit dem Gewissensnamenbelegt wird, dadurch geadelt wird, dadurch in eine höhe-re Sphäre hinaufgehoben wird. Wenn gesagt wird, eswird etwas aus «Gewissen» getan, so fühlt man, daß dasals zum Wichtigsten der Menschheit gehörig betrachtetwird.

So zeigt sich uns auf ungezwungene Art, daß dasmenschliche Gemüt recht hat, wenn es vom Gewissenspricht als von dem «Gotte im Menschen». Und wennGoethe sagt, daß es für den Menschen das Höchste sei,wenn sich «Gott-Natur ihm offenbare», so müssen wiruns klar sein, daß sich der Gott dem Menschen nur imGeiste offenbaren kann, wenn die Natur uns auf ihrergeistigen Grundlage erscheint. Daß sie uns so erscheinen

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kann, dafür ist gesorgt in der Menschheitsentwickelungauf der einen Seite durch das Christus-Licht, das Lichtvon außen, und auf der andern Seite durch das göttlicheLicht in uns selber, durch das Gewissen. Daher darf einCharakter-Philosoph wie Fichte wirklich vom Gewissensagen, daß es die höchste Stimme ist in unserm Innern.Daher haben wir auch das Bewußtsein, daß an diesemGewissen unsere individuelle Würde hängt. Wir sindMenschen dadurch, daß wir ein Ich-Bewußtsein haben;und was sich im Gewissen uns zur Seite stellt, das stelltsich unserm Ich zur Seite. Das Gewissen ist daher auchetwas, was wir als ein heiligstes, individuelles Gut anse-hen, in das uns keine äußere Welt hineinzureden hat,und wodurch wir Richtung und Ziel uns selber vorset-zen können. Daher ist das Gewissen für den Menschenetwas, was er als ein Allerheiligstes ansehen muß, vondem er weiß, es weist auf ein Höchstes, aber auch auf einUnantastbares im menschlichen Innern hin. Da soll ihmniemand hineinsprechen, wo ihm sein Gewissen spricht!

So ist Gewissen auf der einen Seite eine Gewähr fürden Zusammenhang mit den göttlichen Urkräften derWelt, und auf der andern Seite die Gewähr dafür, daßwir in unserm eigensten Individuellsten etwas haben,was wie ein Tropfen aus der Gottheit ausfließt. Und derMensch kann wissen: Spricht das Gewissen in ihm, sospricht ein Gott!

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DIE MISSION DER KUNSTHomer, Äschylos, Dante, Shakespeare, Goethe

Berlin, 12. Mai 1910

Die Betrachtungen dieses Winterzyklus über das mensch-liche Seelenleben sollen abgeschlossen werden und aus-klingen mit einigem, was gerade im Zusammenhang mitden vorangegangenen Darstellungen gesagt werden kannüber jenes Gebiet menschlichen Seelenlebens, in das sichhineinergießen so reiche, so gewaltige Schätze des mensch-lichen Innern. Es sollen unsere Betrachtungen ausklin-gen in einige Anschauungen über das Wesen und dieBedeutung der Kunst in der menschlichen Entwicke-lung. Und zwar, da das Gebiet der Kunst so umfassendist, soll unsere Betrachtung angelehnt werden nur an dieEntwickelung der Dichtkunst im Laufe der Menschheits-entwickelung, und auch da ist es wohl selbstverständlich,daß wir mit unseren Betrachtungen nur haltmachen kön-nen bei den höchsten Gipfeln des geistigen Lebens aufdiesem Gebiete.

Man könnte nun sehr leicht die Frage aufwerfen: Washaben denn alle jene Seelenbetrachtungen, die wir imVerlaufe dieses Winters angestellt haben, und die vorallen Dingen darauf hinzielten, Wahrheit und Erkenntniszu suchen über die geistige Welt, was haben alle dieseBetrachtungen zu tun mit dem Gebiet menschlichenSchaffens, das sich vor allen Dingen ausleben will imElemente der Schönheit? Und in unserer Zeit könntesehr leicht der Standpunkt vertreten werden, daß alles,was sich durch Wissen und Erkennen auslebt, weit, weit

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abstehen müsse von dem, was sich auslebt durch dieKunst. In fest umschriebenen Gesetzen der Erfahrungund der Logik - so glaubt man wohl - müsse allesWissen und alle Wissenschaft wandeln; in mehr willkür-lichen Gesetzen des Innern, des Herzens, der Phantasiebewege sich das künstlerische Element. Wahrheit undSchönheit werden gerade im Urteil unserer Zeitgenossenvielleicht weit, weit auseinandergerückt werden. Unddennoch: gerade die großen führenden Persönlichkeitenauf dem Gebiete des künstlerischen Schaffens habenimmer gefühlt, daß sie mit wahrer Kunst etwas zumAusdruck bringen wollen, was herausfließt aus densel-ben Quellen des Menschendaseins, ja aus den tiefstenUntergründen des Menschendaseins, wie auch Wissenund Erkenntnis.

Um nur einiges anzuführen, sei hingewiesen auf Goe-the, der ja nicht nur ein Sucher nach dem Schönen war,sondern auch ein Sucher nach dem Wahren; der in seinerJugend auf allen möglichen Wegen versuchte, sich Wis-sen von der Welt, Antwort auf die großen Rätselfragendes Daseins zu erwerben. Bevor Goethe seine italieni-sche Reise angetreten hatte, die ihn zu einem Lande vonersehnten Idealen führen sollte, hatte er in Weimar mitseinen Freunden viel studiert, um seinem Ziel nachErforschung der Wahrheit naher zu kommen, so zumBeispiel auch den Philosophen Spinoza. Und gewaltigeEindrücke hatten auf seine Seele die Ausführungen Spi-nozas über die Gottes-Idee gemacht; jene Ausführungendieses neuzeitlichen Philosophen, der in allen Erschei-nungen des Lebens die einheitliche Substanz sucht. UndGoethe glaubte mit Merck und anderen Freunden, ausSpinoza etwas zu vernehmen wie solche Töne, die ausallen uns umgebenden Erscheinungen ankündigen die

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Quellen des Daseins, die ihm geben könnten etwas wieBefriedigung eines faustischen Strebens. Aber GoethesGeist war zu reich, zu inhaltvoll, um in den begrifflichenAuseinandersetzungen der Werke Spinozas ein ihm ge-nügendes Bild von Wahrheit und Erkenntnis zu gewin-nen. Was er da gefühlt hat, und was er eigentlich wolltenach den Sehnsüchten seines Herzens, das wird uns amklarsten, wenn wir ihn verfolgen während der italieni-schen Reise, wie er die großen Kunstwerke anschaut, dieihm einen Nachklang der Kunst des Altertums geben,und aus ihnen das herausfühlt, was er vergeblich zufühlen gehofft hatte aus den Begriffen Spinozas. Deshalbschreibt er nach der Betrachtung dieser Kunstwerke anseine weimarischen Freunde: «So viel ist gewiß, die altenKünstler haben ebenso große Kenntnis der Natur undeinen ebenso sichern Begriff von dem, was sich vorstel-len läßt, und wie es vorgestellt werden muß, gehabt, alsHomer. Leider ist die Anzahl der Kunstwerke der erstenKlasse gar zu klein. Wenn man aber auch diese sieht, sohat man nichts zu wünschen, als sie recht zu erkennenund dann in Frieden hinzufahren. Diese hohen Kunst-werke sind zugleich als die höchsten Naturwerke vonMenschen nach wahren und natürlichen Gesetzen her-vorgebracht worden. Alles Willkürliche, Eingebildetefällt da zusammen; da ist die Notwendigkeit, da istGott.» Er glaubte, wie er sagte, zu erkennen, daß diegroßen Künstler, die solches geschaffen haben, aus ihrenSeelen heraus nach denselben Gesetzen verfuhren, nachdenen die Natur selber verfährt. Was will das anderssagen, als daß Goethe glaubte zu erkennen, daß dieGesetze der Natur sich hinaufleben in die menschlicheSeele und hier Kraft gewinnen, damit das, was sich aufandern Stufen als Gesetze der Natur im mineralischen,

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pflanzlichen und tierischen Reich auslebt, wenn es sei-nen Durchgang genommen hat durch die Menschenseele,sich auslebt in den schaffenden Kräften dieser mensch-lichen Seele. Deshalb fühlte Goethe die wirkende Natur-gesetzmäßigkeit wieder in diesen Kunstwerken undschrieb deshalb an seine weimarischen Freunde: «AllesWillkürliche, Eingebildete fällt da zusammen; da istNotwendigkeit, da ist Gott!» Da sehen wir denn auch ineinem solchen Augenblick Goethes Herz bewegt vonder Anschauung, daß sich in der Kunst nur dann derenHöchstes offenbart, wenn sie herausquillt aus denselbenGrundlagen, aus denen auch alles Wissen und alle Er-kenntnis herausquillt. Und wir fühlen dann, wie tief esaus Goethes Seele gesprochen ist, wenn er später einmalden Ausspruch tut: «Das Schöne ist eine Manifestationgeheimer Naturgesetze, die uns ohne dessen Erschei-nung ewig wären verborgen geblieben!» So sieht Goethein der Kunst eine Offenbarung von Naturgesetzen, eineSprache, durch die ausgesprochen wird, was auf andereWeise durch die Erkenntnis erlangt wird in andernForschungsgebieten.

Und wenn wir von Goethe zu einer neueren Persön-lichkeit gehen, die ebenso suchte, eine Mission in dieKunst hineinzulegen und mit der Kunst der Menschheitetwas zu geben, was mit den Quellen des Daseins zu-sammenhängt - wenn wir zu Riebard Wagner kommen,finden wir in seinen Schriften, in denen er sich selberklar zu werden versuchte über Wesen und Bedeutungdes künstlerischen Schaffens, manche ähnlichen Andeu-tungen über die innere Verwandtschaft von Wahrheitund Schönheit, von Erkenntnis und Kunst. So sagt ermit Anlehnung an Beethovens Neunte Symphonie, daßetwas aus diesen Klängen tönt, was wie Offenbarung ist

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aus einer andern Welt, und was doch so verschieden istvon all dem, was von uns in den bloß vernunftgemäßenoder logischen Formen aufgefaßt würde. Aber für dieseOffenbarungen durch die Kunst gelte das eine zummindesten: daß sie auf unsere Seele mit einer überzeu-genden Kraft wirken und unsere Gefühle durchdringenmit einer Empfindung von Wahrheit, gegen welche ei-gentlich alles logisierende und bloß vernünftige Erkennt-nisvermögen nicht aufkommen kann. Und ein andermalsagt Richard Wagner mit Bezug auf die symphonischeMusik, daß aus den Instrumenten dieser Musik etwasherausklänge, wie wenn sie Organ wären der Schöp-fungsgeheimnisse; denn sie offenbarten etwas wie dieUrgefühle der Schöpfung, nach denen sich das Chaosordnete, und die bei der Harmonisierung des Welten-chaos wirkten, lange bevor wohl ein menschliches Herzvorhanden gewesen sei, um diese Gefühle der Schöpfungzu vernehmen. - Also Wahrheit, eine geheimnisvolleErkenntnis, eine Offenbarung, die sich dem an die Seitestellen kann, was man sonst Erkenntnis und Wissennennt, sieht auch Richard Wagner in den Offenbarungender Kunst.

Eines darf auch noch erwähnt werden: Wer im Sinneder Geisteswissenschaft vor die großen Kunstwerke derMenschheit tritt, der hat das Gefühl, daß aus ihnenetwas spricht, was eine andere Offenbarung ist desWahrheitssuchens der Menschheit. Und der Geisteswis-senschafter fühlt sich verwandt dem, was aus der Kunstspricht. Ja, es ist keine Übertreibung: Er fühlt sich denOffenbarungen des Künstlergeistes verwandter als somanchem, was sonst heute als sogenannte geistige Offen-barung leichten Herzens hingenommen wird.

Woher kommt es, daß wahrhaft künstlerische Persön-

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lichkeiten der Kunst eine solche Mission zuschreiben,daß sich das Herz des Geisteswissenschafters so hingezo-gen fühlt gerade zu den geheimnisvollen Offenbarungender großen Kunst?

Wir werden eindringen in das, was Antwort auf dieseFragen geben kann, wenn wir mancherlei von dem zu-sammenfassen und anwenden, was in den Vorträgendieses Winterzyklus vor unsere Seele getreten ist.

Wenn wir die Bedeutung und Aufgabe der Kunsterkennen wollen in dem Sinne, mit dem wir es denganzen Winter hindurch in diesen Vorträgen gehaltenhaben, daß wir uns Antwort geben - nicht nach mensch-lichen Meinungen und nach der Willkür unseres klügeln-den Verstandes, sondern so, wie uns die Tatsachen derWelt- und der Menschheitsentwickelung selber antwor-ten -, dann müssen wir die Frage, die wir haben, richtenan die Entwickelung und Entfaltung der Kunst selber inder Menschheitsentwickelung. Daher wollen wir unsvon dem, was die Kunst gewesen ist, was die Kunstgeworden ist, einmal sagen lassen ihre Bedeutung für dieMenschheit. - Allerdings, wenn wir die Anfänge derKunst betrachten wollen, wie sie zunächst als Dicht-kunst dem Menschen nahetritt, so müssen wir nachgewöhnlichen Begriffen weit zurückgehen. Aber wirwollen zunächst in bezug auf die Dichtkunst nur so weitzurückgehen, als menschliche physische Dokumente unsführen können. Wir wollen zurückgehen bis zu derjeni-gen, heute für viele legendenhaften Gestalt, mit der sichdie Kunst des Abendlandes als Dichtkunst einleitet: zuHomer, von dem die griechische Dichtkunst ihren Aus-gangspunkt nimmt, und dessen Schaffen uns erhalten istin den beiden großen Gesängen, in den beiden großenerzählenden Dichtungen der «Ilias» und der «Odyssee».

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Merkwürdig ist es gleich, wenn wir die beiden Dich-tungen beginnen auf uns wirken zu lassen, daß derjenigeoder - da wir heute nicht über die Frage nach derPersönlichkeit uns ergehen wollen - diejenigen, vondenen diese Dichtungen stammen, uns gleich im Anfangein unpersönliches Element ankündigen:

Singe, o Muse, vom Zorn mir des PeleidenAchilleus...,

so beginnt die «Ilias», die erste Homerische Dichtung;und wieder: «Singe mir, Muse, den Mann, den vielgerei-sten ...» beginnt die zweite Dichtung, die «Odyssee».Derjenige, von dem diese Verse geflossen sind, will alsodarauf hinweisen, daß er das, was aus seinem Mundespricht, eigentlich einer höheren Kraft verdankt, daß esihm irgendwoher kommt, und daß er am besten denTatbestand seiner Seele bezeichnet, wenn er sich nichtdarauf beruft, was diese Seele selber zu sagen hat, son-dern was ihr eingegeben wird von einer Macht, welchefür sie - das spüren wir, wenn wir Homer nur einbißchen verstehen - nicht nur ein Symbol war, sondernetwas ganz Gegenständliches und Wesenhaftes. Wennheute der Mensch wenig dabei fühlt, wenn Homer sagt:«Singe, o Muse...», dann ist das nicht die Schuld desUmstandes, daß Homer nur ein Sinnbild geben will,nur umschreiben will, was in seiner Seele vorgeht, son-dern es ist vielmehr die Schuld des modernen Menschen,der in seiner Seele die Erfahrungen nicht mehr hat,aus denen herausgeflossen ist eine so unpersönlicheDichtung wie die des Homer. Verstehen allerdingskönnen wir diese Unpersönlichkeit im Beginne derabendländischen Dichtkunst nur, wenn wir uns fra-gen: Was mag denn diesem Beginne der abendländischen

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Dichtkunst vorangegangen sein? Woraus mag sieselber geflossen sein?

Da kommen wir, wenn wir im geisteswissenschaftli-chen Sinne die Entwickelung der Menschheit betrachten,zu den alten Fragen nach den Formen des menschlichenBewußtseins überhaupt. Wir haben bei unsern Betrach-tungen der Menschheitsentwickelung Öfter betont, daßsich die Kräfte der menschlichen Seele im Laufe derJahrtausende geändert haben, und daß alle unsere Seelen-kräfte einmal einen Anfang genommen haben. Wenn wirin die Vergangenheit zurückgehen, kommen wir zu Men-schen, deren Seelen mit ganz anderen Kräften ausge-stattet sind, als die Seelen der heutigen Menschen. Wirhaben betont, daß in urferner Vergangenheit, in die unsallerdings keine äußere Geschichte, sondern allein diegeisteswissenschaftliche Forschung zurückführt, das gan-ze menschliche Bewußtsein anders gewirkt hat, und daßals eine natürliche Kraft der menschlichen Seele einuraltes, traumhaftes Hellsehen allen Menschen eigenwar. Bevor die Menschenseelen in das materielle Lebenso weit hinunter gestiegen sind, daß sie die Welt in derheutigen Weise anschauten, war ihnen die geistige Weltetwas durchaus Wirkliches und Wesenhaftes, das sie umsich herum wahrnahmen. Aber wir haben davon gespro-chen, daß sie die geistige Welt nicht wahrnahmen in derArt des geschulten hellseherischen Bewußtseins, das ver-knüpft ist mit einem klar ausgesprochenen Mittelpunktdes menschlichen Seelenlebens, durch den sich derMensch als ein Ich, als ein Selbst erfaßt. Wenn wirzurückgehen in urferne Vergangenheit, dann ist dasIch-Gefühl, das geworden ist, das sich entwickelt hatdurch die Jahrtausende und aber Jahrtausende, nochnicht vorhanden. Dafür aber, daß der Mensch diesen

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Mittelpunkt in seinem Innern nicht hatte, waren seinegeistigen Sinne nach außen aufgeschlossen, und er saheine geistige Welt wie in einer Art realem Traum, dergeistige Wirklichkeiten wiedergab. Aber es war ebendoch eine Art traumhaftes, Ich-loses hellseherischesBewußtsein.

Hineingesehen hat der Mensch in die geistige Welt,aus der sein eigentlicher innerer Mensch gekommen istin urferner Vergangenheit. Und in gewaltigen Bildern —wie in Traumbildern - standen vor seiner Seele dieKräfte, welche hinter unserem physischen Dasein stehen.In dieser geistigen Welt sah der Urmensch seine Götter,sah er sich abspielen die Tatsachen und Geschehnissezwischen seinen Götterwesen. Und es ist tatsächlich einIrrtum, wenn die heutige Forschung glaubt, daß dieGöttersagen der verschiedenen Völker nur ein Spiel der«Volksphantasie» seien. Wenn man sich vorstellen will,daß in urferner Vergangenheit die menschliche Seele inähnlicher Weise wie heute gewirkt hat, nur daß sie sichdamals mehr in Phantasie erging als in dem in festeGesetze eingeschnürten Verstand, und daß sich die Ge-stalten, die in den Göttersagen erhalten sind, aus derPhantasie heraus geschaffen haben, dann ist das eigent-lich eine Phantasie; dann phantasieren diejenigen, dieeinen solchen Glauben haben. Für den Menschen derUrzeit waren die Vorgänge, welche sich in den Mytholo-gien darstellen, Wirklichkeiten, Realitäten. Mythen, Sa-gen, selbst Märchen und Legenden sind herausgeborenaus einer ursprünglichen Fähigkeit der menschlichenSeele. Das hängt eben damit zusammen, daß das mensch-liche Ich in urferner Vergangenheit noch nicht so wirktewie heute, daß der Mensch noch nicht seinen festenMittelpunkt hatte, durch den er bei sich und in sich ist.

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Und weil er diesen Mittelpunkt noch nicht hatte, schloßer sich auch nicht in seinem Ich, in seiner eng umgrenz-ten Seele ab, trennte sich noch nicht so wie später vonder Umgebung. Er lebte in seiner Umgebung darinnenals ein Glied, das dazugehörte, während der heutigeMensch sich als Wesen abgetrennt fühlt von der Außen-welt. Und wie der Mensch heute fühlen kann, daß inseinen physischen Organismus hineinströmt und heraus-strömt zur Unterhaltung seines Lebens die physischeKraft, so fühlte der Mensch der Urzeit mit seinemhellseherischen Bewußtsein, daß geistige Kräfte in ihmaus- und einziehen. Er fühlte eine innige Wechselwir-kung mit den Kräften der großen Welt. Ja, er konntesagen: Wenn in meiner Seele etwas vorgeht, wenn ichetwas denke, fühle oder will, dann bin ich im Grundenicht ein eingeschlossenes Wesen, sondern ein Wesen, indas hineinwirken die Kräfte der Wesen, die ich schaue.Und diese Wesen, die ich schaue, die draußen sind, dieschicken in mich hinein innere Kräfte, um mich anzure-gen, Gedanken zu haben, Empfindungen zu haben, Wil-lensimpulse zum Ausdruck zu bringen. - So fühlte derMensch im Schöße der geistigen Welt, daß in ihm gött-lich-geistige Mächte dachten; er fühlte, wenn seine Ge-fühle auf und ab wogten, daß darinnen geistige Mächtewirkten; und wenn sein Wille etwas vollbrachte, fühlteer, daß sich hinein ergossen in ihn göttlich-geistige Mäch-te mit ihrem Wollen, mit ihren Zielen. Der Menschfühlte sich in den Urzeiten als ein Gefäß, durch das sichgeistige Mächte zum Ausdruck brachten.

Damit weisen wir auf eine ferne Urzeit hin, die sichaber durch allerlei Zwischenstufen ausdehnte bis zu denZeiten Homers. Leicht ist herauszufinden, wie sich Ho-mer nur als eine Art Fortsetzer des Urbewußtseins der

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Menschheit ausnimmt. Dafür brauchen wir nur einigeZüge aus der «Ilias» anzuführen. - Homer stellt darinjenen gewaltigen Kampf der Griechen gegen die Troja-ner dar. Aber wie tut er das? Was lag denn nach demBewußtsein der Griechen diesem Kampf zugrunde?

Wenn auch Homer nicht davon ausgeht, so lag diesemKampf doch nicht bloß etwas zugrunde, was in allenjenen Leidenschaften und Begierden, Begriffen und Vor-stellungen, die vom menschlichen Ich ausgehen, sich alsGegnerschaft abspielte. Waren es bloß die Leidenschaf-ten der Trojaner als Persönlichkeiten und als Volk gewe-sen, waren es bloß die Leidenschaften der Griechen alsPersönlichkeiten oder Volk gewesen, welche da mitein-ander kämpften? Waren bloß die Kräfte, die vommenschlichen Ich ausgingen, dort auf dem Kampfplatze?Nein! Die Sage, die uns die Verbindung anzeigt zwi-schen Urbewußtsein und homerischem Bewußtsein, er-zählt uns, daß bei einem Fest der drei Göttinnen Hera,Pallas Athene und Aphrodite sich um den Preis derSchönheit stritten, und daß ein menschlicher Kenner derSchönheit, Paris, der Sohn des trojanischen Königs, zuentscheiden hatte, welche die Schönste sei. Und Parishatte der Aphrodite den Apfel zugeworfen, den Preisder Schönheit, und sie hatte ihm dafür das schönsteWeib auf Erden versprochen: Helena, die Gattin desKönigs Menelaos von Sparta. Paris konnte Helena nurdurch einen Raub erringen. Und weil die Griechen denRaub rächen wollten, rüsteten sie zum Kampfe gegendas jenseits des Ägäischen Meeres wohnende Volk derTrojaner. Dort spielte sich der Kampf ab.

Weswegen entbrennen die menschlichen Leiden-schaften und alles, was Homer von der «Muse» schildernläßt? Sind es nur Dinge, die sich hier in der physischen

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Welt unter den Menschen abgespielt haben? Nein! Dasgriechische Bewußtsein zeigt uns, daß hinter dem, wassich unter Menschen zuträgt, der Streit der Göttinnensteht. - Es sucht also der Grieche noch mit seinemdamaligen Bewußtsein die Ursachen dessen, was sich inder physischen Welt abspielt, und sagt: Ich kann hier dieKräfte nicht finden, welche die Menschenkräfte aufein-anderplatzen lassen. Ich muß hinaufgehen, dahin, woGötterkräfte und Göttermächte einander gegenüber-stehen. - Die göttlichen Mächte, wie sie damals inBildern geschaut wurden, wie wir es eben beschriebenhaben, spielten hinein in den Kampf der Menschen. Dasehen wir also herauswachsen aus dem Urbewußtseinder Menschheit, was uns als erstes großes Produkt derDichtkunst entgegentritt: die «Ilias» des Homers. Daherkönnen wir sagen: In Verse gebracht, in menschlicherWeise dargestellt vom Standpunkte eines späterenmenschlichen Bewußtseins aus, finden wir bei Homernoch einen Nachklang dessen, was das Urbewußtseinder Menschheit gesehen hat. Und nichts anderes ist dageschehen, als daß wir in der Periode vor Homer zusuchen haben jenen Punkt in der Entwickelung derMenschheit, wo sich für das Volk, das sich dann in dergriechischen Welt zum Ausdruck brachte, zugeschlossenhat das hellsichtige Bewußtsein, so daß gleichsam nur einNachklang davon zurückgeblieben ist.

Ein Mensch der Urzeit hätte gesagt: Ich sehe meineGötter kämpfen in der geistigen Welt, die meinem hell-sichtigen Bewußtsein offenliegt! So hat der Mensch derhomerischen Zeit nicht mehr hineinschauen können;aber eine Erinnerung daran war noch lebendig. Und wiesich der Mensch inspiriert fühlte von den Götterwelten,in denen er drinnen war, so fühlte der Dichter der

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Homerischen Epen noch in seiner Seele fortwalten die-selben göttlichen Kräfte, die früher der Mensch in sichhineinspielen fühlte. Daher spricht er: Die die Seeleinspirierende Muse in mir sagt das! So schließt sichdirekt die Homerische Dichtung an den richtig verstan-denen Mythos der Urzeit an. Wenn wir so Homerverstehen, sehen wir in ihm etwas auftreten, was wie einErsatz für die alten hellseherischen Kräfte in der mensch-lichen Seele wirkte. Die alte Hellseherkraft hatte für dasgewöhnliche Menschenbewußtsein durch ihr Zurück-gehen das Tor zu den geistigen Welten zugeschlossen.Aber in der Entwickelung der Menschheit ist etwaszurückgeblieben wie ein Ersatz für das alte Hellsehen.Und das ist die dichterische Phantasie bei Homer. Sohaben die lenkenden Weltenmächte das unmittelbar hell-seherische Anschauen dem Menschen entzogen und ihmdafür einen Ersatz gegeben, etwas, was ähnlich wie dasalte Hellsehen in der Seele leben und in der Seele einegestaltende Kraft hervorrufen kann.

Die dichterische Phantasie ist eine Abschlagszahlungder die Menschheit lenkenden Mächte für das Hellsehenin urferner Vergangenheit.

Nun wollen wir uns noch an etwas anderes erinnern. -In dem Vortrage über «Das menschliche Gewissen» wargezeigt worden, wie an den verschiedenen Orten derErdentwickelung in ganz verschiedener Weise das Zu-rückgehen der alten hellseherischen Kräfte der Menschenstattgefunden hat. Im Orient finden wir noch verhält-nismäßig spät ein altes Hellsehen in den Seelen derMenschen vorhanden. Und wir haben auch betont, daßmehr gegen den Westen hinüber die hellseherischenFähigkeiten bei den Völkern Europas weniger vorhan-den sind. Das ist aber auch deshalb der Fall, weil bei

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diesen Völkern bei verhältnismäßig noch untergeordne-ten anderen Seelenkräften und Seelenfähigkeiten ein star-kes Ich-Gefühl im Seelenmittelpunkte sich geltend mach-te. Dieses Hervortreten des Ich-Gefühls in den verschie-denen Gegenden Europas entwickelte sich aber in derverschiedensten Weise, anders im Norden als im Westen,anders aber namentlich in Südeuropa. Besonders in Sizi-lien und Italien entwickelte sich in den vorchristlichenZeiten das Ich-Gefühl am allerintensivsten. Als sich imOrient noch lange die Seelenkräfte in einem Außer-sich-Sein des Menschen, ohne ein Ich-Gefühl, fortgesetzthatten, waren in den genannten Gegenden Europas Men-schen, die ein starkes Ich-Gefühl entwickelten, weil sienicht mehr teilhaftig waren des alten Hellsehens. Indemselben Maße, als sich dem Menschen außen diegeistige Welt entzieht, lebt das Innere, das Ich-Gefühl,auf. Und namentlich in den heutigen italienischen undsizilianischen Gegenden entwickelte sich stark das Ich-Gefühl des Menschen. - Wie verschieden mußten daherin gewissen alten Zeiten die Seelen der asiatischen Völkerund die Seelen jener Völker, die auf den gekennzeich-neten Gebieten gewohnt haben, gewesen sein. Drüben inAsien sehen wir noch, wie in gewaltigen Traumbilderndie Weltengeheimnisse sich vor der Seele entrollen, wieder Mensch sein geistiges Auge nach außen richtet undsich vor ihm abrollen die Taten der Götter. Und in dem,was dieser Mensch erzählen kann, haben wir etwaszu sehen, was wir nennen können: die Urerzählungder der Welt zugrunde liegenden geistigen Tatsachen.Als das alte Hellsehen abgelöst wurde durch denspäteren Ersatz, durch die Phantasie, da entwickeltesich dort besonders das anschauliche Gleichnis, das Bild. —Bei den westlichen Völkern dagegen, in Italien und

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Sizilien, entwickelte sich etwas, was aus einem in sichgefestigten Ich heraussproß, was eine Überkraft entwik-keln kann. Bei diesen Völkern ist es die Begeisterung,was sich der Seele entringt, ohne daß sie eine unmittel-bare geistige Anschauung hat; die Ahnungen der mensch-lichen Seele sind es, die hinaufgehen zu dem, was dieSeele ja nicht sehen kann. Da haben wir denn nicht dieNacherzählungen dessen, was man als Taten der Göttergesehen hat. Aber in dem inbrünstigen Hinlenken derSeele in dem menschlichen Wort oder in dem Gesängezu dem, was man nur ahnen kann, quillt aus der Begei-sterung das Urgebet, das Preislied für jene göttlichenGewalten, die man nicht sehen kann, weil das hellseheri-sche Bewußtsein hier weniger ausgebildet ist. Und inGriechenland, in dem Lande dazwischen, strömen diebeiden Welten zusammen. Da finden sich Menschen,welche Anregungen von beiden Seiten her empfangen:Da kommt von Osten her die bildhafte Anschauung,und von Westen kommt herüber die Begeisterung, dieim Hymnus sich hingibt an die geahnten göttlich-gei-stigen Mächte der Welt. Da wurde innerhalb der griechi-schen Kultur möglich durch das Zusammenfließen derbeiden Strömungen der Fortgang der homerischen Dich-tung, deren Zeit wir zu suchen haben im 8. bis 9.Jahrhundert vor der christlichen Zeitrechnung, zu dem,was wir dann bei Äschylos finden, drei bis vier Jahrhun-derte später in der griechischen Kultur.

Äschylos stellt sich uns so recht dar als eine Persön-lichkeit, auf die allerdings nicht mehr gewirkt hat dievolle Kraft der bildhaften Anschauung des Ostens, dieüberzeugende Kraft, die zum Beispiel bei Homer nochals ein Nachklang gegeben war des alten Anschauens derGöttertaten und ihres Hereinwirkens in die Menschheit.

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Der Nachklang war schon sehr schwach; so schwach,daß in Aschylos' Seele zunächst gefühlsmäßig etwasauftrat wie eine Art Unglaube an das, was früher inihrem ursprünglichen hellseherischen Zustande die Men-schen in Bildern über die Götterwelt gesehen haben. BeiHomer finden wir es noch, daß er durchaus weiß, wiedas menschliche Bewußtsein einst hinaufgekommen istzu den Gewalten, die als göttlich-geistige Gewalten hin-ter dem stehen, was menschliche Leidenschaften undGefühle ausmachen in der physischen Welt. Daher schil-dert Homer nicht nur einen Kampf, der sich abspielt,sondern wir sehen sogar, wie die Götter eingreifen.Zeus, Apollo greifen ein, wo die menschlichen Leiden-schaften wirken, und bringen etwas zum Ausdruck. DieGötter sind eine Realität, die der Dichter hineinwirkenläßt in die Dichtung.

Wie ist das anders geworden bei Aschylos! Auf ihnhat schon mit einer besonderen Gewalt gewirkt dasandere, was vom Westen herüberkam: das menschlicheIch, die innere Geschlossenheit der menschlichen Seele.Deshalb ist Aschylos zuerst imstande, den Menschenhinzustellen, der aus seinem Ich heraus handelt und sichloszulösen beginnt mit seinem Bewußtsein von den inihn einströmenden Göttergewalten. An die Stelle derGötter, die wir bei Homer noch finden, tritt bei Aschy-los der handelnde Mensch - wenn auch erst in seinemAnfang. Daher wird Aschylos der Dramatiker, der denhandelnden Menschen in den Mittelpunkt der Handlungstellt. Während unter dem Einfluß der bildhaften Phanta-sie des Ostens das Epos entstehen mußte, entwickeltesich unter dem Einfluß des sich im Westen geltendmachenden persönlichen Ich das Drama, das den han-delnden Menschen in den Mittelpunkt stellt. - Nehmen

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wir das Beispiel des Orest, der den Muttermord auf sichgeladen hat und nun die Furien erblickt. Ja, Homerspielt noch hinein; so schnell vergehen die Dinge nicht.Äschylos ist sich noch bewußt, daß einmal die Göttervon den Menschen in den Bildern geschaut worden sind,aber er ist nahe daran, das aufzugeben. Ganz charakteri-stisch ist es, daß Apollo es ist, der noch in HomersDichtung mit voller Macht wirkt, der den Orest anstiftetzum Muttermord. Nachher aber behält der Gott nichtmehr recht; nachher regt sich das menschliche Ich, undes erweist sich, daß in Orest sich das menschliche Ich,der innere Mensch geltend macht. Apollo wird sogargeradezu unrecht gegeben; er wird abgewiesen. An dem,was er hereinströmen lassen will, wird gerade gezeigt,daß er nicht mehr die vollständige Gewalt über Oresthaben kann. Daher war auch Äschylos der berufeneDichter für eine solche Gestalt wie den «Prometheus»,der gerade jener göttliche Held ist, der darstellt dieBefreiung des Menschentums von den göttlichen Mäch-ten und sich titanisch gegen sie auflehnt.

So sehen wir mit dem erwachenden Ich-Gefühl, dasherübergetragen wird durch die Geheimnisse derMenschheitsentwickelung aus dem Westen, und das sichbegegnet in der Seele des Äschylos mit den Erinnerun-gen der bildhaften Phantasie des Orients, das Dramaseinen Anfang nehmen. Und ganz interessant ist es, daßuns die Überlieferung wunderbar bestätigt, was wir jetztrein aus der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis herauszu gewinnen versuchten.

Da gibt es eine wunderbare Überlieferung, die halbrechtfertigt den Äschylos, daß er keine Mysterienge-heimnisse verraten haben könne - dessen war er ange-klagt -, da er gar nicht in den Eleusinischen Mysterien

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eingeweiht war. Er ist gar nicht darauf ausgegangen,etwas darzustellen, was er hätte aus den Tempelgeheim-nissen gewinnen können, und aus dem heraus HomersDichtungen geflossen sind. Er steht den Mysterien ingewisser Beziehung fern. Dagegen wird erzählt, daß erauf Sizilien, in Syrakus, aufgenommen habe jene Ge-heimnisse, die sich beziehen auf das Hervorgehen desmenschlichen Ich. Dieses Hervorgehen des Ich prägtsich in anderer Weise dort aus, wo wir die Orphikerentfalten sehen die alte Form der Ode, des Hymnus, dendie menschliche Seele hinaufschickt zu den nicht mehrgesehenen, zu den nur geahnten göttlich-geistigen Wel-ten. Da hat die Kunst einen Schritt vorwärts gemacht.Da sehen wir, daß sie ganz naturgemäß herausgewachsenist aus der alten Wahrheit, daß sie aber den Weg gemachthat zum menschlichen Ich, und daß sie so geworden ist,wie sie ist, weil sie erfassen sollte das denkende, streben-de und wollende menschliche Ich. Indem der Menschvon einem Leben in der Außenwelt hineinging in seineigenes Inneres, wurden aus den Gestalten der Homeri-schen Dichtung die dramatischen Persönlichkeiten desAschylos, entstand neben dem Epos das Drama.

So sehen wir fortleben die uralten Wahrheiten inanderer Form in der Kunst, sehen durch die Phantasiewiedergegeben, was das alte Hellsehen hat gewinnenkönnen. Und was sich die Kunst aus den alten Zeitenbewahrt hat, das sehen wir angewendet auf das zu sichselbst gekommene menschliche Ich, auf die menschlichePersönlichkeit.

Und jetzt machen wir einen gewaltigen Schritt vor-wärts. Gehen wir um Jahrhunderte weiter, bis ins 13.,14. Jahrhundert der nachchristlichen Zeit zu jener gewal-tigen Gestalt, die in der Mitte des Mittelalters uns in so

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ergreifender Art hinaufführt in die Region, die dasmenschliche Ich erlangen kann, wenn es sich aus sichheraus hinaufarbeitet zu der Anschauung der göttlich-geistigen Welt: gehen wir zu Dante. Dieser hat uns inseiner «Commedia» ein Werk geschaffen, über das Goe-the, nachdem er es wiederholt auf sich hat wirken lassen,da es ihm im Alter wieder in der Übersetzung einesBekannten vor Augen trat, die Worte niederschrieb, indenen er dem Übersetzer seinen Dank für die Zusen-dung der Übersetzung ausdrückte:

Welch hoher Dank ist Dem zu sagen,Der frisch uns an das Buch gebracht,Das allem Forschen, allen KlagenEin grandioses Ende macht!

Welche Schritte ist nun die Kunst gegangen vonÄschylos bis zu Dante? Wie stellt uns Dante wieder einegöttlich-geistige Welt dar? Wie führt er uns durch diedrei Stufen der geistigen Welt, durch Hölle, Fegefeuerund Himmel, durch die Welten, die hinter dem sinnli-chen Dasein des Menschen liegen?

Da sehen wir, wie allerdings in derselben Richtung,man möchte sagen, der Grundgeist der Menschheitsent-wickelung weitergearbeitet hat. Bei Äschylos sehen wirnoch klar, daß er überall die geistigen Mächte noch hat:es treten dem Prometheus die Götter entgegen, Zeus,Hermes und so weiter; dem Agamemnon treten dieGötter entgegen. Da ist noch der Nachklang der altenSchauungen, dessen, was das alte, hellsehende Bewußt-sein in uralten Zeiten aus der Welt heraussaugen konnte.Ganz anders Dante. Dante zeigt uns, wie er rein durchVersenkung in die eigene Seele, durch die Entwickelungder in der Seele schlummernden Kräfte und durch die

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Besiegung alles dessen, was die Entfaltung dieser Kräftehindert, imstande geworden ist «in des Lebens Mitte»,wie er charakteristisch sagt, das heißt im fünfunddreißig-sten Jahre, seinen Blick hinzuwenden in die geistigeWelt. Während also die Menschen mit dem alten Hellse-herbewußtsein den Blick hinausrichteten in die geistigeUmgebung, während es bei Äschylos noch so war, daßer wenigstens rechnete mit den alten Göttergestalten,sehen wir in Dante einen Dichter, der hinuntersteigt indie eigene Seele, der ganz in der Persönlichkeit und ihreninneren Geheimnissen verbleibt, und der durch den Wegdieser persönlichen Entwickelung hineinkommt in diegeistige Welt, die er in so gewaltigen Bildern in der«Commedia» entwickelt. Da ist die Seele der einzelnenDante-Persönlichkeit ganz allein. Da nimmt sie nichtRücksicht darauf, was von außen offenbart ist. Niemandkann sich vorstellen, daß Dante in einer ähnlichen Weiseschildern könnte wie Homer oder Äschylos; daß er ausÜberlieferungen übernommen hätte die Gestalten desalten Hellsehens; sondern Dante steht auf dem Bodendessen, was im Mittelalter entwickelt werden kann ganzinnerhalb der Kraft der menschlichen Persönlichkeit.Und wir haben vor uns, was wir schon öfter betonthaben, daß der Mensch dasjenige, was seinen hellseheri-schen Blick trübt, überwinden muß.

Das stellt uns Dante dar in anschaulichen Bildern derSeele. Wo der Grieche noch Realitäten gesehen hat inder geistigen Welt, da sehen wir bei Dante nur nochBilder, Bilder derjenigen Seelenkräfte, die überwundenwerden müssen. Diejenigen Kräfte, die aus der Empfin-dungsseele - wie wir dieses Seelenglied zu nennen pfle-gen - kommen, und die niedere Kräfte sein und das Ichvon der Entwickelung zu höheren Stufen abhalten kön-

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nen, müssen überwunden werden. Darauf weist Dantehin; und ebenso müssen überwunden werden diejenigenKräfte der Verstandesseele und Bewußtseinsseele, welchedie höhere Entwickelung des Ich hindern können. Aufdie gegenteiligen Kräfte aber, insofern sie gute sind,weist schon Plato hin: Weisheit, die Kraft der Bewußt-seinsseele; Starkmut in sich selber, die Kraft, welche derVerstandes- oder Gemütsseele entstammt, und Mäßig-keit, dasjenige, was die Empfindungsseele in ihrer höch-sten Entfaltung erreicht. Wenn das Ich durchgeht durcheine Entwickelung, die getragen ist von der Mäßigkeitder Empfindungsseele, von der Starkheit oder innerenGeschlossenheit der Verstandes- oder Gemütsseele, vonder Weisheit der Bewußtseinsseele, dann kommt es all-mählich zu höheren Seelenerlebnissen, die in die geistigeWelt hinaufführen. Aber jene Kräfte müssen erst über-wunden werden, welche der Mäßigkeit, der innerenGeschlossenheit und der Weisheit entgegenarbeiten. DerMäßigkeit wirkt entgegen die Unmäßigkeit, die Gefrä-ßigkeit, sie muß überwunden werden. Daß sie bekämpftwerden muß, und wie man ihr begegnet, wenn derMensch durch seine eigenen Seelenkräfte in die geistigeWelt eintreten will, das stellt Dante dar. Eine Wölfin istfür Dante das Bild für die Unmäßigkeit, für die Schatten-seiten der Empfindungsseele. Dann begegnen uns dieSchattenseiten der Verstandesseele als der Entwickelungwiderstrebende Kräfte: Was nicht in sich geschlossenerStarkmut ist, was sinnlos aggressive Kräfte der Verstan-desseele sind, das tritt uns in Dantes Phantasie als einzu Bekämpfendes in dem Löwen entgegen. Und dieWeisheit, die nicht nach den Höhen der Welt hinauf-strebt, die sich nur als Klugheit und Schlauheit auf dieWelt richtet, tritt uns in dem dritten Bilde, in dem

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Luchs, entgegen. Die «Luchs-Augen» sollen darstellenAugen, die nicht Weisheitsaugen sind, die in die gei-stige Welt hineinsehen, sondern Augen, die nur auf dieSinnenwelt gerichtet sind. Und nachdem Dante zeigt,wie er sich gegen solche der Entwickelung widerstre-benden Kräfte wehrt, schildert er uns, wie er hinauf-kommt in die Welten, die hinter dem sinnlichen Da-sein liegen.

Einen Menschen haben wir in Dante vor uns: auf sichselbst gestellt, in sich selber suchend, aus sich selberherausgestaltend die Kräfte, welche in die geistige Welthineinführen. So ist das, was in dieser Richtung schafft,aus der Außenwelt ganz in das menschliche Innere hin-eingezogen.

So schildert in Dante ein Dichter, was in dem Inner-sten der menschlichen Seele erlebt werden kann. Da hatdie Dichtung auf ihrem Weiterschreiten das menschlicheInnere um ein weiteres Stück ergriffen, ist intimer ge-worden mit dem Ich, hat sich wiederum mehr hineinge-zogen in das menschliche Ich. - So standen die Gestal-ten, die uns Homer geschaffen hat, eingesponnen in dasNetz der göttlich-geistigen Gewalten; so fühlte sichHomer selbst noch darinnen eingesponnen, indem ersagt: Die Muse singe das, was ich zu sagen habe! Dantesteht vor uns - ein Mensch, allein mit seiner Seele, diejetzt weiß, daß sie aus sich selber die Kräfte entfaltenmuß, die in die geistige Welt hineinführen sollen. Wirsehen es namentlich immer unmöglicher werden, daß diePhantasie sich anlehnt an das, was von außen herein-spricht. Und wie hier nicht mehr bloß Meinungen wir-ken, sondern Kräfte, die im Seelenleben des Menschentief begründet sind, das mag aus einer kleinen Tatsachehervorgehen.

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Ein Epiker wollte in der neueren Zeit der Dichterwerden einer heiligen Erzählung: Klopstock, ein Menschtief religiöser Natur, mit sogar tieferen Untergründenwie Homer, und der daher bewußt für die neuere Zeitdas sein will, was Homer für das Altertum gewesen ist.Er versuchte, Homers Sinnesart zu erneuern. Aber nunwill er wahr gegen sich sein. Da kann er nicht sagen:«Sing mir, o Muse...», sondern er muß seinen «Messias»beginnen: «Singe, unsterbliche Seele, der sündigen Men-schen Erlösung...». So sehen wir in der Tat, wie indenjenigen, auf die es ankommt, der Fortschritt imkünstlerischen Schaffen in der Menschheit wohl vorhan-den ist.

Gehen wir bei unseren Riesenschritten wiederum einpaar Jahrhunderte weiter. Schauen wir hinauf von Dantezu einem großen Dichter des 16. bis 17. Jahrhunderts, zuShakespeare. Da sehen wir wieder an Shakespeare einenmerkwürdigen Fortschritt - Fortschritt jetzt hier imSinne des «Fortschreitens» gemeint. Wie man Shake-speares Schaffen sonst werten will, das ist Sache desGefühls, das ist Kritik. Hier handelt es sich nicht umKritik, sondern um Tatsachen; nicht auf das Höher-stellen des einen oder des andern kommt es an, sondernauf das notwendige gesetzmäßige Fortschreiten.

Wir sehen die Menschheitsentwickelung auf unseremGebiete, indem sie fortschreitet von Dante zu Shake-speare, merkwürdige Richtungen nehmen. Was ist unsbei Dante besonders aufgefallen? Ein Mensch steht mitsich, mit seinen Offenbarungen der geistigen Welt aufseine Art allein; er schildert das, was er als ein großesErlebnis - aber in seiner Seele - erlebt hat. Können Siesich vorstellen, daß dieser eine Mensch, Dante, mitderselben Wahrheit wirken würde, wenn er uns fünf- bis

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sechsmal nacheinander seine Visionen schildern würde,einmal so, das andere Mal so? Oder haben Sie nicht dasGefühl: Wenn ein Dichter wie Dante so etwas schildert,dann ist die Welt, in die sich der Dichter dabei hineinver-setzt, eine solche, die man eigentlich nur einmal schil-dern kann? Das hat Dante daher auch getan. Es ist dieWelt eines Menschen, eines Augenblickes aber auch, indem der Mensch eins wird mit dem, was für ihn diegeistige Welt ist. Man müßte daher sagen: Dante lebtsich ein in das Menschlich-Persönliche. Und er tut es so,daß dieses Menschlich-Persönliche sein eigenes ist. Dar-auf ist er noch angewiesen, dieses eigene Menschlich-Per-sönliche nach allen Seiten hin zu durchqueren.

Jetzt gehen wir zu Shakespeare. - Shakespeare schaffteine Fülle von Gestalten; er prägt alle möglichen Gestal-ten: einen Othello, einen Lear, Hamlet, eine Cordelia,Desdemona. Aber diese Shakespeare-Gestalten sind sogeprägt, daß wir hinter ihnen nichts Göttliches unmit-telbar sehen, wenn das geistige Auge sie in der physi-schen Welt sieht mit rein menschlichen Eigenschaften,mit rein menschlichen Impulsen. Dasjenige wird in ihrerSeele gesucht, was unmittelbar entspringt aus der Seelein bezug auf Denken, Fühlen und Wollen. Einzelnemenschliche Individualitäten sind es, die Shakespeareschildert. Aber schildert er sie so, daß er in jeder Indivi-dualität Shakespeare ist, wie Dante der Mensch allein ist,der sich in seine Persönlichkeit hinein vertieft? Nein,Shakespeare ist wieder einen Schritt weitergegangen; erhat den Schritt gemacht, der noch weiter in das Persön-liche hineingeht, nicht nur zu der einen Persönlichkeit,sondern zu den verschiedenen Persönlichkeiten. Shake-speare verleugnet sich jedesmal selbst, wenn er Lear,Hamlet und so weiter schildert, und er ist nie versucht,

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zu sagen, was er für Vorstellungen hat, sondern er ist alsShakespeare vollständig ausgelöscht und lebt ganz auf inden verschiedenen Gestalten mit seiner Schaffenskraft, inden Persönlichkeiten. Stellt uns Dante in seinen Darstel-lungen die Erlebnisse einer Persönlichkeit dar, die Erleb-nisse dieser einen Persönlichkeit bleiben müssen, so stelltShakespeare die aus dem inneren menschlichen Ich her-vorgehenden Impulse in den verschiedensten Gestal-tungen dar. Dante ist von der menschlichen Persön-lichkeit ausgegangen; aber dabei bleibt er und durch-dringt die geistige Welt. Shakespeare ist in der Art umein Stück weitergegangen, daß er aus der eigenen Persön-lichkeit wieder herausgeht und hineinkriecht in die ein-zelnen dargestellten Persönlichkeiten; er taucht ganz insie unter. Er schafft nicht das, was in seiner Seele lebt,sondern was in den beobachteten Persönlichkeiten lebt.So schafft er uns viele Individualitäten, viele einzelnePersönlichkeiten der Außenwelt, aber so, daß er sie alleaus ihrem eigenen Mittelpunkt heraus schafft.

Also auch das sehen wir, wie die Kunstentwickelungweiterschreitet. Nachdem sie ihren Ursprung in urfernerVergangenheit genommen hat von jenem Bewußtsein, indem ein Ich-Gefühl noch gar nicht vorhanden war, istsie in Dante dazu gekommen, den einzelnen Menschenzu erfassen, so daß das Ich sich selber zu einer Weltwird. Jetzt ist bei Shakespeare die Kunst so weit, daß dieandern Iche die Welt des Dichters sind. Daß dieserSchritt gemacht werden konnte, dazu war notwendig,daß die Kunst auch sozusagen herunterstieg aus dengeistigen Hohen, aus denen sie eigentlich entsprungenist, in die physisch-sinnlichen Realitäten des Daseins.Und diesen Schritt gerade macht die Kunst von Danteauf Shakespeare. Versuchen wir, von dieser Seite her die

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beiden Gestalten, Dante und Shakespeare, nebeneinan-der zu stellen:

Mögen leichtherzige Ästhetiker es tadeln und Danteeinen «Lehr-Dichter» schelten: wer Dante versteht undihn mit seinem ganzen Reichtum auf sich wirken lassenkann, der fühlt es gerade als die Größe Dantes, daß allemittelalterliche Weisheit und Philosophie aus DantesSeele spricht. Zur Entwickelung einer solchen Seele,welche die Dichtung des Dante schaffen sollte, warnotwendig der Unterbau der ganzen mittelalterlichenWeisheit. Diese wirkte zunächst auf die Dante-Seele,und sie ersteht wieder bei jener Erweiterung der Dante-Persönlichkeit zu einer Welt. Daher aber kann die Dich-tung Dantes, zunächst voll verständlich, von ganzerWirkung nur für diejenigen sein, die in den Hohendieses mittelalterlichen Geisteslebens drinnen stehen. Daerst sind die Tiefen und Subtilitäten der Dante-Dichtungzu erreichen.

Einen Schritt herunter hat Dante allerdings gemacht.Er versuchte, das Geistige herunterzuführen in die niede-ren Schichten. Das hat er dadurch erreicht, daß er seineDichtung nicht wie andere seiner Vorgänger in derlateinischen Sprache abgefaßt hat, sondern in der Volks-sprache. Er steigt hinauf bis in die höchsten Höhen desgeistigen Lebens, aber er steigt hinunter in die physischeWelt bis zu einer einzelnen Volkssprache. - Shakespearemuß noch weiter hinunter steigen. Über die Art, wieShakespeares große dichterische Gestalten entstandensind, geben sich die heutigen Menschen mannigfaltigstenPhantasien hin. Wenn man dieses Heruntersteigen derDichtung in die alltägliche Welt, die auf den Höhen desDaseins heute noch ziemlich verachtet ist, verstehen will,muß man sich folgendes vor die Seele halten: Man muß

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sich vorstellen ein kleines Theater in einer LondonerVorstadt, wo Schauspieler spielten, die man heute wahr-haftig nicht zu besonderen Größen rechnen würde, au-ßer Shakespeare selber. Wer ging in dieses Theater hin-ein? Diejenigen, die verachtet wurden von den höherenGesellschaftsklassen Londons! Es war nobler, in Londonin der Zeit, als Shakespeare seine Dramen aufführte, zuHahnenkämpfen und ähnlichen Veranstaltungen zu ge-hen als in dieses Theater, wo man aß und trank und dieSchalen der Eier, die man gegessen hatte, auf die Bühnewarf, wenn einem das Aufgeführte nicht gefiel; wo mannicht nur im Zuschauerraum saß, sondern auch auf derBühne selber, und wo die Schauspieler mitten hindurchspielten durch das Publikum. Dort, vor einem Publi-kum, das zu der untersten Klasse der Londoner Bevölke-rung gehörte, wurden zuerst aufgeführt die Stücke, vondenen sich heute die Menschen so leicht vorstellen, daßsie gleich in den Höhen des geistigen Lebens gewaltethätten. Höchstens die unverheirateten Söhne, die sichgestatten durften, an gewisse obskure Orte zu gehen,wenn sie Zivilkleidung trugen, die gingen manchmal dahinaus in dieses Theater, wo Shakespeare-Stücke ge-geben wurden. Anständig wäre es nicht gewesen füreinen anständigen Menschen, in ein solches Lokal zu ge-hen. So war zu dem Empfinden, das sozusagen aus dennaivsten Impulsen heraus kam, die Dichtung herunter-gestiegen.

Kein Menschliches war fremd dem Genius, der hinterden Shakespeareschen Stücken steht, der nun seine Ge-stalten schuf in dieser Periode der menschlich-künstleri-schen Entwickelung. So ist die Kunst heruntergestiegenselbst in bezug auf solche Äußerlichkeiten aus dem, wassich in dem schmalen Strom der menschlichen Führer-

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schaft fühlt, zu dem, was allgemein Menschliches ist,was ganz unten im alltäglichen menschlichen Leben breitdahinströmt. Und wer tiefer sieht, der weiß, daß soetwas notwendig war wie ein Heruntertragen eines Gei-stesstromes aus den Höhen, um so etwas Lebensfähigeszu schaffen, wie es uns entgegentritt in den ganz indivi-duellen Gestalten Shakespearescher Figuren.

Und jetzt gehen wir in die Zeiten, die der unsrigenschon naher liegen: zu Goethe. Versuchen wir, bei ihmanzuknüpfen an diejenige Gestalt seines dichterischenSchaffens, in welche er hineingelegt hat alle seine Ideale,seine Bestrebungen und Entbehrungen durch sechzigJahre hindurch, - denn so lange hat er an seinem «Faust»gearbeitet. Alles, was sein reiches Leben erfahren hat imInnersten der Seele und im Verkehr mit der Außenwelt,und um was es gestiegen ist von Erkenntnis stufe zuErkenntnisstufe zu einer immer höheren Lösung derWeltenrätsel, das ist alles in die Gestalt des Faust hinein-gesenkt, uns von dort wieder entgegenkommend. Wasist dichterisch der Faust für eine Gestalt?

Bei Dante konnten wir sagen: Was er uns schildert,schildert er als einzelner Mensch aus einer eigenen Visi-on heraus. Das ist aber bei Goethe in bezug auf denFaust nicht der Fall. Goethe schildert nicht aus einerVision heraus; er macht gar keinen Anspruch darauf,daß ihm das offenbart worden war in einer besondersfestlichen Zeit, wie es für Dante in bezug auf die «Com-media» der Fall ist. Goethe zeigt an jeder Stelle seinesFaust, daß die Dinge, die darin dargestellt sind, innerlicherarbeitet sind. Und während Dante genau die Erlebnis-se so haben mußte, daß sie in dieser einseitigen Weisedargestellt werden konnten, können wir sagen, daß dieErlebnisse, die Goethe darstellt, zwar individueller Na-

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tur sind, aber daß er das, was er innerlich erlebte, wiederumsetzte in die objektive Faust-Natur. Was Dante dar-stellt, ist sein persönlichstes inneres Erlebnis. Bei Goethesind es zwar auch persönliche Erlebnisse; aber was diedichterische Figur des Faust tut und leidet in der Dich-tung, das ist doch nicht Goethes Leben. Das war inkeiner Zeit mit Goethes Leben zusammenfallend. Das istdie freie dichterische Umschöpfung dessen, was Goethein seiner Seele erlebt hat. Während man Dante identifi-zieren kann mit seiner «Commedia», müßte man fasteinen Literarhistoriker-Verstand haben, wenn man sagenwollte, der Faust ist Goethe! Was Goethe erlebt hat, hater mit großer Genialität hineingeheimnißt in diese dichte-rische Figur. Solche Behauptungen: Goethe ist Faust! -Faust ist Goethe! - sind nur ein Spiel mit Worten. Faustist zwar eine einzelne Gestalt, aber wir könnten unsnicht denken, daß eine Gestalt wie der Faust in so vielenExemplaren geschaffen würde, wie Shakespeare seineGestalten geschaffen hat. Das Ich, das Goethe in seinemFaust darstellt, kann nur einmal hingestellt werden. Ne-ben dem Hamlet konnte Shakespeare noch andere Ge-stalten schaffen: Lear, Othello und so weiter. Man kannzwar neben dem «Faust» einen «Tasso» oder eine «Iphi-genie» dichten; aber man ist sich doch des Unterschiedesbewußt, der zwischen diesen Dichtungen besteht. -Faust ist nicht Goethe. Faust ist im Grunde jederMensch. Was in seinen tiefsten Sehnsuchten lebte, dashat Goethe auch in den Faust hineingearbeitet. Aber erhat wirklich eine Gestalt geschaffen, die sich ganz loslöstals dichterische Persönlichkeit von seiner eigenen Persön-lichkeit. Er hat sie so individualisiert, daß wir nicht -wie bei Dante - eine individuelle Vision vor uns haben,sondern eine Gestalt, die in jedem von uns in gewisser

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Weise lebt. Das ist der weitere Fortschritt der Dicht-kunst zu Goethe. - Shakespeare konnte Gestalten schaf-fen bis zu einer solchen Individualisierung, daß er selberuntertauchte in die Gestalten und aus ihren Mittel-punkten heraus schuf. - Goethe konnte nicht eine zweiteähnliche Gestalt neben die Faustgestalt hinstellen. Erschafft zwar eine Gestalt, die individualisiert ist; aber esist nicht ein individualisierter einzelner Mensch. DieseGestalt ist individualisiert in bezug auf jeden einzelnenMenschen. Shakespeare ist hinuntergestiegen in den seeli-schen Mittelpunkt des Lear, des Othello, des Hamlet,der Cordelia und so weiter. Goethe ist hinuntergestiegenin das, was in jedem einzelnen Menschen ein höchstesMenschliches ist. Daher aber schafft er eine Gestalt, diefür jeden einzelnen Menschen gilt. Und diese Gestaltlost sich wieder los von der dichterischen Persönlichkeitselbst, welche sie schuf, so daß sie als reale, objektiveAußengestalt vor uns steht im Faust.

Das ist wieder ein Fortschritt der Kunst auf demWege, den wir charakterisieren konnten. Von dem geisti-gen Anschauen einer höheren Welt geht die Kunst ausund ergreift immer mehr und mehr das menschlicheInnere. Sie wirkt am intimsten nur im menschlichenInnern, wo es ein Mensch für sich, mit sich zu tun hat:in Dante. Bei Shakespeare steigt das Ich wieder herausaus diesem Innern in die andern Seelen hinein. BeiGoethe geht das Ich heraus, taucht in das Seelische jederMenschenseele unter, aber nun - so ist der Faust eben -als das, was sich in jeder einzelnen individuellen Seele alstypisch gleich findet. Ein Herausgehen des Ich habenwir im Faust. Und weil das Ich nur aus sich herausgehenkann und anderes Seelisches verstehen kann, wenn es dieSeelenkräfte in sich entfaltet und untertaucht in das

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andere Geistige, so ist es natürlich, daß beim Fortschrittdes künstlerischen Schaffens Goethe dazu geführt wur-de, nicht nur die äußeren physischen Taten und Erlebnis-se der Menschen zu schildern, sondern das, was jederMensch erleben kann als Geistiges, was jeder Menschfindet in der geistigen Welt, wenn er sein eigenes Ichaufschließt dieser geistigen Welt.

Aus der geistigen Welt ist die Dichtung in das mensch-liche Ich hineingegangen, hat in Dante das menschlicheIch im tiefsten Innern erfaßt. Bei Goethe sehen wir dasIch wieder aus sich herausgehen und in die geistige Weltsich hineinleben. Wir sehen die geistigen Erlebnisse deralten Menschheit hineintauchen in die Ilias und Odyssee,und wir sehen in Goethes Faust die geistige Welt wiederheraussteigen und vor den Menschen hingestellt werden.So lassen wir auf uns wirken das gewaltige geistigeSchlußtableau des Faust, wo der Mensch wieder diegeistige Welt erreicht, nachdem er untergetaucht ist undsich von innen nach außen entfaltete und durch dieEntfaltung der geistigen Kräfte eine geistige Welt vorsich hat. Es ist etwas wie eine ganz erneuerte, aber ebenfortgeschrittene Wiederholung eines Chores der Urtöne:Aus dem Unvergänglichen der geistigen Welt tönt her-aus das, was die Menschheit als Ersatz für das geistigeSchauen erlangt hat, was sie in der Phantasie in dermenschlichen Vergangenheit empfangen und in vergäng-licher Gestalt hinstellen konnte. Aus dem Unvergäng-lichen heraus sind die vergänglichen Gestalten von Ho-mers und Äschylos' Poesie geboren worden. Wieder ausdem Vergänglichen in das Unvergängliche steigt dieDichtung hinauf, indem der mystische Chor am Schlüssedes Faust ausklingt in das: «Alles Vergängliche ist nurein Gleichnis!» Da steigt, wie Goethe gezeigt hat, die

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menschliche Geisteskraft aus der physischen wieder indie geistige Welt hinauf.

Gewaltige Schritte haben wir das künstlerische Be-wußtsein durch die Welt und ihre Persönlichkeiten inder Dichtung gehen sehen. Vom Geistigen, wo sie ihreursprüngliche Erkenntnisquelle hatte, geht die Kunstaus. Das geistige Anschauen zieht sich immer mehr undmehr zurück, wie sich die äußere Sinnenwelt immermehr vor dem Menschen ausbreitet, und wie sich damitimmer mehr und mehr das menschliche Ich entwickelt.Der Mensch muß bei diesen Schritten der Weltentwicke-lung diesem Gange von der geistigen Welt zur Sinnen-welt, zur Ich-Welt folgen. Würde er diese Schritte nuräußerlich wissenschaftlich gehen können, so hätte er nurein verstandesmäßiges Begreifen in der äußeren Wissen-schaft. Es wird ihm aber zunächst ein Ersatz gegeben.Was das hellseherische Bewußtsein nicht mehr sehenkann, das schafft - wie in einem schattenhaften Ab-glanz - die menschliche Phantasie. Die Phantasie mußnun den Weg der Menschheit mitgehen, bis in das mensch-liche Selbstgefühl, bis zu Dante. Niemals aber kann derFaden abreißen, der den Menschen an die geistige Weltknüpft, auch nicht wenn die Kunst heruntertaucht bisin die Vereinzelung des menschlichen Ich. Die Phanta-sie nimmt der Mensch auf seinem Weg mit und schafftin der Zeit, als der Faust entsteht, aus ihr heraus wiederdie geistige Welt.

Damit steht der Goethesche Faust am Ausgangspunkteiner Zeit, wo es sich uns deutlich zeigt, wie die Mensch-heit wieder einmündet in die Welt, aus der ursprünglichauch die Kunst entsprossen ist. So ist es die Kunst,welche die Mission hat für die Menschen, die in derZwischenzeit nicht durch höhere Schulung in die geistige

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Welt hineinkommen können, die Fäden weiter zu spin-nen von der Urgeistigkeit zu der Zukunfts-Geistigkeit.Und schon ist die Kunst so weit fortgeschritten, daß sichder Ausblick in die geistige Welt in der Phantasie wiederergibt; aus jener Phantasie, aus der es der zweite Teil desGoetheschen «Faust» tut. Da heraus mag die Ahnungergehen, daß die Menschheit vor dem Punkt der Entwik-kelung steht, wo sie wieder Erkenntnis aus der geistigenWelt haben muß, wo sie mit ihren Kräften untertauchenmuß, erkennend, in die geistige Welt. So hat die Kunstden Faden fortgesponnen, hat den Menschen erahnendmit Hilfe der Phantasie hinaufgeführt in die geistigeWelt und vorgearbeitet dem, was wir Geisteswissen-schaft nennen, wo mit vollem Ich-Bewußtsein und hellerKlarheit der Mensch wieder hineinschauen wird in diegeistige Welt, aus der auch die Kunst herausgeflossen ist,und in welche die Kunst hineinfließt, die als eine Zu-kunfts-Perspektive vor uns steht. Hinzuführen, soweitdas heute schon möglich ist, zu dieser Welt, zu der - wiewir das an Beispielen der Kunst gesehen haben - sich allemenschliche Sehnsucht hinentwickelt, das ist die Aufga-be der Geisteswissenschaft, und das ist auch die Aufgabeder Ausführungen gewesen, die dieser Winterzyklus ge-bracht hat.

So sehen wir, wie in einer gewissen Beziehung diejeni-gen richtig fühlen, die auch als Künstler fühlen, daß das,was sie der Menschheit zu geben haben, Offenbarungensind der geistigen Welt. Und die Kunst hat die Mission,in derjenigen Zeit Offenbarungen der geistigen Welt zugeben, in der die unmittelbaren Offenbarungen nichtmehr möglich waren. So durfte Goethe sagen gegenüberden Werken der alten Künstler: Da ist Notwendigkeit,da ist Gott! Sie bieten Offenbarungen geheimer Naturge-

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setze, die ohne die Kunst nicht gefunden werden kön-nen. Und so durfte Richard Wagner sagen: aus denKlängen der Neunten Symphonie höre er die Offenba-rungen einer andern Welt, gegen welche niemals dasbloß vernünftige Bewußtsein aufkommen kann. - Diegroßen Künstler fühlten, daß sie den Geist, aus dem allesMenschliche hervorgegangen ist, von der Vergangenheittragen durch die Gegenwart in die Zukunft. Und sodürfen wir auch solchen Worten aus tiefstem Verstandezustimmen, die ein sich Künstler fühlender Dichter ge-sprochen hat: «Der Menschheit Würde ist in eure Handgegeben!»

Damit versuchten wir, das Wesen und die Mission derKunst im Verlaufe der Menschheitsentwickelung zuschildern und zu zeigen, daß die Kunst nicht so abgeson-dert stehe dem Wahrheitssinn der Menschen, wie mandas heute so leicht glauben könnte, sondern daß viel-mehr Goethe recht hatte, wenn er sagte, er lehne es ab,von der Idee der Schönheit und der Wahrheit als vongesonderten Ideen zu sprechen; es gibt eine Idee: die deswirksamen, gesetzmäßigen Göttlich-Geistigen in derWelt, und Wahrheit und Schönheit sind ihm zwei Offen-barungen der einen Idee. - Überall finden wir bei Dich-tern und auch bei sonstigen Künstlern anklingen diesesBewußtsein, daß in der Kunst ein geistiger Urgrund desMenschendaseins spricht. Dagegen sagen uns aus ihrenGefühlen heraus immer wieder tiefere Künstlernaturen,daß ihnen durch die Kunst die Möglichkeit gegebenworden ist, zu fühlen, daß das, was sie aussprechen,zugleich eine Botschaft aus dem geistigen Leben an dieMenschheit selber ist. Und dadurch fühlen die Künstler,auch wenn sie Persönlichstes zum Ausdruck bringen,ihre Kunst hinaufgehoben zu dem allgemeinen Men-

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schentum, und daß sie wahre Menschheits-Künstlersind, wenn sie in den Gestalten und Offenbarungen ihrerKunst verwirklichen das Wort, das Goethe im Chorusmysticus erklingen läßt:

Alles VergänglicheIst nur ein Gleichnis!

Und wir können auf Grund der geisteswissenschaftli-chen Betrachtungen hinzufügen: Die Kunst ist berufen,das Gleichnis des Vergänglichen zu durchtränken mitder Botschaft von dem Ewigen, von dem Unvergängli-chen. Das ist ihre Mission!

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BIBLIOGRAPHISCHER NACHWEIS

früherer Veröffentlichungen und Zusammenstellungen der Vorträge von«Metamorphosen des Seelenlebens» «Pfade der Seelenerlebnisse»

Chronologische Reihenfolge (ab Ausgabe 1984)

ERSTER TEIL

I. Die Mission der Geisteswis-senschaft einst und jetzt

II. Die Mission des Zornes

III. Die Mission der WahrheitIV. Die Mission der AndachtV. Der menschliche Charakter

VI. Die Askese und die KrankheitVII. Das Wesen des Egoismus

VIII. Buddha und ChristusIX. Einiges über den Mond

14. 10. 1909

5. 12. 1909München(statt 21. 10.1909Berlin)22. 10. 190928. 10. 190914. 3. 1910München(statt 29. 10. 1909Berlin)11. 11. 190925. 11. 19092. 12. 19099. 12. 1909

Frühere Ausgabe

Pfade

Metamorphosen

MetamorphosenMetamorphosenMetamorphosen

PfadeMetamorphosenPfadePfade

ZWEITER TEIL

X. Die Geisteswissenschaftund die Sprache

XI. Lachen und WeinenXII. Was ist Mystik?

XIII. Das Wesen des GebetesXIV. Krankheit und HeilungXV. Der positive und der

negative MenschXVI. Irrtum und Irresein

XVII. Das menschliche GewissenXVIII. Die Mission der Kunst

20. 1. 1910

3. 2.191010. 2. 191017. 2. 19103. 3. 1910

10. 3. 1910

28. 4. 19105. 5. 1910

12. 5. 1910

(siehe unten"")

PfadePfadePfade(siehe unten **)Pfade

(siehe unten**)MetamorphosenMetamorphosen

Vortrag X: «Die Geisteswissenschaft und die Sprache», Dornach 1938Vorträge XIV und XVI: «Krankheit und Entwicklungsgeschehen»,Schriftenreihe der Medizinischen Sektion am Goetheanum, 4. Heft,Dornach 1947

Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 5 9 Seite: 30 4

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NACHWEIS FRÜHERER AUFLAGENUND HERAUSGEBER

1. Auflage2. Auflage3. Auflage4. Auflage

Taschenbuch1. Auflage2. Auflage

Vorträge II, III, IV, V, VII, XVII und XVIIIin «Pfade der Seelenerlebnisse»:

Dornach 1929Dresden 1939Dornach o.J. (1940)Dornach 1957Gesamtausgabe

Dornach 1976Dornach 1984

Marie SteinerMarie SteinerMarie SteinerRuth Moering

Vorträge I, VI, VIII, IX, XI, XII, XIII und XVin «Metamorphosen des Seelenlebens»:

1. Auflage2. Auflage3. Auflage4. Auflage5. Auflage

6. Auflage

Taschenbuch1. Auflage2. Auflage3. Auflage

Dornach 1928Dresden 1939Dornach 1939Wien o. J. (1950)Dornach 1958GesamtausgabeDornach 1971Gesamtausgabe

Dornach 1972Dornach 1978Dornach 1983

Marie SteinerMarie SteinerMarie SteinerMarie Steiner fRuth Moering

Hella Wiesberger

Nachweis weiterer Veröffentlichungen

In der Reihe «Durch den Geist zur Wirklichkeits-Erkenntnis der Men-sehenrätsel»: Vorträge I und III in Band III, Dornach 1965; Vortrag VIII inBand IV, Dornach 1966; Vortrag XVII in Band V, Dornach 1966

Vortrag X und XI in «Die Ausdrucksfähigkeit des Menschen in Sprache,Lachen und Weinen», Dornach 1970,1979

Vorträge I, III, IV, V, VII, XVII, XVIII in «Wie erlangt man Erkenntnisseder höheren Welten? Metamorphosen des Seelenlebens», Zürich 1974

Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch:59 Seite:305

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HINWEISE

Textunterlagen: Die Reihe der öffentlichen Vorträge des Winterhalbjahres1909/10 im Berliner Architektenhaus umfaßte 18 Vorträge. Sie wurden fürdie Neuauflage von 1984 wie bisher in zwei Bände gegliedert, jedoch erst-mals in ihrer vollständigen und chronologischen Reihenfolge. Bei der erstenHerausgabe von 1928/29, auf der alle bisherigen Neuauflagen beruhten,hatte Marie Steiner eine mehr inhaltliche Aufteilung vorgenommen und dreider Vorträge - vom 20. Januar, 3. März und 28. April 1910 — waren nicht indie beiden Bände aufgenommen und an anderer Stelle veröffentlicht worden(siehe die vorangehende Übersicht).

Der Text beruht auf der stenographischen Mitschrift von Walther Vege-lahn, beziehungsweise auf dessen Klartextübertragung. Seine Originalsteno-gramme sind nicht mehr vorhanden.

Die Titel der einzelnen Vorträge wurden von Rudolf Steiner selbst be-stimmt; die Titel der beiden Bände gehen auf Marie Steiner zurück.

Da Rudolf Steiner zur Zeit dieser Vorträge noch innerhalb der Theoso-phischen Gesellschaft stand, gebrauchte er die Bezeichnungen «Theoso-phie» und «theosophisch», verstand sie jedoch von Anfang an immer imSinne seiner anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft (Anthropo-sophie). Aufgrund einer späteren Angabe Rudolf Steiners wurden sie schondurch Marie Steiner an den sachlich in Betracht kommenden Stellen durch«Geisteswissenschaft» oder «Anthroposophie» ersetzt.

Werke Rudolf Steiners innerhalb der Gesamtausgabe (GA) werden in denHinweisen mit der Bibliographie-Nummer angegeben. Siehe auch die Über-sicht am Schluß des Bandes.

zu Seite

9 Die Geisteswissenschaft und die Sprache: Vgl. dazu den Vortrag über«Sprachwissenschaft», Dornach, 7. April 1921, in «Die befruchtendeWirkung der Anthroposophie auf die Fachwissenschaften», GABibl.-Nr. 76.

12 Max Müller, bedeutender Religionsforscher, Orientalist undSprachforscher, in Oxford lehrend. «Die Wissenschaft der Sprache»,Leipzig 1892.

Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 59 Seite: 306

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19 so wie wir heute in der Tierwelt von Gruppenseelen noch sprechen:Vgl. den Vortrag «Die Seele der Tiere im Lichte der Geisteswissen-schaft», Berlin, 23. Januar 1908, in «Die Erkenntnis der Seele unddes Geistes», GA Bibl.-Nr. 56.

24 Das Auge ist am Lichte für das Licht gebildet: Goethe, «Entwurfeiner Farbenlehre», des ersten Bandes erster, didaktischer Teil. Ein-leitung: «Das Auge hat sein Dasein dem Licht zu danken. Ausgleichgültigen, tierischen Hilfsorganen ruft sich das Licht ein Organhervor, das seinesgleichen werde, und so bildet sich das Auge amLichte fürs Licht, damit das innere Licht dem äußeren entgegen-trete.» «Goethes Naturwissenschaftliche Schriften», herausgegebenund kommentiert von Rudolf Steiner in Kürschners «Deutsche Na-tional-Litteratur», 1883-97, 5 Bände, Nachdruck Dornach 1975,GA Bibl.-Nr. la-e, Band III, S. 88.

im Schopenhauerischen Sinne: Siehe Arthur Schopenhauer, «Überdas Sehen und die Farben», Kap. I: Vom Sehen. In «Schriften zurErkenntnislehre».

33 Fritz Mauthner: Eine Neuauflage des erwähnten Werkes «Die Kritikder Sprache» erschien gerade 1910.

38 in unserer heutigen Zeit, wo man in hezug auf das lebendige Fühlender Sprache nicht besonders weit ist: Schon 1898 heißt es in demAufsatz von R. Steiner «Noch ein Wort über die Vortragskunst»:«Man hält künstlerisches Sprechen heute vielfach für verfehltenIdealismus». In «Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889-1900», GA Bibl.-Nr. 29.

Versuchen Sie einmal, wirkliche Darstellungen der geisteswissen-schaftlichen Materie zu prüfen: Vgl. dazu auch Kap. XXXIII in«Mein Lebensgang» (1923-25), GA Bibl.-Nr. 28.

40/41 daß auch unsere Sprache wieder ein Mitteilungsmittel dessen wer-den kann, was die Seele im Übersinnlichen erschaut: Rudolf Steinerhat in späteren Darstellungen immer wieder darauf hingewiesen, wiez.B. das 7. Bild seines ersten Mysteriendramas «Die Pforte der Ein-weihung» (Vier Mysteriendramen [1910-13], GA Bibl.-Nr. 14) imreinsten Sinne dieses Umgießen des geistigen Erlebnisses in dasLautbild zeige.

41 Unermeßlich tief ist der Gedanke . . .: Schiller, «Die Huldigung derKünste». Die Poesie: Mein unermeßlich Reich ist der Gedanke, /Und mein geflügelt Werkzeug ist das Wort.

43 «Die Träne quillt. . .»: Goethe, «Faust» I, Vers 784.

Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 59 Seite: 3 07

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57 wird dem deutschen Dichter recht geben: Gemeint sein könnte derdeutschsprachige Dichter Gottfried Keller (1819-1890). Siehe in derNovellensammlung «Sinngedicht» unter dem Kapitel «Die Geister-seher»: «Zum Lachen braucht es immer ein wenig Geist; das Tierlacht nicht!» - sowie seine Unterscheidung von «Lächeln» und«Traurigsein» bei Menschen gegenüber «Grinsen» und «Heulen» beitierischen Wesen in der Verserzählung «Der Apotheker von Cha-mounix».

61 Jehova einströmen läßt den lebendigen Odem: 1. Mose 2, 7.

71 Zum Vortrag « Was ist Mystik ?»: Vergleiche hierzu und zu den ange-führten Mystikern Rudolf Steiner, «Die Mystik im Aufgange desneuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Welt-anschauung» (1901), GA Bibl.-Nr. 7.

82 Gottfried Wilhelm von Leibniz. Siehe z.B. seine «Monadologie»,eine kurze Abhandlung, die er 1714 (ohne Titel) als Zusammenfas-sung seiner Lehre von den Einheiten schrieb.

Johann Friedrich Herbart, Philosoph und Pädagoge.

100 «Wann du dich über dich erhebst. . .»: Angelus Silesius, «Cherubi-nischer Wandersmann», 4. Buch, Spruch 56.

107 Heraklit aus Ephesus, vorsokratischer Philosoph.

Der Seele Grenzen . . .: «Die Fragmente der Vorsokratiker», hrsg.von Hermann Diels und Walther Kranz, Heraklei tos B 45.

116 «Werdy ich zum Augenblicke sagen . . .»: Goethe, «Faust» I, Vers1699-1702.

121 was im Alten Testament. . . erzählt wird: 1. Mose 32, 25.

124 «Das Vaterunser»: Nach einem Vortrag vom 28. Januar 1907, in«Ursprungsimpulse der Geisteswissenschaft», GA Bibl.-Nr. 96(auch als Einzelausgabe).

126/127 im Sinne der Rose, die sich schmückt. . .: Siehe Friedrich Rückert,das Gedicht: Welt und Ich, «Wenn die Rose selbst sich schmückt, /schmückt sie auch den Garten.»

127 Miguel de Molinos, spanischer Mystiker; «Guida Spirituale» (1675),deutsch von Gottfried Arnold: Geistlicher Führer (1699); Molinoswurde wegen dieser Schrift 1686 vom Papst zu lebenslänglicher Haftin Rom verurteilt.

Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 59 Seite: 308

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128 Ein mittelalterlicher Denker: Bisher nicht nachgewiesen.

134 «leb selbst bin Ewigkeit . . .»: Angelus Silesius, «CherubinischerWandersmann», 1. Buch, Spruch 8.

135 « Wie begreift man Krankheit und Tod», Berlin, 13. Dezember 1906,in «Die Erkenntnis des Übersinnlichen in unserer Zeit und derenBedeutung für das heutige Leben», GA Bibl.-Nr. 55.

«Der Krankheitswahn im Lichte der Geisteswissenschaft», Berlin,13. Februar 1908; «Das Gesundheitsfieber im Liebte der Geisteswis-senschaft», Berlin, 27. Februar 1908; gedruckt sind Münchener Par-allelvorträge (3. und 5. Dezember 1907) erschienen in «Die Erkennt-nis der Seele und des Geistes», GA Bibl.-Nr. 56.

148 Homer . . ., indem er das Bild der Penelope hinstellte: Siehe «Odys-see», 19. Gesang, Vers 137 ff.

151 in einem Buch des 7. nachchristlichen Jahrhunderts: Es handelt sichum das Werk des letzten abendländischen Kirchenvaters Isidor vonSevilla, um 560-636, «De natura rerum». Vgl. auch Rudolf SteinersVortrag vom 18. Januar 1912, in «Menschengeschichte im Lichte derGeistesforschung», GA Bibl.-Nr. 61.

Francesco Redi, italienischer Arzt, Naturforscher und Dichter. Siehesein Werk: «Osservazione intorno agli animali viventi ehe si trovanonegli animali viventi», 1684.

159 Mont Pele, Vulkan auf der westindischen Insel Martinique; größterAusbruch am 8. Mai 1902.

169 «Es irrt der Mensch, so lang' er strebt!»: Goethe, «Faust» I, Prologim Himmel, Vers 317.

170 Wann du dich über dich erhebst: Angelus Silesius, «CherubinischerWandersmann», Buch IV, Spruch 56.

184 Peter Rosegger, steirischer Erzähler.

197 Nur wer mit der Geometrie bekannt ist, . . .: Diese Worte über demEingang der platonischen Akademie sind weder von Plato selbstnoch von seinen griechischen und römischen Zeitgenossen überlie-fert. Sie finden sich erst bei Kommentatoren des Aristoteles im 6.Jahrhundert n. Chr., so bei: Elias, Aristotelis Categoriascommenta-ria, ed. A. Busse (Comm. in Arist. Graeca XVIII, pars 1), (Berlin1900) 118.18. Und: Philoponus Joannes, Aristotelis de Anima Libriscommentaria, ed. M. Hayduck (Comm. in Arist. Graeca XV), (Ber-lin 1897) 117.29.

Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 59 Seite: 309

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197 Haeckels «Welträtsel»: «Die Welträtsel. Gemeinverständliche Stu-dien über monistische Philosophie» (Bonn 1899).

199 Definition des Aristoteles über das Tragische: Siehe Aristoteles,«Über die Dichtkunst», Kapitel 6.

«Der Seele Grenzen . . •>.• Siehe Hinweis zu S. 107.

Dieser Philosoph erzählt von sich folgendes Erlebnis: Konnte nichtnachgewiesen werden.

219 So gibt es einen Philosophen, der immer eine Lehre wiederholt hat. . . über das menschliche Ich: Es wird Johann Gottlieb Fichte ge-meint sein, dessen Ich-Philosophie von dem Prinzip ausgeht, daßdas wahre Ich als Subjekt und Objekt setzender Grund nie selberObjekt werden kann.

223 Wilhelm Wundt, Philosoph.

231 Rudolf Steiner, «Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte derGeisteswissenschaft», Einzelausgabe, innerhalb der GA in Bibl.-Nr.34 «Luzifer-Gnosis. Gesammelte Aufsätze 1903-1908».

234 Wenn sie den Stein der Weisen hätten . . .: Goethe, «Faust» II,1. Akt, Kaiserliche Pfalz, Vers 5063/64.

235 «Vernunft ist die Rose im Kreuz der Gegenwart!»: G.W.F. Hegel,«Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht undStaatswissenschaft im Grundriß», Vorrede. Dort heißt es:«Die Vernunft als die Rose im Kreuze der Gegenwart zu erkennenund damit dieser sich zu erfreuen, diese vernünftige Einsicht ist dieVersöhnung mit der Wirklichkeit, welche die Philosophie denen ge-währt, an die einmal die innere Anforderung ergangen ist, zu begrei-fen, und in dem, was substantiell ist, ebenso die subjektive Freiheitzu erhalten, so wie mit der subjektiven Freiheit nicht in einem Be-sondern und Zufälligen, sondern in dem, was an und für sich ist, zustehen.»

236 Als ganz junger Mensch hörte ich . . . die Vorträge eines Dozentenüber Literaturgeschichte: Seines Lehrers und Freundes Karl JuliusSchröer. Vergl. dazu auch die Bemerkung Rudolf Steiners im Vor-trag vom 29. Oktober 1914, Berlin, in «Aus schicksaltragenderZeit», GA Bibl.-Nr. 64.

240 daß das Höchste, was der Mensch erleben kann in seinem Ich, dasGewissen sei: Vergleiche hierzu J. G. Fichte: «Die Bestimmung desMenschen», 1800, 3. Buch: Glaube.

Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 5 9 Seite: 310

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241 Bartholomäus Carneri. Vergl. seine Charakterisierung des Gewis-sens in der Einleitung zu «Der moderne Mensch. Versuch einer Le-bensführung», Stuttgart 1904.

242 Paul Ree, «Die Entstehung des Gewissens», Berlin 1885.

246 in dem Vortrage «Was ist Mystik?»: Siehe Vortrag XII in diesemBand.

259 Äschylos . . . stellt uns etwas sehr Merkwürdiges dar: In seiner Trilo-gie «Orestie».

260 Euripides denselben Tatbestand behandelt: In «Elektra» und im«Orestes».

265 der Satz Goethes: Siehe den Hinweis zu Seite 24.

270 Baruch Spinoza (d'Espinosa): Über Goethes Verhältnis zu Spinozavergl. Goethes Ausführungen in «Dichtung und Wahrheit», III.Teil, 14. Buch.

Johann Heinrich Merck, Schriftsteller.

271 «So viel ist gewiß . . .»: Siehe «Italienische Reise», Rom, 6. Septem-ber 1787.

272 «Das Schöne ist. . .»: Goethe, «Sprüche in Prosa». Siehe Hinweis zuS. 24, «Goethes Naturwissenschaftliche Schriften», Band V, S. 495.

Richard Wagner . . . sagt mit Anlehnung an Beethovens NeunteSymphonie: Vergl. «Beethoven», 1870 im XL Bande der sämtlichenSchriften und Dichtungen Wagners.

287 Dante . . . in seiner Commedia: «Divina Commedia (Göttliche Ko-mödie)», 1472.

«Welch hoher Dank . . .»: Zahme Xenien VIII, datiert vom 23. Juli1824.

291 Friedrich Gottlieb Klopstock: Sein Epos «Messias» wurde 1773 abge-schlossen.

302 «Der Menschheit Würde . . .»: Friedrich Schiller in dem Gedicht«Die Künstler».

303 «Alles Vergängliche . . .»: Schlußverse von «Faust» II.

Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 5 9 Seite: 311

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PERSONENREGISTER

(Die kursiv gesetzte Zahl gibt jeweils die Seite an, zu der ein Hinweisbesteht.)

Angelus Silesius (1624-1677) 72,74, 103-105, 133,170

Aristoteles (384-322 v. Chr.)199, 262

Äschylos (525-456 v. Chr.) 259,260, 261, 263, 264, 269, 283 bis288, 299

Beethoven, Ludwig van (1770 bis1S27) 272

Böhme, Jakob (1575-1624) 104Bruno, Giordano (1548-1600)

151

Carneri, Bartholomäus (1821 bis1909) 241

Christus (siehe auch unter Jesus)76,79,264-266,268

Dante, Alighieri (1265-1321)269, 287, 288-294, 296, 297,299, 300

Eckhart, Meister (1260-1327) 72,74,78,103,104,180,239

Euripides (um 480-406 v. Chr.)260, 261

Fichte, Johann Gottlieb (1762 bis1814)240,241,268

Goethe, Johann Wolfgang (1749bis 1832) 24, 43, 70, 71, 116,265, 269, 270, 271, 272, 287,296-302,305

Haeckel, Ernst (1834-1919) 197Hegel, Georg Wilhelm Friedrich

(1770-1831)235Heraklit (535-475 v.Chr.) 107,

201Herbart, Johann Friedrich (1776

bis 1841) 82, 83Homer 148, 269, 271, 274, 275,

278-281, 283-286, 288, 290,291, 299

Jakob (altes Testament) 121Jesus (siehe auch unter Christus)

264-266

Klopstock, Friedrich Gottlieb(1724-1803)297

Leibniz, Gottfried Wilhelm(1646-1716) £2, 83

Lessing, Gotthold Ephraim(1729-1781)236

Mauthner, Fritz (1849-1923) 33Meister Eckhart siehe Eckhart,

MeisterMerck, Johannes Heinrich (1741

bis 1791) 270Molinos, Michael de (1640-1697)

127Müller, Max (1823-1900) 12, 13

Napoleon III. (Charles Louis Na-poleon Bonaparte; 1809-1873)209

Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 5 9 Seite: 312

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Nietzsche, Friedrich (1844-1900)242

Plato (427-347 v.Chr.) 197, 244,245, 262, 289

Redi, Francesco (1626-1698) 1H,152, 223

Ree, Paul (1849-1901) 242, 246Rosegger, Peter (1843-1918) 184

Schopenhauer, Arthur (1788 bis1860) 24t

Shakespeare, William (1564 bis16X6)261,269,291-298

Sokrates (470-399 v.Chr.) 244,245, 261, 262

Sophokles (um 496 bis um 406v.Chr.) 260

Spinoza, Baruch (d'Espinosa;1632-1677)270, 271

Suso, Heinrich (um 1300-1366)74

Tauler, Johannes (um 1300-1361)74, 104

Victor Emanuel IL von Italien(1820-1878)210

Wagner, Richard (1813-1883)272, 273, 302

Weigel, Valentin (1533-1588) 104Wundt, Wilhelm (1832-1920)

223

Zarathustra 43, 70

Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 5 9 Seite: 313

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AUSFÜHRLICHE INHALTSANGABEN

X. Die Geisteswissenschaft und die SpracheBerlin, 20. Januar 1910 9Vielfältige Verhältnisse des Menschen zur Sprache. Wissen-schaftliche Theorien zur Sprachentstehung («Bim-bam»-und «Wau-wau»-Theorie). Das sich entwickelnde Wesen desMenschen in seiner Vier-, Sieben- und Neungliedrigkeit. DieSprache als letztes Ergebnis geistig-seelischer Tätigkeit amMenschen, bevor das Ich zu wirken begann. Die Organisa-tion der Sprach Werkzeuge: eine Schöpfung des Geistes derLuft. Das dreifache Wirken des Geistes der Luft im Astral-leib, Atherleib, physischem Leib. Das Ergreifen der vorbe-reiteten Sprachorganisation durch das Ich. Charakter derchinesischen, semitischen, indogermanischen Sprachen. DerSprachgeist als vormenschlicher Künstler. Geisteswissen-schaft und künstlerisch wirkender Sprachsinn.

XL Lachen und Weinen

Berlin, 3. Februar 1910 42Der siebengliedrige Mensch. Die Tätigkeit des Ich: sich inEinklang mit der Außenwelt zu setzen. Die Offenbarung desIch in Erbleichen und Erröten. Ausdehnung des Astralleibesbeim Lachen; sich befreiendes Erheben des Ich. Zusammen-pressen des Astralleibes beim Weinen; inneres Sich-Stärkendes Ich. Unfähigkeit des Kindes in den ersten Lebenstagenzu Lachen und Weinen. Unmöglichkeit von Lachen undWeinen im Tierreich. Modifikation des Atemprozessesdurch Lachen und Weinen. Lachen und Weinen als Erzie-hungsmittel des Ich. Trauerspiel und Lustspiel.

Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 5 9 Seite: 314

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XII. Was ist Mystik?

Berlin, 10. Februar 1910 71Mystik als Suchen der Seele nach den Gründen des Daseinsdurch Vertiefung ins eigene Innere. Auslöschen der Außen-welt; inneres Nacherleben des Christusereignisses. Mystikals Weg zu einem geistigen Monismus. Geistige Durchdrin-gung der Außenwelt als entgegengesetzter Weg, der zur Mo-nadologie führt (Leibniz, Herbart). Die Geisteswissenschaftals Weg der Vereinigung von Mystik und Monadologie. Diedrei Erkenntnisstufen Imagination, Inspiration, Intuition.Gefahren der Mystik und ihre Vermeidung.

XIII. Das Wesen des Gebetes

Berlin, 17. Februar 1910 103Das wahre Gebet als Vorstufe mystischer Versenkung, dieseals Vorstufe der Geistesforschung. Das Hereinragen vonVergangenheit und Zukunft ins Seelenleben. Die zwei ihnenentsprechenden Gebetsstimmungen; ihre erwärmende underleuchtende Kraft. Die Kraft des Gebetes und die Ich-Ent-wicklung. Das Vaterunser, Die Gefahren des Egoismus imGebet, bei der mystischen Versenkung, bei Meditation undKonzentration. Das Gebet und die Kunst. Das Gebet alsVorbereitung zur Ewigkeits Stimmung.

XIV. Krankheit und HeilungBerlin, 3. März 1910 135Wechselwirkungen zwischen dem «äußeren Menschen»(physischer und Ätherleib) und dem «inneren Menschen»(Astralleib und Ich). Der Schlaf und die Entwicklung des«inneren Menschen»; Umwandlung von Erlebnissen in Fä-higkeiten. Die Ausgestaltung des Urbildes des «äußerenMenschen» zwischen Tod und neuer Geburt. Entstehungvon Krankheiten durch «Grenzüberschreitungen» zwischeninnerem und äußerem Menschen. Der positive Sinn beiderKrankheitsausgänge: Heilung oder Tod. Dankbarkeit gegen-

Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 5 9 Seite: 315

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über Heilung und Tod. Pflicht, für Heilung zu sorgen. Not-wendigkeit von Krankheit in der Entwicklung zur Gesund-heit: der Harmonie zwischen innerem und äußerem Men-schen.

XV. Der positive und der negative Mensch

Berlin, 10. März 1910 171Der «positive Mensch» als Charakter, der seine festumris-sene Eigenwelt und Eigenziele gegenüber allen Eindrückenvon außen bewahrt. Der «negative Mensch» als ein Charak-ter, der sich von allen Außeneinflüssen stark beeindruckenund ändern läßt. Die Entwicklung der menschlichen Seelen-glieder im Verhältnis zu «Positivitat» und «Negativität». Ge-fahren beider Seelenstimmungen. Sinn und Unsinn bestimm-ter Diät in bezug auf die Entwicklung der Seele. Die Schu-lung der selbstbewußten Urteilskraft als Grundlage der «Po-sitivität». Negativität und Positivitat in bezug auf Menschen-begegnungen; in bezug auf naturwissenschaftliche Denk-und Anschauungsweisen; als Grundprinzip menschlicherEntwicklung (Aristoteles* Bestimmung der Tragödie).

XVI. Irrtum und Irresein

Berlin, 28. April 1910 203Das Problem der Grenze von krankhaftem und normalemSeelenleben. Der äußere und der innere Mensch. Die dop-pelte Dreiheit von Leibesgliedern und Seelengliedern undihre richtigen Wechselwirkungen als Notwendigkeit für eingesundes Seelenleben. Störungen des Zusammenwirkens vonEmpfindungsleib und Empfindungsseele (zwanghafte Bil-der), von Atherleib und Verstandesseele (Irrtum; Unfähig-keit, die Logik der Tatsachen zu erfassen), von physischemLeib und Bewußtseinsseele (Irresein, Größen- und Verfol-gungswahn). Ausbildung und Stärkung des Seelenlebens imDenken, Fühlen und Wollen als Schutz und Heilmittel gegendie Hemmnisse von Seiten des äußeren Menschen.

Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 5 9 Seite: 316

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XVII. Das menschliche Gewissen

Berlin, 5. Mai 1910 236Vorstellungen über das Gewissen im Lauf der Geschichte(Eckhart, Fichte, Carneri, Ree; Sokrates, Plato). Die allmäh-liche Entstehung des Gewissensbegriffs. Die sich entfaltendeTätigkeit des Ich in den Seelengliedern; die vorangegangeneBildung der Leibesglieder von außen. Entstehung des Gewis-sens mit dem Einzug des Ich ins Seeleninnere. Das Gewissenals Abglanz des korrigierenden Weltengeistes für das nochschwache Ich. Das Orestdrama bei Äschylos und bei Euripi-des. Der Zusammenhang des Christusimpulses mit dem Ge-wissen.

XVIII. Die Mission der Kunst (Homer, Äschylos, Dante,Shakespeare, Goethe)

Berlin, 12. Mai 1910 269Goethe und Wagner über die Mission der Kunst. Anfängeder abendländischen Dichtkunst bei Homer: Hereinwirkengöttlich-geistiger Mächte; Nachklang hellseherischen Urbe-wußtseins. Entstehung der künstlerischen Phantasie. Entste-hung von Gleichnis und Bikthaftigkeit im Osten; von Hym-nisch-Gesanglichem im Westen. Zusammenströmen beiderElemente im griechischen Drama (Äschylos). Dante: das Er-greifen des Ich, das sich selber zur Welt wird. Shakespeare:die Welt der Dichtung erweitert in die Vielheit menschlicherIche. Goethe (Faust): die Erweiterung des Allgemein-Menschlichen des Ich in die geistige Welt. Die Mission derKunst: die Fäden von der Urgeistigkeit zur Zukunftsgeistig-keit zu spinnen.

Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 5 9 Seite: 317

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INHALT

ERSTER TEIL

I. Die Mission der Geisteswissenschaft einst und jetztBerlin, 14. Oktober 1909

II. Die Mission des Zornes («Der gefesselte Prometheus»)München, 5. Dez. 1909 (statt Berlin, 21. Okt. 1909)

III. Die Mission der Wahrheit (Goethes «Pandora»in geisteswissenschaftlicher Beleuchtung)Berlin, 22. Oktober 1909

IV. Die Mission der AndachtBerlin, 28. Oktober 1909

V. Der menschliche CharakterMünchen, 14. März 1910 (statt Berlin, 29. Oktober 1909)

VI. Die Askese und die KrankheitBerlin, 11. November 1909

VIL Das Wesen des Egoismus (Goethes «Wilhelm Meister»)Berlin, 25. November 1909

VIII. Buddha und ChristusBerlin, 2. Dezember 1909

IX. Einiges über den Mondin geisteswissenschaftlicher BeleuchtungBerlin, 9. Dezember 1909

Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 5 9 Seite: 318

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RUDOLF STEINER GESAMTAUSGABE

Gliederung nach: Rudolf Steiner - Das literarischeund künstlerische Werk. Eine bibliographische Übersicht

(Bibliographie-Nrn. kursiv in Klammern)

A . S C H R I F T E N/. WerkeGoethes Naturwissenschaftliche Schriften, eingeleitet und kommentiert von

R. Steiner, 5 Bände, 1883-97, Neuausgabe 1975 (la-e); separate Ausgabeder Einleitungen, 1925 (1)

Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung, 1886 (2)Wahrheit und Wissenschaft. Vorspiel einer «Philosophie der Freiheit», 1892 (3)Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung,

1894 (4)Friedrich Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit, 1895 (5)Goethes Weltanschauung, 1897 (6)Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis

zur modernen Weltanschauung, 1901 (7)Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums,

1902 (8)Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschen-

bestimmung, 1904 (?)Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? 1904/05 (10)Aus der Akasha-Chronik, 1904-08 (11)Die Stufen der höheren Erkenntnis, 1905-08 (12)Die Geheimwissenschaft im Umriß, 1910 (13)Vier Mysteriendramen, 1910-13 (14)Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit, 1911 (15)Anthroposophischer Seelenkalender, 1912 (in 40)Ein Weg zur Selbsterkenntnis des Menschen, 1912 (16)Die Schwelle der geistigen Welt, 1913 (17)Die Rätsel der Philosophie in ihrer Geschichte als Umriß dargestellt, 1914 (18)Vom Menschenrätsel, 1916 (20)Von Seelenrätseln, 1917 (21)Goethes Geistesart in ihrer Offenbarung durch seinen Faust und durch das

Märchen von der Schlange und der Lilie, 1918 (22)Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegen-

wart und Zukunft, 1919 (23)Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus und zur Zeitlage

1915-1921(24;Kosmologie, Religion und Philosophie, 1922 (25)Anthroposophische Leitsätze, 1924/25 (26)Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaft-

lichen Erkenntnissen, 1925. Von Dr. R. Steiner und Dr. I. Wegman (27)Mein Lebensgang, 1923-25 (28)

Copyright Rudolf Steinet Nachlass-Verwaltung Buch: 5 9 Seite: 319

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//. Gesammelte AufsätzeAufsätze zur Dramaturgie 1889-1901 (29) - Methodische Grundlagen derAnthroposophie 1884-1901 (30) - Aufsätze zur Kultur- und Zeitgeschichte1887-1901 (31) - Aufsätze zur Literatur 1886-1902 (32) - Biographien undbiographische Skizzen 1894-1905 (33) - Aufsätze aus «Lucifer-Gnosis»1903-1908 (34) - Philosophie und Anthroposophie 1904-1918 (35) - Auf-sätze aus «Das Goetheanum» 1921-1925 (36)

III. Veröffentlichungen aus dem NachlaßBriefe - Wahrspruchworte - Bühnenbearbeitungen - Entwürfe zu den VierMysteriendramen 1910-1913 - Anthroposophie. Ein Fragment aus demJahre 1910 - Gesammelte Skizzen und Fragmente - Aus Notizbüchern und-blättern - (38-47)

B . D A S V O R T R A G S W E R K

I. Öffentliche VorträgeDie Berliner öffentlichen Vortragsreihen, 1903/04 bis 1917/18 (51-67) -Öffentliche Vorträge, Vortragsreihen und Hochschulkurse an anderen OrtenEuropas 1906-1924 (68-84)

II. Vorträge vor Mitgliedern der Anthroposophischen GesellschaftVorträge und Vortragszyklen allgemein-anthroposophischen Inhalts - Chri-stologie und Evangelien-Betrachtungen - GeisteswissenschaftlicheMenschenkunde - Kosmische und menschliche Geschichte - Die geistigenHintergründe der sozialen Frage — Der Mensch in seinem Zusammenhangmit dem Kosmos - Karma-Betrachtungen - (91-244)Vorträge und Schriften zur Geschichte der anthroposophischen Bewegungund der Anthroposophischen Gesellschaft (251-263)

III. Vorträge und Kurse zu einzelnen LebensgebietenVorträge über Kunst: Allgemein Künstlerisches - Eurythmie - Sprachgestal-tung und Dramatische Kunst - Musik - Bildende Künste - Kunstgeschichte(271-292) — Vorträge über Erziehung (293-311) - Vorträge über Medizin(312-319) - Vorträge über Naturwissenschaft (320-327) - Vorträge überdas soziale Leben und die Dreigliederung des sozialen Organismus (328-341)— Vorträge für die Arbeiter am Goetheanumbau (347-354)

C . D A S K Ü N S T L E R I S C H E W E R K

Originalgetreue Wiedergaben von malerischen und graphischen Entwürfenund Skizzen Rudolf Steiners in Kunstmappen oder als Einzelblätter: Entwür-fe für die Malerei des Ersten Goetheanum - Schulungsskizzen für Maler -Programmbilder für Eurythmie-Aufführungen - Eurythmieformen - Skiz-zen zu den Eurythmiefiguren, u.a.

Die Bände der Rudolf Steiner Gesamtausgabesind innerhalb einzelner Gruppen einheitlich ausgestattet

Jeder Band ist einzeln erhältlich

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